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Christkindleins Vorfeier

.Eine eigentümliche Christkindleins-Vorfeier hatten wir. Es war am 20. Dezember, da sah ich am Vormittage Franz Sternitzke über den Burghof kommen, und er fiel mir auch gleich auf wegen des besseren Anzuges und der fidelen Miene, die er ganz herausfordernd zur Schau trug.

Natürlich war ich sehr rasch unten. Als mich Sternitzke sah, kam er mir mit strahlendem Gesichte entgegen und reichte mir beide Hände.

»Na, Herr Doktor, raten Sie mal!«

»Was soll ich raten?«

»Nu, ob Mädel oder Junge!«

»Ah, Herr Sternitzke – Familienzuwachs? Da gratuliere ich herzlichst!«

»Dank' schön, dank' schön, Herr Doktor! Nanu aber raten.«

»Nu je, Ihrem Gesichte nach zu urteilen rate ich auf einen Jungen.«

»Nö – falsch!«

»Also ein Mädchen.«

»Erst recht falsch!«

»Nanu, was dann?«

»Ein Junge und ein Mädel!«

»Zwillinge, Herr Sternitzke?«

Er nickte, und die Augen waren ihm feucht vor Freude.

»Ganz recht – Zwillinge! Das erstemal in unserer Ehe! Und a paar Kerlchen, sag' ich Ihnen – putzige Dinger –

jedes so lang, wie 'ne Hand – und rot wie die Krebse, aber hübsch wie die Bilder!«

»Das kann ich mir denken. Da haben Sie also jetzt elf Kinder, Herr Sternitzke?« »Stimmt – elf Stück! 'n bißchen reichlich für einen kleinen Haushalt, aber noch lange keen Dutzend! Und sie leben alle, das is ja das Feine! Sehn Sie: Gibt Gott Häslein, gibt er auch Gräslein.«

»Das ist richtig! Passen Sie auf, Herr Sternitzke, Sie werden an Ihren Kindern noch ungeheuer viel Freude haben.«

In diesem Augenblicke kam der Oberförster angepustet. Er schimpfte.

»So ein verrückter Kerl – lauft wie'n Windhund, daß ich gar nicht mitkann! Ganz übergeschnappt is er vor Stolz! Na, was sagen Sie zu der Geschichte, Herr Doktor?«

»Ich habe mich sehr gefreut, Herr Oberförster.«

»Ja, es is 'ne dolle Sache, sowas! Der Kerl hat'n fabelhaftes Glück! Junge und Mädel auf einmal, das is selten! Ja, aber was die Hauptsache is: Sind die jungen Damen zu sprechen?«

»Fräulein von Soden und Fräulein Ingeborg? Ich glaube, sie sind in der Küche. Wenn Sie wollen, werde ich sie rufen.«

»Sein'n Sie so freundlich!«

Die beiden Mädchen erschienen bald in Küchenkostümen; auch Waldhofer fand sich ein. Der Oberförster nahm das Wort: »Bitte, meine Damen, stell'n Sie sich mal hierher – nein, hierher! Und Sie, Herr Doktor, stellen sich auch dazu! So is richtig! Und nu, Sternitzke, schieß los!«

Sternitzke wurde rot im Gesichte, machte den Damen eine verunglückte Verneigung und begann:

»Meine lieben Fräuleins! – Ich – ich – meine Frau – meine Frau hat nämlich –«

»Seine Frau hat ihn nämlich mit Zwillingen beschenkt,« half der Oberförster ein.

»Ja, mit Zwillingen – und weil – weil doch eben –« »Weil doch eben die Kinder getauft werden müssen,« ergänzte der Oberförster –

»Ganz recht – weil sie doch getauft werden müssen, so wollte ich bitten, daß es nicht unbescheiden wäre, wenn Sie alle zu Paten kämen.«

Nun ging's los! Ein Gratulieren, Fragen, Lachen, Zustimmen. Sternitzke war der Löwe des Tages. Ingeborg und Marianne wurden zu Paten des Mädchens bestimmt, während ich Pate bei dem Jungen sein sollte. »Wozu dann ich noch komme,« sagte der Oberförster, »denn ich bin ständiger Pate bei Sternitzkes, sozusagen chronischer Pate. Womit ich mir erlaube, vorläufig meine geehrten Herren und Fräulein Mitgevattern zu einem Glase Wein einzuladen.«

So wurde die Feier eingeleitet, die zwei Tage später wirklich stattfand.

In der achtundvierzigstündigen Zwischenzeit war Ingeborg in einem Zustande der Erregung, der uns anderen unverständlich war. Aber es war das stolze Glück, zu Paten genommen und damit als ernstzunehmende, vollgültige Person anerkannt zu sein, was in dem Mädchen rumorte, zugleich aber auch die süße Lust, die dem Weibe so unendlich viel näher liegt, als uns Männern: Anteil zu haben an einem Kinde, das Recht besitzen, ihm seine Liebe und Sorge zuwenden zu dürfen.

Als die wichtige Stunde des Taufaktes herangekommen war, wurde vor der Burg ein Wagen sichtbar, den ein Kutscher in Livree auf dem glatten, verschneiten Wege auf eine für Menschen und Tiere geradezu lebensgefährliche Weise umzuwenden sich bemühte.

»Warum holen uns denn die Leute nicht im Schlitten?« fragte ich Waldhofer.

»Ja,« lächelte er, »zu Hochzeit und Kindtaufen muß es partout die Staatsdroschke sein.«

Ich gestehe, daß ich nicht mit übermäßig großer Behaglichkeit auf dem Rücksitze der »Staatsdroschke« Platz nahm. Auch die Mädchen, die mir gegenüber saßen, waren ängstlich, und es war wirklich eine halsbrecherische Fahrt den verschneiten Burgweg hinunter.

Trotzdem fand Ingeborg Zeit mich zu fragen: »Was haben Sie denn eingebunden, Herr Doktor?«

Ich mußte lachen. »30 Mark,« sagte ich, »genügt das?« »Ach, das ist sehr nobel! Haben Sie aber auch Silber-, Nickel- und Kupfergeld dazu getan?« »Nein; muß das sein?«

»Ja, das muß sein, namentlich Kupfer! Ach, ist das schade, daß Sie das nicht gewußt haben!«

»Nun, vielleicht kann ich's nachholen.«

Ich packte meinen »Patenbrief« auf und fügte ihm zu Ingeborgs großer Genugtuung noch ein Markstück, einen Nickelgroschen und zwei Kupfermünzen bei. So bestand mein Patengeschenk, einer schlesischen Dorfsitte zufolge, aus 31 Mark und 14 Pfennigen.

Mittlerweile landeten wir glücklich am »Silbernen Löffel«.

Der Oberförster öffnete den Wagenschlag.

»Sind Sie noch alle munter?« fragte er. »Ja? Keiner den Hals gebrochen? Freut mich! Also bitte, es ist alles bereit!«

Das war ein poetischer Weg, den verschneiten Kirchberg hinauf. Die Mädchen trugen die beiden Kinder voran, und der Oberförster und ich gingen hinterher. Vom Wirtshausfenster aus schaute uns der glückliche Vater nach. Und dann ging's über den Friedhof. Die ganze tiefe Poesie des Dorfkirchhofes stieg vor mir auf.

An den stillen Toten vorbei ging das junge Leben. Die Kleinen, die ihre Bahn begannen, wußten nichts von denen, die schon am Ziele waren. Und wenn ein junges, strahlendes Brautpaar vorüberging nach der Kirche, das wußte noch viel weniger von einem so stillen Ende.

Ein Dorfkirchhof ist nicht so düster-schwermütig wie die weiten Totengärten der Großstädte. Jeden Sonntag geschmückte, fröhliche Kirchgänger und oft Hochzeit und Taufgang, schallende Hymnen aus der Kirche und jubelnde Osterprozessionen durch die Gräberreihen. Das alles nimmt ihm die Starrheit.

Ringsum lauter Bekannte, einstige Freunde, Verwandte, Genossen in Lust und Leid! Da ist's schließlich nicht so schwer, auch einmal hinunterzusteigen, als abseits der Großstadt auf dem großen, düsteren Felde, auf dem nie mehr ein freudiger Laut klingt, über das nie mehr ein buntes Kleid flattert, bei den vielen fremden Menschen begraben zu sein.

Als wir am Taufstein standen, schien die Sonne durchs hohe Kirchenfenster. Sie bestrahlte die beiden schönen Mädchen und den weißhaarigen, sympathischen Priester, der die Taufworte sprach; die Kerze flammte, und die kleinen jungen Christenkinder ruhten schlummernd in den weißen Betten.

Die Augen wurden mir warm über diesem Bilde frommer Schönheit.

Als wir aus dem Kirchhofe heraustraten, fuhr unten auf der Straße vor dem »Silbernen Löffel« ein Schlitten vor, in dem ein einzelner Herr saß. Als ihn die beiden Mädchen erblickten, blieben sie erschreckt stehen.

»Mein Bruder!« sagte Marianne überrascht.

»Hein – rich – Herr von Soden – wollt' ich sagen –« stammelte Ingeborg. Sie wurde blaß wie der Schnee und zitterte heftig.

»Ingeborg, was machen Sie denn? Sie schmeißen mir ja das Kind weg!« fuhr der Oberförster dazwischen. Sie hörte ihn nicht. Sie schaute nur immer hinunter nach der Straße.

»Er ist's – und er wollte doch erst übermorgen –«

»Aber das geht wahrhaftig nicht – geben Sie her!«

Der Oberförster nahm dem aufgeregten Mädchen das Steckkissen aus den Armen. Sie ließ es ohne Widerstreben geschehen.

Nun setzten wir uns endlich langsam wieder in Bewegung. Der Herr unten hatte uns indes bemerkt, blinzelte ein paarmal prüfend durch das Schneelicht herauf, riß endlich den Hut vom Kopfe, schwenkte ihn durch die Luft und kam uns entgegen.

Er eilte auf Ingeborg zu, reichte ihr beide Hände und sah ihr mit einem tiefen, langen Blicke in die Augen. Und sie schaute mit einer Seligkeit zu ihm auf, die ohne Grenzen war. So standen sie auf ein paar Augenblicke selbstvergessen, ohne ein Wort zu sagen.

Dann begrüßte er seine Schwester und schließlich stellte er sich mir vor.

»Verzeihen Sie nur,« fügte er lachend hinzu, »daß ich als Unberufener so in Ihren Taufzug hineinschneie; ich war ganz überrascht.«

»Ja, wir auch,« sagte der Oberförster. »Gestatten Sie: Gerstenberger, Oberförster, zurzeit Taufpate. Meine Gevatterin dort hat bei Ihrem Anblick so einen gräßlichen Schreck weggekriegt, daß ich unmöglich als gewissenhafter Mensch zugeben konnte, daß –«

»O du Himmel, er hat ja das Kind!«

Jetzt erst merkte Ingeborg, daß ihr die kleine Menschenbürde abhanden gekommen war. Feuerrot vor Scham nahm sie dem Oberförster das Kind ab, und dann ging's endlich nach dem »Silbernen Löffel«.

Im Honoratiorenstübchen hatte uns Sternitzke ein Mahl bereitet, an dem auch der junge Soden teilnehmen mußte. Er war von beinahe hünenhafter Gestalt. Das kurze, stramme Haupthaar und der kräftige Schnurrbart stimmten zu dem energischen Eindruck, den sein Kopf machte; die blauen Augen aber waren weich und milde.

»Also gestern habe ich den Assessor beendet,« sagte er.

»Und es ist gut abgelaufen?« fragte Ingeborg.

»Wider Erwarten gut trotz der Totenkommission,« sagte er.

»Was ist das, die Totenkommission?« fragte Ingeborg ängstlich.

»Das waren meine sehr gestrengen Herren Examinatoren, die mich aber heute gar nichts mehr angehen.«

»Gott sei Dank!« seufzte Ingeborg auf.

»Ja, Gott sei Dank!« sagte er; »ich finde es hier im Gerichtskretscham zu Steinwernersdorf unendlich viel schöner als in allen Gerichtssälen der Welt.«

»Hm ja,« machte Gerstenberger, »die Gerichtsbarkeit auf dem Dorfe hat aber auch ihre schwierigen Fälle. Da will ich Ihnen mal so 'n juristischen Kapitalfall von uns erzählen, wenn's Sie interessiert.«

»Entschuldigen die Herrschaften, ich will bloß mal nach meiner Frau sehen,« sagte Sternitzke und entfernte sich.

»Aha!« sagte der Oberförster, »er drückt sich, denn die Geschichte ist ihm selber passiert. Also: der Sternitzke war Gerichtsmann, und wenn bei uns mal 'n Verbrecher – Landstreicher, Bettler oder sowas – aufgegriffen wurde, da mußte er ihn nach der Kreisstadt transportieren. Das war so 'n Ehrenamt. Einmal nun führt der Sternitzke 'n besonders schwierigen Kunden ab, und wie sie mitsammen zu einer Waldecke kommen, wo der Weg 'ne Biegung macht, sagt der Sternitzke zum Bummler: »Sie, hör'n Sie mal, mich drückt der Stiefel! Es muß mir 'n Steinchen reingekommen sein. Gehn Sie mal sachte im voraus, ich muß mal nachsehen.« Richtig, der Herr Gerichtsmann setzt sich an den Straßenrand, und der Herr Bummler geht im voraus. Könn' Sie sich denken, Herr Assessor, was passiert ist?«

»Nein, nein, wirklich nicht,« fuhr Soden auf, der die ganze Zeit über Ingeborgs Hände betrachtet hatte.

»Nich? Ich dachte, Sie würden's mit Ihrem juristischen Scharfsinn erraten. Ausgekniffen is der Kerl, denken Sie, Herr Assessor, ausgekniffen!«

»Ja, ja – ganz recht – § 113 Strafgesetzbuches,« bemerkte Soden.

»Die Paragraphennummer tut nichts zur Sache; denn wiedergekriegt haben sie den Kerl ja nich,« fuhr der Oberförster fort, »aber die Geschichte is noch nich alle. Den Winter drauf muß der Sternitzke nämlich wieder 'n Bummler transportieren.«

»Denselben Bummler,« warf von Soden zerstreut ein.

»Ach Gott bewahre! Sie denken wohl, wir haben bloß eenen eenzigen Bummler zur Verfügung? Nö, nö, ganz neues Exemplar! Also es war 'n Hundewetter, 15 Grad Kälte im Schatten, Schneesturm, Windwehen etcetera. Da fiel dem Sternitzke sein Ehrenamt 'n bißchen schwer, denn bis zur Stadt sind reichlich zwei Stunden. Wie sie nun zu der bewußten Waldecke kommen, sagt er zum Bummler: ›Sie, hör'n Sie mal, mir muß 'n Steinchen in a Stiefel gekommen sein. Gehn Sie doch, bitte, 'n Stückel sachte im voraus,‹ und er setzt sich an den Straßenrand, tief in den Schnee. Wissen Sie, was passiert ist, Herr Assessor?«

»Jawohl, jawohl, ausgekniffen is der Kerl.«

»Nö, eben nich! Das is ja die Pointe von der ganzen Geschichte. Er kneift nich aus, sondern er stellt sich vor'n Gerichtsmann, der im kalten Schnee sitzt, hin und sagt in seinem frechen Berliner Dialekt:

›Na, täuschen Sie sich man nich, Männeken, wenn Sie jloben, daß ick eschappieren werde. Ick bin froh, daß ick rin komme.‹

Sehn Sie, sowas passiert 'n Juristen vom Lande.«

Die Geschichte wurde sehr belacht, zumal als Sternitzke wieder erschien und zugeben mußte, daß sie wörtlich wahr sei. Dann kam auch der Geistliche noch dazu, ein sehr jovialer Herr, mit dem sich's prächtig plauderte. Der Pfarrer von Steinwernersdorf war ein ausgezeichneter Gesellschafter, auch ein sehr feiner Humorist, von den wesentlich wichtigeren Qualitäten zu schweigen. Wir haben uns später gegenseitig besucht und sind vorzüglich miteinander ausgekommen. Er paßte auch jetzt beim Taufen sehr gut in unseren lustigen Kreis, und als er sich schließlich in seinen Schlitten setzte, um nach Hause zu fahren, dachten auch wir an den Aufbruch.

Die Staatsdroschke wurde für die Heimbeförderung energisch und schließlich auch erfolgreich abgelehnt. Dafür wurde ein Schlitten herbeigeschafft, der nur einen Sitz hatte, und es hieß, erst sollten die beiden Damen nach Hause befördert werden und dann die zwei Herren. So wollte es Sternitzke. Doch dagegen protestierte der brave Oberförster:

»Sternitzke, du hast kein Arrangement im Leibe. Das geht nicht! Zwei Damen zusammen und dann zwei Herren, das ist Blödsinn! Das ist fürchterlich langweilig. Der Herr Assessor kann mit Fräulein Ingeborg fahren, da ist ein sehr Großer und ein sehr Kleiner beisammen, und dann fährt der Herr Doktor mit Fräulein Marianne, das gibt auch 'n Paar, das so ungefähr paßt.«

Gerstenbergers Arrangement wurde angenommen, da sich namentlich der Assessor mit Feuereifer dafür aussprach. Als er mit Ingeborg im Schlitten saß, reichte er dem Oberförster die Hand.

»Sie sind ein prächtiger Herr, Herr Oberförster!«

»Ganz meinerseits!« sagte Gerstenberger geschmeichelt, und der Schlitten fuhr ab.

Wir sahen dem Paar nach.

»Jetzt reicht sie ihm bis an die Schulter,« sagte Gerstenberger tiefsinnig, »und vorhin, als sie hier standen, hätte sie ihm nicht mal in den Ellbogen beißen können. Das ist komisch! Aber es sieht doch sehr hübsch aus.«

Auch wir fanden, daß das Bild des abfahrenden Schlittens mit den beiden jungen Menschenkindern recht hübsch aussehe. Als dann der Schlitten zurückgekommen war und ich mit Marianne davonfuhr, hätte ich gern gewußt, ob die uns nachschauenden Männer auch uns beide für ein schönes Paar halten würden. Mir war wieder ganz beklommen, als ich so allein mit dem schönen Mädchen im Schlitten saß. Das war mir verwunderlich genug; denn seit Jahren hatte mein Herz in Gesellschaft von Damen nicht mehr eine Steigerung des Tempos erfahren, den Fall Ingeborg etwa ausgenommen.

Schon bogen wir in den Burgweg. Im langsamsten Schritte machten sich die Pferde nun schon das drittemal an den beschwerlichen steilen Weg. An der Seite war ein Fußsteig ausgetreten, zur Hauptsache wohl von Baumann, der ja sooft den Berg hinauf- und heruntersteigen mußte.

Da sagte Marianne:

»Jetzt werden wir aussteigen und zu Fuß gehen. Fahren Sie ruhig nach Hause, Kutscher!« – –

Die Sonne schien, der beschneite Wald war so schön, und jede schlanke Tanne sah aus wie eine Braut.

Ein Reh lief uns über den Weg und sah uns mit großen Augen an.

»Es hat Hunger,« sagte Marianne.

»Vielleicht! Aber es sind einige Futterplätze im Walde.«

Ich blieb stehen.

»An dieser Stelle bin ich einmal dem Hartwig begegnet. Da hat er mir nachgerufen: ›Die Ingeborg will ich!‹ weil er meinte, ich würde sie ihm nehmen. Und jetzt – es ist kaum acht Wochen später.«

»Ja! Es ist schade um den Hartwig; er hatte doch viel Willen, aber halt nicht genug, um mit seiner Phantasie fertig zu werden.«

»Mit seiner Liebe wollen Sie sagen.«

»Die Liebe ist nichts anderes als ein Phantasiegebilde.«

»Wie skeptisch, Fräulein Marianne! Die Liebe ist der Hunger der Seele. Sie ist da, sie ist wirklich – wie der leibliche Hunger. Und sie schließt ein Bedürfen in sich, ohne dessen Befriedigung der Tod eintritt. Das ist meine Meinung.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich glaube es nicht,« sagte sie. »Und wenn die Liebe ein Hunger ist, so doch einer, der heute auf dieses und morgen auf jenes gerichtet ist. Es ist ja auch ganz natürlich. Es kann nicht jemand alle Tage dieselbe Speise essen.«

»Fräulein Marianne, verzeihen Sie, aber es ist bitter, solche Worte aus dem Munde einer jungen Dame zu hören.«

Sie sah mich an.

»Warum sagen Sie nicht bald Ihre volle Meinung? Ich erscheine Ihnen unweiblich und – ich will einmal so sagen – unjung. Vielleicht überspannt! Das kann schon sein!« »Gott bewahre, das geht viel zu weit. Aber, wenn ich ganz aufrichtig sein soll, viel zu versonnen und viel zu verbittert.«

Es zuckte um ihre Lippen.

»Ich hatte eine sehr ernste Mutter,« sagte sie. »Da ist es so geworden. Zuletzt war ich immer mit ihr allein. Da ist mir der ganze fröhliche, törichte Glaube an Liebe und Treue verloren gegangen. Die Mutter hatte ihn auch nicht.«

»Fräulein Marianne, es sind Ihre ureigensten Herzens- und Lebensangelegenheiten, aber – verzeihen Sie dem Fremden – es ist doch unendlich traurig, daß es so geworden ist – es ist doch ein Unglück für ein so junges Menschenkind.«

Sie sah mich freundlich an und schüttelte wieder den Kopf. »Ein Unglück? Das glaube ich nicht. Es wird vielmehr mein Glück sein, oder wenn nicht mein Glück, so doch mein Schutz. Ich habe eine Schwester, die war in derselben ernsten Schule wie ich, aber sie hat der Mutter nicht geglaubt, und sie ist jetzt elend. Ich sage Ihnen das so, weil wir doch jetzt gewissermaßen Familiengenossen sind und damit Sie mich nicht ganz mißverstehen.«

»Ich bin Ihnen dankbar für Ihr Vertrauen, Fräulein Marianne!«

Da schüttelte sie die trüben Gedanken von sich ab.

»Sehen Sie doch diese kleine Tanne! Würde sie nicht einen schönen Christbaum abgeben? Baumann soll heute noch einen Christbaum aus dem Walde holen; er könnte diese Tanne nehmen.«

»Ja, wir wollen sie uns merken!«

Ich nahm ein kleines blaues Bändchen, das ich vom »Einbinden« des Patenbriefes noch übrig hatte, aus der Tasche und band es an die Tanne.

»Gezeichnet fürs Christkind,« sagte Marianne.

Es war dieselbe Lichtung im Walde, wo ich einmal hinuntergeschaut hatte ins Dorf, als die Sterbeglocke klang. Auch heute war mir ernst-feierlich zumute. Die weiße, blinkende Welt, das verschneite Dorf, der lustige Taktschlag der Dreschflegel unten, das alles nahm ich nur mit halben Sinnen auf. Ich kam mir selber versonnen vor, so als hätte mich das Mädchen angesteckt mit seiner Schwermut. Und doch war tiefer Friede in mir.

Eine unbestimmte, freundliche Sehnsucht nach etwas ganz Fernem ergriff mich, und ohne daß ich mir Rechenschaft gab, was ich tat, ergriff ich Mariannens Hand:

»Ich wäre glücklich, wenn ich Ihr Freund sein könnte.«

Da zuckte sie zusammen und sah mich an. Ihre schwarzen Augensterne wurden strahlend weit, und sie sagte mit leiser, zitternder Stimme: »Nein – die Glückliche wäre ich! Sie – Sie sind ein edler Mensch – und stark sind Sie! – Jawohl – ich weiß es – ich weiß es von Anfang an. Ich bin schwach und allein. Wenn Sie mein Freund wären, dann würden Sie mir helfen.«

»Marianne!«

Sie erschrak vor der Leidenschaftlichkeit des Aufrufs. Aber dann sagte sie: »Ich werde mich auf Sie verlassen.«

Und dann gingen wir nach Hause. Sie fing ein paarmal zu reden an; ich habe wohl kaum viel geantwortet.

Ich starrte immer auf den Weg, in den durchfurchten Schnee. Es stürmten viel Gedanken auf mich ein, aber keiner wurde klar. Alle gingen ineinander unter.

Als ob mich der Weg anstrengte, so schwer ging mir der Atem, und ich wollte immer etwas sagen und fand keine Worte.

Als die beschneite Burg vor uns aufstieg, blieben wir stehen.

»Das ist doch schön,« sagte sie, »das ist doch ein Wintertraum!« Ich atmete schwer.

»Aber wenn's Frühling wird –« sagte ich.

»Wenn's Frühling wird, bin ich nicht mehr hier.«

Da ging die kleine gotische Pforte auf, und Ingeborg flog uns entgegen wie ein Vorbote des Frühlings oder wie der Frühling selber.


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