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In Eis und Schnee

.Das sonnig-klare Wetter des Vortages hatte sich gewandelt. Der Himmel war bewölkt, und ein Wind wehte, den die Gebirgler als ganz mäßig bezeichneten, der uns Leuten aus der Ebene aber immerhin recht frisch vorkam.

Trotzdem brachen wir alle auf. Der Oberförster wurde zeitig von dem Forstmanne abgeholt, bekam Schneereifen an die Füße gebunden, die das tiefe Einsinken in den Schnee verhindern, und stampfte mit seinem Begleiter davon. Waldhofer, Ingeborg und der Assessor traten ihre Kammwanderung ebenfalls in Begleitung eines Führers an; nur Marianne und ich beschlossen, unseren Skilauf allein zu wagen. Die Luft war klar, und die Wegemarkierung ist dank der rastlosen Tätigkeit des Riesengebirgsvereins so vorzüglich, daß wir schon auszukommen hofften. Es wurde verabredet, uns abends in der Prinz-Heinrich-Baude wieder zu treffen.

Es wunderte mich im geheimen, daß Marianne nicht auf der Mitnahme eines Führers bestand, trotzdem unsere Wirtsleute in der Peterbaude und auch unsere Reisegefährten uns diese Vorsichtsmaßregel dringend anempfahlen.

Die Schneeschuhe waren an die Füße geschnallt, und nun ging es auf diesen Riesenholzsohlen in rascher Fahrt hinab zu der Spindlerbaude. Das Gefälle bis dahin beträgt nur knapp zweihundert Meter, aber der Schnee war glatt, und ich hatte seit fast einem Jahre das Ski nicht mehr unter den Füßen gehabt, kurz, ich war unsicherer als Marianne.

Das Thermometer in der Spindlerbaude zeigte sechs Grad Kälte; trotzdem wurde uns außerordentlich warm, denn der Aufstieg zur Sturmhaube, den wir wegen des viel zu glatten Abhangs zu Fuß zurücklegen mußten, ist steil, und der Wind machte ihn nicht bequemer. Oben ging es dann auf Schneeschuhen weiter, immer geführt von den Holzstangen, die als Wegemarkierung aus dem Schnee herausragten. Sie geleiteten uns auch sicher um die Teichränder herum, an deren Abgründen ein Fehltritt den Tod bedeuten würde.

Ohne Rast liefen wir weiter. Der Koppenplan tauchte auf, ein endlos weites Schneefeld. Drüben ragten die Kuppen des Brunnenberges und der langgestreckte »Hintere Wiesenberg« auf; vor uns lag die leuchtende Pyramide der Schneekoppe, dieses höchsten Berges im Königreich Preußen.

Die Bauden, das meteorologische Observatorium und die Kapelle hoben sich deutlich in der Luft ab. Ich wußte, daß wir von dieser Seite aus auf den Gipfel mit unseren Schneeschuhen nicht gelangen könnten; wir schnallten sie also los, und so bemühten wir uns, vom Winde gepeitscht, die verschneiten Serpentinen emporzuklimmen.

Angestrengt und erhitzt kamen wir auf dem Kegel an. Von den Koppenbauden ist eine auch im Winter bewohnt, nämlich die böhmische. Der Koppenwärter begrüßte uns freundlich, und eine Wirtschafterin erschien, um uns ein Mahl zu bereiten. Ein eiserner Ofen machte die Stube behaglich.

Bisher hatten Marianne und ich wenig miteinander gesprochen, wenigstens nichts anderes, als was sich auf den Skilauf und auf unsere Schneebahn bezog. Auch jetzt waren wir schweigsam. Und doch tobte ein heftigerer Sturm in mir als der, der draußen um den alten Koppenkegel brauste. Was hat der zu verjagen? Wenn er verweht ist, kommt die Sonne, kommt der Frühling einmal wieder; wenn der andere vertobt ist, kann er eine ewige Leere, einen trostlosen Winter zurücklassen.

Wie schön sie war! Die Wangen blühten ihr wie die Rosen, und um die schneeweiße Stirn legte sich ihr nachtschwarzes Haar. Sie war doch ein seltsames Menschenkind! Mutig wie eine Heldin und zag wie ein Kind, vertrauend auf ihre Kraft, und dann wieder furchtsam vor einer unbekannten großen Gefahr, freundlich im äußeren Verkehr, und leicht erschreckt, übermäßig vorsichtig, wo sie die Liebe witterte.

Wir hatten uns ein wenig erholt und gingen hinaus, um die winterliche Aussicht zu genießen.

Hinter der einsam liegenden deutschen Baude fanden wir eine Stelle, an welcher uns der Wind weniger erreichte. Dort schauten wir hinab ins Tal.

Das wunderschöne Schlesierland lag vor uns im jungfräulich-weißen Brautgewande. Wie verstreute Myrtenzweiglein blitzten hie und da grüne Tannenäste aus dem faltigen Kleide. Menschenhäuser lagen drunten wie schimmernde Perlen, und feiner Nebel flatterte über allem wie ein duftiger Schleier. Dazu sang im hohen Orgelton der Wind sein ewiges Lied, jetzt aufjauchzend und himmelstürmend in brausenden Tönen und dann wieder feierlich-ernst in tiefen Akkorden, ganz so wie das keusche Mädchen sein Brautlied hört, das ihm Lust und Weh verkündigt. Wir einsamen Menschenkinder standen mitten in Eis und Schnee, und unser Blut war so heiß. Leise fing ich an zu reden, von der Schönheit ringsum, von dieser bräutlichen Erde. Ich schaute sie an. Da – mit elementarer Gewalt, die keinen Willen, keine Überlegung mehr gönnt, stieg ein glühendheißer Wunsch in mir auf, ein brennendes Begehren, und ich sprach mit zitternder Stimme: »Was wäre diese Erde – diese Schönheit – dieses Glück – mir – mir – Marianne, wenn Sie die Braut wären, und Sie als Braut neben mir ständen.«

Sie wurde bleich, sie fing heftig an zu zittern, sie klammerte sich mit beiden Händen fest an meinen Arm.

Da riß ich sie in meine Arme.

»Marianne, ich liebe dich! Ich liebe dich heute und ewig! Ich liebe dich mit meiner ganzen Seele!«

»Was – was – was ist – lassen Sie mich los – frei – nein – nein, nicht! O Gott!«

»Marianne, du mußt!«

»Ich muß nicht, ich will nicht, in Ewigkeit will ich nicht!« Eine Lähmung ergriff mich.

»Sie stoßen mich zurück, Marianne, mich und meine Liebe?«

Sie wollte sich aufrichten, aber sie taumelte zurück und lehnte sich kraftlos gegen das Haus. Dort schlug sie beide Hände vors Gesicht.

»Ich kann nicht – ich kann nicht – o, mein Gott!«

Ich wandte mich ab. Ich wollte denken, mich sammeln, etwas sagen, ich konnte es nicht. Nur in den Schnee sah ich, ohne Gefühl, so, als ob mir plötzlich das Herz erfroren wäre. Ich hörte kaum, wie sie weinte. Ich hatte auch kein Mitgefühl für sie. Aus allen Himmeln war ich gestürzt, es war mir, als ob ich ihr all das Meine hätte schenken wollen und wäre dafür geschlagen worden. Namenloser Groll erfaßte mich.

Da hing sie plötzlich wieder an meinem Arme mit beiden Händen, und ihre Blicke gruben sich wieder in lodernder, verzehrender Angst in die meinigen.

»Sie grollen mir so sehr?«

Ich antwortete nicht.

»Halten Sie mich für herzlos?«

»Für herzlos, für grausam, für – für verbildet – für krankhaft – für alles!«

Sie war nicht beleidigt. Ganz milde sagte sie: »Armer Freund!«

»Ich will nicht Ihr Freund sein. Ich kann nicht nur Ihr Freund sein!«

»Und wollen Sie mich auch nicht anhören? Ich bitte Sie darum.«

»Nein! Ich weiß alles, was Sie mir sagen könnten. Von der Untreue, von schlechten Erfahrungen aus Ihrer Familie – ich weiß es, aber das ist alles Unsinn, deswegen haben Sie kein Recht, mich so unglücklich zu machen –«

»Wollen Sie mich nicht lieber hören?«

»Nein! Es gibt keine Erklärung im Himmel und auf Erden, die mir klarmachen könnte, daß meine Liebe so zertrümmert werden muß.«

Da ließ sie mich los und ging fort. Ich sah ihr nicht nach. Auf keinen Fall hätte ich jetzt in die Baude zurückgehen können. So blieb ich stehen. Ich kann mich meiner Gefühle von damals nur undeutlich erinnern. Ich weiß nur, daß Trotz und trostlose Verbitterung in mir waren; dazwischen zuckte der heiße Schmerz auf. Ich versuchte zu lachen, das war eine Grimasse. Der Kopf brannte mir. Ich nahm ein wenig Schnee und drückte ihn gegen die heiße Stirn.

Endlich besann ich mich. Was sollte werden? Ich mußte doch schließlich hinein. Ruhiger mußte ich werden. Ich würde ein paar höfliche Worte zu meiner Entschuldigung sagen und sie dann zu den übrigen zurückbegleiten. Das war alles! Dem Assessor und Waldhofer würde ich eine, irgendeine Erklärung abgeben und dann bald abreisen. Wohin? Das war gleich. Vielleicht nach Berlin. Mitten ins tolle Leben.

Langsam ging ich nach der Baude. Ich würde mich jetzt schon beherrschen können. Sie hatte ja viel eher gewagt, den Wirtsleuten unter die Augen zu treten.

An der Tür begegnete ich dem Koppenwärter.

»Ist das Essen fertig?« fragte ich ruhig.

»Es ist gleich so weit.«

Ich trat in die Gaststube – da brausten mir wieder die Sinne.

Die Stube war leer.

Ich ging zu dem Wärter zurück.

»Ist denn die Dame noch nicht zurück?«

Er sah mich verwundert an.

»Nein, sie war doch bei Ihnen.«

»Ganz recht! Sie wird noch irgendwo die Aussicht ansehen. Wenn das Essen fertig ist, suchen Sie doch mal die Dame draußen auf dem Plane.«

Er ging, und ich saß an einem Tische, ganz nahe am Ofen.

Müde stützte ich den Kopf auf beide Hände. So saß ich eine ganze Weile. Da ging die Tür. Der Koppenwärter trat ein.

»Die Dame ist nicht mehr da,« sagte er. »Die Schneeschuhe sind auch nicht mehr da. Sie ist hinunter nach dem Petzer.«

Ich fuhr auf.

»Was? Nach dem Riesengrunde – auf Schneeschuhen? Nicht möglich!«

»Ich sah die Spuren! Es ist eine gefährliche Sache. Wenn ich's gewußt hätte, hätte ich die Dame sehr gewarnt.«

Mir stockte das Blut. Ich hatte ja gehört, daß der Koppenabhang nach dem Riesengrunde hin von guten Skiläufern befahren wird – aber Marianne allein, in dieser Aufregung!

»Wenn die Dame nicht außerordentlich sicher ist, ist die Sache lebensgefährlich,« wiederholte der Koppenwärter.

»Sie ist nicht so sicher.«

»Dann hätte sie der Herr nicht allein fahren lassen sollen,« sagte der einfache Gebirgsmann strenge.

»Ich muß ihr nach! Hier, machen Sie sich bezahlt! Meine Schneeschuhe!«

»Ich werde Sie begleiten, Herr!«

»Nein, ich will allein nach; aber bald – bald!«

»Sind Sie so sicher?«

»Ich bin sicher, ganz sicher – nur bald fort!«

In Hast befestigte ich meine Skis. Ich machte die ersten Schritte – beinahe taumelnd.

»Halt!« schrie der Koppenwächter, »halt! Sie können nicht allein fahren. Sie verunglücken bestimmt!«

»Es ist egal, ich muß fort!« »Es ist nicht egal! Und die Dame? Wenn sie Hilfe braucht?«

»Wenn sie Hilfe braucht!«

Das gab den Ausschlag.

»Kommen Sie mit!« sagte ich.

Bergab, dem gähnenden Riesengrunde zu, ging die Fahrt. Der Führer voran, ich hinterdrein. Ich war nicht fähig, auf den Weg zu achten. Ein paarmal fiel ich hin, stand mühselig mit Hilfe des Führers wieder auf. Die Hände bluteten mir. Der Wind benahm mir oft den Atem. Ich achtete nicht darauf. Mechanisch führte ich die Befehlsrufe des Führers aus, folgte ihm willenlos, wenn er bei sehr steilen Stellen hinüber- und herüberkreuzte oder in sanfterer Bahn rasch bergab fuhr. Auf die Umgebung, auf den Weg achtete ich nicht; ich könnte ihn heute nicht mehr beschreiben.

Immer spähte ich nach vorn. Schon war es dämmeriger geworden, und wenn wir durch Waldbestand kamen, verlor sich alle Aussicht. Marianne war allein hier heruntergefahren! Und warum – warum? Weil ich sie trotzig, unritterlich, roh von mir gestoßen hatte.

Ein toller Wirbel tobte in mir: Liebe, brennende Reue, Hoffnung und immer die wahnsinnige Angst.

Der Führer hielt. Es war eine tiefere, geschützte Stelle. In ängstlicher Spannung sah ich ihn an.

»Die Dame ist in die Irre gegangen,« sagte er. »Sehen Sie, da geht die Skispur hinüber – und da hinunter führt der Weg nach dem Petzer.«

»So gehen wir der Spur nach – der Spur nach!«

»Die wird sich bald verlieren. Der Wind weht stark, und es gibt vereiste Stellen, wo nichts mehr zu erkennen ist.« Furchtbare Angst packte mich.

»Was sollen wir tun? Sinnen Sie doch auf Rettung!«

»Wenn es bloß etwas klarer wäre! Hatte die Dame Proviant bei sich?«

»Nein, den habe ich!«

»Wann hat sie zuletzt gegessen?«

»Heute früh um &frac12;7.«

Das Gesicht des Gebirglers wurde überaus ernst.

»Das ist schlimm,« sagte er.

»Sie glauben an ein Unglück?«

»Es ist noch kein Skiläufer bei uns ernst verunglückt, noch nicht einer von den fremden,« sagte er; »aber unter den Umständen – wenn die Dame heißhungrig wird und kein Haus erreicht, kann sie verloren sein.«

Ich stützte mich auf den Gebirgsstock und schloß die Augen. Inzwischen sann der Führer nach.

»Kommen Sie,« sagte er, »in der Richtung, nach der die Dame gefahren ist, liegen ein paar Häuser. Es wird ja wenig davon zu sehen sein, sie sind ganz verschneit, aber vielleicht ist sie doch hingekommen.«

»Und wenn sie nicht dort ist?«

»Dann bleibt uns bloß noch übrig, aufs Geratewohl zu suchen, was freilich wenig Zweck hat.«

Wir brachen auf. Meine Angst hatte den höchsten Grad erreicht. Marianne in Nebel und Schnee, ohne Nahrungsmittel in der Irre! Wie lange wir fuhren, weiß ich nicht mehr, mir erschien es natürlich als Ewigkeit. Die Spur hatten wir längst verloren. Der Führer blieb zwei- oder dreimal stehen, um sich zu orientieren.

Da tauchte endlich, endlich eine Gebirgshütte vor uns auf.

Sie war tief verschneit; nur das Dach ragte aus dem Schnee heraus.

O, wenn sie dort wäre!

Ich eilte dem Führer voraus und hielt am Giebel des Hauses. Mit meinem Stocke pochte ich heftig an die Bretterwand.

»He!« rief der Führer. »Der Eingang ist auf der anderen Seite.« Wir fuhren um das Haus herum. Da zeigte der Führer auf den Schnee.

»Hier sehen Sie die frische Skispur! Sie wird hier sein!« Jubel erfaßte mich. Ich reichte dem Manne die Hand.

»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.«

Inzwischen öffnete ein Mann das Giebelfenster.

»Ist eine Dame hierhergekommen?« fragte ich und richtete meinen Blick angstvoll auf das bärtige Gesicht.

»Ja,« sagte der Mann; »sie ist unten.«

Zentnerlast fiel mir vom Herzen. Wir stiegen durch das Giebelfenster und kamen in eine dunkle Kammer. Der Hauswirt sagte, wir möchten warten, er würde erst eine Laterne holen. Ganz still stand ich in dem dunklen, engen Raume. Aber mein Herz war voll Freude. Unten – geborgen, gesichert – war sie.

Die Laterne wurde gebracht. Auf einer steilen Holztreppe stiegen wir in dunkle Tiefe. Das gelbe Licht warf dunstigen Schein auf einen finsteren Flur. Aber Leben war dort unten. Ich hörte ein paar Ziegen meckern und eine Henne gackern, auch ein Hund fing an zu bellen.

Nun öffnete der Laternenträger eine Tür. Schwaches Nebellicht drang uns entgegen. In eine Stube traten wir, in der war ein riesiger Ofen und einige Betten. Und am Tische saß Marianne.

Ich ging ihr entgegen und reichte ihr beide Hände hin.

»Gott sei gelobt, daß wir Sie gefunden haben!«

Sie sah mich mit unbewegtem Gesichte an.

»Ich dachte nicht, daß Sie mir nachkommen würden.« sagte sie.

»Sie waren in großer Gefahr, Fräulein Marianne.« Sie schwieg.

»Ich habe furchtbar um Sie gebangt.«

Sie sagte noch immer nichts. Ich setzte mich zu ihr. Hier war kein Ort zu irgendeiner Aussprache. Mann, Frau, Kinder, die Großmutter, alles war in dem einen Raume zusammen. Nach einiger Zeit kam auch eine Ziege neugierig in die Stube geguckt.

Marianne wandte sich an den Führer.

»Ich habe mich verirrt,« sagte sie, »dort drüben – ich wollte nach dem Petzer.«

»Das Verirren ist heute sehr leicht möglich,« sagte der Führer. »Bei diesem Wetter ist das Skilaufen nicht ohne Gefahr.«

»Ich fürchte mich nicht,« antwortete sie; »ich bin nicht ein einziges Mal ausgeglitten. Aber ich bekam Hunger. Zum Glück hatte ich ein Stück Schokolade bei mir. Das hat mich wohl gerettet.«

Das alles sagte sie ganz gleichgültig. Mich beachtete sie wenig. Sie sprach nur mit dem Koppenwärter und dankte ihm für seinen guten Willen.

Da wurde auch ich allgemach viel ruhiger. Die Beruhigung trat ein nach der ungeheuren seelischen Aufregung, das Blut ebbte aus dem Gehirn zurück.

Ich sah mich in dem Raume um. Diese Leute mußten ein sehr armes und wohl ein furchtbar einsames Leben fuhren. Vielleicht hatten sie stundenweit zum nächsten Nachbar. Ein paar Stunden hinüber nach Osten oder Süden lag die Welt. Sie waren außerhalb der Welt, von ihr gänzlich getrennt durch eine weite, weite Schneegrenze. Nicht einmal das Sonnenlicht hatte Zutritt zu ihrem Heim. Ihre ganze Wohnung lag buchstäblich im Schnee begraben. Nur an den Fenstern waren Licht- und Luftschächte nach oben gegraben. Durch die fiel eine spärliche Helligkeit in die Stube.

Aber sie murrten nicht; und ich glaube nicht, daß sie weniger glücklich sind als ich oder sonst einer. Sie bewirteten uns mit heißer Milch, gutem Brote und frischer Butter. Dieses Mahl vervollständigte ich aus meinen Vorräten. Wir aßen, und wir hatten das nach den körperlichen Anstrengungen dringend notwendig.

Gleich nach der Mahlzeit sagte Marianne:

»Bitte, geben Sie mir meinen Gebirgsplan.« Ich tat es. Der Koppenwärter fragte, wohin die Dame heute noch wolle.

»Nach der Prinz-Heinrich-Baude,« sagte sie, »über Petzer, Geiergucke, Wiesenbaude.«

Dabei zeigte sie auf die Karte.

»Das ist ein weiter Weg,« sagte der Koppenwärter; »ich rate Ihnen dringend ab. Das Wetter ist nicht danach. Bleiben Sie im Petzer!«

»Das geht nicht,« sagte sie entschieden. »Aber ich wäre sehr dankbar, wenn Sie mir den Weg nach dem Petzer zeigten.«

Dazu war der Führer gerne bereit. Aber er warnte nochmals. »Wenn ein Gebirgsnebel kommt, ist die Fahrt lebensgefährlich,« sagte er. »Dann findet sich sogar der Gebirgler nicht mehr tausend Schritt weit von seiner Baude zurecht.«

Der Hauswirt bestätigte das. Er erzählte in einem schwerverständlichen Gebirgsdialekt, er sei einmal im Petzer unten gewesen, auf der Heimreise in den Nebel gekommen und stundenlang umhergeirrt. Schließlich sei ihm alle Kraft ausgegangen und er habe sich in den Schnee setzen müssen. Dann aber sei der Mond gekommen und habe den Nebel zerteilt. Da sei er gerade fünf Minuten weit von seinem Hause weg gewesen und doch beinahe umgekommen.

»Brechen wir auf!« sagte Marianne als Antwort auf dies alles. »Es ist Mittag; gegen 4 Uhr wird's finster.«

Ich bezahlte die Leute, und wir stiegen auf dem Wege, den wir gekommen waren, ins Freie zurück. Die Mittagsonne hatte inzwischen die neblige Luft doch zu durchdringen vermocht. Es war heller. Der Hauswirt bezeichnete uns den nächsten Weg nach dem Petzer, und die Fahrt ging, da wir den Wind fast im Rücken hatten, pfeilschnell nach der Sohle des Riesengrundes hinunter. Unterwegs sagte Marianne zu dem Koppenwärter, er möchte nur ruhig heimkehren, ein Verirren sei jetzt ausgeschlossen. Der Mann bot sich an, uns bis zur Wiesenbaude und darüber hinaus zu begleiten, er käme ja dann auch zur Koppe zurück. Marianne lehnte das freundlich, aber entschieden ab. Da sagte er nichts mehr. Ich verabschiedete mich sehr herzlich von dem braven Manne.

Nun waren wir allein. Jetzt wollte ich reden. Aber die rasche Fahrt gestattete kaum eine Unterhaltung. Im Petzer erst, als wir kurze Rast machten, fragte ich Marianne, ob wir nicht doch einen Führer mit uns nehmen wollten.

»Wenn Sie irgendwelche Befürchtungen haben, nehmen Sie einen,« sagte sie.

Das klang so, als ob sie an meinem Mannesmute zweifle. Groll faßte mich, und ich sagte:

»Ich wollte vorhin auch von der Koppe ohne Führer fahren, aber der Mann oben fragte, ob die Dame nicht vielleicht der Hilfe von vier Armen bedürfen könnte. Da nahm ich ihn mit.«

»Ich wollte Sie nicht kränken,« sagte sie freundlicher.

Ich erwiderte nichts, wandte mich ab und bezahlte. Gleich darauf brachen wir auf – ohne Führer.

Der Weg zur Geiergucke ging steil bergan. Aber der Wind war uns günstig, und wir kamen ziemlich rasch vorwärts. Die Anstrengung war freilich groß, zumal für mich, der ich größere körperliche Leistungen gar nicht mehr gewöhnt war. An Marianne bemerkte ich kein Zeichen von Erschöpfung.

Ein mutiges, starkes Mädchen war sie doch.

Die Liebe kam wieder, und ich überwand meine Verstimmung. Ich erinnerte mich auch wieder deutlich, wie viel Anlaß zu ihrem Verhalten ich ihr gegeben. Da blieb ich halten.

»Marianne, es geht nicht so weiter! Das ist furchtbar! Wenn Sie schon von meiner aufrichtigen Liebe zu Ihnen nichts wissen wollen, auf solche Weise können wir doch nicht voneinander scheiden.«

Sie sah vor sich nieder und schwieg. Da fuhr ich fort:

»Es ist der letzte Tag, da wir beisammen sind. Heute abend werde ich Ihrem Bruder und auch Waldhofer eine angemessene Erklärung abgeben, und morgen früh trennen sich unsere Wege für immer.«

Da erbleichte sie, und ihre Lippen zuckten.

»Sie brauchen sich darüber nicht zu erregen! Ich werde Ihrem Bruder und Waldhofer einfach sagen, daß ich Sie mit aufrichtigem Mannesherzen um Ihre Liebe und Ihre Hand gebeten habe und von Ihnen abgewiesen worden bin. Dann werden sie meine Abreise selbstverständlich finden, und auf Sie fällt kein Schatten.«

»Als wenn es das wäre! Als wenn ich meinen Bruder fürchtete oder sonst einen auf der Welt!«

»Nein, Marianne, es ist noch etwas anderes. Ich habe schwer gefehlt gegen Sie, ich weiß es. Ich bin unritterlich, ich bin roh gewesen. Wenn Sie die Liebe kennten, würden Sie vielleicht barmherzig sein und mir verzeihen. Ein Mensch, dem sein ganzes Glück in Trümmer fällt, der – der begeht wohl eine Roheit. Ich vergaß, daß ich ein Bittender war, ein Bittender ohne Recht.«

Und jetzt – jetzt plötzlich – war sie ein ganzes Weib. Ein Strom von Tränen brach aus ihren Augen.

»O Gott, wenn Sie mich doch hören wollten.«

Ich ergriff ihre Hand und küßte sie innig.

»Kommen Sie weiter, Marianne, langsam weiter. Und sprechen Sie! Ich werde keines Ihrer Worte vergessen. Mein Leben lang nicht!«

Es ging immer noch bergauf. Wir fuhren ganz langsam und blieben oft halten. Dabei sprach sie müde, beinahe monoton:

»Meine Mutter hat mich so geliebt, wie keines von ihren Kindern. Ich will sie ja vor Ihnen nicht loben, aber sie war eine herrliche Frau. Sie war immer mein Ideal, und sie wird es bleiben. Und zwei Stunden vor ihrem Tode hat sie mir gesagt: ›Marianne, hüte dich vor der Liebe! Vertraue dich keinem Manne! Marianne, du – du mußt glücklich bleiben!‹ Das ist so gekommen: Meine Mutter war aus einer guten, aber verarmten Familie. Sie hatte zwei Schwestern. Die drei Mädchen waren sehr schön. Ich habe die Bilder gesehen. Solche Schönheit ist selten. Die erste hat einen reichen Mann geheiratet. Sie wollte sich für die Familie opfern. Der Mann war ein geiziger Ekel, der sich die schöne Frau um Geld kaufte. Bei ihm ist die Frau verdorben und gestorben. Die zweite Schwester liebte einen jungen Offizier, und er liebte sie auch. Aber sie konnten beide die Garantiesumme nicht aufbringen. Der Offizier wollte quittieren; aber im letzten Augenblick – sie waren schon verlobt – besann er sich und heiratete eine vermögende Fleischerstochter. Da ist die Schwester meiner Mutter krank und dann langsam wahnsinnig geworden. Sie lebt jetzt noch in einer Anstalt – jetzt nach dreißig Jahren!«

»Das ist furchtbar!«

»So war bloß meine Mutter übrig,« fuhr Marianne fort. »Die Jüngste! Die Großeltern hingen an ihr mit ihrer ganzen Liebe. Sie suchten ihr mit ihren kargen Mitteln jeden Wunsch zu erfüllen. Nur nicht heiraten sollte sie. Nur nicht so elend werden wie ihre Schwestern. Da kam mein Vater. Er war ein junger Literat, einer, wie Sie sind. Er war sehr talentvoll und hatte in seinen jungen Jahren viele Erfolge. Der faßte eine glühende Liebe zu meiner Mutter. Und er war schön, liebenswürdig, heiter, er vertraute so fest auf seine Zukunft. Meine Mutter hat ihn oft geschildert. Er ist ein herrlicher Mann gewesen. Da liebte sie ihn mit einer blinden, abgöttischen Liebe. Sie hat mir einmal die Briefe gezeigt, die er ihr geschrieben hat. Diese Glut ist nicht zu überbieten. Sie heirateten. Gegen den Willen meiner Großeltern! Ihr Glück war groß. In seinen schönsten Liedern hat es mein Vater besungen. Ich habe sie später alle gelesen.

Sehen Sie – nach kaum zehn Jahren hat mein Vater meine Mutter verlassen – sie und uns drei Kinder!«

Sie blieb stehen. Ein Frostschauer lief über ihren Körper, und sie stützte sich schwer auf ihren Gebirgsstock. Ich war tief erschüttert. Da richtete sie sich auf und fuhr fort:

»Die Not – die gräßliche Not! Meinem Vater sind die Flügel lahm geworden. Einen ganzen Kasten voll Manuskripte hat mir meine Mutter gezeigt. Die hat er alle nirgends angebracht. Und an jedes war eine Hoffnung geknüpft, und wir sollten davon leben. Es gelang ihm nichts mehr. Und er wurde anders. Vergrämt, verbittert! Schließlich schob er alle Schuld auf seine häuslichen Sorgen. Er wurde roh zu der Mutter und zu uns Kindern, und er klagte immer um sein verlorenes Leben. Und einmal war er fort.«

Sie machte wieder eine lange Pause. Dann fuhr sie fort:

»Ich war damals ein Jahr alt – schwächlich und krank. Meine Schwester war fünf Jahre, und mein Bruder eben ins Gymnasium eingetreten. Die trostlose Zeit meiner Kindheit will ich Ihnen nicht schildern. Eins nur will ich sagen, wir haben wirklichen Hunger gelitten. Und die Mutter ist in ihren dreißiger Jahren schon eine alte Frau geworden. Wir hatten später Pensionäre, damit halfen wir uns durch und konnten dem Bruder das Studium ermöglichen. Er hat freilich auch schlimme Zeit gehabt, der arme Bursche. Als Tertianer hat er schon Stunden geben müssen. Und immer um Vergünstigungen und um Stipendien und um Freitische betteln – das war das Schlimmste! Mein Vater hat sich nie mehr um uns gekümmert. Keine Sehnsucht, keine Reue hat er gehabt, niemals etwas übrig, das er der Mutter geschickt hätte. Niemals etwas übrig, keinen Pfennig, kein gutes Wort, keinen Bissen Brot für sein Weib und seine Kinder. Und die Mutter wußte, daß es ihm gut ging drüben in Amerika. Verstehen Sie, daß das furchtbar, daß das verbrecherisch, daß das –

Doch weiter! Vor vier Jahren starb eine Tante meiner Mutter. Sie hinterließ ein großes Vermögen. Ihr Leben lang hatte sie sich nicht um uns gekümmert und ihr Vermögen bereits irgendeiner Stiftung vermacht. Aber auf dem Totenbette – wir haben sie nie zu sehen bekommen, sie lebte in Meran – also auf dem Totenbette besann sie sich und vermachte einen Teil ihres Geldes für die weitere Pflege der unglücklichen Schwester in der Irrenanstalt und das andere uns.

Dadurch wurden wir unerwartet wohlhabende Leute. Meine Mutter war ihrer äußeren Sorgen enthoben, aber neues Glück blühte ihr nicht. Sie war und blieb eine gebrochene Frau, war mit den Jahren völlig verbittert. Dazu kam ein neuer Schlag. Ihre älteste Tochter, meine einzige Schwester, hatte die trostlose Lage unserer Armut immer am schwersten ertragen. Sie war schön, lebenslustig und liebte den Genuß. Waldhofers Sohn verlobte sich mit ihr. Die beiden jungen Leute liebten sich sehr. Der junge Waldhofer war ein ganz herrlicher Mensch. Da fand er einen jähen Tod, wie Sie ja wissen. Er wurde ein Opfer seines ärztlichen Berufs. Ich glaubte damals, das würde meine Schwester nicht überleben. Aber als meine eigene Trauer um den Toten noch ganz frisch war, unterhielt sie schon ein Verhältnis mit einem anderen. So wankelhaft ist die Menschentreue! Sie verheiratete sich mit diesem Zweiten.

In noch nicht ganz zwei Jahren hat der Mann meiner Schwester einen großen Teil ihres Vermögens verliedert. Das andere hat mein Bruder gerettet. Mit ihrem Töchterchen lebte sie jetzt allein. Aber gerade am Weihnachtsabend, ehe ich Ihnen sagte, wir müßten uns trennen, hatte ich einen Brief von ihr bekommen. Sie will zu ihrem Gatten zurückkehren und wird da vermutlich in kurzer Zeit ganz im Elende sein. Sehen Sie, so – so wirkt die Liebe in meiner Familie.«

Wir blieben halten. Der Weg strengte uns sehr an, obwohl der Wind beinahe aufgehört hatte. Da sagte ich:

»Es ist ein furchtbares Familienbild, das Sie mir da entrollt haben, Marianne. Jetzt – in der Aufregung – was soll ich dazu sagen? Und doch, liebe Marianne, müssen Sie nicht zugeben, daß das Eheunglück, das in die Familie Ihrer Mutter eingebrochen ist – zwei Schwestern, die Mutter selbst und die Tochter – daß das doch in der Welt eine Ausnahme bildet?«

»In diesem Umfange wohl! Auch darüber habe ich mit meiner Mutter gesprochen. Da hat sie mich auf andere Ehen hingewiesen, die nach dem oberflächlichen Urteil der Welt ganz glücklich waren. Sie hat mir die siechen Frauen gezeigt, die als junge Mädchen ganz gesund waren; sie hat mich hingewiesen auf die abgequälten, abgegrämten, abgesorgten Geschöpfe, die vor der Verheiratung lustig und heiter waren; sie hat mir immer gezeigt, wie unliebenswürdig, wie wenig artig und ritterlich der Mann zu seiner Ehefrau ist im Gegensatz zu einer Fremden. Und sie hat immer gesagt: die Liebe des Mannes hält ein paar Jahre, dann ist sie aus. Im günstigsten Falle tritt ein Freundschaftsgefühl an ihre Stelle, meist verliert sie sich in stumpfe Gleichgültigkeit, in das gewohnheitsmäßige, leidige Sich- Ertragen. Das ist dann das ganze Glück, das die tausend kleinen und großen Trübsale und Kümmernisse aufwiegen soll.«

»O, Marianne, Sie sind in eine ganz furchtbare Schule gegangen! Jetzt verstehe ich vieles, was mir früher an Ihnen unbegreiflich war. Was Sie da anführen, läßt sich jetzt nicht alles widerlegen; aber ich bin überzeugt, daß alles widerlegt werden kann.«

Sie lächelte ungläubig.

»Glauben Sie, daß ich der Mutter nicht widersprochen hätte? Ich war doch jung; ich suchte auch Lichtpunkte, ich wollte auch vertrauen. Sie hat mir alles anders bewiesen. Immer bewiesen! Nicht nur mit Tränen und Entbehrungen, nein, mit Beispielen, immer mit Beispielen. Sie war eine kluge Frau! Und sie wollte nichts als mein Glück.«

»Sie wollte es, ja, das glaube ich. Aber ihr Weg, das schwör' ich Ihnen, war nicht der rechte. Marianne, kann denn aus vergrämten, verweinten Augen die Welt und die Menschheit gerecht und richtig angeschaut werden? Und wer selbst kein Glück hat, kann doch keines gründen. Ein Glück hat Ihre Frau Mutter nicht gegründet, aber eines zerstört!«

Sie sah mich traurig an. »Sprechen Sie nicht so! Es tut mir wehe! Ich glaube Ihnen ja. Aber Sie werden's überwinden. Sie sind ein Künstler. Gerade der Künstler soll frei bleiben. Die tausend Kleinheiten und Sorgen eines Haushalts trüben seinen großen Blick, die Alltagsschwere hingt sich wie Ketten an seine Flügel und hemmt den Aufflug.«

»Und die sogenannte Freiheit, die Ungebundenheit, meinen Sie, tun ihm wohl? Da gab' es keine kleinlichen Sorgen, keine fried- und freudlosen, bleischweren Alltagsstunden, keine Reue, keine Ratlosigkeit, keine Selbstmordgedanken? Aus meiner Ungebundenheit bin ich geflohen, Marianne! Mir waren ihre Öde, ihr Gefühlsleere, ihre tausendfachen Verirrungen zuwider. Hätte ich ein glückliches Heim gehabt, so wäre ich in der Großstadt geblieben. Da bildet der traurige Fall Ihres Vaters doch wirklich eine Ausnahme.«

Schweigend liefen wir weiter. Wir waren so ganz und gar mit uns selbst beschäftigt, daß wir auf Weg und Umgebung wenig achteten. Wir hatten auch nicht das rechte Gefühl dafür, daß uns eine ernste Gefahr drohen könnte. Und es war mir alles so recht gleichgültig. Ich fing wieder an zu reden.

»Sie haben gar kein Vertrauen zu mir?«

»Vertrauen ist nicht das rechte Wort! O ja, ich habe Vertrauen zu Ihnen, gerade zu Ihnen! Soviel, wie man zu der Kraft und dem guten Willen eines Menschen Vertrauen haben kann! Aber Kraft und guter Wille des Menschen sind so eng begrenzt.«

»So eng begrenzt, daß auf ihrer Basis kein Glück aufgebaut werden kann?«

»So ist es!« Da war nichts zu wollen. Diese junge Seele war der Skepsis verfallen, war von Kindheit an systematisch vergiftet. Groll stieg auf in mir gegen das tote, verblendete Weib, das solches getan hatte. In diesem Augenblicke hatte ich kein Erbarmen mit ihr. Und ich sprach es aus:

»Marianne, ich hasse Ihre Mutter! Sie hat ein Verbrechen begangen an Ihnen und an mir. Sie ist ein fürchterliches Weib gewesen!«

Sie sah mich an.

»Ich verstehe Sie, aber Sie tun der Toten sehr unrecht. Ich hasse auch einen Menschen – einen einzigen Menschen auf der Welt – meinen Vater!«

»Ihren Vater! Und doch! Seine Sünde ist schwer, aber menschlich leichter zu erklären, als das Verbrechen, das Ihre Mutter begangen hat. Er ist erregt, feig gemacht worden, in die Flucht gegangen wie ein Löwe vor den krabbelnden Mäusen. Aber Ihre Mutter! Sie hat viel geliebt, das gebe ich zu. Aber unter allen hat sie sich selbst am meisten geliebt. Und als diese Liebe verraten war, hat sie eine unedle Rache genommen. Sie hat den heiligen, reinen Brunnen Ihrer Seele vergiftet, Marianne! Sie wußte wohl, das fremde Gefühl, das zu dem innersten Heiligtum Ihrer Seele vordringen wollte, mußte unterwegs an den giftigen Brunnenrändern sterben. Und da wird alles sterben – nicht bloß der Feind, auch der Freund, auch das Glück!«

Sie blieb wieder stehen und sah mir tief und ernst in die Augen. Langsam sagte sie: »Es stehen Ihnen als Schriftsteller schönere Worte zur Verfügung als mir. Aber überzeugen können Sie mich nicht. Ich will Ihnen etwas sagen. Fühlen Sie eine geistige Verwandtschaft? Zwischen mir und meiner Mutter und Ihnen und meinem Vater? Ahnen Sie die Kluft? Und wissen Sie, was geworden wäre, wenn ich dort oben ›Ja‹ gesagt hätte? Die Tragödie hätte sich wiederholt.«

»Sie hätte sich nicht wiederholt. Das weiß ich! Was Ihren Vater zu Fall brachte und das Glück Ihrer Mutter zerstörte, war die Not um Brot. Die wird mich niemals quälen, ganz abgesehen von Erfolg oder Mißerfolg meiner Arbeiten. Es ist ja ganz nutzlos, daß ich nochmals von meiner Liebe rede. Eines will ich sagen. Ehe Sie kamen, gab es eine Zeit, wo ich glaubte, ich liebe die kleine Ingeborg. Ich hatte ein ganz süßes, liebliches Gefühl für sie. Aber es war seicht. Dort hätte es am Ende ein Unglück gegeben. Das Gefühl, das ich für Sie habe, ist von dem anderen verschieden wie das Meer gegen den lustigen Bach. Eben weil ich mich nochmals täuschte, nochmals in diesen Jahren, weiß ich jetzt genau zu unterscheiden. Meine Liebe zu Ihnen ist echt. Sie wären bei mir nicht verloren gewesen!«

Ihr Gesicht verzog sich von innerem Kampfe. Da brach ich ab.

»Sprechen wir nun nicht mehr davon! Morgen ist alles aus.«

»Sie wollen wirklich fort von uns?«

»Ja!«

»So wie mein Vater! Sie können nicht leiden und nicht leiden sehen.«

»Marianne! Leiden Sie denn auch? Werden Sie leiden, wenn ich fortgehe?«

Da blieb sie vor mir stehen und sah mich an. Klar und bestimmt sagte sie: »Ja! Ich will es Ihnen sagen. Ich liebe Sie! Ich liebe Sie mehr, als Sie mich lieben können! Und nun schweigen wir davon! Und gehen Sie morgen!«

Zitternd fuhr ich weiter, zitternd an Leib und Seele! Die Sonne verblaßte über mir tief in den Wolken. Die Augen taten mir weh. Weiße Nebel spannen sich um uns her. Sie huschten hin und her und vermischten sich. Das Tal lag hinter uns begraben und braute und wogte wie ein weißes Meer. Und die Wellen kamen herauf, näher, immer näher. Da schrak ich endlich auf.

»Wir sind in den Nebel gekommen!«

»Wo ist der Weg?«

Der Weg war verloren.

Da standen wir still. Wo kam der Nebel her? Quoll er aus der Tiefe wie das heimtückische Wasser der Flut, das auf einsamem Meeresboden den verlassenen Schlickläufer bedroht, senkte er sich vom Himmel nieder wie eine lautlose Todeswolke, kam er von rechts oder links geschlichen mit seinen tausendfachen, gespenstischen Spinnenarmen? Wir konnten es nicht unterscheiden. Plötzlich, ehe wir's noch glaubten, ehe wir fliehen konnten ins Lichte, waren wir eingehüllt von den weißen Nebelschleiern. Gefangen, gebunden von Milliarden weicher, nasser Nebelfäden.

Ich spähte um mich. Mein Gesichtskreis erstreckte sich nur auf einige Meter; dann erstarb der Blick in der toten, grauen Atmosphäre.

»Was sollen wir tun?« fragte Marianne.

»Das Schlimmste ist, daß wir die Wegemarkierung verloren haben. Sonst wäre keine Not. So dicht erscheint mir der Nebel nicht, daß wir nicht von einer zur andern Stange sehen könnten. Wir werden langsam weiterlaufen. Finden wir die Stangen, so sind wir gerettet.«

»Aber wohin? Nach rechts oder nach links? Ich denke, nach rechts!«

»Wir müssen es versuchen. Zu erkennen ist nichts. Aber rechts liegen die steilen Abstürze des Brunnenberges. Die können uns den Tod bringen. Halten wir uns links!«

Wir fuhren nach links weiter, ganz langsam, vorsichtig, das Auge immer auf den Boden gerichtet. Gesprochen wurde kein Wort. Nach einer Viertelstunde sagte ich:

»Es ist von den Stangen nichts zu sehen. So weit vom Wege können wir doch nicht abgewichen sein. Also hätten wir uns doch wohl vorhin rechts halten müssen.«

»Dann kehren wir um,« sagte Marianne, »und fahren wir unseren Skispuren nach zurück.«

Das taten wir, immer ganz langsam, immer ganz vorsichtig. Die Spuren hörten auf, nun fuhren wir weiter, nach meiner Meinung den steilen Rindern des Riesengrundes zu. Lange qualvolle Minuten vergingen wieder, von der Wegmarkierung war nichts zu sehen. Da war es uns klar, daß wir den richtigen Pfad überhaupt nicht mehr finden würden.

Wohin nun? Um uns graue, formlose Öde! Wie schwer dieser Nebel war! Es war, als drücke er auf das Gehirn. Ratlos blieben wir stehen. Marianne war bleich.

»Wir sind verloren,« sagte sie, »und ich bin schuld, weil ich keinen Führer haben wollte.«

»Klagen Sie sich nicht an, Marianne! Es ist noch ungewiß, ob ein Führer jetzt den Weg fände. Er könnte nicht weiter sehen als wir.«

»Aber wir würden mit ihm nicht vom Wege abgekommen sein.«

»Vielleicht! Doch ich würde dann auch nie das selige Wort gehört haben, daß Sie mich lieben, Marianne!«

Da senkte sie tief den Kopf.

»Ich bitte – daß Sie sich deshalb keine Hoffnung machen – angehören kann ich Ihnen nie.«

Müde zogen wir weiter, immer in die endlose, öde Leere hinein. Kein Sonnenstrahl kam uns zu Hilfe, keine Aussicht öffnete sich uns. Um uns das brauende Nebelmeer, vor uns der trostlose Weg.

Eine Stunde weit liefen wir, ohne nur das geringste Zeichen zu finden, das uns hätte zurechtweisen können. Nun war es vier Uhr! Die Sonne mußte am Untergehen sein. Dann kam die Nacht. Erschöpft hielten wir inne.

»Ich kann nicht weiter,« sagte Marianne.

»Wir wollen ruhen,« sagte ich.

Eine kleine Schneeschanze war da, auf die legten wir die losgeschnallten Schneeschuhe nebeneinander und setzten uns auf die also geschaffene Bank. Ich hatte außer meinem Wettermantel noch ein Tuch mitgenommen, das schlug ich Marianne um die Schultern. So saßen wir dicht nebeneinander. Die Nebelschleier färbten sich dunkler und dunkler. Bald mußte es finster sein. Ganz still saßen wir.

Da schauerte Marianne in sich zusammen.

»Wir müssen wohl sterben,« sagte sie.

Ich versuchte sie zu trösten. Die Luft war milde geworden. Vielleicht, wenn Mond und Sterne aufgingen, teilte sich der Nebel. Vielleicht brächten wir es auch fertig, bis zum Morgen auszuhalten. Nahrungsmittel hatten wir bei uns, auch ein wenig Wein.

Sie fing wieder an.

»Es tut mir so weh um Sie. Um Ihre Kraft, um Ihre Zukunft, um Ihr junges Leben! Und ich bin schuld!«

»Marianne! Ob ich heute sterbe, oder ob Sie mich morgen fortschicken, das ist ganz gleich, nachdem ich weiß, daß Sie mich lieben.«

»Geliebter!«

Das Tuch fiel in den Schnee. Sie hing an meinem Halse, hing mit ihrem weichen, jungfräulichen Munde an meinen Lippen. Ich schlang die Arme um sie und schloß die Augen. Da fing es an, um mich zu strahlen, zu blühen, zu duften. Tausend rote, goldene Sonnen loderten und drehten sich um mich, ein wundersames Singen und Klingen Hub an, ich war mitten drin in lauter Licht und Glanz, mitten im blendenden Frühling eines Wunderlandes. Und ich hörte eine süße Stimme sagen:

»Jetzt bin ich dein! Ganz dein! Ist der Tod süß! Der hat kein Leid, keine Untreue wie das Leben. Wenn du mir im Tode gehörst, gehörst du mir immer.«

»Geliebte! Du bist wirklich mein? Mein fürs Leben?«

»Dein für den Tod!«

Das sagte sie bedeutsam. Ich schaute auf. War das alles wirklich? Oder lag ich schon im weißen Schnee in den Wonneträumen eines Erfrierenden? Nein, ich wachte.

Wir küßten uns immer wieder. Lange und inbrünstig!

Ich hob das Tuch auf und schlang es um sie. Dann bettete ich sie an meine Brust und unter meinen Mantel.

Da sprach sie leise: »Ich will dir etwas sagen! Ich habe dich früher schon einmal geküßt.«

»Du – Marianne?«

»Ja! – Ich hab' dich schon viel eher geliebt, als du mich.«

»Du, Marianne? Ist das möglich?«

»Ich liebte dich, als ich dich zuerst sah. Als dich Hartwig brachte damals – o Gott! Und als mir Waldhofer erzählte. Dann wachtest du doch auf und wolltest, daß Hartwig frei sein solle. Waldhofer küßte dich und sagte: ›Ich liebe Sie, mein Freund.‹ Weißt du das noch?«

»Ich weiß es noch!«

»Dann war ich allein mit Waldhofer bei dir. Ich sah dich immer an. Du warst so blaß und so schön! Und du warst ein Held, wie ich noch keinen gesehen. Ein Sieger über seine Freunde, über seine Feinde und über sich selbst.«

»Das ist zu viel, Marianne!«

»Es ist so! Meine Mutter hatte mir nur von schlechten Männern erzählt. Kaum war sie begraben, so fand ich dich. Da erhob sich ein Sturm des Zwiespalts in meiner Seele. Aber wie ein frisches Aufatmen war's, wie ein gesunder Luftstrom in eine enge Gruft. Waldhofer wurde einmal hinausgerufen. Ich war allein mit dir. Da küßte ich dir beide Hände, und dann – als wenn ein Wunder geschähe – küßte ich deinen Mund.«

»Holdes, süßes, süßes Mädchen, das hast du getan?«

Sie schauerte plötzlich tief in sich zusammen.

»Aber dann – dann kam die Mutter! Ich wurde sie nicht los bei Tage und in der Nacht. Ich sah immer ihre sterbende, warnende Gestalt. Ich hörte ihre zürnende Stimme. O Gott, es war furchtbar!«

»Armes Kind!«

Sie träumte vor sich hin.

»Jetzt werde ich sie wiederfinden. Bald! Ehe der Morgen kommt! Sie wird mir nicht zürnen. Ich habe mich dem Manne gegeben, den ich liebe; aber bloß, weil ich gleich nachher sterbe.«

So fest glaubte sie an unseren Untergang. Und ich widersprach ihr nicht. Von Zeit zu Zeit tauchte ein Rettungsgedanke auf. Er ging bald unter in meinem Glück.

Süße Müdigkeit kam. Wir küßten uns und blieben still – lange, lange. Die Ewigkeit kam uns näher. Da war mir's, als ob ich auf einem stillen, goldenen Kahne hinüberführe zu ihren lichten Toren – die Geliebte im Arme.


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