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Frau Justitia bei Laune

.In der Nacht erhob sich der Sturm. Er fauchte schrecklich um die alte einsame Burg. Und ich lauschte ihm. Wie er an die Fenster stieß und mit den Scheiben polterte! Dazu hörte ich das Ächzen der Bäume, die sich im Winde bogen. Ich konnte nicht einschlafen.

Und da will ich ganz ehrlich sein: ich dachte an meine Bekannten in der Großstadt. Die saßen sicher um diese Zeit in irgendeiner Wirtschaft in gemütlicher Unterhaltung. Die elektrischen Glühbirnen strahlten taghell; es wurde geraucht, getrunken, geplaudert, gelacht. Was ging die der Sturm an!

Wovon plauderten sie? Von der Kunst, von den letzten Theatererscheinungen oder von den politischen Tagesbegebenheiten. Ich war jetzt fünf Wochen auf dem Waldhofe und hatte in dieser Zeit nicht eine einzige Zeitung in die Hand genommen, auch die Waldhofers nicht.

Was konnte nicht inzwischen alles passiert sein in der Welt! Ich wußte nichts davon. Wenn ich jetzt hätte eine Stunde bei meinen Freunden sitzen können, wäre ich ganz glücklich gewesen.

Ich lag wieder eine Weile ganz still, und dann ärgerte ich mich. Sollte der Baron am Ende recht haben, daß ich's nicht aushalten würde? Nein, ich würde mich schon wohlfühlen lernen hier oben, zumal meine Arbeit rüstig fortschritt.

Aber diese entsetzliche Nacht, dieses fürchterlich monotone Lied des Sturmes! Immer in chromatischen Halbtönen geht's auf und nieder. Teufelsmusik, Herengewinsel oder Hohngelächter des wilden Jägers!

Ich sehnte mich nach einem Wohllaut – meinetwegen nach einem Walzer.

Huiih – ging's wieder die Oktave hinauf und herunter. Es war gräuslich.

Ich stand auf. Licht mußte ich wenigstens haben. Die Lampe stand draußen im Bankettsaal, ich hatte sie heute gar nicht gebraucht. Ich zündete die Nachtkerze an, zog den Schlafrock an und ging in den Bankettsaal.

Da fand ich neben der Lampe in einer kleinen Vase eine rote Rose.

Von Ingeborg!

Vergessen war die glänzende Großstadt, vergessen die ganze Welt.

Ich griff nach der Rose mit leise zitternden Händen, ich erfreute mich an ihrem Dufte – ich küßte sie endlich.

O du holder Gast in der Einsamkeit, du goldener Bote von sonnigen Tagen, du süßer Bote der Liebe!

Ich sank in einen Stuhl und betrachtete immerfort die rote Rose.

Woher hatte das schöne Kind um diese Zeit die freundliche Blume?

Ich schloß die Augen und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen. Jetzt, in tiefer Nacht, in einem alten, zerfallenen Bau, während draußen der Sturm heulte und der Regen peitschte, blühte mir eine Rose auf, und die Liebe kam – die große, schöne Liebe meines Lebens.

Gegen Morgen erst schlief ich ein und träumte von Ingeborg, bis ich erwachte. Als ich mich angekleidet hatte, erschien Baumann mit meinen Stiefeln. Er hüstelte verlegen und fragte dann:

»Ha – haben der Herr Doktor die Rose schon gesehn?«

Ich war unangenehm berührt.

»Allerdings! Warum fragen Sie?«

»Ich – ich war gestern in der Stadt, und da habe ich mir erlaubt, die Rose zu kaufen und Herrn Doktor zu verehren –«

Ich stürzte aus sieben Himmeln. Die Rose war von Baumann! Aber ich reichte dem Alten die Hand.

»Lieber Freund, ich danke Ihnen herzlich! Sie glauben gar nicht, was Sie mir mit der Rose für eine große Freude bereitet haben!«

Baumann war ganz gerührt.

»Ja – ja – ja – hab' ich wirklich?« stotterte er.

»Gewiß haben Sie! Ich liebe Rosen sehr. Das war wirklich mehr als hübsch von Ihnen, lieber Freund!«

Da traten dem guten alten Kerl Tränen in die Augen.

»Ich – ich – ich, der Kaffee ist fertig!« stotterte er, machte eine sehr rasche Verneigung und verschwand.

Na ja! Von Ingeborg war nun die Rose nicht, und es war vielleicht unnötig, lange zwei Stunden im Bankettsaal zu sitzen und mir das Baumannsche Präsent zu betrachten, etwas übereilt auch, daß ich die Rose so zärtlich geküßt hatte. Wenn das Baumann wüßte! Er weinte sich tot vor Rührung! Und doch – was war er für ein guter Bursche!

Der Sturm heulte noch immer, und im Treppenhause war es so finster, daß mich die vielen Ritterbilder anschauten wie Gesichter aus geisterhaften Nebeln.

Aber als ich Ingeborg unten im Gastzimmer sah, war es mir wieder, als ob mir mitten in Nebel und Nacht eine Rose erblühte.

Wir waren allein beim Frühstück. In aller Frühe war Sternitzke dagewesen und hatte bei Waldhofer, der Schiedsrichter war, den Oberförster verklagt, weil er ihn in der Sitzung einen »Schwachkopf« genannt, und dann hatte der Oberförster einen Brief geschickt und Sternitzke verklagt, weil ihn dieser einen »Ruppsack« tituliert hatte. Schließlich war Waldhofer hinunter ins Dorf, um alles ins Reine zu bringen.

Nach dem Frühstück erzählte ich Ingeborg, daß ich in der Nacht die Rose gefunden habe.

»Von Baumann!« sagte sie. »Er ist Ihnen so gut! Und die Frau auch! Jetzt ist er sehr stolz, weil Sie zweimal ›lieber Freund‹ zu ihm gesagt haben.«

»Hat er denn das erzählt?« lachte ich.

»Aber gewiß,« sagte Ingeborg, »er erzählt alles, was sich auf Sie bezieht, die geringsten Kleinigkeiten.«

»Ist Ihnen das nicht sehr langweilig, Fräulein?«

»Ach nein,« sagte Ingeborg etwas gedehnt; »es gibt doch einmal jetzt nicht viel Gescheites zum Erzählen.«

Ich zerkrümelte ein Stück Semmel.

»Wie viel mag denn die Rose gekostet haben?« fragte ich verstimmt.

»Teuer, sehr teuer!« sagte Ingeborg wichtig; »20 Pfennig! Und 40 Pfennig hat er bloß Zehrgeld mitgehabt.«

Das rührte mich wieder.

»So ist wenigstens jemand in der Burg, der mich ein bißchen lieb hat,« seufzte ich.

Ingeborg sah mich groß an. »Wir haben Sie doch alle ganz lieb,« sagte sie mit einer Harmlosigkeit, die zum Verzweifeln war.

»Sie auch?« fragte ich.

Ein bißchen rot wurde sie doch.

»Ja, gewiß, ich auch! Warum sollte ich denn nicht? Sie erinnern mich ja so an meinen Bruder!«

O dieser Bruder! Er mochte ja meinetwegen ein Staatskerl gewesen sein, aber ich – ich kam jetzt nicht über ihn weg! So brach ich ab und sprach von den Rosen.

Da war Ingeborg ganz begeistert.

»Ach, Rosen, Rosen! Die liebe ich so sehr! Noch viel mehr als die Veilchen und den Springauf. Wissen Sie, was ich manchmal denke?«

»Na, was denken Sie?«

»Es ist eigentlich etwas sehr Dummes!« meinte sie.

»Schadet nichts!« sagte ich, nun meinerseits auch einmal harmlos.

»Also, ich denke mir manchmal, ich wäre das Dornröschen.«

»Das ist gar nicht so dumm!«

»Ja, und ich sitze in einem so hohen Lehnstuhl und schlafe. Sehen Sie, so! Papa, Baumann und alles schläft. Und draußen um die Burg blühen Millionen Rosen!«

Mir kam ein Gedanke, der mir für den Augenblick den Atem stocken ließ.

»Wissen Sie, Fräulein Ingeborg, wir könnten eigentlich mal Theater spielen – Dornröschen!«

»Aber wie denn, wie denn?«

»Bitte, warten Sie einen Augenblick!«

Mit wenig Sätzen war ich im Bankettsaal und holte Baumanns Rose herunter. Die stellte ich aufs Fensterbrett, dicht neben Ingeborgs Lehnstuhl.

»Also sehen Sie, Fräulein Ingeborg, das hier, das sind die Millionen Rosen! Und Sie sind das Dornröschen und sitzen im Lehnstuhl und schlafen. Von der Uhr nehmen wir das Gewicht los, da tickt sie ganz leise und bleibt endlich stehen; das markiert die müde Stille auf der Burg.«

»Sehr schön, sehr schön!« rief Ingeborg.

»Ja, nun aber – was soll ich sein?«

Sie sann nach.

»Sie? Sie können der Koch sein!«

»Ach, warum nicht gar der Kater, der hinterm Ofen liegt und schnurrt?«

»Der Kater, famos, famos, der Kater! O bitte, bitte, machen Sie den Kater!«

»So, hinter den Ofen soll ich mich legen?«

»Nein, das ist nicht notwendig! Aber schnurren müssen Sie – o bitte, bitte, schnurren Sie doch!«

Ich war wieder ein bißchen verstimmt, aber ich sagte:

»Meinetwegen, so spiel' ich den Kater. Aber erst müssen Sie schlafen!«

»Ich schlaf schon, ich schlaf schon!«

Sie nahm eine Stecknadel, stach sich ein wenig in den Finger, stieß einen leichten Wehruf aus, sank in den Lehnstuhl und »schlief«.

Leise, ganz leise fing ich an zu schnurren. Dann machte ich eine Pause. Die Uhr setzte aus mit müdem Schlage. Da erhob sich noch einmal ein Schnurren, immer leiser – immer kürzer –

Dornröschen schlief. Das Haupt zurückgebeugt, lehnte sie in dem hohen Stuhle, leise atmend, und der rosige Mund war halb geöffnet. Es war ein Bild wonniger Schönheit. Da sprang ich mit einem Satze hin und küßte sie auf die Lippen.

»Dornröschen, wache auf!«

»Herr – Herr Doktor, was machen Sie denn?«

Sie sprang auf und war glühend rot.

»Schönstes Dornröschen, ich bin der junge Königssohn, der dich erweckt.«

»Aber Sie – Sie sind gar nicht der Königssohn! Sie sind doch der Kater!«

Sie trat zornig mit dem kleinen Fuße auf, und Tränen sprangen ihr in die Augen. Ich blieb aber in der Fassung.

»Holdseliges Dornröschen,« sagte ich, »ich war eben bloß ein verwunschener Kater, und jetzt bin ich erlöst.«

»Ich bin aber ganz böse auf Sie, wissen Sie! – Das war nicht recht – das war ja gar nicht ausgemacht! Lassen Sie meine Hand los – ich mach' nicht mehr mit.«

Trotz allen Bittens ging sie aus der Stube. Ich blieb wie angewurzelt stehen. War dieses Mädchen süß! Ein Taumel faßte meine Seele, und ich fragte mich gar nicht, ob ich unüberlegt oder taktlos gehandelt hatte.

Schließlich ging ich nach der Küche, und dort fand ich sie, und zwar allein.

»Fräulein Ingeborg,« sagte ich mit Büßermiene, »ein armer, zerknirschter Kater, der einmal von der süßen Sahne genascht hat, kommt um Verzeihung bitten.«

»Ich verzeihe nichts!« sagte sie, aber der Schelm guckte doch wieder ein bißchen durch.

»Fräulein Ingeborg,« fuhr ich fort, »der Kater hat gedacht, daß er doch eigentlich ein rechter Schafskopf wäre, wenn er mal so was Süßes naschen könnte, und er tät's nicht.«

»Wenn er nascht, wird er sehr streng bestraft werden,« sagte sie.

»Fräulein Ingeborg, der Kater fürchtet sich ja ganz schrecklich vor den Prügeln, aber wenn's einmal nicht anders ist – so – so läßt er sich um solchen Preis ruhig totschlagen!« – –

»De – der Herr Doktor in der Küche!«

»Jawohl, Baumann; ich wollte Sie um ein Glas Wasser bitten.«

»Um ein Glas Wasser! Hat wohl wieder meine Alte vergessen, die Karaffe zu füllen. Werd' ich doch bald mal nachsehen – das ist ja eine schreckliche Liederlichkeit –«

»Schimpfen Sie nur nicht, lieber Freund; ich komme schon mit Ihnen!«

Ich verabschiedete mich von Ingeborg mit einem bittenden Blicke und ging mit Baumann nach dem Bankettsaal, wo natürlich eine Flasche frischesten Wassers stand.

»Da – da wollen der Herr Doktor wohl Selter?« fragte Baumann verblüfft.

»Jawohl, Herr Ober, ich will Selter.«

Ich war allein.

Das Selterwasser, das mir Baumann brachte, goß ich in den Eimer. Dann wanderte ich im Bankettsaal auf und ab.

Da tippte es leise an die Tür.

»Herein!« rief ich. – Nichts!

Abermaliges Tippen.

Jetzt öffnete ich.

»Ah – Fräulein Ingeborg!« Ich war maßlos erstaunt.

»Ich komme Ihnen bloß sagen, daß ich nicht mehr böse auf Sie bin, daß Sie sich nicht erst so ängstigen.«

»O, ich danke Ihnen, Fräulein, ich danke Ihnen herzlich! Das ist barmherzig von Ihnen!«

»Ja, schlecht war es ja sehr; aber Sie werden's ja nicht mehr machen; denn ich reiß jetzt immer die Augen vor Ihnen ganz weit auf! Und Theater spiel' ich auch nicht mehr mit Ihnen! Aber wir wollen mal was anderes spielen. Es ist mir gerade so eingefallen. Hören Sie mal! Als der Walter noch da war, da hat er mich immer in der Burg gefangen, und ich habe mich versteckt, und er hat mich gesucht. Wollen wir das mal machen?«

»Mit tausend Freuden, Fräulein Ingeborg!«

Ich war ganz entzückt, wenn ich mich auch über die sonderbare Aufforderung innerlich nicht genug wundern konnte. Dieses Mädchen war wirklich noch ein Kind.

»Ja, also bleiben Sie hier an der Tür stehen, und ich renne bei Ihnen durch, und wenn Sie mich nicht mehr hören, dann kommen Sie nach. Ja?«

»Gewiß, liebes Fräulein!«

»Aber ja nicht eher!«

»Nicht eher!«

»Ehrenwort?«

»Ehrenwort!«

»Na, dann los!«

Sie sprang durch meine beiden Zimmer und war bald verschwunden. Da folgte ich ihr – offen gesagt mit klopfendem Herzen. Ich kam durch die alte Kanzlei, durch einen Korridor in die Kemenaten. Nirgends eine Spur von Ingeborg. Da nähere ich mich dem Zimmer der blonden Gertraud und höre dort ein leises Geräusch. Ich schleiche unhörbar heran und reiße die Tür auf. Eben springt Ingeborg zur entgegengesetzten Tür hinaus. Ich wie ein Aar hinterher. Das Mädel kann fabelhaft schnell laufen. Manchmal untersuche ich einen dunklen Winkel, eine Nische oder öffne einen großen Schrank. Nichts! Jetzt bin ich schon im dritten Flügel. Ich komme in den Gerichtssaal. Auch da ist sie nicht. Jetzt sind nur noch der dunkle Gang und das Verließ übrig. Ich reiße die Tür auf und stürme in die Finsternis hinein. Knatsch, stoße ich mit dem Kopfe gegen eine Mauer. Ich verbeiße den Schmerz und taste mich weiter. Da schimmert graues Licht durch ein paar schmale Mauerspalten. Ich bin im Verließ. Eben will ich ein Streichholz anzünden, da kracht eine Tür hinter mir, ein Schlüssel wird blitzschnell umgedreht – ich bin gefangen.

O Weiberlist!

Ich erfasse meine Lage und halte mich ganz ruhig. Auch draußen rührt sich kein Laut. Da ertönt plötzlich Ingeborgs tiefe, verstellte Stimme:

»Böser Rütter Balduün, hörst du müch?«

»Ich höre düch!« grunze ich in fürchterlichen Baßtönen.

»Balduün, du büst ein Bedrönger der Greise, Wütwen und Künder. Gäbst du das zu?«

»Das göbe ich zu, du gestrenge Wütwe.«

Ein leises, silbernes Lachen, dann wird das Verhör fortgesetzt.

»Du büst auch ein ganz schändlicher Räuber!«

»Ich kann ös nücht leugnen,« wimmerte ich im Tone tiefer Zerknirschung.

»Döshalb habe ich düch gefangen in meinem Verlüße.« »Gnode! Gnode!« wimmere ich.

»Nein, keine Gnode! Sondern vielmöhr öwigen Körker!«

»Huiiiih,« heule ich im Tone des Herbststurmes.

»Du würst den Mond und die Sonne nücht möhr söhen.«

»O! O! O! Das ist söhr fatohl! Du schöne Welt, hatjöh,« wimmere ich und klirre mit ein paar Ketten, die im Verließ sind.

»Die Rotten und Mäuse sind deine Gesöllschaft.«

»Sie werden müch beißen,« rufe ich entsetzt und klirre wieder schauerlich.

»Wenn sü düch beißen – hihihi – so dönke an deune Verbröchen!«

»Gnode, geströnge Rütterwütwe, Gnode!«

Es erfolgt keine Antwort. Ich warte eine Weile.

»Schöne Wütwe, mich frürt!«

Stille.

»Wenn du nicht aufmachst, krüg ich die Ünfluönza!«

Kein Laut!

»Schöne Wütwe, hörst du nücht?«

Nein, sie hört nicht. Sie ist am Ende gar nicht mehr da. Ich rüttele an der Tür. Verschlossen! Nanu?

Ich durchsuche meine Taschen und finde eine Schachtel Wachsstreichhölzer. Eines zünde ich an. Es ist ein greuliches Loch, in dem ich stecke. Ein niederes, enges Gewölbe, und es ist nur die eine Tür da. In der Mitte steht ein mächtiger Block mit ein paar Ketten. Auf den Block setze ich mich und halte das kleine Licht in der Hand.

Ein Gefangener im Burgverließ, der sich ein Wachsstreichholz anzündet, das ist neu, denke ich.

Aber wo nur die Ingeborg steckt! So ein kleiner Racker! Sperrt mich hier ein! Das sollte also die strenge Strafe sein, die sie mir zugedacht hatte! Sie kam mir wieder ganz reizend vor. Was sie nur noch vor hat? Von Zeit zu Zeit heule ich oder klirre mit den Ketten, aber ich bekomme keine Antwort.

Da endlich Tritte. Es rasselt an der Tür, eine kleine, fensterartige Luke öffnet sich, und es wird etwas hereingeschoben.

»Rütter Balduün, üch brünge dür als Speise Wasser und Brot.«

»Mercü! Mercü! Aber dürft üch düch nücht auch um eine kleine Bratwurst bütten, geströnge Rütterwütwe?«

»Nö!« brummt sie und geht.

»So hör doch mal, schöne Witwe!«

Keine Antwort.

»Aber Fräulein Ingeborg!«

Sie ist fort.

Donnerwetter! Sie läßt mich wirklich sitzen. Auf dem kleinen Falltürchen liegt ein dickes Stück trockenes Brot und ein Napf mit Wasser. Ich zünde jetzt schon das dritte Wachsstreichholz an. Fünfminutenbrenner! Mit der Zeit wurde die Sache langweilig. Es war eine erbärmliche Luft in diesem edlen Lokale, und ich fing auch wirklich an zu frieren.

Wieder rüttelte ich an der Tür. Sie blieb verschlossen. Wenn ich hier zeitlebens eingekerkert sein sollte, konnte die Sache unangenehm werden.

Vorläufig würde ich mir eine Zigarre anzünden. Das tat ich, und so saß ich gefangen im Burgverließ und rauchte eine Kuba.

Ja, zum Geier, wie lange sollte ich wohl eigentlich brummen? Meiner Ansicht nach hatte ich die Strafe für den Kuß längst abgesessen; denn das fünfte Streichholz war schon verbrannt. Fünfundzwanzig Minuten! Es wurde mir ungemütlich, und ich fing an, mich ernstlich nach Licht und Freiheit zu sehnen.

Das sechste Streichholz! Also eine halbe Stunde! Das war grausam! Aus langer Weile und um meine Rolle ganz auszufüllen, biß ich einmal in das Gefangenenbrot und langte auch nach dem Wassernapfe.

Da lag auf seinem Grunde – der Schlüssel zu meinem Kerker, und ein Zettelchen schwamm auf dem Wasser, darauf stand:

»Ritter Balduin, eine edle Freundin sendet dir Hilfe in der Not!«

O, du edle Freundin, du seist gepriesen! Ich schloß auf – es war ein ganz neumodisches Schloß – und stand bald im Gerichtssaal. Ich holte ein paarmal tief Atem und mußte vor dem Tageslichte mit den Augen blinzeln. Da sah ich drüben durchs Küchenfenster Ingeborg Ausschau halten. Warte, du Here! Auch ich kann Justiz üben.

Langsam ging ich über den Hof und machte ein jämmerliches Gesicht. Das fiel auch gleich dem getreuen Baumann auf, der wieder einmal am Brunnen stand.

»Wenn der Herr Doktor nichts dagegen haben,« sagte er, »so sehen der Herr Doktor sehr leidend aus.«

»Ja, Baumann,« sagte ich laut, »mir ist wirklich nicht recht gut; ich muß mich stark erkältet haben!«

»Erkältet!« schrie Ingeborg hinter dem Küchenfenster.

»Werd' ich dem Herrn Doktor gleich meine Alte schicken!« sagte Baumann und trabte davon.

Im Hausflur trat mir Ingeborg mit besorgten Augen entgegen. »Sie haben sich erkältet? Im Verließe?« »Es zog ein bißchen durch die Mauerspalten,« sagte ich.

»Das – das ist schrecklich – und nun bin ich schuld.«

Diese Selbstanklage klang rührend, aber mein Schwindel reute mich nicht.

»Ach, Ihre Strafe haben Sie reizend ausgedacht,« sagte ich mit müdem Lächeln.

»Sie werden mich jetzt für sehr schlecht halten.«

Ich schüttelte schwermütig den Kopf.

Da erschien leider Baumann mit seiner Frau. Letztere trug einen riesigen Kasten, in dem ich zu meinem Schrecken Tee vermutete. Richtig! Baumann bestätigte meine grausige Ahnung.

»Alles da, Herr Doktor, Thymian, Kamille, Baldrian, Fliedertee, Tausendguldenkraut, Lindenblüte –«

»Lindenblüte – ganz recht, Lindenblüte,« fiel ich in das schauerliche Register ein, »kochen Sie mir Lindenblüte, anderen Tee vertrag ich nicht!«

»Sollten der Herr Doktor aber lieber Flieder trinken und schwitzen!« behauptete Baumann.

»Ich will Lindenblüte,« sagte ich barsch und ging nach meinem Zimmer. Nach ganz kurzer Zeit brachte Baumann ein Gefäß mit etwa 1&frac12; Liter Lindenblütentee.

»Wenn der Herr Doktor mehr wünschen, brauchen der Herr Doktor nur zu befehlen.«

Ich kriegte es mit dem Galgenhumor.

»Ja,« sagte ich, »ich bitte mir für jede halbe Stunde dasselbe Quantum aus.«

»Müssen der Herr Doktor doch schon bedeutend krank sein,« sagte Baumann, »wird aber alles besorgt.«

Die ersten 1 ½Liter goß ich durch das Fenster rechts in den Burggraben, die zweiten 1 ½ Liter durch das mittelste Fenster auch in den Burggraben, und die dritten 1 ½ Liter spritzte ich durch das Fenster links nach der Burgbrücke hin.

»Verdammte Schweinerei! Wer ist denn das Ferkel?«

Da unten schimpfte einer. Ich sah durchs Fenster. Der Oberförster! Als er mich sah, machte er eine grimmige Miene.

»Sie! Was gießen Sie denn da runter? Und warum zielen Sie denn gerade nach meinem Kopfe?« fragte er.

Ich machte eine hohle Hand.

»Lindenblütentee! Nehmen Sie's nur nicht übel! Ich soll Tee trinken und will nicht! Verstehen Sie!«

»Ähä!« machte er befriedigt, wischte seinen Hut ab und ging in die Burg.

Bald nachher kam Waldhofer zu mir. Ich erschrak etwas; denn ich war fest überzeugt, daß ihm Ingeborg die Geschichte von dem Kuß erzählt habe. Er merkte mir meine Verlegenheit an, sah mir ruhig in die Augen und sagte lächelnd:

»Es ist nicht deswegen! Ich habe das Gewicht an die Uhr gehängt, und sie geht wieder richtig. Ich komme wegen etwas ganz anderem. Die tollen Kerle, der Sternitzke und der Oberförster, bestehen auf ihrer gegenseitigen Klage. Sie haben wieder mal Lust, miteinander Komödie zu spielen. Und da sollen sie beide mal richtig reinfallen. Der Termin soll bald abgehalten werden, und Sie sind von beiden Seiten als Zeuge vorgeschlagen. Die ganze Sache ist natürlich gar nicht ernst zu nehmen. Wenn Ihr Zustand nicht gar zu besorgniserregend ist –«

»Mein Zustand ist nie besser gewesen!« rief ich.

Im Gastzimmer saßen die beiden Kontrahenten, Herr Gerstenberger und Herr Sternitzke. Beide saßen gesondert an verschiedenen Tischen und drehten sich die Nachtseiten zu. Der Oberförster sah aus, als ob er die ganze Welt vergiften wollte.

»Meine Herren,« sagte ich ernst, »Sie haben in Ihrer Angelegenheit meine Zeugenschaft gewünscht.«

»Jawohl! Wenn kein Zeuge ist, streit' ich alles,« sagte der Oberförster.

»Und ich ooch!« sagte Sternitzke.

Ich setzte mich. Waldhofer entfaltete einige Blätter Papier auf einem Tische und sagte ernst:

»Ich eröffne die Verhandlung!«

Da fiel ihm der Oberförster ins Wort. »Du, Waldhofer, bitte, wart' noch 'n Augenblick, ich will mir bloß schnell noch einen Kognak –«

»Nein, das geht nicht! Während der Verhandlung darf natürlich nicht getrunken werden.«

Gerstenberger knurrte etwas, was ganz ähnlich klang wie »Schweinerei«, und Sternitzke lachte schadenfroh.

Die Verhandlung begann.

»Der Oberförster Bernhard Gerstenberger zu Steinwernersdorf wird beschuldigt, den Gemeindevorsteher Gastwirt Franz Sternitzke von ebendaher in öffentlicher Sitzung, und zwar während einer Amtshandlung des letzteren, einen ›Schwachkopf‹ genannt zu haben. Ich frage den Herrn Oberförster, ob er das zugibt!«

»Nö!« sagte Gerstenberger, »auf ›Schwachkopp‹ erinnere ich mich«ich, höchstens auf ›Schafskopp‹.«

»Das würde an der Sache nichts ändern,« sagte Waldhofer und hatte Mühe, ernst zu bleiben, »aber die Injurie muß doch genau festgestellt werden. Ich persönlich erinnere mich, einen deutlichen ›Schwachkopp‹ gehört zu haben.«

»Und ich ebenfalls« sagte ich; ich bezeuge den ›Schwachkopp‹ aufs bestimmteste.«

»Na,« fiel Gerstenberger sarkastisch ein, »wenn der Herr Schiedsrichter und der Herr Zeuge derselben Meinung sind, so hab' ich nichts dagegen und geb' es zu, daß der Sternitzke nich 'n Schafskopp, sondern 'n Schwachkopp is.«

»Keine weiteren Beleidigungen, das bitt' ich mir aus!« sagte Waldhofer.

»Das bitt' ich mir ooch aus!« schrie Sternitzke.

»Also, die Injurie steht fest,« sagte Waldhofer. »Ich frage die Herren amtlich, ob sie sich nicht lieber gütlich einigen wollen.«

»Nö!« knurrte der Oberförster.

»Denke gar nich dron,« sagte Sternitzke. »Privatim kann a mich halten, für was a will, denn wir sind Freunde, aber als Schulze vor der ganzen Gemeinde, da laß ich nich ›Tipp‹ an mich machen. Ich verlange 15 Mark Ordnungsstrafe und Abbitte ins Kreisblatt.«

»Was sagt der Herr Oberförster dazu?« fragte Waldhofer.

»Der Sternitzke is verrückt – privatim natürlich – urverrückt is er! Ich abbitten ins Kreisblatt! Eher mach' ich ja die ganze Erfindung der Buchdruckerei rückgängig.«

»Das würde ein beträchtlicher Schaden für die Kultur sein,« warf ich ein.

»Der Herr Oberförster verweigert also wirklich die Abbitte?« fragte Waldhofer.

»Jawohl, ja!« bekräftigte Gerstenberger.

»Dann einige ich mich nich und geh vors Gericht!« verharrte Sternitzke eigensinnig.

»Sie werden sich noch anders besinnen, Herr Sternitzke.«

»Fällt mir nich ein; die Beleidigung war zu gemeen und öffentlich! Und als Schulze laß ich nich ›Tipp‹ machen! Ich geh vors Gericht!«

Da fing der Oberförster an zu rasen. Er ergoß eine solche Unmenge von Injurien über Sternitzkes Haupt, daß er sie höchstens mit lebenslänglichem Gefängnis alle hätte abbüßen können. Sternitzke hörte ihm ganz ruhig zu. Schließlich, als Gerstenberger eine unendlich lange Reihe zoologischer Namen keuchend beendete, sagte Sternitzke:

»Das macht olles weiter nischt, Brüderle! Bei solchen kleenen privaten Foppereien bin ich keen Spoßverderber. Aber 'n öffentlichen ›Schwachkopp‹ laß ich nich uff mir sitzen. Das muß gedruckt werden, sage ich!«

»Jawohl, ja, gedruckt, du Lumpe du! Ich werd' dir was drucken lassen, daß dir die Augen übergehen, daß der Schwachkopf überall –«

»Daß heißt,« fiel Waldhofer ein, »die Abbitte hat einfach zu lauten: ›Ich habe den Herrn Gemeindevorsteher Sternitzke öffentlich beleidigt und leiste hierdurch Abbitte. Bernhard Gerstenberger, Oberförster‹ Sonst kein Wort!« Gerstenberger war starr.

»Was?« keuchte er. »Und vom ›Schwachkopp‹, der doch die Hauptsache is, um den sich's doch handelt, keen Wort?«

»Kein Wort!« wiederholte Waldhofer.

Was nun beim Oberförster erfolgte, war ein Tobsuchtsanfall. Hatte er die ganze Sache anfangs mehr als Ulk aufgefaßt, so begann er sie jetzt ernst zu nehmen. Er verschwor sich hoch und teuer, daß er eine so »blödsinnige« Abbitte nie und nimmer »loslassen« würde. Der Sternitzke könnte ihn verklagen, wo er wolle. Er würde den Wahrheitsbeweis antreten.

Damit scheiterten die Einigungsversuche, und der zweite Teil der Verhandlung begann: Gerstenberger contra Sternitzke.

Es wurde festgestellt, daß Sternitzke den Oberförster in derselben öffentlichen Sitzung einen »Ruppsack« tituliert hatte, und Gerstenberger wurde befragt, was er als Sühne verlange. Da richtete er sich stramm empor und sagte:

»Es kommt zu dem »Ruppsack« als erschwerender Umstand, daß er öffentlich war und daß er sich gewissermaßen auch auf den Herrn Baron bezog, dessen Vertreter ich war. Ich beantrage: 500 Mark Geldstrafe, Abbitte ins Tageblatt, Wochenblatt und Kreisblatt –«

»Drei Jahre Arbeitshaus, Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte und dauernde Stellung unter Polizeiaufsicht,« vollendete ich. Gerstenberger warf mir einen wütenden Blick zu.

»Sie brauchen mich nicht zu uzen,« sagte er. »Auf den 500 Mark und der dreifachen Abbitte bestehe ich.«

»Darauf kann der Kläger nicht bestehen,« sagte Waldhofer, »denn die höchste zulässige Strafsumme vor dem Schiedsrichter beträgt 15 Mark.«

»Das weeß a nich amol!« sagte Sternitzke höhnisch.

»Ja, und auf der Abbitte können beide Herren nicht bestehen,« warf ich ein, um die Sache wieder ins richtige Gleis zu bringen.

»Wieso?« fragte Waldhofer.

»Wieso?« fragte der Oberförster.

»Das wer'n wir amol sehn!« meinte Sternitzke.

Ich machte ein Gesicht wie einer, der Bescheid weiß. »Die Königliche Regierung wird den Kompetenzkonflikt erheben,« sagte ich.

»Was wird sie erheben?« fragten Gerstenberger und Sternitzke gleichzeitig.

»Den Kompetenzkonflikt.«

»Aha! Kompetenzkonflikt,« machte der Oberförster betroffen.

Es entstand eine Stille; Waldhofer wandte sich ab und trat ans Fenster. Ich machte wieder eine sehr wichtige Miene, blieb aber stumm. Da platzte endlich Sternitzke heraus:

»Was is'n das für'n Ding?«

»Weeß a nich amol und will keen Schwachkopp sein!« sagte der Oberförster abfällig.

»Was der Kompetenzkonflikt ist, Herr Sternitzke? Das wird Ihnen der Herr Oberförster erklären. Nicht wahr?«

»Ich? Erklären? Kompetenzkonflikt? – Hm ja – ähä, erklären! – Nö, werd' ich nich! Mit dem Kerl red' ich ja gar nich.«

Er half sich also aus der Klemme.

»Sehen Sie, Herr Sternitzke,« sagte ich nun, »Sie als Gemeindevorsteher sind doch 'ne Obrigkeit, und der Herr Oberförster als stellvertretender Amtsvorsteher ist auch 'ne Obrigkeit. Wenn nun eine Obrigkeit einer anderen Obrigkeit in einem öffentlichen Blatte etwas abbitten würde, so würde dadurch die gesamte Obrigkeit in den Augen des Volkes herabgesetzt werden, und da legt sich eben die höchste Obrigkeit, nämlich die königliche Regierung, mit dem Kompetenzkonflikt ins Mittel und verhindert, daß sich die niederen Obrigkeiten gegenseitig vor den Untertanen blamieren!« »Aha,« seufzte der Oberförster erleichtert auf, »das ist gescheit.«

»Nee,« sagte Steruntzke, »das find' ich sehr tumm.«

»Was die Regierung macht, hast du gar nischt tumm zu finden,« bemerkte Gerstenberger.

»Bloß privatim!« verteidigte sich Sternitzke.

Nach einer kleinen Pause sagte der Oberförster: »Ich glaube, er schwindelt. Er uzt uns!«

»Ich globe ooch,« sagte Sternitzke und zwinkerte seinem Gegner pfiffig zu.

»Aber ich bitte, meine Herren! Bei gegenseitiger Abbitte ist die Blamage kolossal. Das kann weder die Regierung noch sonst ein vernünftiger Mensch zugeben.«

Das sahen sie endlich ein. Die Verhandlung wurde fortgesetzt und endete damit, daß sowohl Gerstenberger als auch Sternitzke je 13 Mark in die Orts-Armenkasse zu zahlen hatten. Auf die Abbitte wurde verzichtet. Getrennt wanderten schließlich die beiden guten Freunde ins Tal. Mir gab Waldhofer die Hand.

»Mit dem Kompetenzkonflikt das haben Sie gut gemacht. Denn wenn's zur öffentlichen Abbitte gekommen wäre, hätte diese edle Freundschaft wirklich Schaden leiden können.«


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