Arthur Kahane
Willkommen und Abschied
Arthur Kahane

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17.

Ein halb unterdrückter Aufschrei, vom See her. Wie vom Blitz gerührt, fuhren beide auseinander. Sahen einander an, errieten das Schrecklichste. Im nächsten Augenblick stand Florentin am Ufer, sah ein Weißes im furchtbaren Ringen mit dem Anprall der Wellen untergehen, sprang, in den Kleidern, mit einem Satze ins Wasser, hatte mit einem Stoße der Arme die Ertrinkende erreicht, hob sie mit dem einen Arm hoch empor und schwamm mit dem anderen, von den Beinen unterstützt, ans Land zurück. Und schon lag sie im Schoße der Mutter, und beide, Florentin und Blanche, keines Wortes mächtig, rieben, drückten, kneteten Körper, Hände und Füße so lange, bis sie den Puls des Herzens wieder hörten, der Atem wiederkehrte und die Augen sich öffneten, um sich sofort wieder zu tiefem, ohnmachtähnlichem Schlafe zu schließen. Und, ohne ein Wort zu reden, hoben sie beide die schmale Last des jungen Körpers auf, trugen sie, Blanche die Schultern und Florentin die Beine fassend, heimlich, auf leisen Sohlen schleichend, wie zwei Diebe, durch den Garten ins Haus, die beiden Stockwerke hinauf, in ihr Zimmer, legten sie aufs Bett, entkleideten sie, schleppten alles Vorhandene an Decken und Tüchern herbei, hüllten sie ein und sanken, zu Tode erschöpft, auf den beiden Seiten des Fußendes, aufs Bett nieder. Sibyl war nicht erwacht, aber ihr Herz schlug wieder regelmäßiger, und ihr Atem ging hörbar.

So saßen sie, ohne zu sprechen, ohne sich zu rühren, ohne einander anzusehen, Stunde um Stunde. Das Gewitter hatte 205 nachgelassen, frech und eintönig klatschte der Regen an die Scheiben. Bleiern schleppte sich die Zeit, grau, öde, stumpf, ausgebrannt lag ihr Inneres da, wie ein zertretenes, zerstampftes Feld, regungslos, und schwieg. Und doch hätten sie sich an jede der leeren Stunden klammern mögen, um ihren unerbittlichen Gang aufzuhalten.

Und doch war es noch dunkle Nacht und der Morgen nicht gekommen, als er sich erhob.

»Ich gehe jetzt, Blanche.«

»Für immer?«

»Für immer. Oder glaubst du, daß es für uns beide ein Zurück, ein Spätereinmal, ein Anderskönnen gibt?«

»Nein, Florentin. Ich fühle jetzt wie du. Wir beide können nicht über Leichen gehen. Es ist uns nicht gegeben. Wir können anderen nicht wehe tun. Mit unserem Schmerz können Menschen wie wir – o, wie mich dieses Wir jetzt noch, in dieser Stunde noch, beseligt – allein fertig werden. Aber das, was von uns den anderen gehört, muß Freude sein.« Da fiel ihr Blick auf Sibyls Gesicht, und sie schrie auf: »Freude!? Wie darf ich je wieder dieses Wort aussprechen und diese liegt hier! Durch unsere Schuld! Durch meine Schuld!«

Da glänzte sein Gesicht auf und er sah sie mit einem Blick voll unsäglicher Liebe an. »Nein, Blanche! Nicht so! Nicht verzweifeln! Nicht von Schuld sprechen! Nie wieder! Auch dieser gegenüber nicht. Es gibt keine Schuld. Was geschehen ist, das mußte geschehen. Es geschah mit uns. Es konnte nicht anders kommen. Es war zu schön. Aber was jetzt geschehen muß, das muß durch uns geschehen. Bewußt und in Freiheit müssen wir es auf uns nehmen, diesem Kinde die Freude wiederzugeben. Es soll nicht an einem verfinsterten Leben weiter tragen. Du mußt es auf dich nehmen, ihm sein Leid in Glück zu verkehren, ihm den Glauben an uns wiederzugeben. Glaube mir, Blanche, du kannst es.«

206 »Aber wie? Ich will ja alles tun, was du willst. Aber sage mir nur, wie?«

»Du kannst es. Ich weiß es, daß du es kannst. Und dies ist das einzige, um was ich dich noch bitte. Es ist schwer. Es ist ein großes Opfer, eine harte, schwere Zumutung. Es ist eine Lüge, die ich von dir verlange. Dieses Kind darf nicht glauben, daß seine erste Liebe verschmäht wurde. Es darf nicht mit dem Gefühl durchs Leben gehen, daß die beiden Menschen, die es am liebsten hatte, es um seine erste Liebe betrogen haben. Es darf nie erfahren, daß ich je etwas anderes auf der Welt lieber hatte als es. Erkläre ihr meine Flucht – ich weiß ja selbst nicht, wie. Aber ich weiß, daß du es kannst. Ich weiß, wie klug du bist und wie du in Menschenherzen lesen kannst. Ich weiß, was ich von dir verlange. Aber was liegt an einer Lüge, wenn es sich um das Glück eines Menschenlebens handelt!«

»Ich werde tun, was du von mir verlangst. Und ich werde es nicht wie ein Opfer tun. Mein Lebenswerk soll es künftig sein, diesem Kind seine Freude und seinen Glauben wiederzugeben. Und ich danke dir, du Guter, daß du es mir gegeben hast. Aber um dich ist es mir bange, Florentin: ich habe meine Billy, aber wen hast du noch im Leben?«

»Sorg' dich nicht um mich, Geliebte!« sagte er, und ein Lächeln umzog seinen Mund. »Ich lebe fort. Ich gehe nicht verloren. Ich bin nicht von denen, die verlorengehen. Nichts geht verloren. Auch unsere Liebe nicht. Was immer mit mir geschieht, sie wird wie eine heilige, lebendige Kraft in mir fortwirken, Schösse treiben, Früchte tragen, meine Einsamkeit mit dem milden Lichte der Erinnerung durchglänzen und erwarmen. Ich kann nie mehr ganz arm, ganz allein und ganz unglücklich werden. Ich werde arbeiten, das weiß ich. In meiner Art, ohne Ruhm und Erfolg vielleicht, gewiß ohne den Gedanken an Ruhm, Gewinn und Erfolg, ungekannt und unauffällig in der Menge, mein namenloses Werk – aber darum nicht weniger mein Werk und mein 207 Eigenstes, und mein Werk wird das Werk unserer Liebe sein. Denn daß ich ich bin, danke ich dir.«

»Bleibe!« schrie sie auf, ohne zu wissen, was sie sagte.

Er sah sie mit unendlicher Zärtlichkeit an. »Ich kann nicht, Blanche. Ich muß fort, noch ehe der neue Tag kommt und die Menschen erwachen. Ich darf Otto und ich darf Billy nicht mehr begegnen. Wie ich kam, so muß ich wieder gehen, bei Nacht und Nebel, mit leeren Händen, arm, einsam stehle ich mich fort, und bin doch ein anderer Mensch und trage das Köstlichste in mir, was Menschen erleben können. Dank, tausend Dank, und seid glücklich, beide, und vergeßt mich nicht!«

Ergriff ihre Hände, küßte sie und war fort, ehe sie ihn halten konnte.

Als er bereits auf der Straße war, hörte er Schritte hinter sich, schnelle, gleichmäßige. Er drehte sich um, es war Boz, der langhaarige Dackel, der ihm das Geleite gab. Eine Weile duldete er es, daß der Hund hinter ihm her lief. Dann wandte er sich zurück und sagte: »Was soll uns das, Boz? Wir wollen einander das Herz nicht noch schwerer machen.« Boz sah ihn an, verstand, gehorchte, ohne zu bellen, kehrte um und trottete, ruhig und phlegmatisch, wieder nach dem Hause zurück. 208

 


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