Arthur Kahane
Willkommen und Abschied
Arthur Kahane

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13.

Aber wenn die Nächte kamen – – – die grausamen, unerbittlichen Nächte, auf harten, einsamen Lagern in ruhelosem, schlafgemiedenem Wälzen verbracht, einbrachen in der Seele wehrloses Reich, alle Mauern und Wände der Selbstbeherrschung niederbrachen, über die mühsam aufgeworfenen Dämme hereinfluteten, ein uferloses Meer der Leidenschaft, Begierden aufwühlend, Denken, Wollen und Sichwehren fortschwemmend, mit sich reißend, zu turmhohen Strudeln aufpeitschend, und die Seele nackt und hüllenlos dalag, von keiner deckenden Scham geschützt, sich selbst und allen ihren Stürmen preisgegeben, steuerlos, ohne Licht, ohne Hilfe – – – Wenn die Nächte kamen und man mit sich allein war, so grenzenlos und mutterseelenallein, und man seiner Seele ins Weiße des Auges sah, sehen mußte, und das Geheimnis seinen Mund aufriß und zu reden begann, unaufhaltsam, daß man es hören mußte, wie man das unbarmherzige Ticken der Uhr in der Nacht hören muß – –

Florentin sprang auf. Wollte diese Nacht dauern bis zum jüngsten Gericht? So, wie die gestrige ewig gedauert hatte und die vorgestrige?! Aber er konnte diese Folter nicht ein drittes Mal mehr ertragen. Lieber – ja, was denn lieber? Er wußte es nicht. Alles lieber, als dies noch einmal ertragen! Sprang auf, warf die Kleider über, den Mantel um und stürzte hinaus.

Und fuhr zurück. Vor der Tür stand Blanche.

Sie hatte dasselbe Kleid, das sie am Abend getragen hatte. Florentin holte die Erinnerung wie aus einer längst vergangenen 157 Zeitenferne. Sie war also noch nicht zu Bett gegangen. Sie sah etwas bleicher aus als sonst, aber ruhig und gefaßt wie immer.

»Erschrick nicht, Florentin!« sagte sie und versuchte zu lächeln. »Die Besuchsstunde ist etwas ungewöhnlich gewählt. Aber ich wußte keine andere, um dich allein zu sprechen. Und sprechen muß ich mit dir. Und schließlich, das Ungewöhnliche schreckt mich nicht. Ich scheue es nicht. Ich scheue nichts und Niemanden«, und warf den Kopf mit einer stolzen Geberde in den Nacken.

Florentin taumelte. Er fühlte den Boden unter seinen Füßen nicht. Er glaubte seinen Sinnen nicht, seinem Verstand nicht mehr. War das Wahnsinn? Oder war es ein Traum? Oder hatte sein Wunsch plötzlich Körper bekommen und stand vor ihm? Oder hatte seine Sehnsucht die Kraft, sie herzuziehen, gegen ihren Willen, ohne ihr Wissen, sie, die ja seine Leidenschaft, seine verbrecherische, tolle Leidenschaft, sein einziges, irrsinniges, rasendes Verlangen, das er sich selbst nicht zu gestehen wagte, gar nicht ahnen konnte? Und nun stand das Wunder vor ihm und, keines Wortes mächtig, starrte er es an mit einem hilflosen, irrenden, fragenden Blick.

»Ja, hier«, sagte sie, als ob sie seine Frage hätte deuten wollen. »Hier, bei dir. Warum nicht? Und schließe ab! Ich möchte mit dir allein sein und will nicht, daß man uns störe. Nicht, als ob ich fürchtete, gesehen zu werden. Ich habe Niemanden zu fürchten. An das, was ich tue, darf sich keine Deutung und keine Mißdeutung heranwagen. Ich tue, was ich will, und dadurch, daß ich es tue, ist es gestattet und geadelt. Ich darf alles: ich tue nur nicht alles, was ich darf. Aber nur, weil ich nicht will, und nicht der anderen wegen. Und heute will ich. Dich allein sprechen will ich und kein fremder Blick, kein fremdes Ohr soll uns stören.«

Es war, wie wenn ein unerschütterlich fester Wille und ein langsam gewordener, reifer Entschluß die Seele dieser zarten, kleinen Frau gehärtet und gestählt hätten. Adel und eine unbeschreibliche Hoheit umgaben sie, machten ihre Worte unwiderstehlich. 158 Florentin gehorchte stumm. Ließ sie ein, schloß ab. Aber als er das Licht einschalten wollte, wehrte sie plötzlich mit einer ganz kleinen, flehenden, fast hilflosen Bewegung ab.

»Nein, bitte, kein Licht! Laß uns im Dunkeln sitzen! Mich hier am Tisch, und du dort am Fenster! Nicht wahr, so bleiben wir? Und du wirst mich ruhig anhören! Nicht wahr, Florentin, das wirst du?«

Sie war auf einmal ganz zaghaft und schüchtern geworden, wie ein kleines hilfloses Mädchen, und ihre Stimme zitterte.

Florentin wartete. Sein Herz hörte zu schlagen auf. Er wartete auf sein Todesurteil. Sie hatte seine Leidenschaft erkannt und kam nun, großherzig, gütig, verständnisvoll, um, die reife, kluge Frau, mit allen Gründen der Vernunft und des Herzens sie ihm auszureden. Was sollte sie anderes ihm zu sagen haben? Und was konnte er anderes tun als gehorchen, wie er dieser Frau immer und unter allen Umständen gehorchen mußte. Und wenn er darüber zugrunde gehen müßte! Und wenn er darüber sterben müßte!

Er wartete. Und begriff, wie schwer es ihr wurde, und wie leid er ihr tat, und wie zart sie ihn anfaßte. Und hätte sein Herzblut gegeben, ihr diesen Schmerz zu ersparen.

Sie schwieg noch immer. Zitterte und schwieg. Setzte zum Reden an, aber ihre Stimme versagte. Senkte den Blick und wagte nicht aufzusehen, weil dort der Mensch saß, der ihr das Liebste auf der Welt war, der Bruder ihres Mannes, der geliebte Bräutigam ihres Kindes, der ihr das Liebste auf der Welt war, und nicht ahnte, in seiner Reinheit nicht ahnen konnte, was in ihr vorging und was sie zu ihm trieb, unaufhaltsam, zerschmetternd, vernichtend.

So saßen sie beide im Dunkeln, stumm, ihre Stimmen versagten, ihre Körper zitterten, ihre Seelen suchten einander und fanden einander nicht und keines wußte vom anderen.

Und auf einmal begann sie, und ihre Stimme bettelte: »So 159 hilf mir doch! Ich kann ja nicht sprechen. Du mußt mir helfen. Du siehst doch, daß ich nicht kann. Begreifst du nicht? Ich kann ja nicht. Ich kann ja nicht. Kannst du mir denn nicht helfen?«

Und er: »Aber Blanche! Woher weißt du? Woher wußtest du? Woher konntest du wissen?«

»Was?« Sie verstand ihn nicht. »Was denn? Um Himmels willen, was denn?«

»Wie ich mich nach dir sehne? Wie ich nach dir geschrien habe? Wie ich nach dir verlange mit allen Fasern meines Wesens?«

»Du?« schrie sie auf.

»Ja, ich. Ich weiß, daß es hoffuungslos, unmöglich, Irrsinn, Wahnsinn, Verbrechen ist. Nicht eine Sekunde lang kann ich vergessen, daß du die Frau meines Bruders, die Mutter meiner Braut bist. Ich weiß, daß es mich zugrunde richten wird. Daß du es bist, die mein Urteil aussprechen muß. Und daß du deshalb gekommen bist. Und doch möchte ich dir auf den Knien dafür danken, daß du gekommen bist, weil ich ohne dich nicht leben kann, weil ich nach dir begehre in jeder Sekunde meines Lebens.«

»Du? Du nach mir? Du auch?« schrie sie und spürte in diesem Augenblick nichts als eine grenzenlose Seligkeit.

Er sah sie mit weit aufgerissenen Augen an.

»Du? Du auch?« stammelte er, kaum hörbar.

»Ja, weißt du es denn nicht? Spürst du es denn nicht? Hast du es denn nicht schon längst gespürt? Wie es mich zu dir zieht, und daß ich zu dir gehöre, und daß wir beide zueinander passen und füreinander geschaffen sind, und daß alles, was ich bisher erlebte, nichts gilt, und daß mein bisheriges Leben nichts war, als ein Warten auf dich, und daß du mir das Liebste auf der Welt bist und das, um dessen willen ich lebe? Weißt du das alles nicht? Muß ich dir das alles sagen, heraussagen, mit Worten, die viel zu alt und verbraucht sind? 160 Ich habe es längst gewußt, gleich gewußt, von allem Anfang gewußt, gewußt, bevor ich dich kannte. Und du zwingst mich, du lieber, dummer Mensch du, dir zu sagen, was du längst hättest erraten müssen.«

»Blanche!« rief er und trieb sich die Nägel ins Fleisch und hielt sich mit dem Aufgebot seiner letzten Kräfte an seinem Sitze fest, um nicht auf sie loszustürzen und sie mit beiden Armen zu umfangen.

»Nein, nein!« rief sie und wehrte fast ängstlich mit beiden Händen ab. »Bitte, bitte, bleib' dort! Ganz ruhig wollen wir bleiben und uns die Schönheit dieser Stunde durch nichts beflecken lassen. Denn dieses Glück, das Glück des Bewußtseins, daß wir uns lieben, soll uns nichts und niemand, kein Gedanke an einen anderen und kein Gedanke an die Zukunft, keine Schuld und kein Gewissen rauben. Dieses Glück ist, Florentin. Komme, was kommen mag!«

Wieder sprach sie aus, ruhig, klar und selbstverständlich, was er sich nach tagelangem Ringen mit sich selbst erkämpft und dann in der Sehnsucht seiner Nächte, im Verlangen dieser Stunde verloren hatte. Der Entschluß, seines Lebens Lauf in die eigenen Hände zu nehmen, stand ihm wieder fest und wieder dankte er ihn ihr. Diese wundervolle Frau! Ihr nicht einmal die Hände küssen zu dürfen! Aber sie wollte es nicht. Und da bezwang er sich. Und nur seine Blicke verschlangen die hellen Konturen ihrer Gestalt, fingen sich in dem seidenweichen Glanz ihrer Haare, streichelte über die Wangen, glitten das Kinn abwärts und blieben an den geliebten kleinen Händen hangen, in denen alles Schicksal seines künftigen Lebens lag.

Aber er schwieg nicht mehr. Er sagte ihr alles. Und streichelte mit seinen Worten ihre Wangen und ihre Haare, und küßte mit seinen Worten ihre Hände, und legte sein Schicksal hinein. Und sie nahm es entgegen, nahm es in ihre Hände, streichelte es mit ebenso zärtlichen Worten und barg es an ihrer warmen 161 Brust als das köstlichste Kleinod ihres Lebens, dem sie fortan alle ihre Gedanken, alle Feinheit und Güte und Klugheit ihres Wesens weihen wollte.

So saßen die beiden im Dunkeln, ganz ruhig und fern voneinander, jeder in einer anderen Ecke des Zimmers, ihre Kniee berührten sich nicht, ihre Hände berührten sich nicht, ihre Lippen flohen einander, aber sie tauschten Leben um Leben miteinander, Willen um Willen, Kraft um Kraft und Entschluß um Entschluß, so daß ihnen aus dieser Stunde ein Wille und Entschluß und ein gemeinsames Leben erwuchs. Immer mehr fiel alles Fremde, alles, was nicht sie beide war, von ihnen ab, verblaßte, verwich, verging in Ferne und Wesenlosigkeit. Die Welt hörte auf zu sein, die Welt mit Schuld und Zwang und Verpflichtung, es gab keine anderen Menschen mehr für sie. Sie spürten nur sich und einander und wollten nichts anderes spüren, nicht aus Feigheit und Furcht vor dem Fremden, denn sie wußten, daß es morgen wieder aufleben würde, und waren auf den Kampf gefaßt und zum Letzten entschlossen. Aber das Heute sollte nur ihnen gehören und der Freude, einander und ineinander Erfüllung gefunden zu haben. Wie ein Band wob es sich um sie, ging von ihr zu ihm und von ihm zu ihr zurück, aus beider Leben herausgewachsen, mehr als Vorsatz, Entschluß, Weltansicht, eine tiefste Notwendigkeit, sein Gesetz fortan nicht aus der Welt, sondern von sich zu empfangen, nichts Fremdes zu dulden, aber auch nicht zu tun, sich nur zu sich zu entwickeln, sein Schicksal nicht zu erleiden, sondern zu wollen. Wie eine Liebkosung, wie eine Zärtlichkeit empfanden sie diese Gemeinsamkeit ihres innersten Fühlens, und auf einmal wußten sie, daß dies nicht mehr Wunsch nach Freiheit, sondern die Freiheit selbst, nicht mehr Sehnsucht nach Glück, sondern das Glück selbst war. Eine starke und heitere Freude überkam sie, und sie lachten und scherzten, selbstvergessen, fröhlich, vergnügt, wie Kinder, als ob es kein Morgen. keine Welt, keine Schuld und keine anderen Menschen gegeben hätte. Bis plötzlich, 162 ganz überraschend, wenn auch ein wenig trübe und grau, der neue Tag durch das Fenster guckte.

»Und auch nicht einen einzigen Kuß?« fragte er beim Abschied.

»Heute noch nicht!« sagte sie, gab ihm die Hand und huschte hinaus.

Dann schlief er, tief und traumlos. 163

 


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