Arthur Kahane
Willkommen und Abschied
Arthur Kahane

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15.

Sibylla war, nachdem sie sich von Florentin verabschiedet und ihre beiden Hunde versorgt hatte, in ihr Zimmer hinaufgestiegen. Sie wäre heute gern noch mit ihm zusammengeblieben: aber er sah so traurig drein, daß sie die Fragen, die ihr auf den Lippen lagen, nicht herausbrachte. Warum es ihr nicht möglich war, diese Traurigkeit von ihm zu bannen? Jetzt, da er fort war, fielen ihr tausend gute Worte ein, die sie hätte sagen mögen; oder sie hätte gar nichts zu sprechen brauchen, sie hätte nur mit ihren Händen über seine Stirne, seine Wangen fahren, ihm die Haare aus der Stirne streichen, ihm mit einem guten Blick in die traurigen Augen sehen sollen, daß er gefühlt hätte, wie sie bei ihm war, und wie sein Leid das ihre geworden war. Aber, wenn er da war, konnte sie das einfach nicht. Es war, wie wenn diese Traurigkeit eine Mauer um seine Einsamkeit baute, über die es kein Hinüberkönnen gab, wie wenn diese Traurigkeit, die sie nicht verstand, deren Wesen, deren Ursachen, deren Grund sie nicht kannte, ihn meilenweit, länderweit von ihr wegführte, irgendwohin, wo sie nicht, wo nichts von ihr war, wohin sie ihm nicht folgen konnte, wohin sie ihm bloß mit traurigen Augen, die ohnmächtigen Arme geöffnet, nachsehen konnte. Aber würde das immer so bleiben? Wird es immer das Land in seiner Seele geben, an dem sie keinen Anteil hat? Sie müßte es doch sein, deren Gegenwart Wunder wirkt und die Kraft hat, alle Schatten von seiner Seele zu scheuchen und alle seine Kämpfe und Leiden zu lösen. Ihr wenigstens ging es mit ihm so. Von seiner Nähe ging, 168 wie von einem guten Stück Natur, etwas aus, das sie mit solcher Ruhe füllte, daß sie sich, wie im Schatten eines Baumes, geborgen und beschützt fühlte, und alle Angst und Scheu von ihr fiel. Warum blieb ihr jede Wirkung auf ihn versagt? Warum fühlte sie sich denn in seiner Nähe so stumm und ohnmächtig? Und ihre Sehnsucht, ihr unbändiger Wunsch zu helfen, versagte, half ihm nicht, half nicht einmal ihr zu einigen Worten des Trostes und Mitgefühls.

Sie öffnete das Fenster und schaute in die Nacht hinaus, die noch dunkler, ganz schwarz und undurchsichtig geworden war. Schwer und gewitterdrohend hingen die Wolken tief herunter. Es regnete. Aber es war kein befreiender Regen, sondern wie eine Vorbereitung auf Schlimmeres. Die Luft war unerträglich heiß und stockend.

Das war heute ein häßlicher Tag gewesen. Von Anfang an war etwas über diesem Tage gelegen, das unschön war, das sie beunruhigt und geängstet hatte, sie wußte nicht, womit. Häßliche Flecken hatte er. Nicht als ob sie es immer hätte lustig haben wollen: man hatte auch sonst trübere Stunden, wehmütige Anwandlungen, Verstimmungen; jeder von ihnen, Stunden, in denen er allein sein mußte und die anderen nicht vertrug und abseits ging, bis er mit sich fertig geworden war. Aber das Leben mit den anderen war immer hell gewesen und die Traurigkeit nur wie ein sanfter wohltuender Schatten auf einem hellen Bilde. So verklärt und rein erschien ihr dieses Zusammenleben mit den geliebten Menschen, daß sie es immer wie ein Schreiten seliger, schöner, vornehmer, vollkommener Wesen empfunden hatte, in Stille und Wahrheit, voll Güte, Rücksicht und Zartheit, ohne Falsch und Hintergedanken. Zum erstenmal war das heute anders gewesen. Was es war, das sie gestört hatte, das wußte sie nicht. Sie dachte nach. Es war dagewesen. Schon am Morgen hatte sie es gespürt, gleich als sie hereinkam. Irgend etwas, das anders war als sonst. Irgend etwas zwischen diesen Menschen, die sie 169 mehr liebte als alles auf der Welt, mehr als sich selbst, das sie nicht kannte. Irgend etwas, das sie beunruhigte und schreckte. Was war es gewesen? Woran hatte sie es erkannt? Lag es im Gespräch, an den Worten? Sie erinnerte sich an jedes einzelne und fand nichts. Aber die Stimmen hatten anders geklungen als sonst. Und in den Augen war etwas gewesen, das sie quälte. Etwas Flackerndes, Unruhiges, das sie an diesen Menschen nicht gewohnt war. Und jetzt erinnerte sie sich, auf ihren Blick gewartet zu haben, und er war nicht gekommen. Nicht so wie sonst gekommen, freundlich, warm, erhellt von der Freude an ihr, daß es ihr selbst ganz warm und sonnig wurde unter dem Auge der Liebe. Unsinn! Das bildete sie sich ein. Warum sollten sie sie auf einmal weniger liebhaben? – Oder sollte sie schuld sein? Irgend etwas getan haben, die anderen zu kränken? Etwas Unrechtes? Sie zergrübelte ihr Hirn und fand es nicht. Nicht des leisesten Unrechts war sie sich bewußt, nicht ein schlechter Gedanke, nicht der Schimmer eines schlechten Gedankens war ihr durch den Kopf gegangen, es war nicht ein Augenblick in ihrem Leben, da sie nicht mit tausend Freuden bereit war, jeden Tropfen ihres Herzbluts für die beiden Menschen herzugeben. Das konnte sie beschwören. Jeden Augenblick, reinen Herzens und reinen Gewissens. Aber vielleicht unbewußt? Vielleicht hatte sie sie ohne Absicht gekränkt, ohne Willen? Mit irgendeinem Worte, dessen Sinn sie nicht kannte? Es gab ja so viel im Leben, von dem sie nichts wußte, das sie nur dunkel ahnte. Vor dem sie eine so fürchterliche Angst hatte, die sie niemandem sagte, sagen konnte? Aber das konnte es nicht sein: sie hatte ja nichts gesagt, fast nichts; darum sprach sie ja so wenig, weil sie sich vor diesen unbekannten, ungeheuerlichen Dingen fürchtete. Oder war es ganz einfach das gewesen, daß sie einen Moment sie allein gelassen hatte, daß sie mit Vater gegangen war? Das konnte es doch nicht sein; das mußten sie doch wissen, beide, daß sie ihr tausendmal lieber waren als Vater, so gern sie den auch hatte, aber 170 die beiden standen ihr doch ganz anders nahe. So ganz nahe. So ganz unendlich nahe. Wie Menschen einem nur stehen können. Mutter immer schon, aber auch Florentin. Viel näher als Papa, wenn sie ihn auch erst so kurz kannte. Sie hätte nie geglaubt, daß ihr, außer Mutter, jemals ein Mensch so nahe kommen konnte. Sie hatte ja bis jetzt, außer Mutter, nie einen Menschen gehabt. Ihre Fräuleins hatte sie nie mögen, Lehrer auch nicht: sie hatte nie das Gefühl: fremder Mensch loswerden können. Freundinnen hatte sie nie gehabt; das war alles so anders als sie. Was ihr wichtig war, verstanden die anderen nicht; und was den anderen wichtig war, ließ sie kalt. Sie galt für kühl, weil sie nicht sprechen konnte, und im Grunde hielt sie alle anderen für kühl, auch dort, wo sie am lautesten schwärmten. Sie konnte nicht reden, mußte schweigen, wenn sie am heißesten empfand; und das trennte sie von allen anderen. So war sie immer allein geblieben. Und sie brauchte auch niemandem Sie hatte ja Mutti, und die verstand sie, auch wenn sie schwieg. Und jetzt auch Florentin. Der war geradeso. Und die beiden sollten sie auf einmal nicht mehr verstehen? Aber das war ja nicht möglich. Und auf einmal überkam sie eine Lust, zu weinen. Aber sie kämpfte die Tränen, die in ihr aufstiegen, nieder. Sie wollte nicht grundlos weinen. So war sie nicht. Und sie weinte nicht. Aber grenzenlos verlassen fühlte sie sich.

Gab es denn niemand, der ihr helfen konnte? Der ihr sagen konnte, was mit ihr geschehen war, was um sie vorging? Der ihr die Rätsel deuten konnte, von denen sie sich umgeben fühlte, die sie nicht verstand und die sie schreckten? Mutter? Der sie sonst alles hatte sagen können? Ach wie gerne wäre sie zu ihr gekommen, jetzt in der Stille dieser unheimlichen Nacht, hätte sich an ihre Kniee geschmiegt und gefragt. Aber das war es ja. Daß sie in Mutter etwas Fremdes spürte, etwas, das sie nicht kannte und nicht begriff, ein Irgendetwas, das nicht zu ihr gehörte, nicht zu ihr sprach, von ihr nichts mehr wissen wollte. 171 Und Florentin? Ja, Florentin. Er war sanft und gut, und still wie sie. Er mußte sie verstehen, wie keiner. Keiner sonst wie er. Eine unbeschreibliche Sehnsucht ergriff sie nach ihm, sich an Florentins Brust zu lehnen, Florentins Hände zu ergreifen, Florentins gute starke Arme zu spüren. Sie dachte an Florentins Küsse, diese guten, zarten, reinen Küsse, sie sah Florentins Augen, Florentins treuen Blick, es war ihr, als hörte sie Florentins Gang auf der Treppe, als hörte sie Florentins stille, leise Stimme, ein übergewaltiges Bedürfnis nach seiner Zärtlichkeit überkam sie, sie streckte beide Arme in die Nacht hinaus und rief, unhörbar fast, aber doch so, daß sie selbst erschrak: »Florentin!«

Aber Florentin kam nicht. Und draußen lag, fahl und böse, von gefährlich wetterleuchtenden Blitzen durchzuckt, die häßliche Nacht und höhnte ihre Sehnsucht.

Es war ihr unmöglich, jetzt schlafen zu gehen. Ihre Erregung war zu groß. Sie mußte sich mit irgend etwas beschäftigen. Das hatte sie von Mutter gelernt, Gefühle durch Tätigkeit zu bändigen. Am liebsten mit ihren lieben Sachen. Auch das war eine Lehre ihrer Mutter, welche Heilkraft in den Dingen wohnt, wenn einen die Menschen im Stiche lassen. Sie setzte sich an ihren kleinen Biedermeierschreibtisch und öffnete, eines nach dem anderen, die Fächer. Im ersten lagen, sorgfältig geordnet, ihre Zeugnisse. Sie hatte zwar nie eine öffentliche Schule besucht, sondern war zu Hause, von Lehrern, unterrichtet worden, aber alljährlich hatte sie eine Prüfung ablegen müssen. Die Zeugnisse, die durchweg glänzend waren, bildeten ihren heimlichen Stolz. Denn sie war, was kein Mensch bei ihr voraussetzte, von einem brennenden Ehrgeiz erfüllt. Und sie hatte nicht etwa nach dem letzten Examen zu lernen aufgehört, sondern studierte unermüdlich weiter, auf allen möglichen Gebieten, zum großen Teil von ihrer Mutter beraten und unterstützt, aber manches auch auf eigene Faust, heimlich, um Mutter eines Tages mit der fertigen Tatsache zu überraschen. Sie wollte alle Wissensmöglichkeiten in 172 sich aufnehmen, und es schwebte ihr vor, alles zu können und etwas Bedeutendes zu erreichen, irgend etwas zu werden, was bisher noch keinem weiblichen Wesen gelungen war. Oder so grenzenlos zu lieben, wie bisher noch kein weibliches Wesen geliebt hatte. Am liebsten aber beides.

Sie konnte grenzenlos lieben. Sie wußte es. Sie spürte die Kraft und den Drang dazu in sich. Aber wird es je ein anderer wissen? Sie wird es nie sagen können. Wird Florentin es je von ihr wissen? Wird nicht immer dieses Fremde in ihm sein, das sie trennt? Dieses Fremde, das ihr gefiel und das sie nicht verstand, das sie anzog und doch beunruhigte? Was wußte sie von ihm? Er hatte sterben wollen. Das war das erste Bild von ihm, das sich in ihre Seele gegraben hatte. Das Bild eines Selbstmörders, eines vom Leben Gezeichneten, mit den Wundmalen derer, die am Leben leiden. Warum? Woran hatte er so gelitten, daß er es hatte enden müssen? Das hatte sie nie erfahren. Mit fiebernd gespannten Sinnen hatte sie auf seine Lebensgeschichte gehorcht, hoffend, irgendwo darin das eine zu vernehmen, worauf sie wartete, den tiefsten Grund des einen, das sie allein von ihm wußte. Es kam nicht, so sehr sie auch hinter die Dinge zu schauen sich bemühte. Aber anderes kam, das ihr ebenso unklar blieb, das sie ebenso anzog und mit einem seltsamen Mitleid erfüllte, aber sie ebenso ängstigte und ihr ebenso fremd blieb. Eine ewige Unrast war in diesem Leben, es war eine ewige Flucht. Wovor? Eine ewige Jagd. Wonach? Ein Umhertreiben in Ländern, die sie nicht kannte und deren Namen ihr mit den phantastischen Bildern einer abenteuerlichen Romantik verknüpft waren, unter Menschen, von deren Vorhandensein sie kaum eine vage, mit Furcht vermengte Vorstellung hatte, ein Schwelgen in Begriffen, die ihr noch nichts bedeuten konnten. Das alles war so anders als alles Gewohnte, als alle bisherige Umgebung, stach von ihnen allen so sehr ab. Und nur Mutter schien das nicht so zu empfinden. Ihr schien das alles so vertraut und geläufig, 173 als wenn es ihre alltägliche Sprache wäre. Ihre eigentliche Sprache. Mutter war förmlich aufgeleuchtet, aufgeblüht bei diesen Dingen. Wie einer, der jahrelang unter Fremden im Exil gelebt hat und plötzlich seine Muttersprache wieder hört. Merkwürdig, daß sie das alles nicht sofort bemerkt hatte, daß ihr das jetzt erst klar wurde. Sie hatte ja zuerst nichts gespürt als Freude, daß die beiden von ihr so geliebten Wesen einander so gut verstanden. Und sie kam sich dadurch selbst erhöht vor, weil sie sich als das Band, als die Brücke zwischen ihnen empfunden hatte. Nun aber sah sie, daß die beiden einander besser verstanden, als sie sie verstand. Sie hätten die Brücke nicht gebraucht. Mutter begriff ihn besser als sie selbst. Mutter stand ihm also eigentlich näher als sie selbst. Und irgend etwas war in Mutters Seele, war in Mutters Leben, das zu ihm führte, wovon sie bis jetzt nichts gewußt, wovon sie keine Ahnung gehabt hatte.

Sie saß vor ihrem Schreibtisch, die Zeugnisse, auf die sie einst so stolz gewesen war, lagen gleichgültig ihrer Hand entfallen, sie starrte vor sich hin und etwas Neues, noch nie Gespürtes, war in ihr aufgekeimt, kroch um sie herum und füllte das Zimmer mit Häßlichkeit. Zwischen ihr und den geliebten Menschen war ein Fremdes, war eine Scheidewand, und wuchs und wuchs.

Sie sammelte die Zeugnisse auf, verschloß sie in ihrer Lade, öffnete ein anderes Fach und entnahm ihm, in wohlgeordneten Päckchen, Briefe. Es waren die Briefe ihrer Mutter. Mit anderen Menschen hatte sie nie Briefe gewechselt. Mutter und sie waren nur selten getrennt gewesen, zwei- oder dreimal, weil Mutter mit Papa in Paris und in Italien gewesen war, einige Male im Frühling, wenn Mutter die Stadt nicht mehr vertragen konnte und das Landhaus vor den anderen aufgesucht hatte; einmal auch – das war schon lange her, sie war noch ein ganz kleines Mädel gewesen, das gerade lesen gelernt hatte – eine Reise, die ihr sehr geheimnisvoll vorgekommen war, deren Ziel und Veranlassung 174 sie sich nicht mehr entsinnen konnte, vielleicht auch nie erfahren hatte. Im ganzen waren es doch recht stattliche Päckchen geworden, sorgfältig nach Jahren verteilt und mit farbigen Atlasbändchen verschnürt. Sie nahm eins nach dem anderen in die Hand und besah, jedesmal auf dem zu oberst liegenden Umschlag, die Handschrift der Adresse; immer wieder dieselbe zierliche Schrift mit den kleinen, gleichmäßig schiefliegenden, hübschen Buchstaben. Erinnerte sich, mit welchen fast verliebten Gefühlen sie sonst diese Zeichen anzusehen pflegte: sie kannte die Briefe fast auswendig, so oft hatte sie sie schon gelesen, alle, auch die belanglosesten Ansichtskarten. Nein, völlig Belangloses hatte Mutter ihr nie geschrieben. Immer war irgend etwas sehr Nettes, Heiteres oder sehr Zärtliches dabei. Auch wenn es sich um Wirtschaftsdinge oder Haushaltungsaufträge handelte: derlei liebte Mutti in einem Nebensatz einzupacken, und in der Hauptsache etwas Unterhaltliches und Liebes und Gescheites zu sagen. Und gerade deshalb traute sie sich heute nicht, die Päckchen zu lösen und die Briefe zu öffnen: es war, als fürchtete sie, heute anders lesen zu müssen als sonst, ja als könnte sie in der Handschrift etwas Neues entdecken, was ihr bisher entgangen war.

Sie packte die Briefe wieder weg und kramte weiter. Aber sie fand nichts, was zu ihr sprach. Traurig verließ sie den Schreibtisch, ging zu ihren Büchern, berührte aber keines, verweilte einen Augenblick lang vor den Madonnen der Sienesen, ohne hinzusehen, ging von einem der zierlichen Möbel zum anderen, von dem Nippesschränkchen zur Konsole, von der zur kleinen Kommode, entnahm der einen die lederne Mappe mit den Reproduktionen der Bilder aus Louvre und Pitti, die Mutter ihr mitgebracht hatte, und legte sie wieder zurück, ohne sie eines Blickes gewürdigt zu haben, glitt wie liebkosend über die kleinen Tiere aus dänischer Fayence, die hochbeinigen japanischen Vögel aus Antimon, die Blumengläser von Limoges, das blaue Email der Schmuckdöschen, die, verteilt, auf den Gesimsen der Möbel herumstanden, aber die Dinge erwiderten 175 ihre Liebkosung nicht, blieben stumm. Das, was sie brauchte, was sie, ohne es zu wissen, mit allen Wünschen suchte, fand sie nicht: von Florentin hatte sie nicht das kleinste Lebenszeichen, kein Andenken bis jetzt, nichts, was sie an ihn erinnert hätte, wenn er ihr je verlorenginge.

Sie kauerte vor ihrer kleinen Kommode und zog die Schubfächer auf. In langen Reihen, eine säuberlich neben der anderen, häufte sich zu stattlichen Hügeln die schneeweiße Pracht der Mädchenwäsche, die blaue Bänder durchzogen, gleich den dünnen sonnenbeglänzten Wasserfäden im weißen Gischt eines Wasserfalles. Aber der Blick auf die Linnenfülle hob heute nicht, wie sonst, ihren Mädchenstolz: ihr Auge und ihre Hand strichen gleichgültig darüber weg, bis sich, weich im Seidenbatist gebettet, ein kleines Schlüsselchen fand. Mit dem öffnete sie ein in der untersten Lade verstecktes, seitliches Schloß: ein Türchen sprang auf, und dem jedem anderen Auge verborgenen Verstecke entnahm sie, klopfenden Herzens, ihr bis jetzt am strengsten gehütetes Geheimnis: ihre Lieblingspuppe, die einzige, die sie aus den Tagen ihrer Kindheit behalten hatte. Eine richtige große Puppe im himmelblauen Kleidchen mit rosa Bändern, die früher einmal sogar die Augen hatte aufschlagen können. Das hatte sie freilich im Laufe der Jahre verlernt. Aber Billy hatte sie darum nicht weniger liebbehalten, und sie erinnerte sich – es war gar nicht so lange her –, daß sie sie in Stunden der größten Verzweiflung, wenn schon gar nichts mehr half, als letzten Trost ins Bett mitzunehmen pflegte, um, die Puppe im Arm, sich in den Schlaf hinüber zu weinen. Ob das heute auch noch nützte? Fast war sie geneigt, es zu versuchen; aber im letzten Augenblick schämte sie sich doch. Und wurde sehr traurig, daß sie schon so erwachsen war und sich entschließen mußte, ohne ihre Puppe zu Bett zu gehen.

Sie holte eine Schere aus dem Arbeitskorb, kniete abermals vor der Kommode nieder, drückte die Puppe ans Herz, küßte sie noch einmal auf den ach! so roten Mund, löste die rosa 176 Schleifen, zog ihr das blaue Kleidchen ab, breitete Schleifen und Kleid sorgfältig neben die Wäsche im Wäschespind, schnitt mit einem einzigen herzhaften Schnitt die Puppe mitten durch den Leib, daß die Kleie ihr in den Schoß fiel, und, was übrigblieb, zerschnitt, zerriß, zerbrach sie mit festen Händen so lange, bis es, in ihrem Kleide, in kleinste Teilchen zerfiel, denen kein Auge ihre Herkunft hätte anmerken können. Dann erhob sie sich und schüttelte alles in den Papierkorb. Weg war es. Damit war es vorbei für immer.

Und begann sich zu entkleiden. Blitzschnell, wie immer, glitten ihr die Kleider vom Leibe. Nein, schneller als sonst immer: es war, als stünde etwas hinter ihr und jagte sie, sich selbst zu entrinnen, dem heutigen Tag zu entrinnen; mit den Kleidern den heutigen Tag und alle Erinnerung an ihn vom Körper zu streifen. Und doch hielt es sie, unbegreifliche Sekunden, ja Minuten lang, als sie die Zöpfe lösen wollte, vor dem Spiegel. Und ein Blick, den sie sich selbst nicht zu gestehen wagte, streifte ihre Nacktheit. Sie wurde rot bis in die Haarwurzeln: blitzhaft hatte ein Gedanke sie überfallen, sie in ihrer Nacktheit überrascht, so verwegen, daß sie gleich darauf vor Scham sich in die Erde hätte verkriechen mögen: wenn dich Florentin so sehen könnte! Es nützte nichts mehr, alles Verkriechen vor sich selbst nützte nichts mehr; der Gedanke war dagewesen, sie hatte ihn gedacht, und nun brachte sie ihn nicht mehr weg und er brannte sie auf die Haut und sie fühlte ihn bis in die Fingerspitzen, und er überrieselte sie, heiß und kalt, und füllte ihr Blut mit einem grauenhaften Schauder vor sich selbst und füllte das Zimmer und schrie in ihrem Blut und schrie in der Luft, mit lauten, grellen, roten Schreien: Wenn dich Florentin so sehen könnte! Und gleich darauf ein zweiter Gedanke: dann wäre alles anders!

Aber es ist ja unmöglich, wehrte sie sich. Weg damit! Ich will nicht. Mich darf kein Auge sehen! Mich hat, außer Mutter, noch kein Auge gesehen! Und zwischendurch immer wieder stahl 177 sich, wie magisch gebannt, der Blick in den Spiegel, flog beiseite und wieder in den Spiegel zurück und fing sich in ihrem Auge, das sich schamhaft abwandte, und fing sich in den Linien ihres Körpers und glitt über die Schulter, verwegen weiter, wie der Blick eines Mannes, ohne Schranken, schließlich, und ohne Grenzen. Sie bäumte sich fast vor Trotz gegen sich selbst und Wut über sich selbst. Und wollte sich wegreißen und konnte nicht. Denn nun hatte sich eine unbegreifliche Süße in die Bitterkeit ihres Gefühls gemengt und ein steigendes Wohlgefallen, und auf einmal breitete es ihre Arme und schrie, mit ganz anderen Lauten: Wenn dich Florentin so sehen könnte! Und sie ließ die Arme sinken und breitete sie noch einmal, in Sehnsucht: Wenn mich Florentin so sehen könnte! Wenn er hier wäre!

Auf einmal, wie sie so dastand, mit gebreiteten Armen, überkam sie eine seltsame Erinnerung: als ob sie das einmal schon erlebt hätte, diese Sehnsucht und diese Nacktheit, und diese Freude an ihrem Körper und dieses Strecken der Arme und Florentin hinter ihr, Florentins Blick auf ihrem Körper, und auf einmal wußte sie untrüglich, unableugbar, mit einer letzten Gewißheit, wie sehr auch ihr Schamgefühl, ohnmächtig, dagegen ankämpfte und anrannte: er hat mich schon so gesehen, er muß mich schon so gesehen haben, fast so, damals, in jenem ersten Augenblick, gerade damals, als er sterben wollte, und irgendwie verknüpfte sich sein Sterbenwollen mit ihrer Nacktheit und machte ihre Gewißheit noch gewisser und schuf einen neuen Zweifel: wenn er dich also gesehen hat, wie konntest du ihn doch verlieren? und machte die Gewißheit, ihn verloren zu haben, noch gewisser, und alles andere verflog und es blieb nur eine so ungeheure Scham, daß sie, wie gehetzt, ans Bett flog, das Hemd überwarf und, mit einem Aufschrei, sich unter ihrer Decke verkroch.

Sie bohrte den Kopf ins Kissen, biß, vor Wut und Schmerz und Scham, in die Decke, grub die Nägel ins Leintuch, wollte weinen, und konnte nicht, wollte schreien, und konnte nicht: die 178 Gedanken jagten, wie tolle Hunde auf sie ein, hingen sich an sie, bissen sich in ihrem Fleische fest, immer dieselben: er hat dich nackt gesehen: nun ist es aus mit deiner Reinheit; er hat dich nackt gesehen: kannst du denn noch leben mit dieser Schande? Und er hat dich nackt gesehen: und du hast ihn doch verloren! Und an wen hast du ihn verloren? Und wand sich, um nicht antworten zu müssen, um diese innere Stimme, die irgendwo in ihr zur Antwort ansetzte, zu überhören, zu überschreien, warf sich hin und her, bäumte sich, wollte schreien, und konnte nicht, wollte weinen, und konnte nicht. Da war sie schon wieder, die innere Stimme, und setzte an, und jetzt, und jetzt mußte das eine Wort kommen, das nicht kommen durfte, das sie nicht hören wollte, um ihr Leben nicht, das eine Wort, das alles Bisherige ihres Lebens vernichten wird, auslöschen, verwehen, das alles künftige Glück ihres Lebens unmöglich macht, für immer, und sie kann sich nicht anders helfen, alles in ihr schreit: Florentin! So komm doch! So hilf mir doch! und alles in ihr streckt die Hände nach dem, den sie verloren hat und doch nicht verlieren will, und alles in ihr weiß nichts als den einen Wunsch: wenn er da wäre! Wenn er nur da wäre! Jetzt bei mir! und fühlt, wie dieser Wunsch ihr Bewußtsein überströmt und alles andere verdrängt und ihr Blut füllt und in den Adern siedet und, bis in die letzten Nervenspitzen, durch ihren ganzen jungen Leib fließt und rauscht und zuckt. Nun ist es nicht Sehnsucht mehr, kein Händestrecken um Hilfe, nun ist ein Anderes erwacht, ein Neues, das sie nicht kannte, riesengroß, furchtbar, ungeheuerlich, ihr ganz unverständlich, aber so, daß man nicht anders kann und sich willenlos hingeben muß. Ein Sturm rast durch ihren Leib, spannt die Haut bis zum Bersten, daß sie sie wie eine glühend heiße Hülle empfindet, die sich von ihr lösen will und, zitternd, auf Hände wartet, die streicheln, kühlen, beruhigen können, wenn sie nicht wie ein Fremdes von ihr fallen soll. Ist dieses Fremde ihr eigener Körper? Den sie zum erstenmal spürt, als gehörte er nicht zu 179 ihr: und ihr ist, als müßte sie, mit inneren Augen, mitansehen, wie ihr Körper ihre Seele erschlägt, sie erwürgt und ein eigenes Leben führt, aufschießend in üppigen Trieben, aufblühend, über ihren Willen hinaus, stärker als dieser, über ihn wegfegend, mit einer unsäglichen Kraft über sie her. Keine Sehnsucht ist es, die milde durchfließt mit zärtlich gelinderter, wehmütig süßer Schmerzlichkeit, sondern Verlangen, das sie schüttelt, nach irgend etwas, ins Weite hinaus, an keinen Namen mehr gehängt, an kein Bild mehr sich klammernd, an keinen lieben Menschen mehr gebunden, nach Unbestimmtem, nach Armen, irgendwelchen, nach einem zweiten Körper, nach fremden Gluten, nach einem anderen Willen, hart genug, sie aus dieser unerträglichen Einsamkeit ihres Körpers emporzureißen. Warum läßt man sie so allein? Was hat sie der Welt getan, daß sie sie so grenzenlos allein läßt? Was kann sie, ein Kind, gegen die ganze Welt? Die sich gegen sie verschworen hat und über sie herfällt, und die ihr die Liebsten waren, sind mitverschworen, sind die eigentlichen Verschworenen und haben sie verlassen, und niemand ist da, sie zu schützen, keine Liebe, sie gegen die Welt zu schützen, gegen sich selbst zu schützen, gegen den fremden Willen zu schützen, eben den, nach dem ihre Sinne schreien, daß er sie schützen soll, den das neue Leben in ihr verlangt, und den sie doch fürchtet wie den Tod. Sie fühlt, wie ihre Sinne sich verwirren, ihr Bewußtsein dunkelt, ihr Verstand zu reißen beginnt, und nur dieses eine unbestimmte, rasende, sinnlose Verlangen nach irgendeinem Menschen alles im Wirbel mit sich fortschwemmt, in einen nebelgrauen Abgrund hinein. Siedendheiß ist ihr geworden, ihr Blut hämmert, sie streift die Decke ab, will etwas, weiß nicht was, will sich erheben, kann es nicht, möchte ins Freie hinaus, in die Nacht, ins Wetter, den Wind spüren, den Regen spüren. ihn sich ins Gesicht peitschen lassen, bis ihr Blut läuft, den Wind in den Haaren sausen fühlen, laufen, sich müd und wund und tot laufen, mit den Hunden um die Wette jagen, bis sie nicht mehr können, und 180 wenn sie nicht mehr wollen, sie schlagen, oder sich selber, von irgend jemandem, schlagen lassen, bis sie tot umfällt. Irgend etwas tun möchte sie, mußte sie. Jetzt, in Blitz und Regen im See baden, oder sonst etwas, nur irgend etwas, nur nicht daliegen und denken müssen. Irgend etwas, daß alles auf einmal ganz anders wird! Irgend etwas Entsetzliches, daß die Welt aus den Fugen gerät! Damit die Welt erfahre, was sie gelitten hat! Damit Florentin, damit Mutter erfahren, was sie gelitten hat! Irgend etwas Tolles, Verrücktes! Und ohne zu wissen, was sie tut, springt sie, mit Füßen, die nicht die ihren sind, aus dem Bett, reißt, mit Händen, die ihr wie fremde am Leibe hängen, das Notwendigste an Kleidungsstücken über und stürzt wie im Traum, von fremder Gewalt getrieben, mit offenen Augen, die nicht sehen, aus dem Zimmer, die Stiege hinunter, durch den Garten, die Gartentür an den See.

Wo der See lag, ballte sich ihr eine dunkle, unkenntliche Masse entgegen, der Wind riß an ihren Haaren, der Regen schlug ihr ins Gesicht, daß es schmerzte. Aber der Schmerz tat ihr wohl, sie atmete freier und die dumpfe Bewußtlosigkeit, die in ihren Augen hing, begann zu weichen.

Sie lief, mit den Füßen den wohlbekannten Weg findend; ohne zu denken, zuerst, noch immer von dem Chaos ihrer ungeordneten Gefühle umschwirrt. Aber die Bewegung ihrer Muskeln, durch den Widerstand des Windes gesteigert, pflanzte sich auf ihr Bewußtsein über, erfrischte es allmählich, klärte es; straffte ihre körperliche Energie und mit ihr die geistige: und sie begann langsam aus der Verworrenheit ihrer Sinne zu klareren Gedankengängen zu erwachen.

Und auf einmal schlug sie die Augen auf und sah klar. Alles. Alles war ihr mit einemmal klar. O, wie traurig war dieses Erwachen! Eine tiefe Scham vor sich selbst ergriff sie. Es schauderte sie vor dem eigenen Körper. Was war das gewesen? Wie war das möglich gewesen? Nie wieder würde sie Florentin 181 in die Augen zu sehen wagen. Und Mutter? Durfte sie je wieder Mutter vor die Augen treten? Und wie würde sie, wenn sie morgen in den Spiegel sehen müßte, sich selbst vorkommen? Sie würde nicht wagen, sich anzusehen. Oder sich zu berühren. Es war, als müßte die Nacht häßliche Flecken auf ihrer Haut hinterlassen haben. Daß ein Mensch so furchtbar, so grauenhaft häßlich werden kann! Daß eine Nacht einen Menschen so verwandeln, so ins Gegenteil verwandeln, so zum Tier machen kann! Daß Gedanken, bloße Gedanken eine so furchtbare Macht hatten! Und daß das in der Welt überhaupt möglich war! Aber dann war es ja nicht möglich, in dieser Welt zu leben!

Und wie war das alles gekommen? Wie war es entstanden? Sie wollte ganz mutig sein, der Wahrheit ins Gesicht sehen, sie beim rechten Namen nennen. Mag kommen, was da will, sie schreckte vor nichts mehr zurück: in Gedanken nicht, und auch nicht im Handeln. Wie sie ihren Leib jetzt dem Sturm bot, ohne Furcht, so wollte sie ihre Seele der Wahrheit bieten und ihr Leben dem Schicksal. War das nicht Mutters Lehre gewesen: das Schicksal in die eigene Hand nehmen, in Freiheit und Bewußtsein? Und hatte nicht Florentin danach gegriffen, begeistert, gierig, wie nach einer letzten Weisheit? Sollte das nur für Florentin gelten? Nur für Männer? Nicht auch für sie? Auch sie forderte ihr Recht auf Bewußtheit, ihr Recht auf Freiheit, ihr Recht auf ihr Schicksal. Zuerst also: Klarheit, rückhaltlose, schrankenlose, grausame Klarheit. Je grausamer, um so lieber. Sie wollte sich nicht schonen, sich nicht vom Schicksal schonen lassen, sich nicht mehr vom Schicksal als kleines Mädchen behandeln lassen. Vom Schicksal nicht und auch sonst von niemandem. Jetzt nicht mehr. In dieser Nacht war sie erwachsen. Sie konnte alles ertragen. Auch das Letzte. Auch den Tod. Auch dieser hatte keine Schrecken mehr für sie. Nach dieser Nacht.

Aber es war so schwer, klar zu sehen. So furchtbar schwer. Alles war so verworren, so dunkel, so unheimlich. Wie diese 182 Nacht. Sie glaubte, noch nie eine Nacht von solcher Schwärze, solcher Finsternis erlebt zu haben. Manchmal zuckten Blitze, und dann wurde die Nacht noch dunkler, das Dunkel noch undurchsichtiger. Wie sollte sie Licht in all das Verworrene, Verwickelte bringen? Sie begriff ja nichts von alledem, was mit ihr, was um sie vorgegangen war. Wie konnte sie diese wilde Flucht einstürmender Gedanken bändigen? War sie ja kaum imstande, sich zum Denken zu zwingen, sich an einem Gedanken festzuhalten! Immer hetzte Neues auf sie ein. Und die kaum errungene Entschlossenheit begann wieder zu schwinden. Ängstlich geworden, jagte sie, wie ein junger scheuer Vogel, denselben Weg am See hin und her, hin und her, und, wie ihre Kleider mit dem Winde, kämpfte ihre arme Seele mit der Ohnmacht, Klarheit um jeden Preis zu gewinnen, selbst um den Preis ihres Glückes und ihres Lebens.

Wie war es gekommen? Immer wieder tauchte aus dem Erlebnis dieser Nacht, diesem Wirrsal von Sehnsucht, Verlassenheit, Mißtrauen, Gefühl verratener Liebe, Verlangen, Enttäuschung, Sturm der erregten Sinne, Verzweiflung diese eine Frage auf, bohrte sich in das Chaos, griff hinein, stöberte fiebrig und gierig darin, ohne eine Antwort zu finden: Wie war es gekommen? Bis sich, wie ein kleiner Lichtschein, in den Sibyl ihre letzte Hoffnung auf Klarheit stellte, das eine Gefühl stärker als alle anderen erwies: weil ich so allein war. Ja, das war das erste gewesen: dieses Gefühl grenzenloser Verlassenheit. Aber war sie denn nicht immer allein gewesen? Bevor Florentin kam? Sie hatte nie einen Menschen gehabt außer Mutter. Vater zählte nicht. Er war ihr immer fremd geblieben. Immer nur Mutters Mann. Deshalb hatte sie ihn gern. Aber sonst hatte sie nie einen Weg zu ihm gefunden. Sie hatte nie, auch nur einen Moment lang, vergessen, daß er nicht ihr eigentlicher Vater war. Und ihr eigentlicher Vater? Den hatte sie kaum gekannt. Sie war noch ein kleines Kind gewesen, nichts ahnend, als er aus ihrem Leben verschwand. Und wie verschwand? Auf eine rätselhafte, 183 ihr nie aufgeklärte Weise, wie ein unheimlicher Schatten, dessen Name nie genannt wurde, von dem niemand zu reden, nach dem sie nie zu fragen wagte. Sie hatte immer nur gefühlt, daß hier ein dunkles Geheimnis auf Mutters Leben lag. Und wenn Mutter weinte, was in den ersten Jahren so oft war, hatte sie gewußt, ohne zu fragen, daß diese Tränen seine Schuld waren. So war der Gedanke an ihn schließlich mit Haß verknüpft worden, mit diesem schweigsamen, trotzigen, zähen Kinderhaß, wie nur die Kinderseele zu hassen versteht, und lastete wie ein schwerer Druck auf ihrer Kinderzeit. Das war ihr eigentlicher Vater, dessen Gedächtnis den einzigen dunklen Punkt jener hellen Jahre bildete, deren hellster diese Liebe zu ihrer Mutter war. So hatte sie niemanden als Mutter. Um so lieber hatte sie diese. Liebe, das war gar kein Wort für die rasende, sinnlose Leidenschaft, die schrankenlos vergötternde Verehrung, mit der sie an ihr hing. Sie war ihr Verkörperung alles Schönen, Inbegriff alles Heiligen geworden, das Lieblichste, Zarteste, Gütigste, des Geistes feinste Blüte, alles, um dessenwillen sie die Welt schön fand und das Leben liebte. Jedes ihrer Worte galt ihr als Evangelium, unfehlbare Weisheit, tiefste Offenbarung. Ihrer Mutter Liebe war ihres Lebens Sinn, Inhalt und Zweck. Sonst hatte es nichts. Bis Florentin kam.

Was es war, das sie zu ihm trieb, wußte sie nicht. Sie wußte nur, daß sie ihn liebte, ganz einfach. Und ihm grenzenlos gut war. Immerfort hätte sie ihm Gutes tun wollen. Für ihn sorgen, wie eine Mutter für ihr Kind. Übrigens: die eine Liebe in ihr hatte nichts mit der anderen zu tun, sie störten einander nicht. Sie spürte, wie die beiden Gefühle friedlich in ihrem Innern nebeneinander wohnten und Platz hatten. Im Gegenteil, sie verstärkten, verschönten einander. Ihr war in seiner Nähe so wohl, ebenso wohl wie bei Mutter, und doch anders. Auch in seiner Nähe empfand sie sich ruhig und geborgen, und doch war eine seltsame Erregung in ihr, eine Aufregung, die aber nicht um sie 184 ging, sondern um ihn. Es war, als fühlte sie eine gewisse Verantwortung für sein Glück. So war es schon gewesen, als er an jenem ersten Abend die bunten Wechselfälle seines Lebens berichtete. Sie hatte gar nicht alles verstanden, aber immerfort durchgefühlt, daß sein Schicksal ihrer bedurfte. Und das hatte sie in einer fortwährenden Aufregung und Spannung erhalten, als ob es sich um ihr eigenes handelte. Diese Aufregung hat sich dann später noch gesteigert, als sie seine Traurigkeit bemerkte, deren Ursache sie nicht kannte. Woher kam diese Traurigkeit? Die seine reine Stirn verfinsterte, wie ein unheimliches, böses Geheimnis, an dem er allein und schwer zu tragen hatte. Und dann der plötzliche Wechsel. Wodurch? Denn mit einemmal konnte er so ungebändigt fröhlich und ausgelassen sein, wie einer, dem plötzlich ein glückliches Wissen, das er allen verbergen möchte und doch nicht kann, in die Augen tritt. Woher kam diese Heiterkeit? Welches war das Geheimnis, welches das Wissen? Und auf einmal wußte sie beides. Es war Liebe. Aber nicht, wie sie damals gedeutet hatte, Liebe zu ihr. Darüber täuschte sie nichts mehr.

Wenn aber nicht zu ihr, zu wem sonst? Und wieder ging sie, wie so oft schon in dieser Nacht, aber diesmal mit diesem Wissenwollen um jeden Preis, mit der schwer erkämpften, nicht mehr zu betrügenden Hellsichtigkeit ihrer erwachten Sinne, mit fieberhafter Entschlossenheit alle die tausend kleinen Begebenheiten des gestrigen Tages durch. Eine um die andere, alle Stunden des Tages zerpflügend, hart, grausam, unerbittlich, fast kalten Herzens geworden, biß sie sich in ihr erbarmungsloses Gedächtnis ein, es bis in seine letzten Schlupfwinkel aufbohrend. Und auf einmal, blitzhaft kam die Erkenntnis, der letzte Schleier fiel und sie wußte alles: Florentin und ihre Mutter liebten einander.

Es war kein Zweifel. Sie liebten einander. Ihr Geliebter wurde von ihrer Mutter geliebt und liebte die Frau seines Bruders. Und nicht, wie sie bis jetzt geglaubt hatte, um ihretwillen, nicht aus verwandtschaftlicher Treue, nicht aus gemeinsamer Güte, 185 und nicht mit dem Verständnis verwandter Seelen, mit jener lasterhaften, verruchten Liebe, von der sie bis vor wenigen Stunden noch nichts geahnt hatte, und die sie jetzt, aus den Stürmen ihres Blutes, so wohl kannte. Und sie begriff ihre plötzliche Heiterkeit, die gegenseitiges Erraten dieser Liebe war, und begriff ihre Traurigkeit: die Gewißheit, nie zueinander kommen zu können; denn das Schicksal stand zwischen ihnen. Aber es war nicht Vater, der zwischen ihnen stand; das glaubte sie nicht. Sondern sie. Sie selbst. Ihr junges Leben.

Und alle Sterne verloschen ihr. Vor den Augen wurde es ihr ganz schwarz und dunkel. Und ganz schwarz und dunkel in ihr. Kein Haß, keine Eifersucht mehr. Nichts, als eine stumpfe, gefühllose, grauenhafte Leere. Und sie starrte, blicklosen Auges in die Finsternis hinaus, die der See war.

Da, auf einmal traf etwas ihr Ohr. Ein leises Knistern im Gebüsch. Sie lauschte unwillkürlich. Stimmen, leise flüsternde. Sie unterschied zwei. Sie erkannte die Stimmen. Worte vernahm sie nicht. Aber wie sie die Stimmen hörte, stieg, stärker als alles, stärker als je, noch einmal die ganze, alte, heiße Liebe zu diesen beiden reinsten und gütigsten Menschen in ihr wieder auf, und ein unendliches, alle Dämme überflutendes Mitleid mit den Unglücklichen, die ihr Schicksal mit Peitschenhieben in die nachtdunkle Heimlichkeit und Schande ihres schmählichen Versteckes zusammengetrieben hatte. Und sie schämte sich, bis in ihre tiefste Seele, für sie. Nein, sie sollten ihr nicht, nie, mit Schuld und Verbrechen beladen, in die Augen sehen müssen. Sie wollte ihre Schuld auf sich nehmen. Auf sie, auf ihre armen Kinderschultern sollten sie alles, was sie drückt, abladen. Alles wollte sie ihnen abnehmen. Nur fühlen sollten sie, daß des Kindes Liebe noch größer war als die ihre. Nein, nicht einmal das sollten sie fühlen. Sie wollte ihr Gewissen nicht belasten. Ganz heimlich wollte sie sich aus dem Wege stehlen, damit die beiden glücklich sind. Nicht an ihr sollte es liegen, daß sie nicht 186 zusammenkommen. Sie wollte nicht zwischen ihnen stehen. Jetzt wußte sie, was sie zu tun hatte. Jetzt war es da, das Ungeheuerliche, das sie vorhatte. Jetzt, in dieser Nacht noch mußte es geschehen. Daß diese beiden zusammenkommen, war Ungeheures notwendig. Und sie mußte das Opfer sein. Ihr junges Leben, noch ehe es glücklich, noch ehe es erfüllt war.

Und sie sank am Strande nieder und weinte, in tiefgefühltem Mitleid mit sich selbst, noch einmal bitterlich. 187

 


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