Arthur Kahane
Willkommen und Abschied
Arthur Kahane

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11.

Ganz früh am nächsten Morgen klopfte es an Otto Mosers Tür. »Wer ist das?« fuhr dieser, ziemlich wütend, aus dem Schlaf auf. »Ich, Florentin.« »Was willst du? Ich schlafe noch.« »Arbeiten. Irgend etwas arbeiten. Hast du denn gar nichts für mich zu arbeiten?« »Bist du verrückt? Im Sommer wird nicht gearbeitet. Der Sommer ist zum Ausruhen da. Sieh mich an! Ich bin doch gewiß ein Arbeiter. Aber jetzt will ich mich erholen. Ich befehle dir, daß du dich erholst. Im Winter wirst du genug zu arbeiten haben. Und jetzt, vor allem, leg' dich wieder nieder. Ich befehle dir als dein Arbeitgeber, daß du dich sofort niederlegst.« »Otto!« Es klang wie eine verzweifelte, flehentliche Bitte. »Nichts da. Ich schlafe schon.« Und warf sich mit laut vernehmlichem Rucke auf die andere Seite.

Florentin sprang in sein Zimmer hinauf, riß sein Schwimmkostüm aus der Lade, lief durch den Garten über den schmalen Uferweg bis zu der menschenleeren Badeanstalt in eine der offen stehenden Zellen hinein, zog sich um, sprang vom Tramplin in den See und schwamm, so schnell er konnte, über die ganze Breite des Sees zum gegenüberliegenden Ufer. Dann kehrte er, ohne auszuruhen, wieder um und schwamm die ganze Strecke in demselben atemlosen Tempo wieder zurück. Darauf kleidete er sich blitzschnell wieder an und lief nach der Villa. Im Garten traf er den Gärtnerburschen.

»Sie, Wimmer!« redete er ihn an, »haben Sie irgendeine 146 Arbeit für mich? Ich möchte Ihnen helfen.« Der Bursche wurde verlegen. »Ich wüßte nicht, was,« sagte er, »leichte Arbeit gibt's jetzt keine, und die schwere wird dem gnädigen Herrn nicht recht sein.« »So schwer, wie nur möglich. Mir ist alles recht. Geben Sie nur her!« Der Bursche kraute sich den Kopf. »Schwere haben wir eigentlich jetzt auch keine. Und mit der Gießkanne und der Baumschere – das will verstanden sein. Da könnte der gnädige Herr leichter was verderben, als wie helfen. So was will gelernt sein. Vielleicht das nächste Mal – heute wüßte ich wirklich nicht, was.«

Florentin sah sich um: die Villa lag noch im tiefsten Schlaf. Rasch entschlossen lief er noch einmal an den See hinunter, bis zur Haltestelle, an der die Schiffe lagen, löste dort eines jener schmalen, einsitzigen, mit doppelrudriger Lenkstange zu führenden Boote, die man Seelentränker nennt, von der Kette und schoß in den See hinaus. Sich mit ganzer Kraft in seine Arme legend, erreichte er in jagend schnellen Stößen, die ihm Schwielen in die Hände brannten und den Schweiß auf die Stirn trieben, die kleine Bucht, die das Seeende abschloß, kehrte sofort wieder um und ruderte in noch schnellerem Tempo zurück, als gelte es, Unwiederbringliches einzuholen. Als er landete, fühlte er seine Arme nicht. Er rannte zur Villa, die Stiegen hinauf, zur Veranda. Hier stand der Frühstückstisch bereits gedeckt, aber noch saß niemand daran. Und wieder stürzte er, ohne sich zu besinnen, als handle er nach einem bestimmten, vorgedachten Plane, hinunter und ging, so schnell er nur konnte, den Sattelweg, den er kürzlich erst mit Sibyl in anderthalbstündiger Wanderung zurückgelegt hatte. In einer halben Stunde war er oben, in einer Viertelstunde wieder zurück und in der Villa. Auf der Veranda fand er die Kathi, die den Frühstückstisch gerade abdeckte. Er holte Atem. »Wo sind die Herrschaften?« fragte er. »Die gnädige Frau ist in ihrem Zimmer und das Fräulein auch. Soll ich sie holen?« »Und mein Bruder?« »Der gnädige Herr ist gleich nach dem 147 Frühstück in den Ort hinuntergegangen.« »Schön. Dann frühstücke ich unten.« Und machte sich auf den Weg.

Im Caféhause fand er Otto Moser, der gerade zum zweiten Male zu frühstücken begann. »Willst du eine Partie Karambol mit mir spielen?« fragte er ihn. »Billard? Nein, danke schön. Da bin ich viel zu müde dazu. Nach gestern. Tarock wäre noch das einzige. Da ruht der Geist aus, und das hat unsereiner nötig, und die angenehme Aufregung hält einen trotzdem frisch. Außerdem gewinne ich immer. Dazu wäre ich bereit. Trotz meinem Katzenjammer. Aber das wirst du wieder nicht wollen, wie ich dich kenne.« »Dann spiele ich eben allein«, sagte Florentin, stellte sich ans Billardbrett und machte eine Serie von siebenundneunzig Points hintereinander. Beim achtundneunzigsten Stoß kickste sein Queue, er warf es auf den Tisch und sagte: »Nun habe ich genug. Ich gehe.« »Adieu. Und sage, bitte, zu Hause, sie möchten das Mittag bereithalten: ich komme pünktlich und möchte nicht warten.«

Florentin ging heim. Nichts nutzte. Nichts hatte genutzt, die Müdigkeit war nur in den Armen und den Beinen. Aber die Gedanken blieben. Die Gedanken jagten weiter, immer wieder, rastlos, nicht aufzuhalten, nicht einzudämmen, immer um das eine.

Er rang mit ihnen, er packte sie fest. Er wollte sie zwingen. An einem ganz bestimmten Punkt wollte er sie festnageln. Die selbstgewählte Arbeit, sagte er sich, das war das Wesentliche. Das war das große Resultat des gestrigen Abends. Das hatte er herauszuhören gehabt. Daran hatte er sich künftig zu halten. Das war der Wendepunkt, das Leuchtfeuer, der Leitstern. Der Wendepunkt seines bisherigen Schicksals, das Leuchtfeuer seines Willens, der Leitstern seines künftigen Lebens. Und hörte die helle, zarte, vibrierende und doch so feste Stimme, mit der sie es aussprach, und sah die leuchtenden Augen dazu und sah das schmale, glühende Gesicht, in dem der Gedanke aufblitzte, und sah den Hals dazu und den Körper dazu und alles, was mit 148 dem Wesentlichen nichts zu tun hatte. »Im klaren, ruhigen, bewußten Erkennen seiner selbst«, hatte sie gesagt, und das flammende Leuchten in den Augen war verschwunden gewesen, und ein klares, ruhiges, gutes Licht hatte darin geglänzt, und die Stirn war ganz weiß und hell geworden. Und »nicht warten! nicht auf den freundlichen Helfer warten!« und die Stimme hatte fast zornig geklungen, scharf und beinahe ironisch, »der einem die Aufgabe von außen zuträgt.« Ja, ironisch gegen den Zuträger und voll lieber Besorgnis für den einen. Und der eine war er. Voll mütterlicher Besorgnis. Die zärtliche Frau, die einen in die Arme nimmt. Und der eine war er und die Arme waren ihre Arme. Waren – in jedem Laut, in jedem Klang, in jedem Wort steckte das – ihre Arme. Ihre warmen, weichen, liebevollen Arme. Und er sah sie, unter den weiten Ärmeln ihres Gewandes, die weißen, weichen, runden, liebevollen Arme.

Nein, nein, weiter. Das, was sie ihm zu sagen hatte. Das Wesentliche. Das, was sie ihm als heiliges Vermächtnis auf die Seele zu binden hatte. Aber er konnte ja nicht. Immer wieder hörte er die weiche, berückende Flöte der Stimme dazwischen, immer wieder sah er den feuchten, schimmernden Glanz der Augen, sah er das Spiel der Hände, das er sich zärtlich träumte, sah er, träumte er, ahnte er, atmete er den Körper dieser Frau. Das alles trug er, stärker als alle Gedanken und als den Willen zum Denken, in seinem Blute, es sang in seinem Blut und, so sehr er dagegen kämpfte, es gab kein Verschließen mehr, kein Entrinnen in Geistiges, es gab keinen Zweifel mehr: er liebte diese Frau.

Jäh, wie vor einem Abgrund, stand er auf einmal vor diesem Satze, vor der Erkenntnis dieser Tatsache: es gab kein Rechts und Links, kein Ausweichen, kein Entrinnen, kein Verkriechen mehr; nichts half ihm, kein Herumdrücken, kein Spintisieren, kein Schicksalsdeuten, kein Herumstochern in Entwicklungsmöglichkeiten: alle Mauern, die er aufgebaut hatte, um dieses eine nicht sehen zu 149 müssen, barsten, aller Gedankenschutt, mit dem er sein Bewußtsein verschütten wollte, war weggeblasen, er hatte umsonst gerungen, sich umsonst die Augen verklebt, sein Bewußtsein umsonst zu betrügen gesucht: riesengroß, tagesklar, eiseskalt stand es vor ihm: er liebte diese Frau, die die Frau seines Bruders und die Mutter seiner Braut war. Grell und frech glotzte ihn die Entdeckung an, schrie sich ihm in die Seele. Und nun war aber auch alle Angst vor der Ungeheuerlichkeit dieser Worte weg; alle verhüllenden Lappen, die Scheu und Scham um das Unaussprechliche gehängt hatten, gefallen. Ganz allein war er mit seinem Erlebnis und sah ihm tief in seine furchtbaren Augen, hemmungslos entschlossen, ihm sein letztes Geheimnis zu entreißen.

Er liebte diese Frau. Darüber half keine Psychologie und keine Definition des Wortes und keine Einschränkung weg, die Empfindung war nicht zu lokalisieren, er liebte sie nicht: so oder so, oder bloß so, bloß mit dem Geiste, oder bloß mit dem Körper, oder bloß mit der Seele, das Gefühl ließ sich nicht in Sympathie und Leidenschaft, in Anziehung und Verlangen säuberlich abgrenzen, er liebte sie mit seinem ganzen Wesen, mit allen seinen Organen, und was irgendwie in den Begriff Liebe gehörte, und was jeder darunter verstand und dabei empfand, das Einfachste wie das Komplizierteste, und was Liebe irgend will und hofft und fordert, das war in diesem Gefühl. Kein Blitzschlag, der plötzlich in ihn gefahren war und morgen vergessen sein kann, kein Fieber, das rast und morgen ausgerast haben kann, keine flüchtige Welle, die einen Menschen überflutet und morgen verebbt: stärkste, unentrinnbare Gewißheit war diese Liebe, daß diese Frau zu ihm gehört wie er zu ihr, ihm schicksalbestimmt und zugedacht, ihm in tiefster Seele und jeder Regung des Wollens und des Denkens vertraut und verkettet. Und sie wußte es, ebenso wie er es jetzt wußte, das spürte er, untrüglich, sicher, bis in seiner Seele letzte Verstecke.

150 Es war nicht erst der gestrige Abend gewesen, und aller der Worte, die wie aus seinem Innersten gezogen klangen und die sich wie geheime Fesseln, nur ihnen bewußt, um die beiden Seelen wanden, hatte es nicht bedurft: von Anbeginn war es da, nein, vorher, ehe er noch von ihr wußte. Diese Frau hatte, genau so wie sie war, immer in ihm gelebt, von ihr hatte er geträumt, bevor er sie kannte, ihr hatte die Sehnsucht gegolten, hinter der es ihn durch die Welt gejagt hatte. Nun wußte er, warum es ihn getrieben hatte, sein Leben vor ihr auszubreiten und über die anderen weg, nur ihr verständlich, das Geheimnis seines Schicksals preiszugeben: er hatte ja nur ihr erzählt, nur zu ihr gesprochen, und es war ihm gewesen, als lege er dadurch, daß er sein Schicksal bis in die letzten Falten seiner Unbegreiflichkeit vor ihr entrollte, dieses in ihre Hände und mache sie von nun ab zur Herrin seines Geschicks, das er wie ein Geschenk aus ihren Händen empfangen wollte, bereit, sich selbst jeder Macht darüber zu begeben. Das alles war freilich in seinem Unterbewußtsein vor sich gegangen, und als ihn das Abenteuer seines Lebens, unbegreiflich und plötzlich, wie immer, zum letztenmal überrannte und ihm den wilden Irrtum seiner Verlobung in die Arme legte, war es ihm fast, als sei dies das erste Geschenk aus den Händen der Frau, die nunmehr sein Schicksal war, und er hatte es demütig über sich ergehen lassen. Und nun war er erwacht und erkannte das Zuspät seines Erwachens. Ach, das eine nur! das andere Zuspät seines Lebens hing schwer und verderbenschwanger über der Zukunft und war durch kein Erwachen zu bannen. Und galt der Frau, der Frau seines Bruders, die gestern vor ihm gestanden und ihm zugerufen hatte: Trotze deinem Schicksal!

Seltsam! Je mehr seine Verwirrung wich, je härter und klarer er sich die Grausamkeit der Dinge entschleierte, um so stärker fühlte er, wie auf dem Grunde seines Wesens ein junger Wille zum Trotz sich zu regen begann. Zwinge dein Schicksal! hatte sie gesagt. Wähle dir dein Schicksal! Der Mann macht sich sein 151 Schicksal selbst. Diese Frau vermochte alles über ihn. Sie gab ihm Kraft. Er spürte sich hart und stark werden. Und er war entschlossen, sich sein Schicksal selbst zu machen. Ihr zu folgen und sich sein Schicksal selbst zu machen; nicht zu warten, was geschähe, sondern mit eigenen starken Händen zuzugreifen. Nur ein wenig, nur ein ganz klein wenig sollte sie ihm dabei helfen. So, wie eine richtige Frau dem Manne hilft, sich sein Leben zu bauen.

Und er malte sich die Abende aus, die jetzt kommen würden, mit dieser Frau. Nein, auch Billy würde dabei sein und er mit den beiden wundervollen Frauen allein. Abende, ganz still vielleicht, weil ein Dunkles, Drohendes über ihnen hängen wird, aber ganz voll von Leben, von dem in Erwartung zitternden Leben zwischen dieser zarten, reichen, glühenden Seele einer wundervollen, wissenden Frau und einer goldenen Mädchenreinheit. Abende einer leidenschaftlichen Passion, bis zum Rande gefüllt mit Fatum, Notwendigkeit und Erlebnis. Wie reich konnte das Leben sein, auch wenn es noch so dunkel war! Alles, jeden Schmerz wollte er auf sich nehmen, nur verarmen nicht! Nur nicht stumpf, trocken, nüchtern werden, unfruchtbar und liebeleer! Und er dankte seinem Schicksal, seinem bisherigen wie seinem künftigen, was immer es ihm auch brächte.

Eine entschlossene Zuversicht ergriff ihn. Mit festen Schritten ging er heim: »Schicksal, du bist im Zuge: nimm, welchen Lauf du willst! Nein: welchen Lauf ich will!«

Und sehnte mit einer Gier, die nicht mehr warten konnte, den Abend herbei und freute sich auf die Stunde seiner Schmerzen. 152

 


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