Arthur Kahane
Willkommen und Abschied
Arthur Kahane

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3.

Florentin war dann mit seinem Bruder in den Ort hinuntergegangen, um sich mit dem Nötigen zu versehen, wobei Otto mit großer Gewandtheit die geschäftliche Unterhandlung mit den Kaufleuten und Handwerkern übernahm, umsichtig allen Bedürfnissen des Ortes, der Jahreszeit und der Sommergewohnheit Rechnung trug und ihn reich mit allem ausstattete, was zum Bergsteigen, zum Baden, zum Tennisspielen gehörte; dann hatten sie miteinander um die Mittagstunde im See gebadet und waren erfrischt in die Villa zurückgekehrt, wo auf der Veranda bereits die Damen mit dem fertigen Mittagessen warteten. Unter heiter freundlichem Geplauder über Gleichgültiges – dankbar empfand dies Florentin – war die Mahlzeit verlaufen, und bald nachher hatte man sich getrennt: Otto, Blanche und Florentin hatten sich in ihre Zimmer zurückgezogen, während Sibyl, mit den beiden Hunden, in den Garten gegangen war, wo sie in einer Hängematte las. Florentin hatte sich damit beschäftigt, sein Zimmer ein wenig einzurichten und die Einkäufe unterzubringen, und hatte dann den langentbehrten, tiefen, guten Schlaf gefunden, dessen sein Körper und seine Seele bedurften. In den späteren Nachmittagstunden hatte man sich im Garten getroffen, um von da über den See zu rudern, und in einer am See gelegenen Wirtschaft den Kaffee genommen. Und war dann gegen Abend zurückgerudert, hatte sich schnell umgekleidet und saß nun, ehe es noch völlig dunkel geworden, nach dem Nachtmahl wieder auf der Veranda.

So war dieser erste Tag zu Hause einer jener stillen, völlig 32 friedlichen, glückhaften Ferientage einer gedankenlosen Behaglichkeit gewesen, wie es sie nur auf dem Lande gibt, in der einfachen, selbstverständlichen, vom Glockenschlage wohl geregelten Ordnung, die überall und für alle gilt und keine Ausnahme kennt. Er war in ein Leben hineingeraten, in dem das Schicksal stille stand, Sonne und Wind das einzige Erlebnis waren und man nichts spürte als die Nähe des Sees, des Waldes und der Berge. Sorgen und drückende Gedanken waren von ihm abgefallen und wunschlose Ruhe war eingezogen.

Schon beim Mittag hatte Otto Moser darauf bestanden, daß sie alle einander duzen sollten, und die beiden Frauen hatten es wie etwas Selbstverständliches hingenommen. So war schnell ein Ton herzlicher Vertrautheit hergestellt, obwohl man es geflissentlich vermied, an Dinge der Vergangenheit oder der Zukunft zu rühren, die dem Heimgekehrten irgendwie allzu nahegehen konnten. Otto hatte zwar das große Wort, aber Florentin merkte deutlich, wie Frau Blanche, ohne viel zu sprechen, die Führung des Gespräches in ihren Händen behielt und jedesmal, wenn ihr Mann eine seiner allzu persönlichen Anspielungen einleitete, die Entgleisung mit einer zierlichen Wendung ins heiter Neutrale umbog. Dadurch hatte Florentin ein gutes Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit bekommen, das ihm über die Empfindlichkeit der Anfänge weghalf und durch das er sich schließlich selber freier laufen lassen konnte. Sibyl hatte sich während der Mittagsmahlzeit still verhalten.

War, in der Stille der Mittagstunde schon, unter den guten Blicken der beiden Frauen und dank der feinfühligen Vorsorglichkeit der klugen kleinen Schwägerin der Bann der Fremdheit bereits von ihnen gewichen, so wurde es völlig unbefangen und heiter, als sie, nach der Ruderpartie, nachmittags unter den alten Bäumen der kleinen Wirtschaft am See saßen und den Jausenimbiß verzehrten. Aus der altmodischen Tischdecke, den dampfenden Kannen, Schalen und Näpfchen stieg Behaglichkeit; friedlich lag der 33 See vor ihnen, heiter und rein zeichneten sich die Umrißlinien der Berge in die Luft, alles war nah und vertraut, und mild gedämpft brach der Sonnenpurpur durch das Laub der Bäume, die ihr Schattengesprenkel auf die weißen Frauenkleider streuten.

Sie wurden alle vier ganz fröhlich und ein harmloses, lustiges Plaudern begann. Vom Sommer, seinen Gewohnheiten, Annehmlichkeiten und Plänen, von der Gegend und ihren Einzelheiten, die in Florentin immer gegenwärtiger wurden, ging es aus und glitt bald in die Vergangenheit über. Und nun war Otto Moser, von niemand mehr gehemmt, nicht mehr zu halten und beschwor alle heiteren Geister der gemeinsamen Erinnerung durch seinen Bruder herauf. Die komischen Episoden ihrer Kinderzeit, die kleinen Schwächen der Verwandten, die gemeinsamen Lehrer und Mitschüler, die Späße der Schule, die Freunde und Gäste des Vaterhauses, von den scharfen Kinderaugen in allen ihren Eigenheiten belauert und belauscht; und dann der ganze Kreis ihrer Jugend und Studentenzeit, mit allen Freunden, seltsamen Erscheinungen, extravaganten Lebensformen, tollen Streichen und wilden Abenteuern, von alledem mußte Florentin erzählen, und es lag nicht an Herrn Moser, der sich in Anspielungen überbot, wenn Florentin nicht auch die ganze Fülle der ersten Liebeserlebnisse miteinbezog. Denn Otto war nicht zu sättigen; immer wieder fing er an: »Und dann mußt du noch dem Onkel Rittich nachmachen, wie er seiner Köchin, die gekündigt hatte, einen Heiratsantrag machte, weil keine solche Zwetschkenknödel machen konnte wie sie!« oder: »Erzähle doch noch die Geschichte von der Leichenfeier, die ihr mir in meiner Gegenwart veranstaltet habt, bis ich schließlich selber geglaubt habe, daß ich tot bin!« und er haranguierte die Frauen: »Habe ich dir nicht immer gesagt, Blanche, daß nur Florentin die Geschichte von dem gemeinsamen Liebesbrief in Stanzen, von denen jeder von uns immer eine Zeile dichten mußte, erzählen kann?« und: »Und jetzt erzähle nur noch die Geschichte von Peter und dem schiefen Turm von Verona! 34 Ich habe es Billy versprochen, daß du und nur du sie ihr erzählen wirst, wenn du einmal zurückkommst!«

Und Florentin fühlte, daß er, ohne es zu ahnen, in all den Jahren seiner Abwesenheit nie aufgehört hatte, unter diesen Menschen gegenwärtig und lebendig zu sein: und es ward ihm wohl und harmonisch dadurch. Darum erzählte er, so harmlos und lustig er nur konnte, wenn er sich auch mancher der kindischen und übermütigen Geschichten innerlich ein wenig schämte; glitt über die mitunter leicht komische Rolle, die sein Bruder dabei spielte, geschickt mit Schonung und Rücksicht hinweg; und wenn es ihm dieser auch durch Einwände und historische Richtigstellungen, mit denen er eigensinnig, ja nicht ohne Stolz auf seinem Anteil an den Geschehnissen bestand, nicht gerade erleichterte, so fühlte es doch Frau Blanche und wußte es ihm Dank. Und er fühlte, daß sie es fühlte.

Vor ihm aber stieg die Vergangenheit auf, die schöne, bunte, wilde, lustige Vergangenheit, und spann ihn ein, und eine Brücke zum Heute war da, und er wußte, daß er nicht mehr ganz heimatlos sei.

Und dann waren sie wieder durch den allmählich sinkenden Abend, der die Spitzen der Berge rötete und goldene Feuer über den See warf, nach Hause gefahren. Sibyl und Florentin ruderten, Frau Blanche saß am Steuer, und ihre zierliche, helle Gestalt schnitt sich von dem dunklen Hintergrunde ab. Otto führte allein das Wort, die anderen waren still geworden und schwiegen. Und nur einmal hatte sich Sibyl nach vorn zu ihm geneigt und geflüstert:

»Nicht wahr, Onkel Florentin, jetzt ist alles schon wieder gut? Und du bist wirklich fröhlich?«

Und er hatte genickt. Nicht ohne böses Gewissen.

Und dann hatten sie Abendbrot gegessen und saßen nun auf der Veranda, ohne Licht und Lampe, nur vom Abend beleuchtet. Der Himmel war dunkelblau, auf den Bergen lag letzter Abglanz 35 der verschwundenen Sonne, der See stand im Dunkeln und der Wind wehte, wie von fern, die gleichmäßige Musik der ans Ufer schlagenden Wellen herauf.

Die Herren hatten sich die Zigarren angezündet. Niemand sprach. Und selbst Otto hatte das Gefühl, das gute Schweigen, das sich über die Seelen gelagert hatte, für eine Weile nicht zu durchbrechen.

Schließlich aber begann er doch:

»Seht ihr, Kinder, das ist etwas, was keiner von euren Dichtern beschreiben und keiner von euren Malern malen kann. Jetzt will ich etwas sagen, was vielleicht paradox klingt, aber du wirst mich verstehen, Florentin: Es gibt Dinge, die man nur durch Schweigen aussprechen kann. Daß es so wenige Menschen gibt, die schweigen können! Ich habe es früher auch nicht gekonnt, nicht wahr, Florentin, aber siehst du, seit ich Blanche habe, kann ich es. Sie hat mir auch das beigebracht. Glaub' mir, Florentin, du mußt heiraten. Es ist das einzige.«

Die drei anderen mußten unwillkürlich lächeln. Wenn sie einander auch nicht sahen, wußten sie es sofort, unterdrückten es aber, und Blanche half ihnen, indem sie sagte:

»Otto hat ganz recht, das Beste kann niemand aussprechen. Auch die Dichter nicht. Ja, manchmal scheint es mir, als ob das den Dichter machte, daß ihm gegeben ist, zu verschweigen, was er leidet. Sie schweigen nur auf ihre Weise und so, daß die anderen das Leiden durch das Schweigen durchspüren und ihr eigenes, erhöht, verschönt und verklärt, mit. Aber das Eigentlichste sagt einem niemand. Es gibt Menschen, die sich dagegen mit Schreien helfen müssen, die ihr Schweigen überschreien. Aber es gibt andere, die Stummgeborenen des Lebens, denen jedes laute Wort weh tut und das eigene am meisten, und denen im entscheidenden Moment die Stimme versagt, immer, in Glück und Leid, in Haß und Liebe, aus Fülle, aus Reichtum, aus Scham. Man sieht es ihren Augen an, man möchte ihnen helfen, 36 ihnen sagen: sprich dich aus, schütte dich aus, schweig' dich aus, du wirst verstanden werden, aber man kann es nicht, kann es aus derselben Scham nicht, die jenen den Mund verschließt.«

Die feine, flatternde Stimme, von Güte umflort, klang wie eine zarte Musik in die Nacht, wie ein tröstendes Wiegenlied, das sie einem unbekannten, bekümmerten Herzen sang. –

»Ist sie nicht ein Engel, Florentin?« sagte Otto stolz. Und Sibyl griff nach der Hand ihrer Mutter und schmiegte sich an ihre Seite. Florentin aber neigte den Kopf: seltsam! Was wußte diese Frau von seinem Leben?

Und sie fuhr fort: »Ich kenne Schicksale starker und wilder Männer, so tolle und bunte Lebensläufe aus unserer Zeit, wie sie keine Phantasie abenteuerlicher erfinden könnte und die, erzählt oder geschrieben, es an spannender Handlung mit jedem Ritterepos oder Kriminalroman aufnehmen könnten. Und doch sind sie von einer solchen Zartheit und Schamhaftigkeit des Empfindens durchzogen, an die kein weibliches Fühlen hinanreichen kann. Denn in den entscheidenden Dingen sind Männer viel schamhafter, ja ich möchte sagen, viel weiblicher als wir Frauen. Wenn es auf Reden in seelischen Dingen ankommt, beschämt die einfachste Frau den besten Redner und den mutigsten Helden. Sie kennt die Hemmungen nicht, auf die so viele Tragödien des Männerlebens zurückzuführen sind, das Nichtsprechenkönnen, um keinen Preis, dort, wo es sich um das Heiligste handelt, diesen Kampf um das eine Wort, das alles lösen könnte und das der Mann nicht finden kann. So stehen einander Vater und Sohn, Bruder und Bruder, Freund und Freund und manchmal auch der Mann der Frau wortlos gegenüber und zerbrechen daran, daß sie sich zu sehr lieben, um es einander zu sagen.«

Von der Nacht versteckt, begrub Florentin seinen Kopf in beide Hände: das ist mein Schicksal, von dem sie spricht; woher weiß diese Frau von meinem Leben?

Otto aber sagte: »Ich weiß gar nicht, Blanche, an wen 37 du da denkst. Sonst errate ich das doch immer. Und woher weißt du das alles?«

Blanche erwiderte lächelnd: »Das ist mein Geheimnis. Ich liebe es eben, mir von Menschen, die etwas erlebt haben, von Männern, die sich das Leben um die Nase haben wehen lassen, ihre Schicksale erzählen zu lassen. Und wenn unser lieber Florentin nett ist, so teilt er uns heute abend sein Leben, von dem er nachmittags so unterhaltliche Teile zum besten gegeben hat, hübsch ordentlich im Zusammenhang mit.«

Florentin erschrak aufs heftigste: »Ich bitte euch, verlangt das nicht von mir! Ich kann nicht immerfort von mir sprechen. Ich habe mich schon nachmittags fortreißen lassen, so viel von mir zu reden, daß ich mich ordentlich geschämt habe. Glaubt mir, es ist keine Ziererei, aber mein Leben ist auch wirklich nicht so interessant, daß man es erzählen sollte.«

Otto aber rief begeistert: »Das ist eine famose Idee. Habe ich dir nicht immer gesagt, Blanche, er erzählt ausgezeichnet?«

»Ein andermal vielleicht«, bat Florentin kleinlaut. Aber Frau Blanche meinte: »Nein, heute. Heute ist's gerade das Richtige. So hübsch paßt es nie wieder.« Und als auch Sibyl sich anschloß und ganz lebhaft und aufgeregt flehte: »Bitte, bitte, lieber Onkel Florentin, tu's mir zuliebe, es ist meine erste Bitte und du wirst sie mir nicht abschlagen«, gab er nach.

»Sei so gut, Billy,« sagte Frau Blanche, »hole mir mein Tuch, es ist ein wenig kühl geworden, und schalte das Licht ein! Unterdessen zünden sich die Herren noch jeder eine neue Zigarre an. Die glühen so hübsch im Dunkeln, und das gehört dazu. Und mir gebt ihr auch eine Zigarette. Und dann setzen wir uns recht behaglich, Otto füllt die Gläser und Florentin erzählt.«

»Aber nicht anfangen, bevor ich zurück bin!« bat Sibyl flehentlich.

Sie lachten, und dann saßen sie und Florentin begann zu erzählen.

38 Anfangs stockend: »Ich habe es ja noch nie getan. Und es ist mir ein völlig neues und ungewohntes Handwerk. Schon darum erschrak ich so, als du mich vorhin, Blanche, so überraschend auffordertest. Aber deine Stimme klang so herzlich und ihr alle batet so freundlich, daß ich nicht nein sagen konnte, und wenn es mir noch so schwer werden sollte. Nur, ehrlich gestanden, ich wußte nicht, wo anzufangen, und weiß es auch jetzt nicht. Und dann erschrak ich bei deinen Worten noch aus einem zweiten Grunde. Es ging etwas ganz Seltsames in mir vor. Auf einmal erhellte sich etwas und ich sah, wie in einer Vision, in einer einzigen Sekunde mein ganzes bisheriges Leben in eins zusammengeballt, in eine Einheit, in einen einzigen, atemraubenden, wirbelnden Rhythmus, dessen ich mir bis jetzt noch gar nicht bewußt geworden war, und der ein so rasendes Tempo hatte, daß ich mir seiner nicht bewußt werden konnte. Ich bilde mir, weiß Gott, nicht ein, besonders interessant zu sein, und doch fühlte ich mich wunderbar getroffen, als Blanche von den tollen und wilden Schicksalen sprach, und in diesem Augenblick schien mir selbst mein Leben ein solcher Roman zu sein. Vielleicht lag es nur an dem Augenblick und ist, in solcher Stimmung angesehen, jedes Leben ein merkwürdiger Roman. Aber mir ist es, als sähe ich jetzt zum erstenmal, wie wenig in meinem Leben Wahl und Wollen und Bewußtsein mitgespielt hat und wie ich alles, auch das Unwahrscheinlichste, getan habe, weil ich es tun mußte und nicht anders konnte. Und es wird mir klar, daß ich eigentlich nie geschwankt und nie gewählt habe, sondern von einem unbegreiflichen Rhythmus mitfortgerissen, mit einer nachtwandlerischen Sicherheit immer das getan habe, was ich tun mußte. Eigentlich nichts getan, sondern es geschah mit mir. Ich will damit nicht sagen, daß ich immer das Richtige traf: vielleicht war es nie das Richtige; aber das eine darf ich sagen: mir war es immer das einzig Mögliche.«

Er unterbrach sich plötzlich, verzweifelt: »Ich kann nicht. 39 Seht ihr, daran seid ihr schuld. Jetzt rede ich schon über mich wie ein Buch. Ich schäme mich. Hole der Teufel alle Psychologie! Ihr wollt doch Tatsachen. Aber Tatsachen sind so schwer.«

Mit einem Seufzer fuhr er fort: »Die eine Tatsache kennt ihr. Ich bin vom Hause durchgebrannt. Und zwar zweimal. Das erstemal als Bursch von neunzehn Jahren. Stellt euch das nicht allzu tragisch vor. Es gab keine großen Konflikte. Ich habe meinen Vater sehr liebgehabt und er mich wahrscheinlich auch, aber er wollte Unterordnung und ich wollte Freiheit. Ich habe nie versucht, ihn zu bekehren, aber er wollte mich bekehren, und als ich bemerkte, daß er mich von der Partei, an die ich mich mit meinem ganzen neunzehnjährigen Herzen gehängt hatte, lösen wollte, schnitt ich einfach jede Diskussion ab und ging nach Zürich. Natürlich heimlich und ohne Geld. Er hätte mir's, trotz alledem, wahrscheinlich erlaubt und auch das Geld dazu gegeben, wenn ich ihn darum gebeten hätte, aber das konnte ich nicht. Da verkaufte ich lieber meine Bücher und brannte durch. Und hungerte mich in Zürich ganz anständig durchs Leben. Das war sehr lustig.«

Er sagte das ganz einfach und ohne jede Ironie. Denn er hatte es wirklich als lustig empfunden. »Morgens bekam ich Kaffee oder etwas, was sehr entfernt daran erinnerte, die Milch und das Brot dazu sparte ich mir fürs Abendbrot auf und in der Zwischenzeit rauchte ich Stümpe, zwei Stück fünf Rappen. Das konnte ich mir leisten, denn ich hielt Vorträge, gab Stunden und schrieb Artikel für die Fleischerzeitung. Zeit hatte ich in Hülle und Fülle, denn bereits nach den ersten vier Wochen meines Universitätsstudiums wußte ich, daß der Betrieb der zünftigen Wissenschaft mir nie das geben würde, wonach mein lebensdurstiges Herz brannte und verschmachtete. Ich lechzte nach Gegenwart, mich zog es dorthin, wo ich das Herz der Zeit am stärksten und blutvollsten schlagen fühlen konnte, aber oben auf den Kathedern saßen verkalkte Philister, ausgebrannte Krater, vertrocknete Mumien, verstaubte Perücken 40 und wackelten mit den Zöpfen und reichten mir tote Altersweisheit statt des dampfenden Lebens, nach dem ich mit allen Fasern gierte.«

Er hatte sich warm geredet und war wieder ganz jung geworden in der Erinnerung. Mit heller, lachender Stimme, fast zornig, schilderte er die Professoren, den herrgottsähnlichen Literaturgewaltigen mit dem Schädelquadrat und dem Riesenbauch auf den zwei kurzen Beinchen, wie er asthmatisch den Gottsched und den Nicolai der Jetztzeit mimte, und den ausgemergelten Altgermanisten, der mit tonloser, heiser krächzender Stimme im unverständlichsten Schweizerdeutsch Gothisch vortrug, und er beschrieb die Colloquien im Seminar, wo der Literaturpapst von schreibseligen Studiermädchen umgeben thronte, Geschmäcke diktierte und man mit fanatischem Schreien und Schimpfen aus hundertjährigen Gesichtspunkten hundertjährige Götzen verhimmelte, Kleist und Heine mit Uhland und alle mit Gottfried Keller erschlug. »Da konnte ich mir nicht anders helfen, ich stand auf und sagte mitten ins Gebrüll hinein nichts als einfach: Hermann Conradi. Ich weiß nicht mehr, ob sie mich buchstäblich hinausgeworfen haben, aber wiedergekommen bin ich jedenfalls nicht mehr. Und war endgültig erledigt.«

Und so wäre er auf einmal, ohne recht zu wissen wie, ohne sich über Beruf und Zukunft irgendwelche Gedanken zu machen, aus der pedantischen Regelmäßigkeit des Brotstudiums draußen gewesen, hätte, den Fremdkörper von der Seele, aufgeatmet und frische Luft geschöpft und die Arme frei bekommen, um sich ganz in jene Bewegung zu stürzen, in der er die freiheitlichste und zeitgemäßeste vermutete. Um auch sofort hier wieder Philister und Bureaukraten, Päpste, Dogmen, Orthodoxie und Hierarchie, Vergewaltigung des Einzelnen und Zwang des Geistes zu begegnen. Er erzählte einen Fall einer Art dynastischer Familienpolitik, durch den sich ihm die Kluft zwischen Theorie und Praxis dieser Partei mit einem Schlage jäh erhellte. Er lebte damals 41 in herzlicher Freundschaft mit einem Studenten und dessen Geliebten, die aus einer elsässischen Familie stammte, deren Mitglieder bereits seit Generationen der Partei angehörten. Nun hatte der Reichstagsvertreter derselben kleinen Stadt, in der das Mädchen zu Hause war, ein durch seine Unzuverlässigkeit bekanntes Parteimitglied, ein Auge auf das frische und auffallend schöne Ding geworfen und verfolgte es mit seinen Anträgen. Und die Parteileitung beschloß, um den unsicheren Kantonisten durch die in der Bewegung angesehene Familie des Mädchens ein für allemal für die Partei fest einzuspannen, diese Bemühungen zu unterstützen und das Mädchen zu einer Heirat zu veranlassen. Anläßlich eines in Zürich stattfindenden Parteikongresses wurde eine ganze Kampagne in die Wege geleitet, das Mädchen durch einige Genossinnen, die sich dazu hergaben, bearbeitet, Florentins Freund auf das schmählichste verleumdet. Florentin erfuhr davon, enthüllte dem Mädchen die Machinationen, deren Spielball sie gewesen war, versöhnte sie mit seinem Freunde und begab sich darauf zu jenem Reichstagsabgeordneten, um ihn, was er für eine leichte und selbstverständliche Wirkung hielt, zu bewegen, von einer auf so unwürdige Weise zustande gekommenen Verbindung abzustehen. Jener erwiderte darauf unerwarteterweise mit einer zynischen, das Mädchen und den Freund beleidigenden Bemerkung, auf die Florentin, von plötzlichem Zorn übermannt, keine andere Antwort fand als einen Faustschlag. Daraufhin kam die Heirat natürlich nicht zustande, der Abgeordnete verließ, aus Wut, den Kongreß und die Stadt und schien für die Partei verloren, und Florentin wurde vor den Parteipapst zitiert, der ihm einen nachdrücklichen Verweis zuteil werden ließ: er hätte in seiner Unreife keine Ahnung von den Realien der Politik. Worauf Florentin, flammend vor Zorn, erklärte: das nicht, aber von den Freiheitsbegriffen der Partei über und über genug, und den ganzen Krempel hinwarf.

Aber es hätte, meinte Florentin, dieses Ereignisses gar nicht 42 bedurft, sondern es hätte lediglich einen Umschwung, der sich innerlich in ihm bereits vollzogen hatte, beschleunigen helfen: um ihn, von dieser Bewegung weg, in eine andere, viel freiheitlichere, ehrlichere und radikalere zu treiben, der alles in seinem Wesen, sein unbändiger Freiheitsdrang, seine Auflehnung gegen jeden Zwang, seine Lust zur Tat und sein Mißtrauen gegen Worte, nicht zum mindesten das ganze Tempo seines Lebens zustrebte. Und wie ihn jene graue und nüchterne Lehre, die in einem einzigen Dogma den Schlüssel zum Weltganzen zu besitzen vorgab und auf unkünstlerische und unpersönliche Weise die schöne Mannigfaltigkeit der Erscheinungen mechanisierte und schablonisierte, innerlich eigentlich immer abgestoßen hatte, ebenso habe er in den großen Philosophen und Persönlichkeitskündern, die jener anderen Bewegung vorbauten, alle Sehnsucht seiner Seele nach Größe, Freiheit und Leben erfüllt und in der Befreiung von jedem Dogma und jedem Zwang die eigentliche Heimat seines Ichs, den Weg zu sich selbst gefunden. Es habe für ihn gar keine Wahl gegeben, so selbstverständlich nahe habe er sich dieser Bewegung gefühlt, und vollends, als er unter ihren Bekennern, neben den Dichtern der jungen Generation, die besten und edelsten Männer der ganzen Welt kennenlernte: ehrfurchtgebietende Greise, die seit Jahrzehnten an jedem Freiheitskampfe der ganzen Welt teilgenommen hatten, neben glühenden Jünglingen; tolle, verwegene Bursche, Proletarier, die nicht bloß mit dem Munde, sondern wo's not tat, auch mit der Faust für ihre Meinung eintraten, die Vermögen, Freiheit, Leben nichtsachtend, gehungert, gestohlen, gesessen hatten, aus preußischen Gefängnissen und sibirischer Verbannung geflohen waren, neben stillen, einsamen Gelehrten, die, Ahasverusse des revolutionären Gedankens, vom internationalen Polizeigeist verfolgt und gehetzt, ihre Maulwurfsarbeit von Ort zu Ort, von Bibliothek zu Bibliothek schleppten; und von allen diesen Männern des Geistes und des Entschlusses, die so hoch über den üblichen Typen der Partei- und Fraktionspolitik standen, trotz seiner Jugend mit Liebe 43 empfangen, mit Achtung gehört wurde, da habe er sich mit ganzer Leidenschaft in jene Bewegung gestürzt und sich und alle seine Kräfte der Sache der Freiheit hingegeben. Nun habe ein wundervolles, atemloses, rasendes Arbeitsleben begonnen, dem die kurzen vierundzwanzig Stunden des Tages – von Schlaf sei damals wenig die Rede gewesen – kaum genügten; neben den Tätigkeiten, zu denen ihn des Leibes Notdurft zwang, habe er, um den Verkehr mit den ausländischen Freunden zu erleichtern und zu vermitteln, die europäischen Sprachen gelernt, habe Philosophie, Nationalökonomie, die Geschichte der Künste getrieben und sich in die Literatur aller Völker versenkt und besonders die neuere mit Heißhunger verschlungen; habe an den Abenden Vorträge und Reden gehalten, sei in die Versammlungen der Gegner eingedrungen, habe sich ohne Scheu, in solchen Momenten von den Hemmungen der Scham völlig befreit, den bewährtesten Rednern der anderen Parteien gestellt, und dann, wenn die Nacht kam, mit den Freunden stundenlang diskutiert, polemisiert und die Probleme des Geistes- und Menschenlebens erörtert, wie man es nur unter den heißen Köpfen und den vollen Seelen der Zwanzigjährigen vermag oder unter den Proletariern von damals, die etwas von dem heißen Atem der Jugend an sich hatten; und zwischendurch habe er die ganze Schweiz durchwandert, um mit allen den kleinen Gruppen von Gesinnungsverwandten eine Fühlung herzustellen. Natürlich sei die Polizei auf ihn aufmerksam geworden, aber er habe sich trotzdem vollkommen glücklich und sicher gefühlt; was kümmerte ihn die Polizei, und was konnte ihm in der freien Schweiz, dem Lande des Asylrechtes, geschehen?

Nun habe damals unter den Marmorarbeitern von Massa und von Carrarra und in Sizilien eine Hungerrevolte stattgefunden, die von der Regierung mit beispielloser Grausamkeit und Unmenschlichkeit unterdrückt worden sei. Beides habe unter den Proletariern der ganzen Welt ein außerordentliches Echo hervorgerufen, und auch von den italienischen Arbeitern Zürichs sei eine 44 Versammlung einberufen worden, um den Leidensgenossen in der Heimat Mitgefühl auszusprechen und gegen das unmenschliche Vorgehen der Behörden zu protestieren. Dieser Versammlung, die von Tausenden besucht war, habe auch er beigewohnt und während ihres stürmischen Verlaufes, der auf ihn durch die schmerzliche Erregtheit der Versammelten und die südlichen Formen ihres Ausbruches einen das Innerste aufrührenden Eindruck machte, habe er plötzlich die Nachricht erhalten, daß am Tage vorher einer seiner besten Freunde, der in Berlin die italienische Regierung in einer Rede angegriffen hatte, wegen eines einzigen Satzes zu anderthalb Jahren Zuchthaus, ein anderer in Mailand wegen einer Rede zum Tode verurteilt worden sei. Vom Momente fortgerissen, habe er die beiden Tatsachen der Versammlung mitgeteilt, worauf sich dieser eine ungeheure Erregung bemächtigte. Binnen einer Minute hätte sich die wütende Menge zu einem mächtigen Zuge formiert, der nun, ihn voran, den Versammlungsraum verließ, in stürmischem Marsche zum italienischen Konsulat eilte, das Staatswappen herabriß und in ein tausendstimmiges, vor Schmerz, Wut und Haß heulendes «A basso il governo!» ausbrach. Plötzlich habe sich der ganze, weite Platz mit Polizisten und Stadtsoldaten gefüllt, die mit Gummiknütteln auf die wehrlose Menge losschlugen und sie auseinanderzutreiben suchten. Immer wieder schlossen sich die mutigen und verzweifelten Bursche zusammen, und er selbst habe sich, als sich die Polizisten zuallererst auf ihn stürzten, nach Leibeskräften gewehrt, sei dreimal befreit worden, bis ihn schließlich ein größerer Haufe umringte, abschnitt, überwältigte und, mit Handschellen gefesselt, aufs Polizeiamt schleppte. Kaum hätte er dieses betreten, als der Polizeihauptmann von Zürich mit dem Rufe hereinstürzte: »Habt ihr den Florentin Moser?« und als er seiner ansichtig wurde, sich ihm mit ironischer Höflichkeit vorstellte. Er habe das natürlich ebenso höflich und ebenso ironisch beantwortet, worauf ihm jener ankündigte, man mache, seiner höheren Intelligenz und Bildung wegen, ihn für alle sich daraus 45 für die Schweiz ergebenden Komplikationen mit der Regierung eines befreundeten Staates verantwortlich und verhänge vorläufig die Untersuchungshaft über ihn; da aber der Kanton Zürich für solche Fälle kein besonderes Haftlokal besäße, müßte er mit dem Zuchthaus vorliebnehmen, und zwar in Einzelhaft, da man annähme, daß er diese der Gesellschaft von Berufsverbrechern vorziehen würde. Er habe sich höflich für diese Rücksichtnahme bedankt und sei darauf, wieder in Schellen durch die Stadt geführt, in seiner Zelle abgeliefert worden.

Dort habe er mit Zuchthauskost und unter Zuchthausgesetzen siebzehn Tage verbracht, während derer er auf eine mittelalterlich raffinierte Weise mit Verhören, auf die man ihn absichtlich stundenlang, auf lehnenlosen Bänken sitzend, warten ließ, gefoltert wurde. Natürlich sei der Versuch, eine internationale Verschwörung für die Versammlung und ihre Folgen verantwortlich zu machen, vollkommen gescheitert, und nach siebzehn Tagen habe man ihn wieder zu dem Polizeihauptmann gebracht, der ihm, völlig veränderten Tones, eröffnete, man sehe von seiner Bestrafung ab und begnüge sich damit, ihn, mit zwölf seiner Spießgesellen, des Landes zu verweisen; übrigens stünde draußen ein Herr, der ihn zu sprechen wünsche. Und draußen sei sein Vater gestanden, der auf den Zeitungslärm, den die ganze Begebenheit veranlaßt hatte, herbeigeeilt sei: ganz still, ganz ruhig, ohne ein Wort des Tadels oder des Vorwurfs, nur sehr traurig und bekümmert. Und wie er den alten Mann so stehen sah, der ihn milde und gütig begrüßte, habe es ihm ins Herz geschnitten, wie fast nichts in seinem Leben. Nicht, daß er bereut hätte; er habe nichts zu bereuen gehabt und hätte getan, was er tun mußte und, vor die Wahl gestellt, immer wieder getan hätte: im Gegenteil, er hätte nie in seinem Leben etwas bereut, und es hätte sich noch immer herausgestellt, daß jedesmal, wie durch eine besondere Fügung, auch dort, wo es den Anschein einer Katastrophe hatte, sich ihm schließlich alles immer zum Besseren wandte und dazu 46 diente, sein Leben ins Höhere zu führen und reicher zu gestalten. Darum hätte er sich gegen jeden Eingriff von außen gewehrt, und, wenn sein Vater ihn beschimpft oder geschlagen hätte, ruhigen Herzens revoltiert; so aber hätte er nicht anders können, als sich schweigend vor ihm neigen und mit ihm gehen.

Er erzählte dann von der merkwürdigen Stimmung der letzten, mit seinem Vater in Zürich verbrachten Tage. Durch dessen Bemühungen und wohl auch als Folge der völligen Ergebnislosigkeit der Untersuchung sei ihm und seinen Freunden noch eine kurze Frist bis zur Abreise zur Abwickelung ihrer Geschäfte bewilligt worden, allerdings unter Bewachung von Detektiven, die keinen Schritt von ihrer Seite weichen durften: nun sei der seine ein noch junger und gutmütiger Mensch gewesen, seines ursprünglichen Berufes Gärtner, der eine große Zuneigung zu ihm gefaßt habe, so daß er ihm nicht bloß vollkommene Freiheit ließ, sich bei allen seinen Besprechungen taktvoll beiseitehielt, sondern auch das leidenschaftlichste Interesse für alle seine Anschauungen an den Tag legte, die er sich immer und immer wieder auseinandersetzen zu lassen nicht müde wurde; bis er ihm eines Tages erklärte, daß er sich seiner polizeilichen Tätigkeit schäme und entschlossen sei, zu seinem ursprünglichen Gärtnerberuf zurückzukehren; als letzte Funktion seines Amtes hätte er nur noch gern seine, Florentins, Begleitung bis zur Landesgrenze übernommen, und wenn Florentin den Polizeihauptmann direkt darum ersuchte, würde, bei dessen gegenwärtiger Haltung, das Ersuchen wohl kaum abschlägig beschieden werden. Tatsächlich sei seinem Wunsche auch willfahrt worden, und der Mann habe sich ihm dadurch nur noch mehr attachiert gefühlt, so daß er die letzte Zeit, bis auf die Nächte, die er natürlich noch in seiner Zuchthauszelle zubringen mußte, in völliger Freiheit mit seinem Vater und allen seinen vollzählig zusammengeströmten Freunden genießen konnte. Nun habe sich der Vater voll Milde und Freundlichkeit bemüht, ihm über die Situation wegzuhelfen, und es sei rührend gewesen, wie der sonst so strenge und 47 bürgerliche Mann sich mit den wilden, rebellischen Gesellen angefreundet habe, so daß er bald, von den italienischen Freunden nur noch kurz «il padre» genannt, bei allen eine geradezu patriarchalische Verehrung fand. So habe sich sein Abschied von der Schweiz zu förmlichen Ovationen und Kundgebungen für ihn gestaltet, und er habe, in vollständigster Harmonie, mit seinem Vater und seinem eigenen Leibpolizisten die Heimreise angetreten.

Kaum aber habe man sich der vaterländischen Grenze genähert, als ein überraschender Umschwung eingetreten wäre. Sei es, daß des Vaters vorurteilslose und großmütige Haltung nur auf die reine und freie Atmosphäre von Freiheit, Geistigkeit, Tat und Jugend zurückzuführen gewesen sei, deren Wirkung sich in dem Maße abschwächte, in dem man sich aus jener Atmosphäre entfernte, sei es, daß die Vorstellung der tausend Gerüchte unter Verwandten und Bekannten, des aufgeregten Getus in der kleinen, bürgerlichen Welt, der Splitterichtereien, Klatschbasereien und Ketzergerichte in ihm lebendig zu werden und ihm quälend näherzurücken begann, kurz, derselbe Mann, der jetzt eben noch in einem großen Momente solche Großzügigkeit bewiesen hätte, sei mit einem Schlage bei den kleinsten Anlässen rechthaberisch, zänkisch, kleinlich, reaktionär und despotisch geworden. Nun habe er sich vorgenommen gehabt, dem Vater unter allen Umständen nachzugeben, namentlich, wo es sich um Kleinigkeiten handelte. Bis allerdings der Fall eingetreten sei, wo sich ihm das Nachgeben durch den Anlaß von selbst verboten habe und die Katastrophe unvermeidlich geworden sei.

Dieser unglückliche Anlaß sei sein neuer Freund, der Detektiv, gewesen. An der Grenze angelangt, habe dieser nämlich erklärt, er habe sich nach reichlicher Überlegung entschlossen, nicht mehr zurückzukehren, sondern wolle Florentin in seine Heimatstadt begleiten und hoffe, sich dort als Gärtner ganz anständig durchschlagen zu können. Darauf habe der Vater geantwortet: Schön, dagegen sei nichts einzuwenden; aber auf seine Unterstützung könne er 48 nicht rechnen und auf seine Gesellschaft noch weniger. Er denke nicht daran, zu allem übrigen noch die Fahnenflucht und Desertion eines Beamten zu fördern, übrigens sei die Mission des Detektivs erledigt, er hätte den ihm Anvertrauten zur Grenze gebracht, von jetzt ab gingen sie ihn nichts mehr an, und er wolle den Rest der Reise mit seinem Sohne in der ersten Wagenklasse zurücklegen, und der andere möge die Klasse nehmen, die ihm sein Portemonnaie gestatte. Aber auf keinen Fall ein Kupee mit ihm: er reise nicht mit Apostaten und Überläufern. Der arme Bursche, bis jetzt auf das freundschaftlichste behandelt, sei durch den plötzlichen Angriff so überrascht und verblüfft gewesen, daß er keine Antwort hervorbrachte; und er selbst, entschlossen, sich kein heftiges Wort entwinden zu lassen, habe nichts erwidert als: dann fahre er eben auch dritter Klasse. Darauf habe sich eine solche Flut von Beschimpfungen über seine Verrücktheiten und Extravaganzen, die der Vater bis jetzt ruhig mitangesehen habe, aber nun nicht mehr mitmachen wolle, im Gegenteil, mit Putz und Stingel ausreuten werde, über ihn ergossen, daß er voll Scham vor dem Zeugen dagestanden und nur wortlos die Zähne zusammengebissen habe, innerlich entschlossen, jetzt gleich zum zweiten- und letztenmale die Flucht zu ergreifen.

Und dabei habe ihm sein Freund die wertvollsten Dienste geleistet. Florentin wäre, in diesem Augenblick aller Barmittel entblößt, nicht einmal imstande gewesen, auch nur die Fahrkarte für die dritte Klasse zu lösen. Damit habe der Vater gerechnet, als er, am Grenzort das Billett erster Klasse erstehend, bei seiner Weigerung beharrte, den Freund mitzunehmen. Er müsse nun nicht wenig überrascht gewesen sein, als Florentin seine Drohung wahrzumachen schien und er die beiden am Schalter stehen sah, habe sich aber nichts merken lassen und allein seinen Platz aufgesucht. Auch habe er es verschmäht, etwa nachzuspähen, wohin die beiden eingestiegen seien, und so habe Florentin den wie absichtlich Wegschauenden durch das Fenster zum letztenmal im Leben gesehen.

49 »So schloß,« sagte Florentin, »meine Zürcher Zeit ab, in der sich alle Sehnsucht meiner Knabenseele nach Freiheit und Betätigung erfüllte, aller Sturm und Unband meiner zwanzig Jahre wie in einem ungeheuren Knall entlud und in deren Gedächtnis noch heute für mich dieser ganze Zauber: Jugend eingeschlossen erscheint. Wie ein Traum war der Wirbel jener Erlebnisse über mich hereingebrochen, und wenn ich mich heute frage, wie ich in sie hineingeraten, weiß ich es kaum; und wie aus einem Traum wurde ich aus ihnen wieder herausgerissen, und weiß ebensowenig, wie. Und schien, auf einen Moment, wieder in die ebene Bahn bürgerlicher Regelmäßigkeit gezwängt, ohne zu wissen, wie, und verließ sie wieder, ohne zu wissen, warum und wohin. Und hatte meinen Vater plötzlich wiedergefunden und hatte ihn plötzlich wieder verloren, und wußte auch darin keine Schuld, keine Wahl, keine Absicht, nur ein unentrinnbares Schicksal, das ich zu tragen hatte, so gut und so anständig, als ich eben konnte.«

Dieses letzte sagte Florentin wie monologisch vor sich hin, ganz in sich versunken, fast als hätte er seiner Zuhörer vergessen; so schwer ihm anfangs das Sprechen geworden war, so daß es ihm nur stockend und widerwillig von der Zunge zu gehen schien, so warm und frei hatte er sich allmählich geredet, und seine Stimme klang ganz hell und manchmal fast wie eine Fanfare in die Nacht hinaus, manchmal allerdings auch, wie sehr er dagegen ankämpfte, melancholisch und von Schwermut durchzittert, wenn die Macht der Erinnerungen ihm allzu stark, nahe und lebendig wurde. So mußte es wohl auch in diesem Augenblick sein, denn es glich beinahe einem Erwachen, als er sich unterbrach, eine Pause machte und, indem er sich mit der Hand über die Stirne strich und einen verlorenen Blick auf die Anwesenden warf, sagte: »Verzeiht mir, nun bin ich ganz wieder in mich hineingeraten. Und es ist wohl auch das beste, wenn ich jetzt aufhöre. Ich hatte völlig an die Zeit vergessen, und ich fürchte, es ist über alle Gebühr spät geworden.« Aber da traf 50 ihn – zu seinem Schreck – aus Sibyls Auge, das voll Tränen hing, ein so schmerzlicher und flehentlicher Blick, und Frau Blanche, die den Blick des jungen Mädchens aufgefangen hatte, sagte, auch sie mit einem merkwürdig erregten Zittern in der eindringlichen Stimme: »Nein, Florentin, jetzt darfst du nicht aufhören. Schon des Kindes wegen nicht. Es würde uns das nie verzeihen.« Und Otto setzte hinzu: »Was willst du denn? Du erzählst ja ausgezeichnet? Erzählt er nicht ausgezeichnet? Ich habe es gar nicht bemerkt, daß es so spät geworden ist.« Und Frau Blanche beruhigte: »Aus der späten Stunde brauchst du dir gar nichts zu machen. Wir sind alle Nachtmenschen, die bei Nacht erst auftauen. Und wenn Sibyl so gut ist, die Mädchen zu Bett zu schicken, können wir ruhig hier bis zum Morgen sitzenbleiben und werden dir nur dankbar sein für die schöne Nacht.« Worauf Sibyl sich eilends erhob: »Ich bin gleich wieder da. Aber so lange müßt ihr warten. Nicht wahr, Onkel Florentin, früher fängst du nicht wieder an?« Da konnte er nicht nein sagen und versprach es ihr feierlich.

Während Sibyl noch draußen war, sagte Otto: »Merkwürdig. Ich kannte doch die ganze Sache: aber das von Vaters Reise habe ich heute zum erstenmal gehört. Er hat nie davon, auch nur mit einer Silbe, gesprochen. Er hat sich dessen wohl geschämt. Schau, schau, wer hätte ihm das auch zugetraut! Unser alter Herr mitten unter den wildesten Revolutionären muß sich auch großartig ausgenommen haben.«

Florentin wurde ganz ernst. »Großartig und rührend zugleich. Und dabei selbstverständlich. Leicht und einfach und gütig und fast möchte ich sagen, heiter. Ich weiß nicht, ob er sich nachträglich dessen geschämt hat, aber damals wirkte es nicht so. Gewiß drückten ihn Sorgen und Angst und Schmerz um den Sohn, und doch war es, als ob in dieser Umgebung alle Schwere von ihm abgefallen wäre und irgend etwas wieder auflebte, das ganz versteckt und vergraben unter aller Bürgerlichkeit doch in ihm war und seiner Auferstehung wartete. Und die Jugend stand 51 seinen weißen Haaren so schön, daß dieser eine Moment seines Lebens mich wie kein zweiter erschütterte und mich begreifen lehrte, wie sehr mein ganzes Schicksal aus seinem Blute stammt.«

Mittlerweile hatte Sibyl wieder Platz genommen und Florentin fuhr fort: »Auf Zürich folgte München. Mein Freund, der Detektiv, half mir noch über die Grenze, indem er zum letzten Male die Künste seines Amtes spielen ließ. Dann trennten wir uns, ich ging nach München, er ins Österreichische, wo er seinen alten Beruf wieder ergriff, ein eifriges Mitglied der Bewegung wurde, der er wertvolle Dienste leistete, und von wo er mir noch Jahre nachher öfters schrieb, Briefe der treuesten Anhänglichkeit und Dankbarkeit.« Und nun schilderte er die Jahre in München, Jahre, die im Hochflug der Begeisterung begonnen und in Enttäuschung und Einsamkeit geendet hatten: wie er sich sofort nach seiner Ankunft in die Bewegung gestürzt, ihr alle seine Arbeiten, seine Kräfte zur Verfügung gestellt, alte Parteifreunde aufgesucht und die Gründung einer Zeitschrift betrieben hätte. Diese kam schließlich nach einer mühsamen, oft tief beschämenden und demütigenden Vorarbeit, die in Betteln und Werben bestand, in den engsten, drückendsten Verhältnissen zustande und er übernahm die Redaktion, allerdings unter der ständigen Kontrolle und Oberaufsicht vieler kleiner, miteinander hadernder Gruppen. Die Gesichtspunkte waren international: der große internationale Zug, den die Bewegung in Zürich gehabt hatte, fehlte. Es mag wohl an dem unleidlichen Druck der politischen Verhältnisse gelegen haben: die Bewegung bekam hier einen Zug ins Sektiererische, einen Beigeschmack von Fanatismus, und das proletarische Element überwog nicht bloß in der Zahl, sondern bestimmte Richtung, Umfang und Ziel der Bewegung, gab den Tenor der Diskussionen an und hemmte jede Entfaltung der Ideen ins Weite und Freie. Die Leser des Blattes weigerten sich, selbst zu denken, sondern verlangten, ihre Meinung vorgekäut zu erhalten und nur das zu lesen, was sie selbst schon hundertmal 52 denken gelernt hatten. Man wollte Dogmen: der Wert einer Diskussion, das Entstehen einer selbständigen Anschauung aus dem Gegeneinanderstellen verschiedener Anschauungen über eine Sache war ihnen nicht beizubringen. »Was heißt das? In dieser Nummer liest man es so: in der vorigen stand das Gegenteil. Also was soll man glauben? Das verwirrt ja bloß«, rief man ihm entgegen. Gegen solche Einwürfe war er wehrlos: wie sollte er diesen Menschen auseinandersetzen, daß es in diesen Dingen keine Wahrheit, sondern nur einen Weg zur Wahrheit gäbe, daß Freiheit kein genau ausgearbeitetes System mit festgelegten Statuten, sondern ungehemmtes, allseitiges organisches Werden und Wachsen sei und im menschlichen Denken beginne? Dazu kam das Mißtrauen gegen den Nichtproletarier, den Kopfarbeiter. Bei der Knappheit der Geldmittel mußte er alles selbst machen: er arbeitete Tag und Nacht, schrieb das ganze Blatt allein, übersetzte, las die Korrekturen, stellte sich im Notfall an den Setzkasten, falzte die Seiten, schrieb die Adressen, versandte die Blätter und scheute sich nicht, einzelne Nummern selbst auszutragen und zu verteilen, besonders wenn, was regelmäßig der Fall war, die behördliche Konfiskation des Blattes bevorstand. Das alles nützte nicht: das Mißtrauen blieb. Er spürte es von allen Seiten. Unausgesprochen, solange sie ihn noch brauchten, aber unverkennbar und so, daß es ihn selbst mißtrauisch machte, wortkarg, unsicher und einsam. Die einzige, die zu ihm stand, war eine junge Tirolerin, Lina Merkt, die er aus Zürich kannte, ein bildschönes, baumstarkes, kerngesundes, gescheites Mädel, das ihm bei der Arbeit half und mit dem ihn eine herzliche Freundschaft verband. Im übrigen war sie mit einem noch in Zürich lebenden Schriftsetzer, der ihr demnächst nachkommen sollte, versprochen.

Da war besonders einer, erzählte Florentin, der immer gegen ihn hetzte und schürte, ein kleiner, rothaariger Berliner, ihm ins Gesicht unterwürfig und kriechend, aber voll Tücke und Stänkerei hinter seinem Rücken her; übrigens ein dummer Kerl und 53 verbohrter Doktrinär und Utopist, der an jedes Wort jedes Zeitungsartikels, wenn es nur in einem Parteiblatt stand, wie ans Evangelium glaubte. Der hatte nun, wie Florentin von der Lina erfuhr, schon längere Zeit um sie herumscherwenzelt, sich eines Tages Mut gefaßt, sie, als er sie allein vermutete, auf der Redaktion aufgesucht und ihr ohne alle Präliminarien, feierlichst, im schönsten Broschürenjargon gesagt: »Genossin, ich fordere Sie auf, mit mir zwecks Ausübung freier Liebesgemeinschaft in nähere Beziehung zu treten.« Darauf hatte das resolute Mädchen geantwortet: »Danke schön, ich bin schon versorgt.« »Aha! Ich weiß Bescheid«, rief der Berliner wütend und zog ab. Natürlich hatte er Florentin im Verdacht, gegen den sich seine Wut von da ab nur noch steigerte.

Bald darauf kam es zum Klappen. Die nächste Nummer der Zeitung war nämlich wieder einmal konfisziert worden und zwar diesmal mit dem Vermerk, wenn das Blatt seine Richtung nicht vollständig ändere, würde sein Erscheinen endgültig untersagt werden. Natürlich sagte Florentin in der sofort einberufenen Sitzung der Redaktions- und Aufsichtsgruppe, er denke nicht daran, die Richtung des Blattes zu ändern; allenfalls die Art der Versendung, die noch vorsichtiger werden müßte, und allerschlimmstenfalls den Titel; andere meinten, man müsse doch den Verhältnissen Rechnung tragen, den Ton mäßigen und die Gesinnung hinter mehr wirtschaftlichen und gewerkschaftlichen Angelegenheiten verstecken. Florentin sträubte sich gegen die Gesinnungslüge. Darauf stand plötzlich der Berliner auf und sagte grob, der Bourgeois habe leicht reden, das Blatt werde mit den sauer ersparten Proletariergroschen gemacht und sei Proletariereigentum, Florentin sei bezahlter Redakteur, der schreiben müsse, was man ihm sage, und die Richtung ginge ihn nichts an. Florentin erwiderte, das Blatt sei bisher überhaupt ohne Groschen gemacht worden, und er sei zwar Redakteur, aber kein bezahlter, und wenn ihn die Richtung nichts anginge, wisse er nicht, was er 54 in der Redaktion zu tun hätte. Darauf schrie der Berliner: »Als Bourgeois entweder dem Proletariat ein Blatt oder den Proletariern eine Braut wegschnappen. Wahrscheinlich beides.« Darauf zu antworten war unter Florentins Würde. Er nagte seine Lippen, warf einen Blick auf die Versammlung, die, um ihr Blatt besorgt, schweigend den pöbelhaften Angriff mitangehört hatte, und verließ den Raum und damit für immer Redaktion und Partei und jede Art von politischer Bewegung, die, so freiheitlich sie sich auch gebärdet, sich mit Freiheit nicht vertragen kann, und bald darauf, enttäuscht, verekelt, isoliert, die Stadt, in der sich auch das Freiheitlichste nicht vor der Ansteckung des Philisteriums schützen kann.

Gott sei Dank! Jetzt war er wieder frei und konnte neu anfangen. Konnte endlich diesen immer noch nicht gestillten Heißhunger nach Leben, Schönheit, Kultur in vollen Zügen befriedigen, die unendliche Welt, das Leben, das unendliche, in sich einströmen lassen, einsaugen, einschlürfen, mit allen Kräften, allen Sinnen, allen Nerven, nicht bloß verstehen und begreifen und drüberstehen, nein, darin untertauchen, versinken, untergehen und wieder emportauchen und es besitzen.

Und damals ging er nach Paris. Und nun schilderte Florentin, noch in der Erinnerung heiß bei dem Gedanken an die geliebte Stadt, die Passion seines Aufenthaltes so, daß sich die Geschichte seines zweijährigen Ringens um ihre Seele wie eine Liebesgeschichte anhörte: das Glück der Ankunft, und wie er sich auf den ersten Blick in sie verliebte, toll, rasend, unrettbar, besessen, und den ersten Gang vom Straßburger Bahnhof durch den Straßburger und den Sebastopoler Boulevard ins lateinische Viertel, in einem Taumel ohnegleichen, in einer besoffenen Verliebtheit, daß ihm schwindelte, und, in dem möblierten Hause der Madame Valière, in der Rue de la Harpe, gleich am Anfang des Quartier Latin, das schäbige Zimmer mit dem Himmelbett im Alkoven und der bis auf den Boden reichenden 55 Fensterscheibe, den Blick auf beide Boulevards, den Boul' Mich' und den fürstlichen St. Germain, jeder Name eine Bezauberung für sich; und wie er nun Monate hindurch, ohne mit einem Menschen zu sprechen, ohne Geld, Tag und Nacht durch die Straßen rannte, in einem Glück, einer Ekstase ohne Ende, sich an den Straßentafeln, am Gang und Ausdruck der Menschen, an jedem aufgefangenen Gespräch, an der Existenz dieser einzigen Sprache berauschend. Und die Gänge durch den Louvre, und die Stunden vor der Mona Lisa, deren Lächeln ihm das Sinnbild dieser Stadt wurde, und die Diners à prix fixe zu einem Frank fünfzehn, bei Duval, die ihm anfangs königlich dünkten, und die stillen Nachmittage in den Gärten der Tuilerien, von Luxemburg und von Monçeau, nur den Kindern zuschauend, diesen unsäglich vornehmen, stillen, damenhaften, schlankbeinigen, wissenden kleinen Pariser Mädchen; und die späteren Nachmittage vor den Cafés der großen Boulevards, mitten im tosenden Zentrum der Welt; und die Abende in den Theatern, auf den billigsten Plätzen; und immer wieder das Schönste, die Straßen, jede anders und jede besonders schön in ihrer Eigenart. Und dann dies unbegreifliche Wunder der Pariser Frauen und Mädchen. Und wie all dies nur von einem erfüllt zu sein, einen Trieb zu kennen, nur einem Gesetze zu gehorchen schien: Liebe. Und wie die Quintessenz aller kultivierten Eleganz, der Korso im Boulogner Wald, an ihm vorüberflog, daß ihm der Straßenkot an die noch aus der Heimat stammenden Beinkleider spritzte; und wie er den Liebesfrühling der Pariser Landschaft, ein stummer Zeuge, einatmete, hörte, roch, schmeckte, in allen Sinnen miterlebte, nur in einem nicht. Und wie er immer noch und immer nur außen stand und unten stand, wie ein Liebhaber, der hinter dem Vorhang den Schatten der Geliebten mit den Augen verfolgt: anfangs wunschlos glücklich und im bloßen Schauen schon die Erfüllung findend, aber dann vom Verlangen erfaßt, selbst hinter den Vorhang und ins Allerheiligste hineinzudringen, und schließlich von dieser Begierde 56 wie mit Peitschen gehetzt und bis zum Wahnsinn von dem Bewußtsein gequält, immer ein Fremder, immer draußen zu bleiben, bis man es nicht mehr aushält und geht, mit dem phantastisch spielenden Willen: aber einst komme ich wieder und siege.

So war sein Pariser Leben verlaufen, völlig einsam, ohne Menschen, und eigentlich ohne Bedürfnis nach Menschen, und er hatte alles Glück und alle Qual der Einsamkeit bis auf die letzte Neige ausgekostet. Und eines Tages hatte er nicht mehr können, psychisch nicht mehr, und das wenige Geld, das er sich in der letzten Zeit souweise mit Stundengeben verdient hatte, war aufgebraucht und neue Verdienstquellen waren nicht mehr aufzutreiben gewesen. Wieder hatte er sich in den Gassen herumgetrieben, aber sie waren ihm stumm geworden: wie wenn man zum letztenmal mit einer Geliebten geht und weiß, daß es das letztemal und aus ist, und man hat sich nichts mehr zu sagen. Hungrig und müde hatte er sich gelaufen und auf einmal hatte ihn das Bedürfnis gepackt, zu sprechen und den Ton einer Stimme zu hören: aber er hatte in der großen Stadt nicht einen Menschen, der ihm nahestand, niemand, mit dem er hätte ein Wort wechseln können. Und auf einmal, er wußte nicht wie, war er vor dem österreichischen Konsulat gestanden und hatte den Doppeladler der Monarchie erblickt. Da war ihm jenes andere Konsulat eingefallen, vor dem er in Zürich gestanden und dessen Wappen schuld gewesen war, daß er jene Stadt verlassen hatte; er hatte bitter gelächelt: von Behörden kam ihm keine Hilfe. Aber plötzlich war ihm eingefallen, von einem Freunde gehört zu haben, der sich in einer ähnlichen Lage durch das Konsulat hatte nach Hause schaffen lassen. »Ich versuch's«, sagte er sich; »was tut's? Wenigstens höre ich Menschen reden.« Und war hinaufgegangen. Böhmisch sprechende, grobe Amtsdiener hatten ihn zurechtgewiesen und in einen großen kahlen Bureauraum geführt, der bereits von einer lärmenden Menge schlecht gekleideter, schlecht riechender Männer und Weiber gefüllt war, und ihn sich rückwärts anzuschließen geheißen. Er hatte 57 stundenlang warten müssen, bis er an die Reihe kam; aber als er die leeren Beamtenvisagen sah, die niederträchtige, wichtigtuerische Art, mit der sie die Wünsche der armen Teufel entgegennahmen, wieder einmal den näselnden, falsch aristokratischen Ton hörte, mit dem sie die Krapüle von oben herab abfertigten, übermannte ihn ein derartiger Ekel, daß er, ohne ein Wort herauszubringen, unbemerkt hinausging und diese Oase deutscher Amtsgrobheit im höflichen Paris verließ. In den Gängen des weitläufigen Gebäudes sich verlaufend, war er, um nach dem Ausgange zu fragen, vor einer Türe stehengeblieben und hatte auf einer angehefteten Visitenkarte die Worte: Dr. Anthropos, Sécrétaire de la société de bienfaisance Austro-Française gelesen. Der seltsame Name hatte ihn berührt, und ohne sich lange zu besinnen, hatte er geklopft und war eingetreten.

Ein kleiner, buckliger, jüdisch aussehender Herr stand auf den Fußspitzen vor einem hohen Bücherregal und bemühte sich vergeblich, ein Aktenfaszikel herunterzulangen. Er drehte sich um, sah ihn durchbohrend an und sagte mit einer krähenden Stimme: »Reden Sie nichts! Ich weiß alles. Ich weiß ganz genau, was Sie herführt. Nach Haus wollen Sie. Was denn werden Sie wollen? Vor ein paar Monaten war Ihr Freund da und hat es genau so gemacht. Vielleicht nicht? Die jungen Herren machen Vergnügungsreisen nach Paris, verjubeln ihr Geld, und wir können für die Heimreise sorgen. Übrigens haben Sie recht. Warum nicht? Man ist ja nur einmal jung. Aber jetzt reden Sie nichts, sondern helfen Sie mir lieber! Sie sind groß und ich bin klein, Sie sind jung und ich bin alt, also helfen Sie mir und ich werde Ihnen helfen.« Und ehe Florentin noch ein Wort erwidern konnte, hatte der kleine Mann ihn an den Aktenschrank herangeschoben, ihm das Faszikel gewiesen, das ihm Florentin herunterholte, ihm einen Stuhl an den Tisch gestellt, eine Feder in die Hand gedrückt und sagte: »So, jetzt schreiben Sie. Wer Sie sind und wie Sie heißen und was Sie in Paris getrieben haben 58 und was Sie studiert haben – Sie sind Student, natürlich. Na, sehen Sie, ich weiß alles – und wohin Sie wollen und alles. Zweimal. Deutsch und Französisch.« Und während Florentin schrieb, sah er ihm über die Achsel aufs Papier, und als er seinen Namen las, fragte er sofort: ob er mit dem oder dem verwandt sei, und kannte seinen Vater und alle seine Verwandten persönlich und alle Professoren in Zürich persönlich und alle Bekannten Florentins in München persönlich und trug ihm an alle Grüße auf von dem kleinen Dr. Anthropos. Aber als Florentin fertig war und gehen wollte, sagte der Doktor: »Nein, so schnell geht das nicht. Sie sollen das Billett haben und zwanzig Franken Reisezulage obendrein, aber Sie müssen sich's erst verdienen. Sie fahren nämlich nicht allein; ich habe Ihnen da eine hübsche kleine Reisegesellschaft zusammengestellt, lauter sehr achtbare Leute: da ist ein Kellner aus Leipa in Böhmen, zwei ungarische Sängerinnen aus Mármaros-Szigét, Sie Glücklicher, ein würdiger alter Herr, Leib Arje Kindervater, Handelsmann, ans Sniatyn in Galizien, eine italienische Tagelöhnersfamilie aus San Michele in Südtirol mit einem bildhübschen Mädel von vierzehn Jahren, Maria Concin heißt sie – seien Sie vorsichtig, junger Freund! – und noch so einer, ein ganz verdächtiger, undefinierbarer Kerl, ich glaube, er dürfte Kroate sein oder Dalmatiner oder so etwas und bezeichnet sich als Heizer und kommt aus Marseille. Und Sie dürfen die Personalien der ganzen Blase herausschreiben. Sonst müßte ich das nämlich selbst machen, denn es ist kein anderer da, der alle diese Sprachen kennt und liest, aber da Sie nun einmal da sind, um so besser, brauche ich mich nicht zu plagen.« Dr. Anthropos beherrschte nämlich sämtliche Sprachen der Monarchie, aber es imponierte ihm trotzdem nicht wenig, als sich während des Schreibens herausstellte, daß auch Florentin die meisten ziemlich flüssig sprach und schrieb. »Sehen Sie?« sagte er, »wie geschaffen sind Sie für die ehrenvolle Mission, der Chef dieser Platte zu werden! Sie kennen jetzt alle Geheimnisse der 59 Gesellschaft. Was, glauben Sie, werden die beiden Sängerinnen für Augen machen, wenn Sie ihnen auf den Kopf zusagen, wie alt sie sind?« Als die Arbeit beendigt war, war der betuliche kleine Mann ganz glücklich, dankte ihm und krähte vergnügt zum Abschied: »Seien Sie morgen etwas vor zehn auf der Gare de Strasbourg. Dort bekommen Sie Ihr Billett und die für die anderen. Und bringen Sie mir die Blase gesund über die Grenze! Auch die diversen Weiblichkeiten! Und wenn Sie eine goldene Uhr haben, geben Sie acht darauf! Und wenn Sie nach Hause kommen, erzählen Sie, bitte, nichts, sonst kriege ich noch die ganze Universität auf den Hals.«

Und schon stand er auf der Gasse und hatte nur noch einen Abend und eine Nacht und einen Tag, von Paris Abschied zu nehmen.

Am nächsten Abend fand sich Florentin rechtzeitig am Bahnhof ein und nahm seine kleine Armee in Augenschein. Es war nun allerdings das letzte Gesindel, das die Monarchie nach Paris ausgeworfen und Paris der Monarchie wieder zurückgeworfen hatte; jeder einzelne von ihnen sah aus, als ob er alle Pfützen und alle Höllen der Welt durchwandert hätte, und die kleine Vierzehnjährige, die übrigens wirklich bildhübsch war, nicht am wenigsten. Und trotzdem war ihm die Gesellschaft recht und fühlte er sich wohl in ihr, so ausgehungert war er nach Menschen. Er empfing die Billetts, und da er anscheinend der einzige war, der fließend Französisch sprach, übernahm er sofort den Verkehr mit den Beamten. Noch mehr imponierte es, als er mit allen in ihren verschiedenen Muttersprachen zu reden vermochte, aber als er vollends jedem einzelnen ganz kurz seinen Namen, Stand und Schicksal, Herkunft und Reiseziel angab, ohne daß sie eine Ahnung hatten, auf welche Weise er zu dieser Wissenschaft gelangt sein könnte, begann sich ein Nimbus von Geheimnis und magischer Gewalt um ihn zu bilden, und er wurde ihnen zu einer völlig mystischen Gestalt, mit unheimlichen Kräften begabt. Natürlich reizte das 60 die Weiber am meisten, die er während der ganzen Reise nicht mehr von der Seite bekommen konnte. Aber auch für die anderen war er nicht bloß, wie selbstverständlich, das anerkannte Haupt der Bande, sondern sie kamen mit jeder Angelegenheit, jeder Frage zu ihm, und es hieß im Kupee, auf allen Stationen ununterbrochen von allen Seiten, in allen Sprachen: »Der Student! Wo ist der Student? Das kann nur der Student!« Ihm machte das natürlich Spaß, und er fühlte sich in seiner Rolle so wohl wie schon lange nicht, trotz Elend und Armut und vierter Klasse und schlechter Gesellschaft: ein so starker Atem von Leben und Aktivität schlug ihm aus diesem Abenteuer entgegen.

Und auf einmal, während sie ihm alle ihr Vertrauen entgegenbrachten und der Reihe nach ihre Erlebnisse, ihre Lebensgeschichten, ihre Erfahrungen und Eindrücke, ihre Hoffnungen und Absichten, diesen Haufen von Kleinkram, diesen schmutzigen Haufen von Wünschen und Sorgen, der ihr Leben hieß, ihr armes, einfaches, animalisches Leben vor ihm ausbreiteten, packte ihn wieder dieser Heißhunger nach dem Leben, diese flammende Begier, unterzutauchen, im wirklichen Leben unterzutauchen, nicht als Beobachter, nicht als Begreifer, nicht als Drübersteher, nein wirklich, ganz tief, als ein Stück dieses Lebens: und da fing gerade der kroatische Heizer, ein merkwürdig schöner, großer, breitschultriger, wortkarger Kerl mit verwüstetem Gesichte, von Marseille zu erzählen an, Hafentratsch, Seemannsgarn, rohe unflätige Geschichten, Boxerrenommagen und Kneipenanekdoten, als ihn Florentin unterbrach: »Du, sag' mal, wie komme ich nach Marseille? Ohne Geld, versteht sich.« »Von wo aus?« fragte der Kroat. »Von unserer Grenze natürlich.« »Weil du es bist, helfe ich dir, Student.«

»Ich hatte ihm die Frage gestellt,« unterbrach Florentin den Fluß seiner Erzählung, »ohne mir irgend was dabei zu denken, ohne die mindeste Hoffnung auf eine Antwort, aus einer plötzlichen Anwandlung heraus. Um so verwunderter war ich, daß der Mensch sofort einhakte, das lebhafteste Interesse verriet, und, 61 indem er die eine der beiden Ungarinnen mit den Worten: ›Setz' dich weg, Frau, laß mich her zu ihm: kannst nachher weitertatschkeln‹ von meiner Seite zog, sich zu mir setzte und leise und eindringlich begann: ›Also hör' zu, nach Marseille willst du?‹ ›Ja.‹ ›Und Geld hast du keins?‹ ›Nein.‹ ›Auch nicht die zwanzig Francs von dem buckligen Doktor?‹ ›Die hab' ich noch.‹ ›No was willst du, und Billett bis Grenze hast auch?‹ ›Ja, aber weiter?‹ ›Fahrst du einfach durch Schweiz bis Genf und dann nach Lyon, und von Lyon nach Marseille.‹ ›Ich darf nicht durch die Schweiz, ich bin ausgewiesen.‹ ›Ah da schau her – na was schad't das! Geb' ich dir mein' Paß und du gibst mir dein' Paß, in Österreich schaut kein Mensch, und mein Bild paßt auf dich grad so, und in Frankreich schau'n's auch nicht, nur in Deutschland passen's auf wie die Haftelmacher.‹ ›Aber du hörst doch, ich habe nicht Geld genug.‹ ›Bis Grenze hast du und dann muß dir natürlich alter Jude geben bis Marseille, gibst ihm zurück, wann du hast, und wann du nicht hast, laßt du bleiben. Mit dem red' ich, laß mich nur.‹ Und schwupp saß er neben Herrn Kindervater, und den sah ich viele, heftig beteuernde Bewegungen machen, aber der andere gab nicht nach, sondern redete energisch in den alten Juden hinein, und auf einmal machte er mit den Fingern irgendein geheimnisvolles Zeichen, und der alte Herr zog seufzend eine große schmutzige Brieftasche und nahm etwas heraus und schob es ihm heimlich in die Hand, schrieb dann ein paar Worte auf zwei Zettel, der Kroate unterschrieb den einen, den der Jude sorgfältig in die Brieftasche steckte, worauf er sie mit vielen vorsichtigen Blicken nach rechts und links in das Innerste seiner Gewänder versenkte, den zweiten steckte er wiederum heimlich dem anderen zu und schon saß mein Kroate neben mir und ich fühlte, wie er mir ebenfalls heimlich den Geldschein und ein Papier in die Hand schob, mit den Worten: ›Na, siehst du, hat ihn schon. Hat herausrücken müssen, alter Jude, schwer, aber doch; Paß tauschen wir in Bregenz und schaust du 62 nicht früher an, bis ich weg bin, und in Marseille gehst du gleich in die »Taverne de l'étoile du Sud« an der Cannebière und fragst nach dem Père Puyfourcat und alter Schuft sagt dir alles, der weiß schon und hilft dir, und wenn dein Paß kommt, gibt ihn dir, und du gibst ihm meinen, so lang' kannst ihn schon behalten, zu Hause brauche ich Paß nicht. Und red' nicht, ich hab' gern gemacht, weil du mir gefallst. Und jetzt, Fräulein, können's wieder weitertatschkeln mit dem Herrn!‹

Die Reise dauerte noch einige herrlich lustige Tage, denn wir mußten in jeder Station den Zug wechseln, und in Bregenz nahm ich von meiner treuen kleinen Truppe herzlichen, fast zärtlichen Abschied, und ich hörte zum letztenmal den Namen ›der Student‹, den ich wie einen Ehrentitel trug. Mein kroatischer Wohltäter entzog sich gewaltsam jedem Worte des Dankes. Als ich den Paß öffnete, fand ich einen anderen Namen, als den ich in seinem Nationale zu vermerken gehabt hatte, nämlich: il Conte Tito Vojevič, gebürtig auf Schloß Covelo bei Trient, Südtirol, Schiffsheizer.«

Zwei Tage darauf stand Florentin in Marseille vor der Taverne des Vaters Puyfourcat, die den Namen »Zum Stern des Südens« führte, und es war ihm, als hätte in einem Zaubermantel ein Gott oder ein Teufel ihn im Fluge hergeführt, so überraschend schnell war alles gekommen: Entschluß, Erfüllung, Reise, Ankunft. Alles war wunderbar gut gegangen: ohne alle Anfechtung war er durch die Schweiz gereist, die er sich allerdings sobald als möglich wieder zu verlassen beeilte; und dann über Lyon durch Südfrankreich ohne Aufenthalt, denn das Geld des Herrn Kindervater reichte gerade zur Bestreitung der Bahnkosten. Die Taverne mit dem pompösen Namen ausfindig zu machen, hatte ihm Mühe bereitet; sie lag ganz versteckt in einer der winkligsten Seitengassen des Hafenviertels, und erst als er einen verlumpten kleinen schwarzen Gassenjungen den Namen des Père Puyfourcat nannte, hatte ihn dieser mit verständnisvollem 63 Augenzwinkern hergeführt. Der »Stern des Südens« war nun allerdings, wie er schon von außen sah und roch, die dreckigste und schäbigste Winkelkneipe der Welt, aber mehr Lärm hätte der grandioseste Vergnügungspalast auch nicht machen können. Er trat durch eine Seitentür in der Torfahrt ein, glaubte in einem Tollhaus zu sein, sah im ersten Augenblick vor Rauch, Dunst, Qualm und Staub gar nichts, im zweiten, in der Mitte des niedrigen dunklen Raumes, ein seltsames Ungeheuer, das, einem indischen Buddha oder einem chinesischen Pagoden ähnlich, unbeweglichen Leibes auf einem kleinen Stühlchen saß und das Lokal aus zwei winzigen Äuglein regierte. Ein Riese mit einem riesigen Kopf, schwarzgrauem langem Haar, dichten, buschigen, herunterhängenden Augenbrauen, einem mächtigen Schnauz- und Knebelbart, dunkler als das Haupthaar, und einem ungeheuren Gesicht mit endlosen Backenflächen, das in allen Farben spielte, rot, blau und gelb: aber alles an ihm wirkte klein neben dem Bauch. Etwas Ähnliches wie diesen Bauch, diese Tonne von einem Bauch, gab es in der Welt nicht mehr. Dieser Bauch war Vater Puyfourcat. Er trug ihn mit einer bewußten zärtlichen Würde, wie man ein köstliches Kleinod trägt. Dieser Bauch gab dem ganzen Lokal sein natürliches Zentrum, und es schien sich ihm anzupassen, nachzurunden, gewissermaßen selbst eine Kugelform anzunehmen; und so das unsagbar lärmende Gedröhn, wie ein Resonanzkasten, noch zu verstärken. Am lautesten aber dröhnte der Vater Puyfourcat selbst. Und dieser Lärm stand in einem ebenso grotesken Gegensatz zur Unbeweglichkeit seines Körpers, wie der buschige Ernst seiner Augenbrauen zur hellen, schmetternden Lustigkeit seiner Stimme. «Aribert, un boc pour m'ssieu!» rief er dem weißbeschürzten Kellner, als er Florentins ansichtig wurde; »das Kind verlangt nach Milch!« und die Taverne bog sich vor Lachen über den Witz.

Das Ensemble, der Rauch, der Knoblauchgestank, der Lärm, die Lächerlichkeit des grotesken Eindrucks, die überraschende 64 Frechheit der Begrüßung, das alles verschlug Florentin die Rede; und der ehrwürdige Vater fuhr fort: »Das Kind kann, scheint's, noch nicht reden, aber trinken will es schon!« Die Taverne johlte.

»Aber bitte, reine Kuhmilch!« erwiderte Florentin, »die der Ochse noch nicht verpantscht hat.« Die Taverne wurde still.

»Bravo, mein Kind«, fing der Greis wieder an. »Du hast ja schon reden gelernt. Was willst du?« Die Taverne dröhnte.

»Aber noch nicht mit dem Maul, wie Sie, Papa, nur mit der Faust«, replizierte Florentin und hatte sich bei der Taverne rehabilitiert.

»Und womit kann ich Ihnen dienen, mein Herr?« sagte Vater Puyfourcat, plötzlich ganz höflich geworden.

»Da! Lesen Sie!« erwiderte Florentin und reichte ihm den Paß. »Aber nur, wenn Sie Geschriebenes besser lesen können, als die Gesichter Ihrer Gäste. Sonst hat's keinen Zweck.«

Der Wirt warf einen Blick auf das Dokument und wurde sofort ernst. Er legte den Finger an den Mund, erhob sich, was allerdings mit ungeheuren Kraftanstrengungen verbunden und nur mit Ariberts Hilfe möglich war, und winkte ihm. Darauf rollte das Faß langsam und majestätisch in einen Nebenraum, der leer stand.

»Rede nichts, mein Junge, ich bin unterrichtet«, begann der Alte und flüsterte, so gut er es konnte. »Jedes Wort ist überflüssig. Du hast nichts zu tun, als dich jeden Tag, so elegant angezogen als nur möglich, eine Stunde in der besten Gesellschaft von Marseille zu zeigen. Die Adressen bekommst du von mir. Zu welcher Stunde, ist deine Sache. Was du dort redest, auch. Am besten so wenig wie möglich. Unter welchem Namen du dich vorstellst, ist gleich. Wenn sie dich für den Grafen Vojevič halten, ist es gut, wenn nicht, ebenso. Gelegentlich stelle dich mit diesem Paß auf deinem Konsulat vor. Das Geld, das du zu deiner Equipierung brauchst, holst du dir bei mir. Du brauchst nicht zu sparen. Nur empfiehlt es sich, wenn du herkommst, möglichst 65 schäbig angezogen zu sein. Du verstehst, warum. Auch haben meine Jungen hier die eleganten Leute nicht allzugern, und du könntest Unannehmlichkeiten haben. Das ist alles, sonst kannst du mit deiner Zeit anfangen, was du willst. Nur sprich so wenig wie möglich, auch zu mir. Kluge Leute, wie wir beide, verstehen einander auch ohne Worte. Nicht wahr? Und hier hast du Geld, mein Junge, für den Anfang wird's reichen, und jetzt geh'!«

Und Florentin stand wieder auf der Straße und fand, daß das Ganze ein Märchen war, von dem er nicht ein Wort verstand, aber das Märchen machte ihm Spaß, und er ließ sich's zunächst einmal gefallen. Übrigens war es nicht märchenhafter, als alles andere vorher, und daß er überhaupt in Marseille war, und nicht märchenhafter als die tiefe Bläue dieses südlichen Himmels; und die von Gegenwart brausende Schönheit dieser Stadt, mit ihren stolzen, weiten, lichten Straßen, den rauschenden Brunnen und klaren Wasserströmen, die zum Meere ziehen, dem ewigen Frühling und dem unerschöpflichen jauchzenden Leben voll Arbeit, Kraft, Heiterkeit und Bewegung.

Und nun begann für Florentin ein seltsames, ihm selbst unverständliches, aber darum aufregendes und in seinen Kontrasten reizvolles Doppelleben. Eine Stunde am Tage gehörte der Mission, die gute Gesellschaft Marseilles zu besuchen, und er opferte sie ihr mit gewissenhaftester Pünktlichkeit, allerdings auch nicht eine Minute mehr. Zu welchen Zwecken, war nicht zu ersehen, und er kümmerte sich auch nicht darum. Die gute Gesellschaft war hier so langweilig, wie überall in der Welt, und die Kreise, in die ihn seine Adressen führten, ein gut Teil langweiliger, denn es waren – wie er bald heraushatte – vorwiegend die diplomatischen. Haltung und Anzug ersetzten Eigenart und Persönlichkeit und das Gespräch hatte die leere Physiognomie der Sprechenden: vorsichtig um das Nichts herum. Die ganze übrige Zeit gehörte ihm. Und er fühlte sich kannibalisch wohl, wenn er die gute Kluft vom Leibe heruntergerissen hatte, in die bequemen, weiten Hosen, 66 die Leinwandbluse geschlüpft war und zum Hafen hinunter konnte. Er bummelte auf dem Korso, auf der Cannebière, auf der Place Royale und immer wieder, Tage und Nächte, am Hafen. Nicht als Beobachter, das hatte er satt, nein, mit den Leuten, unter ihnen, mit Matrosen, Hafenarbeitern, Heizern, Kellnern, Arbeitern, Bettlern, ein Gleicher unter Gleichen, mit ihnen plaudernd, mit ihnen faulenzend, mit ihnen trinkend und spielend. Wie sie lag er Tage lang am Hafen, guckte in den Himmel und ließ sich, wie sie, die Sonne auf die bloße Brust scheinen, sah, wie sie, unermüdlich der Ankunft und der Abfahrt der Schiffe zu, half ihnen manchmal die Boote ans Land ziehen oder verankern oder die Anker lösen, freute sich mit ihnen über das bunte Völkergemisch, über die zahllosen Neger, Malaien, Inder, Japaner und Chinesen, schlenderte und scherzte mit ihnen hinter den Weibern her, lebte wie sie, kleidete sich wie sie, tätowierte sich wie sie, soff nachts mit ihnen in den Schenken und tat, wie sie, am liebsten nichts. Und die wüsten, lauten, lärmend schreienden und gestikulierenden Kerle mochten den schweigsamen, aber freundlichen und stets hilfbereiten Burschen gut leiden. Trotzdem fehlte es nicht an Gelegenheit, die wüstesten und rohesten Dinge zu sehen, zu hören und zu erleben: Tragödien ereigneten sich, kaum ein Tag verging ohne Schlägereien, und er selbst lernte von ihnen sich seiner Haut wehren, zu boxen und für den Notfall das Messer in der Tasche locker zu halten. Aber er wurde stark und gesund dabei und fühlte sein Leben wie nie vorher. Ja, in dieser Zeit fühlte er seinem Leben den Pulsschlag, und je tiefer er herabstieg, um so stärker wuchs in ihm das fromme und bescheidene Innewerden, wie allmählich sein Leben eins wurde mit dem Leben um ihn. Das Glück einer zwiefachen Naivität: der des Volkes und der des Südens überkam ihn und er wurde reflexionslos und zeitlos.

Aber nicht wunschlos. Aus Süden und Zeitlosigkeit wuchsen ihm neue Träume und eine neue Sehnsucht. In der Art dieser 67 Menschen und ihrer Existenz war etwas Griechisches, das, ungewollt und ungezwungen, ohne den Umweg über gelehrte Bildung, an die Kulturanfänge dieser Stadt anknüpfte. Bei den Vornamen fing es an, und er freute sich über jeden Kellner, der Aristides, und jeden Barbier, der Miltiades hieß. Dann schien ihm der weiße Glanz dieser Häuser griechisch zu sein, und er sah die ersten Olivenwälder, noch niedrig hier wie Gesträuch, aber schon die schönsten Früchte tragend. Griechisch war die Landschaft und die Stadt; und als er einmal unter einem wundervollen Kastanienbaum, dessen uralten, mächtigen Stamm eine steinerne Rundbank umlief, einen schönen langbärtigen Greis sitzen sah, beide Hände über einem Stock gefaltet, unendlichen Frieden im klaren, ruhigen Greisenauge, als habe er nichts mehr auf der Welt zu tun, als die Erfahrung seines Lebens zu überschauen; auf der anderen Seite des Baumes die Bauernfamilie, den Vater mit bloßer Brust dasitzend und Sonne und Nichtstun genießend, die Mutter das Jüngste an der Brust und zwei splitternackte Kinder mit dem Hunde spielend, war es ihm, als hätte er in dem einen Bilde das Wesen aller hellenischen Freiheit, Sinnlichkeit und Unbekümmertheit beisammen und begriffen, daß es in der ungebrochenen Einheit von Wollen und Tun besteht. Da ihn nun einmal der Gedanke gepackt hatte und nicht mehr ließ, waren es bald nur mehr diese Zeichen des Griechischen und der vergangenen Zeiten überhaupt, die ihn reizten, und allmählich begann alles, was sich von diesem unterschied, ihn zu stören: die Bauten zuerst, und dann die Trachten, und dann die Fabriken und das ganze geschäftige Wesen und Treiben von Handel und Gewerbe, und dann die Menschen, und schließlich war gerade das, um dessenwillen er seine jetzige Daseinsform aufgesucht, geliebt und genossen hatte, Leben und Gegenwart, der Gegenstand seines heftigen Widerwillens und Abscheus geworden. Eine unbändige Lust, seiner Zeit zu entrinnen, hatte sich seiner bemächtigt, und Sehnsucht nach Vergangenheit ihn gepackt und ließ ihn nicht mehr.

Nun schien ihm auf einmal die Roheit seiner früheren Freunde 68 und Gefährten am Hafen unerträglich. Auch hatte er an kleinen Zeichen ein ihm unerklärliches Mißtrauen gegen den Fremden bemerkt und begann sich unbehaglich zu fühlen.

Gerade um diese Zeit war bei Père Puyfourcat sein Paß aus Österreich, übrigens ohne Brief oder weitere Nachricht für ihn eingetroffen, und er tauschte ihn sofort gegen den des Conte Vojevič ein.

In der Nacht darauf fand in der Hafenkneipe, in der er sein Abendbrot verzehrte, eine allgemeine Razzia statt, und er wurde mit allen anderen Anwesenden auf das nächste Polizeibureau gebracht. Dort teilte man ihm mit, daß anonyme Anzeigen gegen ihn eingelaufen seien, er sei mit dem berüchtigten Conte Vojevič, der unter Spionageverdacht stünde, identisch: zum Glück konnte er sich ausweisen, sein Papier wurde genau geprüft, in Ordnung und als ausreichend befunden, und er wurde entlassen, nicht ohne den Vermerk, trotz alledem, künftighin vorsichtig zu sein, man werde ein Auge auf ihn haben.

Er hatte genug, die Menschen waren ihm wieder einmal verleidet, und tags darauf reiste er nach Rom, in die Hauptstadt der Vergangenheit. Vater Puyfourcat half auch dabei.

In Rom lebte er zwei Jahre in vollkommener Einsamkeit. Er brauchte keinen Menschen mehr, weil sich ihm hier zum Ersatz die ganze Menschheit bot, deren Bild er in diesem zersplitterten Spiegel der Jahrtausende schöner und treuer und so besaß, wie sie damals seiner Seele einzig taugte und erträglich war: verklärt durch die Entfernung der Geschichte, verschönt durch die Entfernung der Kunst, und, um jeden Preis ferne, ferne, ferne, nicht mehr so nahe, daß ihre Luft ihm den Atem benahm.

Florentin vermied hier jede Schilderung; diese Erinnerung war ihm zu heilig, sie durch Worte zu entweihen, Worte zu arm, um das Glück und die Schönheit dieser einsamen Wanderungen durch die Zeiten auszudrücken. Er erzählte auch nicht, wie er in Rom gelebt, was und wie er gearbeitet hatte, 69 sondern unterstrich beinahe geflissentlich, wie arm und ohnmächtig er vor dieser Fülle gestanden, und wie er es fast verzagend aufgegeben, Ordnung in sein Chaos zu bringen, und sich nur damit geholfen habe, sich ganz seiner Phantasie zu überlassen und sich von einem Traumleben umspinnen zu lassen, das ihn in losem, regellosem Spiel durch Antike, Mittelalter, Renaissance und Barock, tändelnd fast, hindurchgeleitet habe, und daß er gerade dadurch Reiz und Schönheit der Zeitenferne am stärksten empfinden gelernt habe, wenn auch nie ohne Mitschwingung einer gewissen Wehmut und Melancholie. Und so habe sich in ihm, gleichzeitig mit dem Versinken in entfernte Zeiten, immer eine Sehnsucht wirkend erhalten, die er sich nicht anders denn als Sehnsucht in die Ferne deuten konnte, Sehnsucht in die Ferne überhaupt und wohl auch als Sehnsucht nach räumlicher Ferne insbesondere. Der eines Tages dieselbe rätselhafte Gunst des Geschicks, die ihm in seinem Leben so oft an entscheidenden Augenblicken, ohne daß er recht wußte, wie, die Wendung ins Höhere gebracht hatte, auch diesmal eine seltsame Erfüllung bereitete.

Er strich, so erzählte er, um die unerträglich heiße Mittagsstunde eines Junisonntags, ziemlich planlos und ohne ersichtlichen Grund übellaunig, durch den Corso Umberto, als ihm an der Ecke der Piazza Colonna ein Herr begegnete, den er als junger Mensch flüchtig in Wien gekannt und ebenso flüchtig in Paris wiedergesehen hatte, und nach einigen einleitenden Worten unvermittelt die Frage stellte: »Hätten Sie Lust, eine Weltreise zu machen?« »Lust«, antwortete Florentin, »schon, aber kein Geld.« »Gesetzt,« fuhr der andere fort, »Sie hätten auch das Geld, wären Sie bereit und in der Lage, die Reise sofort anzutreten?« »Lieber heute als morgen«, entschloß sich Florentin. »Dann sind wir einig!« sagte, sehr eilig, der Herr, der übrigens Baumann hieß und, wie Florentin sich jetzt erinnerte, zwar nie einen Beruf, aber immer sehr viel zu tun hatte, weil er die Geschäfte seiner sämtlichen Freunde, und das war so ziemlich die ganze Welt, 70 mitbesorgte. »Dann sind wir also einig! Wir übernehmen die Kosten Ihrer Ausrüstung und der ganzen Reise: als Gegenleistung haben Sie nichts zu tun, als sich genau an die vorgeschriebene Reiseroute zu halten und ein Päckchen bereits geschriebener und unterzeichneter Ansichtskarten mitzunehmen, die Sie von den angegebenen Orten expedieren; und überdies ein ziemlich genaues Reisetagebuch zu führen, das ungefähr dem Niveau, Bildungsgrad und gesellschaftlichen Anschauungsumfang eines gebildeten jungen Wieners aus der besten bürgerlichen Gesellschaft entspricht, der, ohne jede künstlerische oder gelehrte Ambition, ein gutes Auge, Mutterwitz und einen hellen, gescheiten, lebhaften Sinn für alles besitzt. Sie erhalten von mir die römische Adresse eines Freundes, an den dieses Tagebuch etwa allmonatlich einmal in einer lesbaren Handschrift zu schicken ist und dessen Eigentum es wird. Ich will Sie, Ihre strengste Diskretion vorausgesetzt, auch über die Vorgeschichte und die Zusammenhänge dieser etwas mysteriös scheinenden Angelegenheit nicht im unklaren lassen. Es handelt sich, wie Sie sofort sehen werden, nicht etwa um ein Verbrechen, in das Sie hereingezogen werden sollen, sondern um eine sehr gewöhnliche Liebesgeschichte. Ein Freund von mir, ein reizender Kerl, der Sohn eines blödsinnig begüterten Wiener Fabrikanten, hat sich über beide Ohren in ein bildschönes, braves, aber armes Mädel verliebt. Der Vater will ihn um jeden Preis von dem Mädchen entfernen, das er für eine Circe hält, aus deren Netzen der reine Jüngling gerettet werden muß, und ohne daß er eine Ahnung davon hat, daß sein Sohn die Geliebte bereits heimlich geheiratet hat, hält er eine Weltreise für das einzige geeignete Mittel zu diesem Zwecke. Der Sohn zieht es vor, das erste Jahr seiner Ehe mit seiner jungen Frau ungestört in Italien zu verbringen, und hat hier ein entzückendes Landhaus gemietet, will aber aus nicht schwer zu erratenden Gründen seinen Vater, von dem er in materieller Abhängigkeit gehalten wird, über die Tatsache seiner Verheiratung zunächst in Unkenntnis und bei dem 71 Wahne lassen, daß er in gehorsamer Ausführung seiner Befehle die gewünschte Weltreise angetreten habe. Zu diesem Zwecke bedarf es der schriftlichen Belege für die Durchführung der Reise, also neben den unerläßlichen Ansichtskarten an die ganze Familie und alle Bekannten, vor allem des Tagebuchs, das in Inhalt und Stil ungefähr dem Horizonte eines gebildeten jungen Wiener Lebemanns angemessen zu führen ist. Ich habe also die Aufgabe, so schnell wie möglich einen Strohmann zu stellen, der nicht bloß Wiener sein soll (die Norddeutschen, wissen Sie, schreiben eben doch ein anderes Deutsch), sondern außerdem noch Bildung, gesellschaftlichen Schliff und nichts anderes zu tun haben muß. In Wien gäbe es das vielleicht, aber so viel Zeit haben wir nicht, und hier in Rom, wo die jungen Wiener entweder Gelehrte, bei denen man sich nicht auf den Schliff, oder Lebemänner, bei denen man sich nicht auf die Bildung verlassen kann, oder überhaupt nur Maler sind, war keiner aufzutreiben, bis mir der Himmel – verzeihen Sie, man wird ganz fromm in dieser Stadt – Sie hergeführt hat. Sie sind unser Mann. Und Sie lasse ich jetzt nicht mehr aus. Zugesagt haben Sie mir und ich hoffe, daß Ihnen nicht nachträglich Skrupel aufgestiegen sind.«

Florentin war mit allem einverstanden und die Vorbereitungen ließen sich so schnell erledigen, daß er schon am nächsten Tag in Neapel eintraf, um an Bord der »Prinzessin Alice« jene Reise anzutreten, in der er in seinen vagsten, verwegensten Träumen den einzigen, aber unerreichbaren Ausweg aus Vereinsamung, Menschenflucht und Fernensehnsucht erblickt hatte. Bis zum letzten Moment, bis er die Anker einziehen sah und die Schiffskapelle das alte deutsche Abschiedslied intonieren hörte, wagte er es nicht zu glauben. Fast unheimlich war es ihm und ein Schauder erfaßte ihn vor der Hand, die seiner Geschicke Kette, aus der tiefsten Unbewußtheit seines stummen und schüchternen Willens herauf, fügte, ihm selbst immer wieder unbegreiflich und rätselhaft.

72 »Das Schiff stieß ab«, so schloß Florentin seinen Bericht, »Neapel lag hinter mir und war nicht ein Wunschtraum gewesen, sondern Wirklichkeit, und die Reise begann und war Wirklichkeit. Am vierten Tage waren wir in Port Said. Wir fuhren durch den Suezkanal. Wir landeten in Aden und waren in Arabien. In Colombo sahen wir die Insel Ceylon. Wir fuhren über Penang nach Singapore und betraten den Boden Indiens. Wir sahen die großen Städte Indiens, die neueren und die heiligen, sahen Agra und den Taj Mahal. Wir kamen nach Hongkong und nach Schanghai, wir kamen nach Nagasaki, Hiogo und nach Yokohama. In Japan blieben wir lange. Dann fuhren wir nach San Franzisko und mit Pullmann durch Nordamerika nach New-York. Von New-York über Gibraltar, Algier nach Genua zurück. Das ist alles. Ich habe die Stationen des Fahrplans hergezählt, vielleicht nur, weil mich ihre Namen heute noch berauschen. Ich muß sie mir vorsagen, um zu glauben, daß es Wirklichkeit war. Mehr sagen kann ich nicht: Verlangt nicht von mir, daß ich die Totalität dieses Eindrucks in Einzelheiten und Episoden auflöse. Das hieße mich selbst in kleine Stückchen zerteilen. Auch ist mir, als wäre gerade während dieser Reise gar nichts so Besonderes passiert. Wenigstens nichts, was sich erzählen ließe. Ich habe gewiß nicht mehr erlebt, als sonst und anderswo. Nur besser. Ich habe unter Indern, Chinesen, Japanern gelebt. Natürlich bilde ich mir nicht ein, durch eine solche Reise vom Wesen dieser Völker irgend etwas zu wissen. Nur einen Hauch dieses Wesens habe ich verspüren dürfen, der mich im Vorübergehen gestreift hat und den ich nicht mehr missen möchte aus meinem Leben. Ich verstünde es nicht, wie einer nach solchem Eindruck je wieder ganz unglücklich oder ganz böse oder roh werden könnte: denn er hat Völker erlebt, denen Bescheidenheit, Höflichkeit und Takt nicht bloße Formen und Manieren des Verkehrs, sondern tiefsten Lebensinhalt uralter Kulturen bedeuten. Wenigstens fühle ich, wie ich durch sie bescheidener und 73 stiller geworden bin. Es liegt wohl in meiner Natur: aber ich brauchte sie, daß es sich herauslöse. Ob Menschen sich ändern können, weiß ich nicht: ich glaub's nicht recht, und darum glaube ich auch nicht, daß ich durch sie geändert wurde, sondern daß es mir vorgezeichnet war, so zu werden, und daß ich das und diese Menschen erleben mußte, um so zu werden, wie ich werden mußte. Darum hat es mich zu ihnen gezogen, wie es mich zu den Revolutionären gezogen hat und zum Leben gezogen hat und ins Volk und zur Schönheit und zur Vergangenheit: das Schicksal hat bloß immer ein bißchen nachgeholfen. Wie eigentlich, das weiß ich nicht und verstehe ich nicht und werde ich wohl nie ganz verstehen. Ich weiß ja überhaupt so wenig von mir. Ich weiß nicht einmal, ob ich lustig oder traurig bin. Wenn ich an das Allerschönste denke, das ich erlebt habe, werde ich eigentlich immer wehmütig, und von meiner Reise habe ich nichts mitgebracht als das Gefühl, daß mich die Sehnsucht nach der Liebenswürdigkeit dieser komplizierten und doch so einfachen Völker nie mehr ganz verlassen wird. Das wäre so ziemlich alles, was ich zu erzählen habe.«

»Das sieht dir gleich,« sagte Otto, »daß du sonst nichts mitgebracht hast. Was hätte ich zusammengekauft! Natürlich hast du auch kein Geld mitgebracht?«

»Nein. Und von Genua bis Wien, von Wien hierher war es nicht mehr schön und nicht ohne Schwierigkeit. Aber auf einmal war es mir so selbstverständlich, herzukommen, daß ich, statt in Genua zu bleiben und was zu beginnen, mit meinem Letzten hergereist bin. Was mich gerade jetzt hergetrieben hat, was ich mir dabei gedacht habe, was ich hier anfangen soll, – das alles weiß ich selber nicht.«

»Merkwürdig«, sagte Otto lebhaft. »Da bin ich anders. Ich weiß immer alles. Frage Blanche! Ich habe doch auch tolle Sachen erlebt und große Reisen gemacht, aber da ist immer alles haarscharf, genau so, wie ich mir's ausgedacht habe, verlaufen. Bei 74 mir gibt es keine Überraschungen. Ich weiß immer genau, was ich will. Frag' nur meine Frau. Da haben wir zum Beispiel vergangenen Sonntag eine wunderschöne Tour nach den Langbathseen gemacht – – –«

»Lieber Otto«, unterbrach ihn Frau Blanche mit einem sanften Lächeln. »Erzähle ihm das vielleicht ein andermal! Heute ist es doch schon zu spät. Und wir alle werden den Eindruck gerne unverwischt mit uns nehmen wollen.«

Grau und rosig kroch der Morgen über den Bergen herauf, als sie einander gute Nacht! sagten und schlafen gingen. 75

 


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