Arthur Kahane
Willkommen und Abschied
Arthur Kahane

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5.

Es war heute später als sonst am Vormittag, als Frau Blanche auf die Veranda heraustrat. Der Frühstückstisch war bereits gedeckt, aber noch war niemand da. Es war ihr nicht unwillkommen, diese ersten Augenblicke des wunderschönen Tages allein und in Ruhe schlürfen zu können. Die großen Schiebefenster, von denen der ziemlich weitläufige Raum rings umschlossen wurde, waren sämtlich aufgezogen, und die frische, klare Luft strömte von allen Seiten ein. Sie trat ans Fenster und beugte sich weit hinaus, um den Morgen mit allen Lungen einzuatmen. Vor ihr lagen klar und friedlich, im besonnten Glanze, die reinen Linien der Berge, und ihr wurde ganz still und friedlich zumute. Sie schob sich ihren weiten, bequemen Korbstuhl ans Fenster und ließ sich nieder. Ihre Hände ruhten im Schoße und ihre Blicke hoben sich ruhig und nachdenklich in die Weite. Alle Fragen und Zweifel, mit denen die Nacht und der beginnende Tag sie beängstigt und beunruhigt hatte, schwiegen, und ein gutes Gefühl, daß neben diesem Ruhigwerden in der Natur alles andere klein und nichtig sein müsse, ergriff sie und füllte sie mit Sicherheit und Zuversicht.

Da erschien Sibyl in der Türe und suchte mit den Augen. Das volle Licht der Sonne lag auf der weißen Gestalt und zeigte dem ersten Blick der Mutter die Schatten einer einzigen qualvoll schlaflosen Nacht auf den sonst so klaren und reinen Kinderzügen. Frau Blanche erschrak, faßte sich aber sofort und winkte das Kind zu sich. Es näherte sich, fühlte den unendlich 79 liebevollen Blick auf sich ruhen, konnte sich nicht mehr helfen und sank mit einem lauten Aufschluchzen zu ihren Knien nieder, den Kopf in ihrem Schoße bergend und den jungen Körper von Weinen geschüttelt.

Die Mutter streichelte bloß das liebe Haar, immer wieder, und fragte nicht.

Und auf einmal brach es aus: »Er tut mir so leid. Er tut mir ja so furchtbar leid!«

Frau Blanche streichelte sie noch einmal, strich ihr das wirre Haar aus der Stirn und sagte nur: »Weine dich aus, Kind!«

Und Sibyl fuhr fort, immer noch schluchzend: »Mutter, so furchtbar leid. Er ist so einsam und traurig. Und ich möchte ihm helfen und weiß nicht, wie.«

Frau Blanche zog sie in die Höhe: »Und jetzt, Kind, nicht mehr weinen! Setz' dich zu mir und sei mein kluges Mädel! Nicht weinen mehr! Nimm dich zusammen und nichts dir merken lassen! Schon seinetwegen nicht. Willst du ihn denn noch unglücklicher machen? Nicht wahr, nein, das willst du nicht? Wenn er es wirklich wäre! Aber ich glaube nicht, daß er es ist. Und wenn er es nicht ist, würde er es werden, wenn wir ihn fühlen lassen, daß wir ihn dafür halten. So weit glaube ich ihn schon zu kennen. Seine ganze Unbefangenheit würden wir ihm nehmen und ihn noch scheuer und stummer machen. Habe ich nicht recht, Sibyl? Und das wollen wir doch nicht. Wir wollen doch das Gegenteil. Und wenn wir Frauen etwas können, so muß es doch das sein. Also komm her, Billy, und laß uns recht wie Frauen einmal plaudern. Willst du?«

Sibyl hatte zu weinen aufgehört und setzte sich zu ihrer Mutter. Diese nahm ihre Hand und fuhr fort: »Und nun, Billy, sag' mir alles, wenn du kannst. Du hast doch Vertrauen zu mir. Du weißt, ich dränge nie in dich, und wenn ich fühle, daß dir etwas zu sagen schwer wird oder daß du etwas als Geheimnis für dich behalten willst, so lasse ich es dir, denn 80 jeder Mensch hat Dinge in seiner Seele, die er mit Niemandem teilen kann, und Erlebnisse, mit denen er allein fertig werden muß, und bei denen ihm niemand helfen kann, und jeder Mensch, auch ein junges Mädchen, muß Provinzen in seinem Innern haben, die ihm allein gehören und in die nie eines anderen Auge dringen darf, auch das der Mutter nicht. Das habe ich immer gewußt und immer in dir respektiert. Und du hast das auch immer gefühlt, und gerade darum, bilde ich mir ein, hast du immer Vertrauen zu mir gehabt, vielleicht mehr noch als sonst junge Mädchen zu ihren Müttern. Nicht wahr, Billy, so ist es?«

Das junge Mädchen sah ihr zärtlich ins Auge und sagte: »Aber, Mama, du bist ja gar keine Mutter. Du bist ja viel zu jung dazu. Du bist eine Freundin, die beste, die ich habe, meine einzige, eine Schwester, nur daß wir uns viel lieber haben als andere Schwestern. Du bist mir eben alles. Und zu dir habe ich mehr Vertrauen als alle anderen Menschen der Welt zu allen anderen Menschen. Weil du nicht bloß viel gescheiter als alle anderen Menschen, sondern auch viel besser bist. Alles verstehst du und dir kann man alles sagen, und dir werde ich auch immer alles sagen, mein ganzes Leben lang, auch wenn du es nicht von mir verlangst.«

»Na siehst du«, erwiderte Frau Blanche. »Und so soll es auch bleiben zwischen uns. Wir haben bis jetzt alles geteilt, Bücher und Dinge und Eindrücke, und haben uns gemeinsam über alles Schöne gefreut. Denn alles, was du bis jetzt erlebt hast, war schön und ich glaube, es ist auch ein bißchen mein Verdienst, daß ich alles Häßliche von deinem Leben ferngehalten habe. Das ging, solange sich alle deine Erlebnisse auf Dinge bezogen. Aber jetzt tritt zum erstenmal ein wirklicher, lebendiger Mensch in dein Leben und gestern hast du zum erstenmal ins wirkliche Leben geschaut. Das sieht freilich anders aus als alles, was du bisher erlebt hast, und ich verstehe, wenn es dich zuerst erschreckt hat. Und ich würde es auch verstehen, wenn du darüber auch 81 zu mir nicht sprechen könntest. Und ich bin dir nicht böse, Billy, wenn du schweigst. Wenn du nicht kannst, Billy, brauchst du mir also nicht zu antworten, wenn ich dich frage: Warum hast du geweint?«

»Glaub' mir, Mutter,« sagte Sibyl und ihre Stimme zitterte vor Vertrauen und Bedürfnis, restlos aufrichtig und ehrlich zu sein, »nur aus Mitleid. Ich habe nicht einen Augenblick an mich gedacht. Nur an ihn. So leid tat er mir. Und so unglücklich kam er mir vor.« Spiegelklar lag ihre Seele vor dem Auge der Mutter da.

»Warum glaubst du, daß er so unglücklich ist?« fragte sie. »Ich glaube es nicht. Männer erleben anders als wir. Sie brauchen diese wilden Schicksale, die uns beim Anhören mehr erschrecken, als sie beim Erleben. Unser Leben ist Warten und Zusehen. Und das ist mit allen Qualen des Wartens, aller Ungeduld und Aufregung und mit dem Gefühl der Ohnmacht verbunden, nicht helfen zu können. Und fast auch mit Neid. Zu ihnen aber gehört diese Wildheit und Buntheit und Mannigfaltigkeit des Geschicks. Sie macht sie ruhig und kraftvoll. Und ich finde so ein Leben wie das Florentins schön. Ich finde auch seine Einsamkeit schön und sein Bewußtsein, daß alles immer so kommen mußte und einen Sinn hat und einer höheren Einheit dient. Wunderschön finde ich das und könnte ihn darum beneiden.«

»Ich auch. Ja, beneiden könnte ich ihn auch darum. Und dann doch wieder nicht. Ich weiß es selbst nicht. Dann habe ich bloß Angst um ihn. Ach Mutter, ich weiß, daß er unglücklich ist. Das ist es ja, daß ich dir das eine nicht sagen kann, denn es ist nicht mein Geheimnis, aber ich weiß es, und darum möchte ich ihm so gerne helfen, und kann nicht.«

»Sage mir nicht, was du mir nicht sagen darfst,« sagte Frau Blanche und neigte gedankenvoll ihren Kopf, »ich dränge nicht in dich. Aber, was es auch sei, helfen wollen wir ihm und das können wir auch. Dazu sind wir Frauen ja da, daß die 82 Männer in uns das Gegengewicht finden, das sie brauchen zu dem Leben draußen, und daß wir dem Leben draußen, um dessentwillen sie auf der Welt sind, seine Feindseligkeit nehmen und sie es durch uns in seiner Schönheit und seinem höheren Sinne erkennen. Wir brauchen es ihnen gar nicht zu sagen, ja wir dürfen uns gar nichts merken lassen, nur dadurch, daß wir da sind, müssen wir schon so wirken, und dadurch, daß wir gut zu ihnen sind. Und das wollen wir beide sein zu Florentin, nicht wahr, Billy, das wollen wir?«

Und Sibyl küßte überströmend ihre Hände und fühlte sich wunderbar getröstet.

Da kam auch schon Florentin von seiner Morgenwanderung zurück und begrüßte die Frauen.

»Seltsam,« sagte er, als sie ihn nach dem Verlaufe seines Spazierganges fragten, »es ist, als ob man gar nicht fort gewesen wäre. Die Zeit ist zehn Jahre lang stillgestanden in diesem Ort. Immer noch sitzen die Honoratioren beim Hölzelsauer zum Frühschoppen und schimpfen über die Stadtfräcke, und immer noch stehen die jüngeren Leute vor der »Sonne« um den Stögerwirt herum und begrüßen die Vorübergehenden mit Scherzworten, und der dicke Uhrmacherpepi ist immer noch der lauteste und macht die besten Witze, und sie sind immer noch die Burschen und merken es nicht, daß sie zehn Jahre älter sind; und der Schneider Schindlegger humpelt immer noch von Haus zu Haus, und der Dorfphilosoph, der Bäcker Winkler, sitzt immer noch hinter seinem Ladentisch und sucht in uralten Geographiebüchern und Atlanten nach Ländern und Städten, die es vielleicht längst nicht mehr gibt; und immer noch lacht der alte Walcher, der jetzt auch schon ein Siebziger sein muß, hinter jedem Mädel her. Alle haben sie mich gleich wiedererkannt und begrüßt, als wenn ich nie weg gewesen wäre, oder höchstens auf einen Tag nach Hallstatt oder Ischl hinüber. Mir ist es fast selber so: alles steht auf dem gleichem Flecke und alles, was man erlebt hat, wird aus dem 83 Gedächtnis gewischt von dieser unaufhaltbaren Kraft des Weiterrollens und Abspulens eines einfachen Daseins in seiner Selbstverständlichkeiten. Man wird irre an sich und fragt sich: ist nicht jenes Leben das wahre und deines ein Irrtum?«

»Florentin,« sagte Frau Blanche ernst, »versündige dich gegen dein Leben nicht! Dazu war es zu schön. Und wenn es ein Irrtum wäre, dieses Irrtums brauchst du dich nicht zu schämen. Frage dich doch erst, ob du jenes Leben leben könntest, auch wenn du es wolltest!«

Florentin sah sie dankbar an und schwieg. Denn drinnen im Eßzimmer war bereits Otto Mosers laute Stimme vernehmbar, der ihm entgegenrief: »Was, was? Da seid ihr ja schon alle und habt auf mich mit dem Frühstück gewartet. Das ist lieb von euch.« Und indem er umständlich seine breite Figur am Tische niederließ und mit einem behaglich liebevollen Blick alle und alles, Menschen und Speisen, umfing, fuhr er fort: »Das ist nämlich das einzige, Florentin, was ich nicht kann: mit dem Frühstück warten. Sobald ich es sehe, muß ich anfangen. Nach dem Schlafen muß ich essen. Ich sage euch, es geht nichts über einen gesunden Schlaf. Gottvoll habe ich geschlafen. Ich fühle mich aber auch wie neugeboren. Kräfte fühle ich in mir, ich glaube, ich könnte jetzt zu Fuß auf den Dachstein hinauf. Ich habe direkt Lust dazu.«

»So tu's doch, Papa!« rief Sibyl jauchzend. »Wenn auch nicht auf den Dachstein, so komm doch mit uns auf den Sattel! Onkel Florentin geht sicher mit und wird sich freuen.«

»Aber ich kann ja nicht«, sagte Otto und schien ernstlich betrübt. »Das ist ja das Malheur. Glaubt mir, es wäre mir gesünder, auf die Berge zu steigen, als das ewige Stillsitzen: mir fehlt die Bewegung; wenn das so weiter geht, werde ich noch so dick und fett wie dein Mr. Puyfourcat oder wie er heißt. Ich habe es Blanche angesehen, sie hat ohnehin dabei immer an mich gedacht. Leugne es nicht, Blanche, du hast dabei an mich gedacht?«

84 »Natürlich, Schatz,« erwiderte Frau Blanche und lachte, »weil ich immer an dich denke.«

»Na siehst du?« begnügte sich Otto, geschmeichelt. »Aber ich kann ja nicht. Ich habe ja immer zu tun. Leider habe ich auch heute eine geschäftliche Verabredung unten im Orte.«

»Also bei Vesco«, bemerkte Frau Blanche. »Und zur Tarockpartie. Sei ehrlich, Otto, und gestehe! Deine geschäftliche Verabredung heißt Tarockpartie.«

»Und ist das keine geschäftliche Verabredung? Ich gewinne ja doch immer. Aber ihr braucht euch dadurch nicht stören zu lassen. Ihr könnt ruhig bis zum Bade auf den Sattel steigen. Willst du mit, Blanche? Wirst du nicht zu müde sein?«

»Du hast recht. Ich fühle mich ein bißchen müde. Ich bade heute auch nicht. Und bleibe lieber ruhig am See und erwarte euch.«

»Du auch, Mutti?« Sibyl war ganz traurig. »Aber Onkel Florentin kommt doch mit mir. Nicht wahr, du verläßt mich nicht, du willst, Onkel?«

»Ob ich will! Wenn du mich nur mitnimmst!« sagte Florentin lustig, voll sachlichster Wanderbegier.

»Dann aber schnell!« drängte Sibyl. »Wir haben knapp zwei Stunden Zeit, wenn wir zum Bade zurück sein wollen. Komm, Onkel, laufen wir!«

Ein kurzer Abschied und schon eilten beide durch den Garten dem See zu.

Otto sah ihnen von der Veranda aus nach. »Schau, wie hübsch!« sagte er. »Sie sehen gut aus. Sie passen so gut zueinander, ich meine, in der Größe.«

»Meinst du?« antwortete Frau Blanche zerstreut.

»Was meinst du?«

»Ich? Nichts« lautete die lakonische Antwort.

»Blanche, Blanche!« drohte Otto mit dem Finger. »Wenn du ›nichts‹ sagst, meinst du immer am meisten.« Und zündete sich die geliebte Frühstückszigarre an. 85

 


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