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Zwanzigstes Kapitel. Sterz-Ulrich verliert seinen Spitznamen

Drei volle Tage stampfte die »Seeschwalbe« durch die erregte See; aber obwohl die Maschine mit Volldampf ging, trieb das Schiff immer weiter und weiter nach Süden, so heftig war der Orkan. Drei volle Tage verließ Schiffer Rise die Kommandobrücke nicht. Nur ganz selten einmal legte er sich auf das Sofa in der Navigationskajüte, um für ein paar Minuten die Augen zu schließen. Dann goß er eine Tasse schwarzen Kaffee hinunter und ging wieder hinaus. Ein solches Unwetter wie dieses erinnerte er sich nicht, je erlebt zu haben. Die ganze Davisstraße war ein einziger tosender Wirbel. Das schäumte, heulte und warf so hohe Wellen auf, daß es einem beinahe schwindelte, wenn das Schiff auf ihren Rücken gehoben wurde, und daß es einem schwarz vor den Augen wurde, wenn es wieder in das Wellental hinabstürzte. Nicht nur Schiffer Rise kam in diesen furchtbaren Tagen nicht aus den Kleidern. Die ganze Mannschaft war ununterbrochen tätig: denn unablässig schlugen die Sturzseen über das Verdeck und rissen alles mit, was ihnen in den Weg kam. Der Verschlag zum Beködern der Angeln, die Waschzuber und die Abschuppbänke flogen schon am ersten Sturmtag über Bord. Glücklicherweise war es den Fischern gelungen, die Netze und die Leinenbojen rechtzeitig in der Achterkajüte zu bergen. Schlimmer stand es mit den Luken. Dreimal wäre die Großluke fast von den herabstürzenden Wassermassen zerschmettert worden, und jedesmal mußte sich die ganze Mannschaft gegen die Windstöße und die hereinschlagenden Wellen durcharbeiten, um die Luke mit Draht, Planken oder was sonst gerade zur Hand war, wieder abzudichten und zu verschließen.

Bei dieser Arbeit geschah es, am dritten Sturmtag, daß Bootsmann Vik von einer Sturzsee über Bord gespült wurde.

Das Ganze war das Werk eines Augenblickes. Das Wasser wälzte sich in einem grünweißen Strom vom Steuerbord herein, und der Bootsmann war verschwunden. Sterz-Ulrich, der neben ihm gestanden hatte, konnte sich noch am Lukenrand festhalten; Simen dagegen wurde so heftig gegen die Kante geschleudert, daß er sich den Arm brach und ohnmächtig wurde. Aber er erlangte bald wieder das Bewußtsein und konnte noch in die Kombüse taumeln, wo der Koch sich mit zitternden Knien an seinen Herd festklammerte. Von der Brücke aus hatte Schiffer Rise gesehen, was vorging und augenblicklich die Maschine gestoppt. Alles übrige entwickelte sich mit rasender Geschwindigkeit. Sterz-Ulrich schoß wie ein Pfeil in die Werkzeugkammer. Im nächsten Augenblick kam er wieder heraus. Er schwang eine Taurolle über dem Kopfe und brüllte: »Zu Hilfe, zu Hilfe!« Dann lief er wieder nach hinten, mit ihm die ganze Besatzung, die entsetzt ins Meer starrte. Das Tosen des Sturms war so heftig, daß man unmöglich hören konnte, ob Vik rief; aber glücklicherweise erblickte ihn einer der Fischer bald. Etwa zwanzig, dreißig Meter weit weg lag er im Wasser und versuchte gegen die Wellen anzukommen. Sterz-Ulrich hatte unterdessen schon das eine Ende des Taus um den Leib gebunden. Nun drückte er die Taurolle seinen verwirrten Kameraden in die Hand und sprang über Bord.

Die Jungs wußten nicht, was sie glauben sollten, so verblüfft waren sie; aber jetzt war keine Zeit zum Nachdenken; Sterz-Ulrich schwamm schon in vollen Zügen auf den Bootsmann zu. Sie sahen, wie er den Wellenberg hinaufgetragen wurde, zu dem Schaumkamm dort oben und dann in einem stäubenden Wirbel von Wasserrauch verschwand. Bald darauf strammte sich die Leine, und die Burschen ließen die letzten Meter des Taus zwischen den Händen durchgleiten. Da sahen sie unten im Wellental Sterz-Ulrich; er hatte den Bootsmann erreicht. Langsam und vorsichtig zogen sie das Tau wieder an, Zoll für Zoll, damit es nicht wie ein Bindfaden entzweigerissen wurde. Das dauerte eine gute Weile. Unterdessen schlugen mehrere Sturzwellen über das Verdeck, glücklicherweise, ohne das Heck zu erreichen, wo die Leute standen. Das schwerste Stück Arbeit war, Ulrich und den Bootsmann über das Geländer hereinzuziehen; schließlich gelang es mit Hilfe von zwei Enterhaken, mit denen man nach ihren Jackenkragen angelte. Zitternd vor Kälte und halb ohnmächtig vor Ermattung, wankten der Bootsmann und Sterz-Ulrich in die Kajüte hinunter, wo Salve Karolus Berg, leichenblaß und bebend, jedem ein volles Bierglas mit Kognak und Kampfertropfen hinstreckte.

Das Ganze hatte kaum fünf, sechs Minuten gedauert. Aber fortan gab es niemanden an Bord, der noch das Wort Sterz-Ulrich aussprach. Jetzt hieß er Ulrich Ryvingen. Und wenn jemand sich unterstanden hätte, den alten Spitznamen anzuwenden, er wäre von all den anderen tüchtig verdroschen worden.

*

Am Abend desselben Tages legte sich der Sturm beinahe ebenso rasch, als er sich erhoben hatte. Am Morgen darauf war prächtiges Wetter, strahlender Sonnenschein und tiefblaues Meer. Mit voller Fahrt war die »Seeschwalbe« nun schon ein gutes Stück näher zur Cumberlandküste gekommen. Der Bootsmann hatte die Wache auf der Brücke übernommen, denn Schiffer Rise hatte alle Hände voll damit zu tun, Simen zu kurieren, der bewußtlos unten in der Ruff lag, mit einem geschienten Arm und hohem Fieber. Der Anprall gegen die eiserne Kante war wohl heftiger gewesen, als zuerst den Anschein hatte. Der Koch, der ja selbst einmal eine schwere Gehirnerschütterung gehabt hatte, meinte, daß Simen sich nie mehr davon erholen würde. Der Schiffer ersuchte ihn, den Mund zu halten und schickte ihn hinauf in die Kombüse. Aber ehe man sichs versah, war er schon wieder unten, um zu helfen und gute Ratschläge zu geben. Jedesmal wurde der Schiffer immer ärgerlicher, bis er schließlich Salve Karolus Berg beim Kragen packte und ihn hinauswarf. Es gab ja schon Unglück genug, man brauchte sich doch nicht tot reden zu lassen.

Ja, Schiffer Rise hatte an vieles zu denken, so vieles, daß er am liebsten überhaupt nichts gedacht hätte, wenn er es nur hätte lassen können. Am meisten war Knut in seinen Gedanken, und Erik, diese beiden, für die er die größte Verantwortung hatte. Wie er so vormittags dasaß, und gegen den Schlaf und die Müdigkeit ankämpfte, da jagten die unheimlichsten Bilder ihm durch den Kopf, und wieder und wieder murmelte er zu sich selbst: »Gott gebe, daß niemand an Bord war, als der Sturm losbrach!« Denn das wußte er: keine Macht auf Erden hätte bei dem schauerlichen, drei Tage währenden Orkan, den sie nun hinter sich hatten, die Verankerungen der »Celesta« retten können.

*

Gerade vor dem Einlauf zum Tinikdjuarbingsund, den die »Seeschwalbe« am nächsten Morgen erreichte, erblickte Bootsmann Vik durch das Fernrohr eine Schute, die ganz still an der Eiskante lag. Ulrich Ryvingen, der die Steuerwache hatte, meinte den »Robbenkönig« zu erkennen, und da sie über diese Sache nicht einig werden konnten, nahm Vik einfach Kurs auf das Fahrzeug, um so den Streit zu schlichten. Es war tatsächlich der »Robbenkönig«.

Sivert Hovde hatte eben einen mächtigen Furchenwal geschossen, und die Mannschaft war gerade dabei, ihn abzustreifen, als die »Seeschwalbe« neben ihnen auftauchte. Das Meer war so spiegelglatt, daß die beiden Schiffe ruhig nebeneinander liegen konnten, und Sivert Hovde benützte die Gelegenheit, an Lord der »Seeschwalbe« zu gehen, um seine alten Freunde zu begrüßen.

Schiffer Rise war eben aus den Federn gekrochen, und noch gar nicht angekleidet, als Sivert Hovde, breit, lärmend und munter in die Kajüte trat. Die zwei alten Freunde und Bootsmann Vik setzten sich an den runden Tisch, und wie man sich denken kann, schüttete Erik Rise Sivert sofort sein ängstliches Herz aus.

Sivert Hovde ließ das Kognakglas vor Schrecken sinken.

»In der Exeter Bai?« stammelte er. »Lag die »Celesta« dort?«

»Lag?«

Schiffer Riese war aufgesprungen und starrte Sivert Hovde leichenblaß an.

»Ja, lieber Erik, wir waren ja gestern dort. Und da war keine Menschenseele zu sehen. Ich wollte nämlich für eine Zeitlang dort Station machen, aber die Eisverhältnisse schienen mir nicht recht geheuer.«

»Bist du an Land gegangen?« fragte Rise und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Ja, gewiß sind wir ans Land gegangen! Da war keine Menschenseele!«

*

Eine halbe Stunde später gingen die »Seeschwalbe« und der »Robbenkönig« mit Volldampf der kanadischen Küste entlang. Der abgeschossene Wal, ein gewaltiger Kerl, blieb liegen und schwamm mit seinem weißen, geriefelten, von Gasen aufgeblasenen Bauch auf den Wellen.

Von der Antenne des »Robbenkönigs« funkte eine kurze, mahnende, beinahe befehlende Botschaft über das Meer. Wieder und wieder, den ganzen Vormittag: Sivert Hovde bat telegraphisch das dänische Wachtschiff, den »Grönländischen Adler« (Herrgott, wie hatte ihn der Aufpasser schon geärgert!) um Unterstützung.


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