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Fünfzehntes Kapitel. Das Leben in der Exeter Bai

Nun müssen wir die Zeit einige Sommerwochen hindurch ihren eigenen Gang gehen lassen. Wir sind in der Exeter Bai, die in einer geschützten Bucht in der Mitte des Tinikdjuarbingsund hoch oben in dem öden, arktischen Kanada liegt. Am 10. Juni wurde die »Celesta« hier zurückgelassen, fest verankert, und die »Seeschwalbe« dampfte wieder zu den großen Fischbänken an der Westküste Grönlands.

Die Exeter Bai war einmal vor langer Zeit eine Walfängerstation, wo Amerikaner, Schotten und ab und zu auch Norweger ihren Standplatz hatten, aber seit ein paar Jahren liegt der Ort ganz öde und verlassen da. Zuweilen kommen Eisbären in die alte Station hinuntergetrabt und wühlen neugierig in dem rostigen Eisen, das dort verstreut liegt, verwickeln sich in Drähte, die sie dann oft meilenweit über das Eis schleppen müssen, und geben ihren Jungen alte Faßreifen zum Spielen.

Dicht an einer Felswand, vor den Nordwinden geschützt, fand die »Seeschwalbe« Expedition auch Reste eines vermutlich in den achtziger Jahren gebauten Vorratsschuppens. Wetter und Wind hatten dem Holzwerk übel mitgespielt, aber Syver, der Tausendkünstler, machte sich gleich daran, diesen Schuppen instandzusetzen. Drei Tage arbeiteten alle Mann auf Tod und Leben, aber dann war auch die » Fabrik« fix und fertig. Bald stieg der Rauch blau und lustig vom Schornstein auf, und vom frühen Morgen bis zum späten Abend waren Syver, Erik und Angusuak eifrig damit beschäftigt, Dorsche und Heilbutten zu räuchern.

Hjalmar vom Fuglafjord, die Seekrätze und Knut verlegten sich auf die Lachsfischerei. Sie hätten sich nie träumen lassen, daß es soviel Lachse auf der Welt gab! In ungeheuren Zügen kamen sie die Flußmündung hinauf und preßten sich wie ein glitzerndes Silberband die Wasserfälle hinauf. Die Lachsnetze wurden quer über den Fluß gespannt, und nach einer halben Stunde brauchte man nur einzuziehen, und die Maschen waren dicht mit schweren, fetten Lachsen besetzt. Ja, das war ein herrliches Leben! Zum Frühstück, zum Mittagessen und zum Abendbrot schwelgten die Jungs in Lachssuppe, gesottenem Lachs, gebratenem Lachs und frisch geräuchertem Lachs.

Nach einer Woche machte sie der bloße Gedanke an Lachs krank.

Natürlich wechselten die Leute in der Exeter Bai ab und zu mit ihrer Arbeit ab, damit es nicht zu einförmig wurde. Nur Syver war von der Räucherei und dem Konserveneinlegen nicht wegzubringen. Er blieb auch die Nacht über am Land, zusammen mit Tungujuluk, der sein unzertrennlicher Freund geworden war, seit Syver sein krankes Bein kuriert hatte. Aber der Hund heulte doch jedesmal ganz schrecklich, wenn sein eigentlicher Herr, Angusuak, an Bord des Leichterschiffes ging. So blieb denn nichts andres übrig, als daß auch der kleine Eskimo ans Land übersiedelte.

In dieser Zeit, wo sie so viel zu tun hatten, blieb nicht viel Muße für Spiel und Scherz. Nach den Mahlzeiten übten sich die Jungen jedoch gern im Scheibenschießen, so daß die Schüsse von den Bergen widerhallten. Hjalmar war Schützenkönig. Er brachte es einfach nicht fertig, auch nur ein einziges Mal zu fehlen, denn das hatte er nie gelernt. So nach und nach fanden auch Knut und Erik die Kniffe heraus, und so gab es immer schwierigere Konkurrenzen. Einmal blieb Erik Sieger; in dieser Nacht konnte er vor lauter Stolz kein Auge schließen. Er hatte Hjalmar vom Fuglafjord besiegt! Erik lag in seiner Koje und träumte mit offenen Augen. Ja, er wollte sich an der nächsten Olympiade beteiligen, das war ausgemacht. Wenn er heimkam und seine Löhnung und das Geld für die Steinbutthäute bekam, dann würde er sich ein erstklassiges Gewehr kaufen und sich beim Schützenverein anmelden. Und wenn er dann auf der Olympiade gesiegt hatte, würde er nach Australien oder Afrika gehen und als Jäger im Dschungel leben.

So lag Erik da und schwelgte in der Zukunft, aber heute Nacht machten sich die Mücken so lästig, daß er lieber wieder aufstehen wollte. Als er eben im Begriff war, aus der Koje zu springen, entdeckte er einen Haken an der Schiffswand, den er noch nie bemerkt hatte, war das nicht ein Schrank? Erik vergaß alle Zukunftsträume und machte sich eifrig daran, den Schrank zu öffnen. Dann rieb er ein Zündholz an und guckte hinein. Der Schrank war voll von altem Plunder, entzweigebrochenen Grammophonplatten, Tabaksdosen, Zeitungen und dicken, alten Folianten. Eriks Herz begann wie besessen zu hämmern. »Du wirst sehen, du wirst sehen,« murmelte er zu sich selbst und zog einen Stoß Bücher heraus. Mit zitternden Fingern schlug er eines von ihnen auf. Das waren sie – die Schiffsjournale, nach denen er nun schon seit Wochen das ganze Schiff durchstöbert hatte.

Im nächsten Augenblick entfiel das Buch seinen Händen. Der kalte Schweiß trat ihm auf die Stirne; er strich sich verwirrt über die Augen. Da stand es, eben das, was er gefürchtet und geahnt und gehofft hatte: Ane-Marie Tatjana! Das war also doch früher einmal der Name der »Celesta« gewesen – er hatte es nie gewagt, Syver oder Rise danach zu fragen! Wie im Fieber nahm Erik alle Journale aus dem Schrank und stapelte sie in der Koje auf. Es war ein ganzer Berg, einige zwanzig Bände, vor unerklärlicher Angst zitternd überflog er rasch die Journale und sah immer nur die Jahreszahlen an. plötzlich hielt er inne. 1912, stand da mit großen Ziffern! Wenn irgendeines, mußte es dieses sein.

Vorsichtig, als wäre es Dynamit, nahm er das Journal unter den Arm und schlich sich auf das Verdeck. Und dann begann er zu blättern, während ihm das Herz gegen die Rippen hämmerte. 2. Januar, Melbourne verlassen –. Erik blätterte und blätterte und verschlang alles, was auf den Seiten stand. Und dann war es, als legte sich ein dichter Nebel über seine Augen; er fiel schluchzend über dem Schiffsjournal zusammen und weinte, als sollte ihm das Herz in Stücke zerspringen.

»Armer Vater – armer Vater,« schluchzte er, »also war es doch so – wie ich dachte – ach Herrgott!«

*

»Ja, um Gotteswillen, was hast du denn, Erik?«

Erik fuhr zusammen. Das war Knuts Stimme. Er richtete sich auf und wischte sich die Augen mit dem Jackenärmel ab.

»Ach gar nichts,« sagte er nur.

»Hast vielleicht Heimweh?« meinte Knut tröstend. Denn so hatte er Erik noch nie gesehen.

»Heimweh? Woher denn! Ich habe doch kein Heim, das weißt du ganz gut. Wie soll ich denn Heimweh haben?«

Jetzt begannen seine Augen schon wieder zu tröpfeln. Teufel auch, daß sie nicht dicht halten konnten, wenn Leute zusahen. Heimweh, er? Ach nein. Jetzt war es wohl Frühling daheim, auf dem Nordkirchhof, und die Birken schlugen aus, und der Flieder blühte. Und nun begann wohl auch schon bald das Gras aus Mutters Grab zu wachsen ... Erik sprang auf, lief in seine Kammer, schlug die Türe zu, warf sich auf die Koje und begrub den Kopf in den Kissen!

Knut blieb ganz verdonnert stehen. Dann bückte er sich und hob das Schiffsjournal auf. Das konnte doch Erik nicht so außer sich gebracht haben! Aber mit großen, entsetzten Augen las Knut in dem Journal:

»22. Januar 1912.

Alles still, so wie gestern. Rein Lüftchen. Lagen den ganzen Tag bei Windstille fest. Während des Badens wurde vom Verdeck Hai gesichtet. Küchenjunge Sivert Hovde hörte den Warnungsruf nicht, und bei tollkühnem Versuch, ihn zu retten, kam Bootsmann Thorbjörn Höienhall in schrecklicher Weise ums Leben, indem ihm beide Beine gleich oberhalb der Kniee vom Hai abgerissen wurden. Er starb kurz darauf an Verblutung. Wurde 2 Uhr 15 nach geziemendem Rituale und geltender Vorschrift ins Meer versenkt. Den Trauerakt verrichtete Ane-Marie Tatjanas Führer, Kapitän Petter Möller, Alesund. Friede sei Thorbjörn Höienhalls Andenken! Das Leben des Küchenjungen Sivert wurde durch seine Heldentat gerettet.« – –

Dies begab sich ungefähr um die Sonnwendzeit, und noch tagelang war mit Erik nichts Rechtes anzufangen. In den Freistunden saß er meistens ganz allem für sich und bastelte an irgendetwas, und es war nicht möglich, ein Wort aus ihm herauszukriegen.

Aber dann fanden die Jungs einen neuen spannenden Sport, und da legte Erik sein Schnitzelmesser hin, warf die Jacke ab und wollte auch mittun. Die Jungs hatten sich auf Ringkämpfe verlegt. Färöischen und Eskimoischen Ringkampf. Natürlich war Hjalmar der stärkste, ein richtiger Bär, mit seinem gewaltigen Rücken und den stämmigen Beinen. Dann kam Angusuak, der für einen so kleinen Kerl ganz unglaubliche Kräfte hatte. Er legte sowohl die Seekrätze, wie Knut und Erik nach ein paar Minuten Kampf hin, aber er hatte eben wie alle anderen Eskimojungen sein ganzes Leben lang trainiert und kannte die findigsten Kniffe der Welt. Dies, wie das Scheibenschießen, trieben die Jungs täglich in den Freistunden. Schließlich waren sie alle ungefähr gleichstark und geschickt, und das machte die Wettkämpfe ja nur um so spannender.

Eines Nachmittags, es war wohl der 1. Juli (so genau hatte man hier in der Exeter Bai den Kalender nicht im Kopfe), waren Erik und Angusuak eben in einem höchst langwierigen und spannenden Kampf begriffen, als Knut plötzlich rief:

»Die »Seeschwalbe« kommt, Jungs!«

Augenblicklich wurde der Ringkampf abgeblasen, und alle Jungs, mit Syver an der Spitze, liefen zum Ufer hinunter, schoben das Boot ins Wasser und ruderten, daß der Schaum sprühte, über den Fjord, wo die »Seeschwalbe« eben zwischen zwei Eisbergen auftauchte. Ja, das war ein Empfang! Es ist schwer zu sagen, wer am glücklichsten war, die Leute von der »Seeschwalbe«, oder die Jungs von der »Celesta«. Die »Seeschwalbe« legte neben »Grönlands Schrecken« an, und dann kletterten die Jungs an Bord.

Nun gab es Händeschütteln und herzliche Begrüßungen auf der ganzen Linie, von allen Seiten regnete es Fragen, man konnte unmöglich alle zugleich beantworten. Die Fischerei war prima gewesen, berichteten die von der »Seeschwalbe«. Kaum waren sie zu den Bänken gekommen, waren sie auch schon mitten in einem fabelhaften Fischzug und hatten die Schute in drei Tagen übervoll. Dann hörten sie, daß zwei große amerikanische Aufkäuferschiffe in die »Straße« gekommen waren. Tags darauf stießen sie auf das eine, das kaufte ihnen sofort den ganzen Fang ab und lud ihn auf offener See in weniger als vier Stunden ein. Noch zweimal im Laufe dieser drei Wochen hatten sie die Ladung an Aufkäuferschiffe abgegeben; dann waren die Amerikaner wieder heim nach Halifax gefahren. Und nun hatte die »Seeschwalbe« wieder den ganzen Laderaum voll Heilbutten.

Jetzt kam der Koch aus der Kajüte herauf und sagte: »Kommt jetzt nur herein, alle miteinander!« Die Jungs ließen sich das nicht zweimal sagen, sie stürzten hinunter. Als jedoch Erik eben zur Türe hineinwollte, nahm ihn der Koch beim Kragen, sah ihn mit ein paar funkelnden Augen an und sagte nur dies eine Wort: »Schurke!« Erik wußte genau, was der Koch damit meinte; er grinste und riß sich los.

Unten in der Kajüte gab es ein förmliches Fest mit Kaffee, Kuchen, Zigarren und ein Glas Kognak für jeden der Fischer. Schiffer Rise hielt sogar eine Rede und brachte ein Hoch aus die Besatzung beider Schiffe aus. Dann blieben sie sitzen und rauchten und schwatzten und hatten es sehr gemütlich. Aber schließlich sagte Rise, jetzt müßten sie mit dem Ausladen beginnen, damit sie morgen in aller Früh wieder in See stechen konnten.

Während umgeladen wurde, gingen Rise und Syver an Land, um sich die »Fabrik« anzusehen. Rise war ganz begeistert von den feinen, geräucherten Heilbutten, die schon in Kisten verpackt waren, und von den vielen Lachsen.

Als aber Rise wieder an Bord kam, forderte er Knut und Erik auf, in die Kajüte hinunterzukommen; denn er hatte von Syver etwas erfahren, worüber er gerne mit Erik ein Wörtchen sprechen wollte. Er zündete seine große Meerschaumpfeife an, und mit Knut zu seiner Rechten und Erik zu seiner Linken erzählte nun Schiffer Rise alles – und es war so viel, daß Erik beinahe der Kopf schwindelte – von dem kühnsten und mutigsten Kameraden, den er je im Leben gehabt hatte: Thorbjörn Höienhall!

Am nächsten Morgen in aller Frühe stach die »Seeschwalbe« wieder in See. wirklich ganz wie eine Schwalbe, die ins Nest geflogen ist, um ihre Jungen zu füttern, dachte Erik.


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