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Siebentes Kapitel. Ein ereignisreicher Tag

Die »Celesta« war also verschwunden! Und der Eisberg ebenfalls. Schiffer Rise erriet sofort, was vorgegangen sein mußte, obwohl das Schleppschiff ja gar nicht in der ursprünglichen Route des Eiskolosses gelegen war, sondern beinahe zwei Kabellängen weiter draußen im Meer. Die einzig denkbare Erklärung war, daß der Sonnenschein der zwei letzten Tage dem Eisberg so stark zugesetzt hatte, daß er gekentert war, neue Drift bekommen und dann Kurs auf die »Celesta« genommen hatte. Ohne sich weiter zu bedenken, nahm Erik Rise Kurs die Davisstraße hinauf, und eine halbe Stunde später konnte er durch den Nebelschleier die dunkle Silhouette des Eisberges kaum eine Viertelmeile vor sich in nördlicher Richtung unterscheiden. Die letzten zehn Minuten, bevor die »Seeschwalbe« den Eisberg einholte, waren voll Spannung und Unruhe. Freilich wußte Rise, daß Trondur ein tüchtiger Seemann war und daß ein Zusammenstoß mit dem Eisberg bei so ruhigem, schönem Wetter die Besatzung kaum in Lebensgefahr gebracht haben konnte. Aber immer wieder hatte er doch das Gefühl, als ob ihm eine eiskalte Knochenhand plötzlich ans Herz griffe, und ein schrecklicher Gedanke verfolgte ihn: wie wenn das Kentern des Eisbergs so heftig erfolgt wäre, daß die »Celesta« von der Strömung hinuntergezogen und von dem vorstürzenden Koloß zerschmettert worden wäre? Vor zehn, zwölf Jahren war es einem Walfänger drüben an der Baffinslandküste so ergangen! Damals waren zweiundvierzig Mann unter dem Eisberg verschwunden.

Glücklicherweise hielt die Unsicherheit und die Angst nicht lange an. Der Eisberg war bald eingeholt, und was Schiffer Rise nun sah, erfüllte ihn mit Stolz und Freude und Mitgefühl zugleich:

Er sah zuerst die »Celesta«, die von dem langsam, aber unerbittlich vorwärtstreibenden Eisberg vor sich hin geschoben wurde. Aber er sah noch mehr. Er sah backbord von dem Leichterschiff das Hilfsboot, mit seinen frischen Jungs bemannt, die ruderten und ruderten, um die Schute im richtigen Kurs zu erhalten, so daß sie ohne zu kentern mit dem Eiskoloß Schritt halten konnte. Die Strömung ist gerade in diesen Gewässern ungewöhnlich stark. Rise merkte sofort, daß die Leute auf der »Celesta« wohl vergeblich versucht hatten, die Schute von dem Eisberg wegzubringen, und daß Trondur aus Furcht vor einem verhängnisvollen Zusammenstoß mittschiffs sich dafür entschieden hatte, das Leichterschiff zu bugsieren, um so den Druck des Eisbergs abzuschwächen.

Ein herzliches, aber etwas atemloses Hurra grüßte die »Seeschwalbe«. Und von dem Achterdeck des Leichterschiffs schwang Tondur ganz toll vor Freude seine rote Zuckerhutmütze.

Alles übrige ging nun rasch. Man brauchte kaum eine Viertelstunde, um das Schlepptau auszuwerfen und das Hilfsboot hinaufzuhissen. In einem flotten Bogen schwenkte dann die ganze Expedition aus der kalten, gefährlichen Nachbarschaft ab und nahm Kurs zurück auf das Fangfeld. Aber die Burschen, die ohne einen Augenblick auszuruhen, das Hilfsboot gerudert hatten, wankten wie Schlafwandler in ihre Kojen. Knut mußte Erik, der ebenso wie Simen nun wieder an Bord der »Seeschwalbe« kam, die Leiter hinaufhelfen, denn eine solche Rudertour nimmt einen fünfzehnjährigen Jungen, der noch dazu fast sein ganzes Leben auf dem Festlande verbracht hat, ganz gewaltig her. Erik brachte kein Wort mehr heraus, er fiel mit den Kleidern in seine Koje und schlief sofort ein.

*

Das Fischen ging weiter, als ob überhaupt gar nichts geschehen wäre.

Die Leinen hingen voll von Heilbutten, Dorschen und Steinbutten, und der Lagerraum der »Seeschwalbe,« der ohnehin schon fast voll war, konnte nicht einmal die Hälfte vom Fang dieses Tages aufnehmen. Sterz-Ulrich hatte gerade noch Platz, sich unten im Einsalzeraum umzudrehen, und nach der ersten Partie Fische kletterte er auf Deck und meldete, jetzt sei er überkomplett. Der Rest des Fanges wurde vorläufig auf dem Verdeck gelagert. Sterz-Ulrich war übrigens nicht sehr gut gelaunt, denn vom Salz und Seewasser waren seine Hände aufgesprungen. Aber der Mann war nicht unterzukriegen. Jeden abgeschuppten Dorsch und jede Steinbutthälfte, die durch die Rinne zu ihm hinuntergerutscht kam, prüfte er sorgsam, und wenn auch nur ein Blutfleckchen darauf war, so kratzte er es schimpfend und fluchend ab, bevor er den Fisch im Salz begrub. Geizige Leute muß man an den Salzeimer stellen, dachte Rise, die passen schon auf, daß nichts zugrunde geht!

Simen und Erik durften zwei Stunden schlafen. Dann hieß es wieder aufstehen und mithelfen. Knut und Erik wurde die Aufgabe zugeteilt, einem halben Tausend Dorschköpfen die Zungen auszuschneiden, und Simen, der nach seinem Sturzbad noch etwas wirr im Kopfe war, wurde an die Leinenwinde gesetzt, was eine leichtere Verrichtung ist, als all das andere. Und als er eine Kanne dampfenden Kaffee bekommen hatte, wurde er ganz munter und fing an lustige Liedchen zu singen.

Gegen Abend wurden die Fische aus der »Seeschwalbe« in das Schleppschiff geladen. Das nahm vier, fünf Stunden in Anspruch. Sterz-Ulrich beharrte darauf, auch das Einsalzen im Lagerraum der »Celesta« zu übernehmen. Die anderen waren ja so schlampig, meinte er, er war der einzige, der die Fische in die richtige Lage ordnen konnte.

*

Erst gegen vier Uhr morgens kehrte das Motorboot mit Syver und dem Bootsmann aus Godthab zurück.

Es war eine seine Tour gewesen, berichtete Vik, aber mit Ryßt war das nun eine böse Sache. Der Doktor hatte ihn gleich untersucht, und was ihm fehlte, war nicht Gicht, sondern irgendeine gefährliche Krankheit inwendig in den Nieren. Man muhte ihn so schnell als möglich nach Hause schicken, und da es sich so glücklich fügte, daß einer der großen Kryolitdampfer Kyrolit ist ein Aluminiumerz, das in Grönland gewonnen wird. der Kompagnie gerade auf dem Wege nach Kopenhagen in die »Hauptstadt« gekommen war, hatte der Doktor es so eingerichtet, daß sie Ryßt mitnahmen. In einer Weise war das Ganze ja ein Mordspech, meinte Vik, aber andererseits auch wieder ein Mordsglück, für Ryßt nämlich. Jetzt fuhr er wohl schon der Küste entlang, und er, Vik, sollte sie alle an Bord sehr herzlich grüßen und ihnen für alles danken. Schiffer Rise sah nachdenklich aus, denn das war ja eine ärgerliche Durchkreuzung seiner Pläne. Die anderen an Bord hatten viel in dieser Nacht miteinander zu schwatzen. Doch gegen Morgen hatten sie an andere Dinge zu denken.

Im Südwesten hatten sich allmählich drohende Wolken zusammengeballt, und heftige Böen liefen in schweren Wellen über die Straße. Die Windstöße nahmen rasch an Stärke zu, und die See ging hoch.

Bevor man sich's versah, blies schon eine steife Brise, die im Laufe einer knappen halben Stunde zum Orkan anwuchs. Und das, was die Seeleute Orkan nennen, ist etwas so Ungeheuerliches und Furchtbares, daß sich eine Landkrabbe nicht einmal in ihrer kühnsten Phantasie das Schauspiel ausmalen kann, das sich dann auf dem Meere abspielt. Heulend und tosend wälzten sich die ungeheuren, zehn Meter hohen Wellen mit ihren weißen Schaumkämmen die Straße hinauf. Zugleich setzte ein heftiger Hagel ein; Körner, so groß wie Haselnüsse, veranstalteten ein furchtbares Trommelfeuer auf das Verdeck.

Als Erik ganz benommen aus der Kombüse taumelte, um den Frühstückskaffee in die Kajüte zu bringen, wurde er von einer Sturzsee zurückgeworfen und hätte sich wohl am Küchenherd das Genick gebrochen oder wäre über Bord geflogen, wenn er sich nicht noch im allerletzten Augenblick an die Schwelle festgeklammert hätte.

Glücklicherweise hatte Schiffer Rise beizeiten das Schlepptau auf die »Celesta« hinübergeworfen, aber immerhin war das Unwetter so rasch gekommen, daß das Leichterschiff seine Ankerkette zerrissen und auch sein letztes Ankertau verloren hatte. Nun schwankte es hin und her, obwohl die »Seeschwalbe« mit Volldampf die Wellen anging, die unablässig über den Bug schlugen und sich in wilden, tosenden Strömen über das Verdeck ergossen und alles, was nicht niet- und nagelfest war, mit ins Meer rissen. Zum Glück dämpfte der Regen und der Hagel die Gewalt des Orkans etwas, die Wellen legten sich allmählich, und Schiffer Rise beschloß, diese Atempause zu benützen, um in einen Hafen zu gelangen.

Es war ein kühnes Beginnen, und zehnmal kühn, weil er ja die »Celesta« im Schlepptau hatte; aber niemand konnte wissen, wann der Orkan wieder mit frischen Kräften einsetzen würde. Durch die erregte See bahnte sich die »Seeschwalbe« den Weg zu den Schären und nahm Kurs auf eine der größeren Kolonien in der Umgegend von Hamborgland. Die ganze Zeit schlugen die Wellen über das Achterdeck, und der Sturm heulte im Takelwerk. Mit großen, verwunderten Augen betrachtete Erik dieses gewaltige Schauspiel, das trotz allem so schön und großartig war.

Als die Wellen sich endlich zu glätten begannen und das Meer wieder still wurde, tat es Erik beinahe leid. Wie er vorsichtig hinausguckte, sah er, daß die Expedition nun in die Schären eingelaufen war und eben in einen engen Fjord einbog, der von hohen, schneebedeckten Bergen umkränzt war. Dort draußen jedoch, hinter den Schären, hörte er noch das Tosen des Unwetters, und als er sich umdrehte, um zurückzublicken, sah er, wie die Wogen an den Klippen zerschellten, und wie sich ungeheure, rauchende Schaumsäulen hoch in die Lüfte erhoben.

*

Hier drinnen in der Bucht veränderte sich gleichsam mit einem Schlage die ganze Welt.

Die Nebel zerstreuten sich, die Sonne brach durch zerrissene, rasch dahintreibende Gewitterwolken. Es war ein mächtiges, unvergeßliches Bild, das sich Erik darbot, als er wieder auf das Verdeck eilte. Waren das Berge! Fast lotrecht ragten sie aus dem Meere zu schwindelnden Höhen auf. Alle waren von schimmernden Schneefeldern bedeckt, und dazwischen dehnten sich ungeheure, grünweiße Gletscher, hunderttausende, ja vielleicht Millionen von Möven und Alken umkreisten die Bergflanken und erfüllten die Luft mit ihren messerscharfen, durchdringenden Schreien.

Unten dicht neben dem Schiff paddelten einige wunderliche Wesen, jedes in einem langen Sweater aus Fell. Auf den ersten Blick sahen sie gräßlich und gefährlich aus. Aber als sie Erik entdeckten, strahlten ihre Gesichter, und sie lächelten so herzlich von einem Ohr zum andern, daß es wirklich ganz anheimelnd wirkte. Alle Leute an Bord scharten sich natürlich gleich an der Reling zusammen und unterhielten sich mit den Besuchern.

Knut und Erik hatten noch nie in ihrem Leben solchen Spaß gehabt. Sie standen über das Geländer gebeugt und unterhielten sich mit einem Jungen, der in seinem Kajak mit der »Seeschwalbe« um die Wette ruderte, und sie verstanden kein Sterbenswörtchen von dem, was er sagte. Aber er lachte die ganze Zeit, schnitt Gesichter, fuchtelte mit den Armen, klopfte sich auf sein Bäuchlein, und plötzlich drehte er sich mit dem Kajak ganz herum und kam in der nächsten Sekunde triefend naß wieder zum Vorschein!

»Wie heißt du denn?« fragte Erik.

»Christian Frederik Angusuak,« antwortete der Junge.

»Glaubst du, es sind Menschenfresser?« wandte sich Erik an Knut.

»Du bist wohl verrückt! Die essen nur Seehundsfleisch, aber auf Zucker gehen sie auch. Lauf mal hinein und hol eine Handvoll!«

Das ließ sich Erik nicht zweimal sagen. Er huschte in die Kombüse und holte eine mächtige Tüte mit Würfelzucker, die er dem glücklichen Kajakruderer hinunterwarf.

»Du Kleiner, ist das nicht furchtbar lustig, ein Eskimo zu sein?«

Der schwarzhaarige junge Wilde schnitt eine häßliche Grimasse und antwortete in einem wunderlichen, singenden Tonfall:

»Aaat? Uwanga? Mai? Ich nicht Eskimo! Nein, nein. Menschen drüben in Kanada, sie Eskimo, ja, ja. Ich Grönländer! Ja, ja.«

Aus allen Ecken und Enden strömten immer neue Kajaks herbei, so daß schließlich rings um die Schiffe ein ohrenbetäubender Lärm herrschte. Ein paar »Frauenboote« kamen auch zu ihnen hinaus, voll von buntgekleideten alten Weibern und struppigen Kindern. In einem saßen auch ein paar junge Mädchen mit kohlrabenschwarzem Haar und sehr niedlichen Kleidern. Sie trugen Hosen, ganz wie die norwegischen Mädchen auf Skitouren, und waren wunderschön. So fanden wenigstens die Jungen. Knut wagte sogar, ihnen eine Kußhand zuzuwerfen, und da kicherten sie so, daß sie ganz zu rudern vergaßen.

Mit dieser strahlenden Eskorte von Grönlands rechtmäßigen Ureinwohnern lief die »Seeschwalbe«-Expedition in den Hafen der Kolonie Almalienborg ein. Und kaum waren die Anker ausgeworfen – die »Celeste« hatte glücklicherweise einen schadhaften Reserveanker, der hier drinnen im Fjord noch zur Not zu brauchen war – schoß auch schon ein großes Motorboot vom Lande auf sie zu. vom Achtersteven flatterte die dänische Flagge. Im selben Augenblick verschwanden alle Kajaks und Frauenboote so rasch wie die Mäuseschar, wenn die Katze auf dem Schauplatz erscheint.


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