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Neunzehntes Kapitel. Mit dem treibenden Eisberg

Als der erste Hunger gestillt war, und die Gedanken an andere weltliche Dinge zurückzukehren begannen, wurde Angusuak der Mittelpunkt eines Kreuzfeuers von Fragen. Der Eskimojunge beantwortete sie alle besonnen und ruhig. Ab und zu mußte er ja nach den Worten suchen, aber er gab doch immer klaren Bescheid auf alles, was die Kameraden wissen wollten. Ja, ja, die Geister aus dem Haus der Toten hatten ihnen den Sturm und all das Unglück auf den Hals geschickt. Einer von ihnen hatte mit seinen schauerlichen Knochenfingern Angusuaks Arnuaq an sich gerissen, der in seiner Lederhülse einen »Teriak« barg, einen toten Lemming.

»Einen toten Lemming!« lachte Erik, und da fielen ihm gewisse andere Geister ein und all der Aufruhr, den drei Lemminge unter ihnen verursacht hatten. Aber das war jetzt schon lange, lange her.

»Ja, ja,« sagte Angusuak mit Grabesernst, als wenn nichts auf der Welt natürlicher wäre, als tote Lemminge in einem Ledersäckchen um den Hals zu tragen.

Der Sturm war also für Angusuak nicht überraschend gekommen; aber als er merkte, daß die »Celesta« sich von ihren Verankerungen losgerissen hatte, war er sehr traurig. Denn nun wußte er ja, daß sein »Inua«, sein Schutzgeist, ihn zugleich mit dem Amulett verlassen hatte und nun in den Dienst der Geister im Hause der Toten getreten war.

Die erste Nacht war furchtbar gewesen, iikee! Die »Celesta« war im Nebel ganz ins Eis hineingetrieben, das sich auch bald von allen Seiten um die Schute schloß. Die ganze Nacht hatte es geknackt und gekracht, als ob ein Gewitter tobte; und hätte Angusuak nicht Tungujuluk bei sich gehabt, er wäre über Bord gesprungen. Aber Tungujuluk hatte gebellt und war »kisartoq« gewesen und hatte die Zähne gezeigt, und so war es ihm gelungen, die »Tornaqs« die ganze Nacht fernzuhalten. Am nächsten Morgen wurde es etwas besser, weil es hell war und weil es an Bord soviel zu essen gab. Angusuak klopfte sich das Bäuchlein und schmunzelte. Oh, mamarara! Aber gegen Nachmittag war die »Celesta« wieder aus dem Eis getrieben, und nun wußte Angusuak, daß sein letztes Stündlein gekommen war, denn so lange Eis ist, ist Hoffnung. Der Sturm legte sich etwas, aber Angusuak hatte keine Freude daran, denn er merkte, daß das Schiff sich langsam mit Wasser zu füllen begann. Die ganze Nacht hindurch waren er und Tungujuluk auf dem Deck auf- und abgegangen, und die ganze Zeit hatte er Beschwörungen gesprochen, bis ihm die Zunge am Gaumen festklebte. Ja, ja. Aber ganz furchtbar war er erschrocken, als er am Morgen einige Wesen erblickte, die auf der Spitze des Eisberges standen und mit gewaltigen schwarzen Flügeln schlugen. Hu! Tupana tingmiaq! Da hatten ihm die Zähne im Munde aufeinander geschlagen. Uitdlua! Jetzt wußte er, daß die Geister vom Haus der Toten den Umweg über das Eis gemacht hatten, um sich hier unten auf ihn zu stürzen. Aber gerade als er sich darauf gefaßt machte, daß die Geister, die Jsaruktursoak, sich auf ihren schrecklichen Flügeln aufschwingen und auf die Schute zufliegen würden, begann Tungujuluk, der, die Vorderpfoten auf dem Geländer, an seiner Seite stand, sich ganz wunderlich zu gebärden.

»Aber du hast dir doch denken können, daß das wir sind,« sagte Erik mit vollem Munde.

»Nai, nai, Angusuak glauben, ihr sein in Iksitter Pai.«

»Na, aber dann?«

Ja. Tungujuluk hatte sich also so sonderbar aufgeführt, daß Angusuak merkte, drüben auf dem Eisberg müßten Junks Freunde sein, denn wären es Tornaqs gewesen, dann hätte er geknurrt und die Zähne gefletscht.

Und das übrige wußten sie ja alle. Wieder lächelte Angusuak und streichelte Syver die Schultern, wie um sich noch einmal zu vergewissern, daß er seinen eigenen Augen glauben durfte.

»Alter, aller-allerältester Inuk. Ich dich nennen Tupangersoq-Inuk, verliebt in Kautabak!« murmelte er und lächelte mit seinen kreideweißen Raubtierzähnen.

*

Jetzt hatte Angusuak alle Hände voll zu tun. Es war klar, daß das Schicksal der »Celesta« besiegelt war. Nun galt es, was von dem Proviant zu retten war, auf den Eisberg hinüberzuschaffen. Sieben, achtmal paddelte Angusuak von und zu dem sinkenden Leichterschiff, und jedesmal brachte er soviel mit, als der Kajak fassen konnte. Das letzte Mal hatte er einige Planken zu einer Art Floß zusammengebunden, das er ins Schlepptau nahm, beladen mit Wolldecken, Kochgeschirr, einem Gewehr, einem Sack Holzkohle – und Tungujuluk! Mit einem gewaltigen Satz sprang der Hund ans Land und riß vor ungebärdiger Wiedersehensfreude die Freunde fast um. Ja, das Leben sah unleugbar jetzt wieder etwas heller aus! Man konnte die Sorgen für ein paar Tage beiseite schieben, denn mit sattem Magen an einem flammenden Feuer hofft es sich leichter als mit nüchternem Magen und eiskalten Füßen. Von der Hochfläche aus verfolgten sie dann Nachmittags die letzten Stunden der »Celesta«, ihren langsamen, aber sicheren Untergang. Das Letzte, was sie von ihr sahen, waren die Maststümpfe; sie ragten aus dem Meer wie drei Seezeichen auf, die man ganz sinnlos dicht nebeneinander ausgesteckt hat. Dann begann sich der Abendnebel auf das Wasser zu senken, die Maststümpfe wurden immer undeutlicher und verschwanden schließlich ganz in den Nebelschwaden. Das Ganze war eigentlich sehr traurig, und Syver murmelte dem verschwindenden Schiff ein »Lebewohl, lebewohl, du alter Kasten!« zu.

Erik stand etwas abseits, und als er schließlich vergebens versuchte, den Nebelvorhang zu durchdringen, um noch einen allerletzten Blick auf »Grönlands Schrecken« zu erhaschen, wurde ihm ganz sonderbar schwer ums Herz.

»Gute Reise, Ane-Marie Tatjana,« flüsterte er leise für sich selbst.

*

Was in den Tagen, die folgten, geschah, ist eine lange Geschichte, denn die Tage waren endlos lang und die Nächte noch endloser. Unerbittlich, von einer Meeresströmung getrieben, die nie ihren Kurs ändert, glitt der Eisberg stetig weiter nach Süden, der Hudson Bai und Labrador zu. Mit jedem Tage wurde die Eisbarriere gegen Westen niedriger und dünner, die Nächte wurden länger und dunkler, die Sonne begann zu wärmen. Und je heller die Sonne strahlte, desto beklommener wurde Syver. Während die Jungen im Sonnenschein herumtollten – denn irgendwie mußten sie sich doch die Zeit vertreiben – ging Syver oft allein auf Kundschaft aus, und stets suchte er den Horizont ab, nicht nur nach Schiffen, sondern noch nach etwas anderem, das vielleicht ebenso wichtig war: nach Wolken! Den Jungen erzählte er nichts davon. Er brachte es nicht übers Herz, ihnen zu sagen, wenn sie so in der Sonne saßen und vor Wohlbehagen schnurrten und das schöne Sommerwetter priesen, daß sie ihren ärgsten Todfeind priesen – die Sonne!

Eines Morgens, er war gerade oben auf dem Plateau gewesen, sagte Syver:

»Wir müssen uns ein neues Lager suchen, Jungs!«

Die Jungs starrten Syver verständnislos an.

»Ja,« fuhr Syver fort, und seine Stimme zitterte, »denn in höchstens einer Stunde wird ein gewaltiger Sturzbach kommen und unser Lager überschwemmen! Der Gletschersee dort oben –«

Syver brauchte nicht mehr zu sagen. Im Nu hatten die Jungs die Lage erfaßt, und sie erbleichten. Aber jetzt war keine Zeit für überflüssige Reden. Es galt, sofort zu handeln, und ohne viel zu fackeln, nahmen alle soviel, als sie nur tragen konnten, Bettzeug, Planken, Kochgefäße, das Gewehr und das bischen Proviant, das noch übrig war. Es war ein trauriger Zug, der sich einige Minuten später die Spalte zum Plateau hinaufschlängelte, voran Syver mit zwei Planken und einer Matratze auf dem Rücken, dann Per Hovde, Hjalmar vom Fuglafjord und Knut mit Brettern, Treibholz und Wolldecken unter den Armen, und zum Schluß Erik und Angusuak, die den Kajak trugen. Zu allerletzt aber kam Tungujuluk. Er sah am kläglichsten von ihnen allen aus, ganz abgemagert, mit hängendem Kopf, den Schwanz zwischen die Beine geklemmt. Denn niemand hatte die Rationierung so hart und grausam zu spüren bekommen wie er. Er hatte buchstäblich von den Brosamen gelebt, die aus seines Herren Hand für ihn abfielen.

Es wurde ein mühsamer Aufstieg, das Eis war aufgequollen und glatt, denn die ganze Schneeschicht war allmählich weggeschmolzen. Schließlich waren sie am Ziel. Syver hatte schon am Morgen den neuen Lagerplatz ausgesucht, eine kleine Seitenfläche, die etliche Meter höher lag als der Gletscherteich, hier begannen sie sofort unter Angusuaks Leitung, der ein Meister im Errichten von »Jgduvigaq« war, eine neue Hütte zu erbauen; denn glücklicherweise lag ganz in der Nähe ein großer Schneehaufen, den die Sonne noch verschont hatte.

Als sie eine halbe Stunde gearbeitet hatten, setzte sich Knut aus eine der Planken und sagte, jetzt könne er nicht mehr weiter, er sei so müde, so müde.

Syver sah ihn mit forschendem Blick an.

»Jetzt schon müde? Du bist doch gerade erst aufgestanden!«

»Ich kann nicht mehr,« sagte Knut matt.

Den ganzen Tag arbeiteten sie daran, die neue Schneehütte einzurichten. Ab und zu versuchte auch Knut einen kleinen Handgriff, hob ein Brett auf, oder klatschte hier und dort den Schnee zurecht, aber bald setzte er sich wieder nieder und starrte vor sich hin. Erik warf ihm von Zeit zu Zeit einen zornigen Seitenblick zu. Das war keine ordentliche Kameradschaft! Aber er würde es schon früher oder später zu hören Kriegen, der verdrießliche Faulpelz.

Schließlich war die Hütte glücklich fertig. Knut kroch hinein und legte sich schlafen. Nein, danke, er wolle nichts zu essen haben, man solle ihn nur in Frieden lassen.

Als die Burschen etwas später rings um das Feuer vor der Hütte saßen und aßen, ertönte plötzlich ein heftiger Krach, ein Donnern wie von einer ganzen Batterie Kanonen, gefolgt von einem langen, dröhnenden Grollen.

»Jetzt ist der Teich losgegangen,« sagte Syver.

Die Jungs sprangen erschrocken auf und starrten hinunter. Der eisgrüne Gletschersee hatte sich mit einem Mal in einen kochenden, quirlenden, weißschäumenden Hexenkessel verwandelt. Sie konnten deutlich verfolgen, wie er mit jeder Sekunde immer kleiner und kleiner wurde.

»Knut,« brüllte Erik zur Hüttentür hinein, »komm heraus, schau dir das Merkwürdigste an, was du je gesehen hast!«

»Laß mich schlafen,« gab Knut mürrisch zurück.

Als Erik sich umdrehte, war der See verschwunden.

Da, wo er gelegen hatte, war jetzt nur eine Vertiefung, wie eine Riesenschale aus glasgrünem Kristall, mit einer Ausbuchtung am Rande, gerade über ihrem alten Lager.

»Gut, daß wir umgezogen sind,« sagte Hjalmar und starrte mit offenem Mund diese Ausbuchtung an.

»Das kann man wohl sagen,« meinte Syver trocken.

*

Am nächsten Morgen weigerte Knut sich, aufzustehen. Auch Per Hovde sah blaß und elend aus. Er rührte das Frühstück kaum an, und als ihm Syver, um ihn aufzupulvern, eine doppelte Ration Kautabak reichte, wurde er ganz grün im Gesicht, und sagte »Danke nein!«, als ob man ihm Rizinusöl angeboten hätte. Bald darauf kroch er in die Hütte und legte sich auch schlafen.

Syver blieb lange Zeit sitzen und grübelte nach, während er so heftig Tabak kaute, daß seine Kinnbacken wie bei einem Kaninchen auf- und niedergingen, plötzlich sprang er mit einem Ruck auf, ging zur Hüttentür hinein und rief mit Donnerstimme:

»Raus mit euch, alle zwei!«

Die Seekrätze kam sofort herausgekrochen. Etwas später kam auch Knut nach. Er sah wirklich hundeelend aus, mit gelben Wangen und blauschwarzen Ringen um die Augen.

»Laßt euch anschauen, kommt her!« kommandierte Syver.

Knut kam mürrisch und verdrossen heran und stellte sich vor Syver hin.

»Zeig mir deine Zähne!« sagte Syver barsch.

Als Knut seine Zähne entblößte, zuckte Syver zusammen. Das Zahnfleisch des Zungen war blauviolett und mit großen Pusteln bedeckt. Es sah scheußlich aus. Syver untersuchte auch die Zähne. Ein paar hatten sich zu lockern begonnen und wackelten. Ganz so schlimm stand es mit Per Hovde nicht; aber auch sein Gaumen zeigte eine bläuliche Färbung.

Syver sah düster aus. Er ging auf den Kajak zu, nahm die Fangleine heraus und zerschnitt sie in drei Teile. Einen behielt er selbst, die beiden anderen gab er Hjalmar und Erik, die ihn verblüfft und verständnislos anstarrten.

»Seht her, Jungs,« sagte Syver mit zitternder Stimme, »und hört gut, was ich euch sage, denn es ist mir heiliger Ernst, wenn Per oder Knut den leisesten Versuch machen sollten, wieder in die Hütte hineinzugehen, dann schmiert ihnen eins mit dem Tau. Tut ihr das nicht, dann prügle ich euch durch, so wahr ich Syver heiße.«

»Mein Gott!« murmelte Erik. »Jetzt ist er aber lichterloh verrückt geworden!«

Syver wandte sich wieder Knut und der Seekrätze zu. Er schwang das Tau gerade über ihren Köpfen in der Lust und rief:

»Lauft!«

»Ich bin so schwach,« stammelte Knut, »ich kann mich nicht rühren.«

»Lauft! Sonst klatscht es!«

Knut und Per setzten sich langsam in Bewegung.

»Schneller!« rief Syver und schwang drohend das Tauende.

Die beiden beschleunigten den Schritt. Und Syver lief ihnen dicht auf den Fersen hinterdrein.


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