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Vierzehntes Kapitel. In Tinikdjuarbing

Das Kriegsgericht trat eine Stunde später in der Kajüte zusammen, mit Syver als Richter. Die Verteidiger des Angeklagten waren Knut, Erik und die Seekrätze. Die Rolle des Staatsanwalts hatte jeder entrüstet abgelehnt.

Der Angeklagte selbst, Angusuak, stand wie in einem Schraubstock zwischen den Knien Syvers, der sein ernstestes Gesicht machte – was ihn allerhand Anstrengung kostete. Nachdem Knut in einer längeren Verteidigungsrede die kühne, aufopfernde Leistung des Eskimojungen für Eriks Befreiung geschildert hatte, gab der Angeklagte selbst folgende Erklärung ab:

Er hieß Christian Frederik, wurde aber nur Angusuak genannt, was »kühner kleiner Kerl« bedeutet. Ja, ja. Er war fünfzehn Sommer alt und hatte keine Eltern, naj, naj. (Also auch du! dachte Erik und schwor dem Jungen im Stillen ewige Freundschaft zu.) Aber er hatte einen großen Bruder, der Kamitdlanguaq hieß, das bedeutet kleiner Barfüßler, ja, ja, und der war stärker als alle anderen und geschickter als alle anderen; niemand konnte so wie er den »Unaq«, den Speer, werfen, Hundeschlitten fahren, den Nanok jagen, ja, ja, Eisbären, und Tuglukkarpoq, ja, ja, Renntiere schießen. Er war Pingartotaq, das bedeutet Häuptling, ja, ja. Aber, es war nun mehrere Mondwechsel her, da wurden Kamitdlanguaq und zwei seiner Freunde, die Aqigssiak und Ijimarasugsugssuak hießen (Erik brach sich schon beim Zuhören fast die Zunge) aus der Kolonie weggejagt, weil sie sich bei Robbenfängern aus Amerika Patronemik eingetauscht hatten, da hatten sie alle ihre sieben Sachen zusammengepackt und waren in einem großen Weiberboot nach Agiatsiat gerudert, einem verlassenen, öden Ort im Tassinssarssuak-Fjord, so viel Tagesreisen wie die Finger einer Hand von der Amalienborgkolonie entfernt. Angusuak, der in den Diensten des Kolonievorstehers stand, hatten sie eingesperrt, als er mit Kamitdlanguaq durchbrennen wollte. In denselben Verschlag wie norwegischen Nakagpiaraq, ja, ja. (Erik schüttelte sich.)

»Na, das ist ja alles ganz schön,« unterbrach Syver und versuchte eine sehr ernste Miene zu machen, aber das war nicht so leicht. Syver hatte in seinem Leben viele sonderbare Menschen gesehen, kanadische Indianer, Neger, Inder, Australier und Polynesier aber Angusuak, das war eine Nummer für sich. Er hatte die »Nasaq«, die Mückenkapuze, in den Nacken geschoben, und mit seinem reichen, blauschwarzen Haar glich er einem Göttersohn aus einer Felsenhöhle im Gebirge. Das Gesicht war schön und wild, und dann wechselte es so blitzschnell den Ausdruck, je nachdem was er gerade erzählte, ging es von Schmerz und Haß zu Schelmerei und ausgelassener Freude über, so daß es Syver wirklich schwer fiel, seine Heiterkeit zu unterdrücken.

»Na ja,« sagte also Syver, »das ist ja ganz gut und schön, aber wie bist du eigentlich hieher gekommen, du kleiner Wilder?«

Angusuak fuhr ganz unbeirrt in seiner Erzählung fort:

Ja, nachdem also der kleine Barfüßler Kamitdlanguaq fort war, war er, Angusuak, in die Küche der Dänen gekommen, als Kiofaq, Küchenjunge, ja, ja,. (Erik nickte.) Aber, die Masaunaq, die Köchin, war eine Itakasalat, eine Hexe. (Natürlich! murmelte Erik.) Sie schlug ihn und biß ihn und riß ihm ganze Büschel Haare aus. (Stimmt aufs Tüpfelchen, stellte Erik fest.) Weil er arm war und ein Angujsak, keinen Vater und keine Mutter hatte, ja, ja. (Der ist mein Freund fürs Leben, schwor Erik sich noch einmal zu.) Außerdem konnte Masaunaq zaubern –.

»Hatte sie auch eine magische Zauberdose?« fragte Erik eifrig, denn er erkannte in dieser Masaunaq Punkt für Punkt eine grönländische weibliche Ausgabe seines eigenen Plagegeistes, des Kochs.

»Sumik? Ich nicht verstehen, naj, naj. Sie kennen Berggeister, Flußgeister, Weiber ohne Rücken und Männer mit Messerschwänzen. Und Igimarasugssugssuak, mein Kamerad, er wissen, daß Masaunaq sein verheiratet mit ein Tingmiadlurksoak, ein Fischgeist

Syver mußte sich in die Unterlippe beißen, um seine richterliche Würde zu bewahren.

Und dann erzählte Angusuak endlich, warum er durchgebrannt war. Masaunaq, die Köchin, hatte entweder mit Hilfe des Mannes mit dem Messerschwanz, der oben auf der Halde, wo die Jungen sich versteckt hatten, unter einem Steinblock hauste, oder durch den Fischgeist, mit dem sie heimlich verheiratet war, erfahren, welche Bewandtnis es mit der ganzen Fluchtgeschichte hatte. Zuerst hatte sie ihn mit einem Schürhaken geprügelt, und dann hatte sie Angusuaks Hund getreten, und dann war sie geradewegs zum Kolonievorsteher gerannt, um ihn dort zu verklatschen. Da hatte Angusuak sich entschlossen durchzubrennen. Er hatte einen morschen Kajak genommen, der früher einmal Kamitdlanguaq gehört hatte, und war an Bord des großen Umiaetiq gerudert, wo alle noch schliefen (das muß gerade während der Exekution gewesen sein, dachten Knut und Erik gleichzeitig und warfen einander einen raschen, verständnisvollen Blick zu). Er hatte ein Tau mit, und mit diesem zwischen den Zähnen war er die Ankerkette hinaufgeklettert. – –

»Ja, sag mir nur, wozu hast du denn ein Tau gebraucht?« fragte Syver erstaunt, »Hast du dich am Ende aufhängen wollen?«

»Naj, naj. Mit Tau Tungujuluk in Schiff hinaufziehen!«

»Tungujuluk?« Syver ließ Angusuaks Schulter los und sprang entsetzt auf. »Zum Kuckuck, du willst doch nicht sagen, daß du auch noch das Hundevieh mitgebracht hast?«

»Ja, ja! Mitgenommen! Er sehr krank.«

Syver trocknete sich den Schweiß von der Stirn. Die Lage war ja noch verzwickter, als er geahnt hatte. Das ging doch wirklich über die Hutschnur, und er war doch zum Teufel Schiffer hier an Bord. Jetzt galt es, den Herrn herauszukehren.

»Wo hast du diesen Tungujuluk? Her mit ihm, und zwar auf der Stelle!«

Augusuaks Ausdruck wechselte blitzschnell, und er starrte erschrocken den zornigen Mann mit dem Walroßbart an. Dann schlich er fort und verschwand hinter einer Reihe leerer Trantonnen. Eine Minute später kam er wieder zum Vorschein. Syver und die Jungen, die seine Bewegungen durch die offene Kajütentüre gespannt verfolgt hatten, machten zuerst vor Verblüffung große Augen; dann aber brachen sie in ein schallendes Gelächter aus. Wie sah der Hund aus: er ging nur auf drei Beinen, die eine Vorderpfote war mit einem feuerroten Lappen verbunden. Und dann ließ er so traurig den Kopf hängen und sah so jämmerlich und unglücklich drein, daß Syver das Herz wie Wachs in der Brust schmolz, hier mußte das Kriegsgericht Erbarmen zeigen! Vor dieser rührend treuen Freundschaft zwischen dem Eskimojungen und seinem Hund blieb nichts anderes übrig als die Hände in den Schoß zu legen und einen Freispruch zu verkünden.

Und von diesem Augenblick an waren Angusuak und Tungujuluk, was der »Bläuliche« bedeutet, unter die Mannschaft von »Grönlands Schrecken« aufgenommen, bis dem Obersten Gerichtshof, Schiffer Rise, der Fall noch einmal zur Prüfung vorgelegt wurde.

*

Obwohl der schönste Sonnenschein war, und das Meer so blau, so blau wie in den Tropen, wurde die Luft doch im Laufe des Vormittags immer kälter und kälter, so daß die Jungen zweimal hineinlaufen mußten, um sich noch etwas Warmes zu holen. Aber auf der großen Luke saß Angusuak mit Tungujuluks Kopf im Schoß und sonnte sich und schnurrte vor Wohlbehagen wie ein Kätzchen. Man hatte ihm bestimmte Plätze auf dem Verdeck angewiesen; an anderen Stellen durften weder er noch sein Hund sich zeigen. Es hatte ja keine Eile, daß Schiffer Rise die blinden Passagiere entdeckte. Das würde nur unnötige Scherereien machen, meinte Syver.

Erik, der ja streng genommen jetzt Unterräuchereimeister und also ganz bedeutend aufgerückt war, hatte trotzdem, bis man mit dem Räuchern beginnen konnte, die Kombüsenarbeit übernehmen müssen; Knut tat weiter als Deckjunge Dienst. Soeben hatte er Hjalmar am Steuer abgelöst. Die anderen lagen in ihren Kojen und schnarchten. Erik war allein in der Kombüse und konnte seinen Gedanken nachhängen; das muß man ja ab und zu, wenn die Zeit einem lang wird.

Da war also zuerst die Sache mit diesem Angusuak! Der konnte wirklich das Aufwaschen, das Kartoffelschälen und das Reinemachen übernehmen. Auf diese Weise wurde dann Erik gewissermaßen Koch an Bord, und das war fein. Und da Erik nicht zu jenen gehörte, die ihre Pläne erst lange aufschieben, steckte er gleich den Kopf zur Kombüsentür hinaus und pfiff Angusuak, der sofort gelaufen kam.

»Hör mal – du Kleiner!« sagte Erik schmunzelnd und versuchte recht tief zu sprechen, »du weißt doch, daß ich Steward hier an Bord bin?«

»Ja, ja!«

»Well! Jetzt schäl mal Kartoffeln, mach im Herd Feuer und stelle Wasser auf. hast du verstanden?«

»Ja, ja!«

Angusuak stürzte sich eifrig auf die neue Arbeit, und Erik konstatierte mit Befriedigung, daß der Junge eine gute Hand hatte.

Dann zündete er sich einen Zigarettenstummel an und ging nach achtern, um einen alten Plan auszuführen. Er hatte beschlossen, das Leichterschiff einer genauen Musterung zu unterziehen, um wenn irgend möglich, über gewisse Dinge, die ihm schon lange im Kopf herumgingen, Klarheit zu erlangen.

*

Plötzlich stieß man drüben auf der Seeschwalbe in die Sirene, lang und heiser. Erik, der gerade in einem der kleinen Räume im Vorderschiff unter irgend welchem alten Plunder auf dem Bauch lag und in einem Haufen alter Bücher wühlte, lief sofort aus das Verdeck. Er war kaum eine Stunde weg gewesen, aber welche Veränderung war inzwischen vorgegangen! Ein dicker, schwerer Nebel hüllte die ganze Welt ein, und auf allen Seiten tauchten die schattenhaften Konturen großer Eisberge aus. Als er sich über das Geländer beugte, sah er, daß das kohlschwarze Wasser von kleinen Eisschollen bedeckt war. Syver stand schon beim Nebelhorn und rief hinüber, daß sie das Signal verstanden hatten. Nun kam Bescheid von Rise: Gefährliches Eisfahrwasser! Alle Mann auf Ausguck!

Kurze Zeit darauf merkten die Leute auf der »Celesta«, daß vier, fünf Knoten des Schlepptaus angezogen wurden. Sie kamen allmählich der »Seeschwalbe« so nahe, daß sie von der Back aus den Leuten drüben am Heck etwas zurufen konnten. Auf diese Weise erfuhr Syver, daß sie jetzt in den Tinikdjuarbingsund in Baffinsland eingelaufen waren und nun Kurs auf die Exeterbay nahmen. Es war kalt und unwirtlich hier, so mitten im Eise, aber die Erwartung half ihnen sich warm zu halten. Wollte der Schiffer »Grönlands Schrecken« am Ende hier in den kanadischen Gewässern liegen lassen?

Ein paar Stunden später hatte die Expedition offenbar den Eisgürtel hinter sich, denn die Fahrt wurde wieder hinaufgesetzt. Bald darauf begann der Nebel sich zu lichten, und die Jungen konnten jetzt auf der Steuerbordseite einen Küstenstreifen entdecken. Gegen zwei Uhr nachmittags stoppte die »Seeschwalbe« und glitt neben die »Celesta«. Die Anker gingen auf Grund, und die zwei Schiffe vertauten sich fest aneinander; dann ging Syver augenblicklich an Bord der »Seeschwalbe«. Dicht hinter ihm hielt sich Angusuak, dem das Herz bis in den Hals hinauf schlug und der unverständliche Beschwörungsformeln in seiner Eskimosprache murmelte. Alle beide verschwanden sofort in die Achterkajüte, in die der Schiffer und der Bootsmann sich gerade begeben hatten. Knut und Erik paßte es jedoch nicht, hier still an Bord sitzen zu bleiben. Erik hatte einige Andeutungen fallen lassen von merkwürdigen Geschichten mit der Geisterdose. So brannten sie alle beide vor Ungeduld, Neues zu erfahren. Sie sprangen also über das Geländer und kletterten in die Kombüse der »Seeschwalbe«. Dort drinnen stand Sterz-Ulrich und hatte eine weiße Schürze vorgebunden und kochte und briet.

»Herrgott! Bist du jetzt in der Küche?«

Erik starrte Ulrich ganz erstaunt an.

»Wie du siehst! Ich bin ja hier an Bord sozusagen Mädchen für alles!«

»Aber wo zum Teufel ist denn der Koch?«

»Der Koch? Der rappelt! Der ist einfach übergeschnappt. Ja, hier hat es was gegeben, du liebe Zeit! Gestern Abend, Simen hatte gerade die Wache, kommt Salve Karolus Berg im Nachthemd auf das Verdeck gestürzt und fuchtelt herum und schreit, jetzt sei der Teufel los! Es ist das reine Wunder, daß er sich nicht dabei den Tod geholt hat, denn es war eine Hundekälte! Dann rennt er wieder hinunter in die Kajüte und macht mit der Medizinküste einen solchen Radau, daß der Schiffer aufwacht, was ist denn da los? sagt der Schiffer. – Naphta, Naphta! stöhnt der Koch. Und dann nimmt er, ob ihrs nun glaubt oder nicht, die ganze Naphtaflasche und trinkt sie auf einen einzigen Zug leer!

Der Bootsmann, der Maschinist und ich, wir sind nur so dagestanden und haben ihn angestaunt. Wir sind ja natürlich heruntergelaufen, wie wir den Spektakel gehört haben, das ist ja klar. – Aber lieber Berg! schreit der Schiffer, bist du denn lichterloh verrückt! – Ja, brüllt der Koch, ich bin wahnsinnig!

Und dabei packt er den Schiffer und schüttelt ihn und schreit: Jetzt gehen wir alle miteinander unter! Ja, das hat er gesagt, so wahr ich Ulrich Ryvingen heiße. Und dann rennt er wieder zur Kajüte hinaus, und hinein in seine Kammer, dann wieder hinauf auf das Verdeck mit seiner Zauberdose und schmeißt sie ins Meer, daß es nur so aufplatscht. Da haben wir ja alle miteinander gesehen, daß er ganz toll ist, denn es heißt doch, daß diese Dose ihre fünfzehn Dollar gekostet hat! Und jetzt liegt sie da unten!«

Erik warf Knut verstohlen einen Blick zu, der war fast blau im Gesicht, und so etwas steckt an. Erik mußte sich aus die Zungenspitze beißen, daß es weh tat.

»Wir wollen – hoffen–,« sagte er schließlich, »daß dieser, dieser – Tobsuchtsanfall – wieder vorübergeht!«

Es fiel ihm schwer, diese Worte herauszubringen, fast ebenso schwer, als hätte er sie auf grönländisch sagen müssen.

»Na ja,« meinte Sterz-Ulrich nachdenklich, »ich glaube, es geht ihm jetzt schon besser. Denn vorhin hat er zu mir heraufgeschickt und sich Fischpudding mit viel Kartoffeln und brauner Butter bestellt, also wird er wohl schon aus dem schlimmsten heraus sein. Aber was kann denn nur in seine Dose gefahren sein? Wenn ich meine Meinung sagen soll, so glaube ich, die Geister sind seekrank geworden!«

*

Unterdessen ging es auf dem Achterdeck lebhaft zu. Schwere Seestiefel trampelten über das Verdeck, und die Jungen in der Kombüse hörten die Leute rufen: »Ah, verdammt! Haben wir jetzt gar einen Nigger an Bord! Beißt er? Ist er gemeingefährlich? Habt ihr ihn im Netz gefangen?« Und so ähnlich, alles durcheinander.

Knut und Erik stürmten hinauf. Da standen der Schiffer und Syver und hatten den verschüchterten Angusuak in die Mitte genommen. Und der Schiffer schmunzelte, und Syver strich sich wohlbehaglich seinen Walroßbart. Das hatte also geklappt.


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