Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel. Auf der Alkenjagd

Die Jungens auf der »Celesta« vertrieben sich die Wartezeit so gut es gehen wollte. Trondur, der nun zum Chef an Bord ausgerückt war, sah in der Kajüte und fühlte sich als Kapitän, Gunnar mit der Nase zog es vor zu schlafen, und zwei der Fischer von der »Seeschwalbe« saßen auf der Reeling und versuchten Dorsche aus Färöer Art zu fangen – das ist eine Art, zu der man einen eigenen Griff heraushaben muß, den außer den Färöern nur wenige imstande sind zu erlernen. Aber Hjalmar vom Fuglafjord wußte eine lustigere Art, sich die Zeit zu vertreiben. Zusammen mit Erik und einem jungen Fischer, Simen Utsire, ließ er das kleinste Hilfsboot an Bord herab, nahm Gewehre mit und zog aus, um Möwen und junge Alke zu schießen. Sie lagen gerade in der Nähe des großen Eisbergs, der ein paar Kabellängen südlich von »Grönlands Schrecken« auf Grund gestoßen war; da hielt sich schon seit mehreren Tagen eine große Alkenkolonie auf, und die Ausbeute war bereits ganz ansehnlich, denn Hjalmar war von Kindesbeinen auf ein meisterlicher Seevogelschütze, und Simen hatte bei den Robbenfangexpeditionen im Weißen Meer gelernt, wie ein Gewehr ordentlich gehandhabt wird. Während sie nun da saßen und sich ausmalten, wie köstlich diese jungen Alke zum Abendbrot schmecken würden, sprang Hjalmar plötzlich auf und wies aus den Eisberg:

»Seht her,« sagte er mit zitternder Stimme, »jetzt bewegt er sich!«

Erik ließ vor Entsetzen beinahe die Riemen los, und Simen erhob sich zitternd von der Ruderbank. Denn das, was er jetzt erblickte, konnte wahrlich abgebrühteren Leuten als ihm einen Todesschrecken einjagen. Zuerst sahen sie, wie ein ungeheurer Teil des Eisberges sich, kaum zwanzig Meter von ihrem Boot entfernt, langsam von diesem schwimmenden Gletscher loslöste. Sie sahen ihn sachte hinuntergleiten und sich dann kerzengerade aufstellen. Plötzlich bekam er das Übergewicht, drehte sich in einer Art Saltomortale herum und stürzte dann mit betäubendem Donnergepolter gerade ins Meer. Ein ungeheurer siedender, tosender Wasserstrahl schoß zwanzig bis dreißig Meter in die Höhe, und bevor die Jungs noch Zeit gehabt hatten, Atem zu schöpfen, wurde das Boot von einer Riesenwelle emporgehoben, die es mit Windeseile auf ihrem schäumenden Rücken über die Meeresfläche schleuderte. Im Laufe einer Zehntelsekunde verwandelte sich der Schrecken der Jungs in zähe, verbissene Entschlossenheit. Hjalmar und Simen hatten, beinahe ohne daß sie es selber wußten, die Riemen ausgelegt, und da saßen sie nun alle drei da, jede Muskelfaser angespannt, und ruderten auf Tod und Leben der »Celesta« zu, um nicht von dem Strudel auf den Meeresgrund gezogen oder von dem wieder auftauchenden Gletscherteil in die Lüfte geschleudert zu werden.

»Rudert, rudert, Jungs!« schrie Simen, aber es war unnötig, denn sie ruderten alle drei, daß ihnen die Augen beinahe aus dem Kopfe sprangen, und plötzlich sahen sie den abgetrennten Gletscherteil wie einen abgeschossenen Torpedo wieder aus dem Meere schießen, neue gewaltige Schaummassen rings um sich stäubend – ein ganz neuer Eisberg, der gleichsam wie durch einen Zauberschlag aus der Meerestiefe emportauchte!

Das Ganze hatte nur wenige Sekunden gedauert, aber diese sechs, sieben Sekunden retteten das Leben dreier junger Menschen. Sie ruderten weiter; Erik sprang das Blut schäumend aus den Nasenlöchern, aber er merkte es gar nicht; später erinnerte er sich nur, daß er in diesen furchtbaren Augenblicken ganz deutlich gehört hatte, wie sein eigenes Herz hämmerte und wie es in Hjalmars breitem, starken Rücken knackte. Im Laufe der nächsten Sekunden entwickelten sich die Ereignisse blitzschnell. Der Eisberg, der nun tagelang ganz ruhig und friedlich auf der seichten Bank gelegen hatte, bis die Wärme ihn zum Kalben brachte, stellte sich mit einem Ruck ganz senkrecht auf und schwankte einige Sekunden hin und her. – – –

»Rudert, rudert, um Gotteswillen!« schrie Simen wieder. Aber niemand hörte ihn, er konnte nicht einmal selbst seine eigene Stimme vernehmen, denn jetzt war die Luft von Donnergepolter und schwerem Dröhnen erfüllt, wie von einem Erdbeben am Meeresgrund; große, schwere Wellen rollten von dem Eisberg weg, und plötzlich mußten die Jungen die Augen zukneifen, während ihnen die Zähne im Munde klapperten und das Herz sich zusammenschnürte: der Eisberg war mit einemmal viele Male höher geworden als zuvor, ein ungeheurer grünblauer Riese, der aus dem Meer emporschoß. Und nun schwankte er nicht mehr, er stürzte vornüber und das Meer ringsum wurde zu einem kochenden, brodelnden Hexenkessel. Im nächsten Augenblick schlug eine schäumende Woge über das Boot.

Vor den Augen der Jungen färbte sich alles weißgrün. Erik schluckte einige Mundvoll Seewasser. Er fühlte plötzlich, daß er keinen Boden unter den Füßen hatte, seine Schläfen wurden zusammengepreßt, es rauschte ihm in den Ohren, und eine eisige Kälte drang ihm bis ins Rückenmark: er lag in den Wellen und schlug in Todesangst um sich! Bin ich das, bin ich das? schien eine Stimme irgendwo in seinem Innern zu rufen. – Ist das Erik – Erik? Aber dann hörte er ganz weit weg oder war es hoch oben eine andere Stimme: »Hilfe, Jungs, Hilfe!« Da kam er wieder zur Besinnung. Es war Simens Stimme, – Simen, der nicht schwimmen konnte! Erik atmete ganz tief und fing dann an, zu Simen hinüberzuschwimmen, der verzweifelt kämpfte, um sich oben zu halten, aber unablässig wieder unterging.

»Nur ruhig,« keuchte Erik, vor Kälte bebend, – »nur ruhig, ruhig!«

Er packte Simen unter den Armen. »Ja, ja, nur ruhig!« wiederholte er immer wieder. Simen hörte nichts, er leistete auch keinen Widerstand; aber er war schwer wie Blei, und Erik mußte alle seine Kräfte anspannen, um den bewußtlosen Kameraden oben zu halten. Erst jetzt kam er dazu, sich umzusehen, was er sah, gab ihm wieder frischen Mut: kaum fünfzig Meter von ihnen entfernt lag die »Celesta«, und eben waren die Jungs an Bord dabei, das andere Rettungsboot flott zu machen! Aber was war aus Hjalmar geworden? Trotz der Anstrengung, Simen oben zu halten, trotz des eiskalten Wassers und der schweren Kleider, die ihn und Simen fast hinunterzogen, packte Erik eine wilde Angst um das Schicksal des Freundes. Wenn das Boot nur rechtzeitig kam, um auch Hjalmar zu retten – rechtzeitig, um sie alle zu retten, denn er fühlte jetzt, wie die Kräfte ihn verließen! Simen lag wie ein Steinblock über ihm, die Kälte erstarrte alle seine Glieder, und sein Atem ging rascher als der Pulsschlag, plötzlich tauchte einige wenige Meter entfernt Hjalmar auf. Er war blaurot im Gesicht. Mit verzweifelten Augen starrte er Erik an und ging dann wieder unter. Erik hatte das Gefühl, daß sein Herz zu schlagen aufhörte. Nun wußte er, daß er es nicht länger machen konnte, vor seinen Augen wurde alles schwarz. Da hörte er eine Stimme dicht neben sich:

»Hier bin ich, Erik!«

Es war Hjalmar.

Erik versuchte zu lächeln. Dann fühlte er, daß Simen viel leichter zu werden schien, und als er den Kopf drehte, sah er, wie Hjalmar neben ihm Wasser trat, während er mit beiden Armen half, Simen oben zu halten.

Im nächsten Augenblick war das Rettungsboot da, und ein paar Sekunden später waren sie alle geborgen. Simen wurde sofort auf den Rücken geschlagen, hart und unbarmherzig. Schließlich machte er die Augen auf und sah sich verwundert um. Dann legte er sich über die Reling und wurde einige Liter Davisstraße los.

»Pfui Teufel,« murmelte er und lächelte verlegen, »das war aber ein ekliges Gebräu!«

Auch Erik mußte lächeln, allerdings etwas verstört.

»Hast du die Regenbogen gesehen, Simen?« fragte er.

»Regenbogen?«

»Ja, als der Eisberg kenterte! Mindestens tausend Stück! Im Meeresschaum.«

»Ach, halt's Maul, du Aufschneider!«

Die Jungen wurden in Wolldecken gewickelt, und dann mußte jeder ein großes Glas Kognak schlucken. Aber kaum waren sie so weit, stand auch schon Trondur in der geöffneten Türe.

»Zieht euch an, Jungs,« rief er aufgeregt, »aber geschwind, jetzt brauchen wir alle Mann an Bord!«

Da merkten sie, daß die Sache noch nicht klappte. Sie fuhren in die trockenen Kleidungsstücke, die Trondur ihnen zuwarf, und stürzten aus das Verdeck. Da machten sie große Augen: der Eisberg kam langsam auf die »Celesta« zugetrieben. Er hatte nun eine ganz andere Form wie früher, er war höher und wilder geworden, mit spitzen Eiszacken, die in der Sonne grüne Funken sprühten. Die Brandung schäumte und toste davor, und das Rauschen des Kielwassers war so deutlich zu hören, wie bei einem Sturm, obwohl die See spiegelglatt dalag. Die anderen Jungs standen schon vorne und zerrten am Ankerspill; doch es ging schwer, und unterdessen näherte sich der Eisberg langsam aber unerbittlich und zielte gerade auf die Breitseite des Schiffes. Wäre nicht diese verflixte Eisenkette achtern gewesen, so hätten sie mit Hilfe des vorderen Ankers die »Celesta« schon so weit drehen können, daß der Eisberg vorbeikam, so aber rührte die Schute sich nicht vom Fleck.

»Schneidet die Ankerketten durch, Jungs!« schrie Trondur. Er stand selbst vorne am Ankerspill und zog und zerrte aus Leibeskräften.

Die ganze hintere Ankerkette wurde geopfert und rasselte über Bord. Gleichzeitig gelang es den anderen, den vorderen Anker zu heben.

»Und jetzt ins Boot, Jungs,« schrie Trondur, »wir müssen die Celesta drehen!«

Einige Augenblicke später waren alle Jungs mit Ausnahme von Trondur in dem Rettungsboot und hatten ein Schlepptau um den Bug des Leichterschiffs geschlungen. Dann legten sie sich alle in die Riemen, zwei auf jeder Ruderbank und ruderten mit zusammengebissenen Zähnen, von einem einzigen festen Entschluß beseelt: Es muß gelingen! Anfangs schien es, als ob die »Celesta« allen ihren Anstrengungen trotzte. Endlich begann sie sich allmählich zu drehen; ungeheuer langsam, aber sie drehte sich doch. Trondur stand am Steuer des Schiffes. Er beugte sich über das Geländer, und die Jungs hörten seine schrille Stimme:

»Rudert, Jungs – jetzt geht es los!«

Die Jungs krümmten die Rücken, stemmten die Füße an die Bretter, schlossen die Augen. Erik brauste es in den Ohren, er sah Rot und Sterne. Er hörte es in allen Rudern knacken und in allen Rudergabeln knirschen. Sein Ruder saß wie in einem Schraubstock festgeklemmt, plötzlich fühlte er, wie das Wasser nachgab, und als er wieder die Augen aufschlug und von neuem Zugriff, konnte er deutlich sehen, wie der Bug der »Celesta« das Wasser durchschnitt. Kleine Wellen umrieselten sie – sie glitt vorwärts!

Dann hörte er ein schwaches, dumpfes Dröhnen. Der Eisberg hatte die Schute eingeholt.


 << zurück weiter >>