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Viertes Kapitel. Hundewache

In dieser Nacht sollte Knut die »Hundewache« haben, die erste seines Lebens. Nun, eigentlich Hundewache war es ja nicht, denn die »Seeschwalbe« lag gut verankert da, und das Wetter war prachtvoll. Aber die Wache sollte doch vier geschlagene Stunden dauern, und hundekalt war es auch, so war es also im Grunde doch eine Hundewache.

»Du mußt dafür sorgen, daß ich um zwölf Uhr heißen Kaffee bekomme,« sagte er zu Erik. »Denn so eine Hundewache, das ist kein Spaß.«

Er platzte beinahe vor Stolz, und als die Uhr zehn zeigte, wollte er sich gar nicht niederlegen, denn es war doch gar nicht der Mühe wert, und wenigstens bekam man nicht noch vom Schlafen einen schweren Kopf. Um elf Uhr fing er an, sich auszurüsten: dicke, rotgesprenkelte Isländerweste, Schal um den Hals, Fäustlinge und hohe Stiefel. Erik half ihm die Pelzmütze unter dem Kinn festbinden. Dann setzte sich Knut in die Kombüse, streckte die Beine aus und nahm ein Priemchen.

»Ja, es ist hart, Fischer zu sein,« sagte er, »und gar erst, wenn man Hundewache hat. Aber spannend ist es auch! Wieviel Uhr ist es denn? Was, erst ein Viertel über elf! Also noch dreiviertel Stunden. Denk mal, wenn heute Nacht etwas passierte!«

»Was sollte denn passieren?«

»Es könnte doch ein Orkan losbrechen oder ein Eisberg kommen.«

»Eisberge kommen doch immerzu ...«

»Immerzu! Am Tage, ja, aber bei Nacht, das ist etwas ganz anderes! Dann habe ich die Verantwortung, da heißt es eben Augen im Kopfe haben!«

»Einen Eisberg sieht man doch noch mit geschlossenen Augen!«

»Wenn Nebel ist, nicht. Da muß man ihn schon riechen und die ganze Zeit auf das Thermometer gucken, um zu sehen, ob es nicht etwa plötzlich fällt.«

»Ach, wenn es so gefährlich wäre, dann hättest wohl nicht du die Wache!«

»Warum denn nicht?«

Knut war wütend aufgesprungen.

»Warum denn nicht, du Suppenkocher!« wiederholte er zornig und durchbohrte Erik mit glühenden Blicken.

»Ich hab es nicht so gemeint.«

»Du hast es gemeint, sonst hättest du es nicht gesagt, du – du – du aufgelesener Findelbalg!«

Knut rannte zur Türe hinaus.

Erik blieb lange sitzen und wartete. Mehrere kamen in die Kombüse, um sich einen Schluck Kaffee oder etwas zum Abendbrot zu holen, einer nach dem andern, der Bootsmann und Syver, Sterz-Ulrich, Simen und der Maschinist, aber Knut ließ sich nicht blicken. Auch um zwölf Uhr kam er nicht, um eine Herzensstärkung vor der Wache zu sich zu nehmen, wie er angekündigt hatte. Erik hörte ihn pfeifend zur Brücke hinaufgehen. Dann legte er sich schlafen. Es war stockfinster unten in der Ruff, aber er wollte nicht erst die Lampe anzünden, denn alle schliefen und schnarchten schon. Er fand keinen Schlaf, er lag nur so da und döste vor sich hin. Was die anderen sagten, daraus machte er sich ja nichts, denn er war nun einmal der Jüngste an Bord und schließlich noch kein richtig ausgelernter Seemann. Aber daß Knut um kein Haar besser war als dieser Gunnar mit der Nase, das wollte er ihm noch mit Zinseszinsen heimzahlen. Nie hätte er so etwas von Knut geglaubt, nie im Leben! Nur weil er etwas gesagt hatte, was doch auch alle anderen ebenso gesagt hätten! Knut war eben ein Protz! Als ob der etwas zu bedeuten hätte! Der! Woher denn! So lag Erik da, noch im Einschlummern haßerfüllt, und schließlich schlief er wirklich ein. Plötzlich wachte er wieder auf und fuhr mit einem Ruck in die Höhe. Jemand hatte seine Hand berührt.

»Erik!« flüsterte es.

»Bist du es, Knut?«

»Ja, aber still! Komm doch ein bißchen auf die Brücke hinauf. Es ist so öde und langweilig da droben. Ich geh' voraus, denn man darf das Schiff ja nicht ohne Wachmannschaft lassen.«

»Ja, ja,« sagte Erik, »mach nur schnell, ich komm schon nach!«

Er kleidete sich rasch an und folgte Knut auf die Brücke.

Knut stand über den Kompaß gebeugt, als hätte er etwas dabei zu schaffen, obwohl die »Seeschwalbe« mit zwei Eisenketten verankert lag.

»Schöne Nacht,« sagte er nur.

Ja, das war es wirklich, sternenklar und ganz still. Man konnte ganz deutlich jeden einzelnen Berggipfel an der grönländischen Küste sehen, und die Leinenbojen dort drüben, sieben, acht Stück.

»Vorhin sind vier Meerschweine vorbeigeschwommen,« sagte Knut, »eine ganze Familie, Vater, Mutter und zwei große Jungen.«

»Vier Stück! Das ist aber eine ganze Menge.«

»Ja – willst du ein Priemchen haben?«

»Nein danke, jetzt nicht, hast du Streichhölzer?«

Eine Zeitlang sprach keiner von ihnen ein Wort, sie standen nur da und spuckten gedankenvoll ins Wasser und schlugen sich mit den Armen auf die Brust, denn es war grimmig kalt, dann sagte Knut:

»Ich hab dir eigentlich was sagen wollen – aber vielleicht weißt du es ohnehin?«

»Ja, ja, ich kann's mir schon denken!«

Knut tastete nach Eriks Hand und drückte sie fest. Und damit war alles erledigt. Knut hatte noch das Stück Kuchen von der »Celesta«, und das teilten sie brüderlich, nachdem Erik noch rasch in die Kombüse gehuscht war und zwei Töpfe Kaffee geholt hatte.

Nie hätten sie sich träumen lassen, daß es hier oben so hoch im Norden in der Einsamkeit so schön sein konnte. Die Nacht war so still und feierlich, mit bleichen Sternen und einem Silberlicht am ganzen Horizont im Norden und Osten. Eigentlich konnte man es gar nicht Nacht nennen, es war mehr wie ein Sommerabend daheim in Norwegen, nur die Luft hätte ein bißchen wärmer sein können. Ab und zu flatterte ein Seevogel auf und flog lautlos über den Meeresspiegel. Durch die stille, beinahe kristallklare See trieben blaue und violette Quallen, und wunderliche, geflügelte Schnecken, die mit ganz unglaublicher, sinnloser Hast davonflitzten.

»Hast du dir heut früh den Sivert Hovde näher angesehen?« fragte Knut, um doch wieder ein Gespräch in Gang zu bringen. »Du kannst mir glauben, das ist ein Mordskerl. Steinreich ist er auch. Der kann sich was leisten. Du solltest nur seine Villa daheim am Borgundweg sehen – vierzehn Zimmer, Junge, und eigenes Bad! Wie ein Schloß ist es. ›Höienhall‹ heißt es.«

»Komisch! So heiß' ich doch auch!«

»Du bist wohl übergeschnappt und glaubst, er wird seine Villa nach deiner Familie genannt haben?«

»Das hab ich auch gar nicht gesagt.«

»Nein, aber gemeint hast du es!«

»Gemeint hab ich es, sagst du? Willst du wieder Händel suchen?«

Beinahe wären die Jungen einander wieder in die Haare geraten. Aber da begann etwas oben im Takelwerk zu rascheln, und da fielen Knut auf einmal die Steinbuttenstreifen ein, die der Bootsmann dort oben zum Dörren aufgehängt hatte.

»Wir probieren einen,« sagte Knut, und dann kletterten sie beide auf das Kajütendach und holten sich für jeden einen breiten, schönen Steinbuttstreifen herunter. Er war schon beintrocken und buttergelb und schmeckte köstlich.

»Ja, dieser Sivert, der hat wirklich ein Mordsglück,« fing Knut wieder an, während er an seinem Streifen kaute. »Einmal wäre er beinahe von einem Hai verschluckt worden.«

»Von einem Hai?«

»Ja, von einem Menschenfresserhai! Er und mein Alter fuhren damals zusammen auf der »Celesta« – in alter Zeit, vor dem Krieg. Vater war Steuermann, und Sivert war Deckjunge, ganz wie du jetzt; sie fuhren nach Australien. Mein Alter hat die Geschichte oft zu Hause erzählt, wenn wir Gäste hatten, und immer ist sie gleich gruslig. Du kannst ihn ja einmal bitten, es dir zu erzählen!«

»Ich? Bist du ganz toll? Ich kann den Herrn Kapitän doch nicht bitten, mir Schiffergeschichten zu erzählen, was?«

»Schiffergeschichten? Was dir einfällt! Als ob mein Alter je etwas anderes erzählen würde, als die lautere Wahrheit! Nein, mein Lieber, das hat sich wirklich ganz so zugetragen. Es war also mitten im Stillen Ozean. Die ›Celeste‹, damals hieß sie übrigens irgendwie anders, glaube ich, lag ganz still da und rührte sich nicht vom Fleck. Und heiß und stickig war es wie in einem Schwitzbad. Da wollten die Jungs natürlich ins Wasser, und wer es gar nicht erwarten konnte, das war natürlich dieser Sivert. Er stopfte sich die Ohren voll Watte und machte vom Bugspriet aus einen Kopfsprung nach rückwärts. Dann schwamm er weit hinaus. Plötzlich fing einer an Bord, es war wohl der Koch, laut zu schreien an, daß ein großer Hai in Sicht sei. Da kannst du dir denken, daß die Jungen blitzschnell die Leiter zum Schiff hinaufkraxelten! Aber wer den Ruf nicht hörte, das war Sivert. Der lag weit draußen und schlug Purzelbäume und war ganz taub, denn er hatte ja Watte in beiden Ohren. Vater erzählt, daß er mit bloßem Auge sehen konnte, wie der Hai immer näher und näher an den Jungen herankam. Aber da war einer an Bord, der hieß Thorbjörn.«

Erik fuhr zusammen. Thorbjörn so hieß doch sein Vater mit dem Vornamen! Das war nun das zweite Mal heut Nacht, daß Knut einen Namen seines Vaters genannt hatte. Wenn das kein merkwürdiger Zufall war! Aber wohl eben nur ein Zufall!

»Er war Bootsmann,« erzählte Knut ruhig weiter, »und der beste Freund von meinem Vater! Und Vater sagt, er hat nie einen prächtigeren Burschen gekannt, und so mutig! – Dieser Thorbjörn also sprang über Bord, mit einem großen Vorschneidemesser zwischen den Zähnen, und schwamm auf Indianerart zu Sivert hin. Es war das reinste Wettschwimmen zwischen dem Menschenfresserhai und diesem Thorbjörn! Thorbjörn war im Jahr vorher an irgend einem Ort im Persischen Golf auf Perlfischfang gewesen und wußte genau, wie man mit Haien umgeht; und er kam zuerst ans Ziel. Drei Meter vor dem Ungetüm. Unterdessen hatten mein Vater und die anderen das Rettungsboot heruntergelassen, und sie ruderten, daß der Schaum nur so sprühte, um den zwei armen Kerlen zu Hilfe zu kommen. Sie bekamen auch Sivert ins Boot hinauf; er wurde sofort ohnmächtig, es fehlte ihm aber weiter nichts, er war mit dem bloßen Schrecken davongekommen. Aber das Meer war ganz rot

Erik starrte Knut entsetzt an.

»Rot?«

»Wie Blut! Und es war Blut! Der Hai war getötet und lag auf dem Rücken. Aber als sie Thörbjörn ins Boot hinaufzogen, waren ihm beide Beine von den Hüften an abgetrennt, und so erzählt es mein Vater, ich werde jedes einzelne Wort bis zu meinem Todestag nicht vergessen, so schaurig ist es:

– Und als wir dann den armen Thorbjörn in das Rettungsboot hoben, da liefen uns alle die Tränen aus den Augen. Der arme Thorbjörn versuchte uns noch zuzulächeln; dann starb er in unseren Armen. Eine Stunde später mußten wir ihn ins Meer versenken, in die norwegische Flagge eingehüllt. Wir alle an Bord weinten wie die kleinen Kinder, und als wir den Begräbnispsalm sangen, konnten wir beinahe die Buchstaben im Psalmenbuch nicht unterscheiden. – Ja, so erzählt Vater die Geschichte. Aber das ist ja nun viele Jahre her, lange vor dem Krieg. Und Sivert Hovde hat seither bei allem, was er angerührt hat, immer Glück gehabt. – – So wie der möchte ich einmal sein.«

Erik hatte die Geschichte mit steigendem Entsetzen angehört, und nun, wo sie zu Ende war, fühlte er ein wunderliches Gefühl in der Brust aufsteigen. Es war, als striche ihm ein kalter Wind durch die Seele – die Meerfrau in der Kajüte der »Celesta«, die Villa Höienhall am Borgundweg, der arme Thorbjörn, und schließlich all das Geheimnisvolle, das das Verschwinden seines Vaters umschwebt hatte, ach nein, es war doch alles nur zufälliges Zusammentreffen. Aber eine Frage konnte er doch wohl wagen.

»Du Knut,« begann er nach einem Weilchen. Sie waren stumm dagestanden, über das Geländer gebeugt, und hatten dem Spiel der bunten Quallen in der klaren See zugesehen, »wie hieß doch die »Celesta« früher einmal – bevor sie »Celesta« hieß?«

»Das weiß ich wirklich nicht mehr. Wir können ja meinen Alten danach fragen – – aber was in aller Welt ist das? Mir scheint, die lassen drüben auf dem alten Kasten das Rettungsboot herunter!«

Sie starrten beide und lauschten. Ja wahrhaftig. Sie konnten deutlich die Taue knirschen hören, und im nächsten Augenblick hörten sie das Boot abstoßen. Dann erklangen rasche Ruderschläge, und aus dem tiefen Schatten unter dem Bug der »Telesta« schoß das Rettungsboot, von zwei Mann gerudert, mit toller Geschwindigkeit heran. Es kam immer näher, und kaum fünf Minuten später machte es neben der »Seeschwalbe« Halt.


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