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16.

Maaß ging mit auf dem Rücken zusammengelegten Händen in seiner Zelle schnell auf und ab.

Wie so Tag auf Tag verging, ohne daß man ihn freiließ, war seine anfängliche Zuversicht schwankend geworden: sollte es am Ende doch möglich sein, daß ein ganz Unschuldiger wegen Mordes verurteilt wurde?

Seine Seele erbebte unter der Wucht dieser Befürchtung, und seine Phantasie fing an, sich mit blutigem Pinsel das Schreckgemälde der eigenen Hinrichtung auszumalen ... Denn wenn sie ihn schon einmal verurteilten, dann –

Nervös blieb er stehen an der weißgetünchten Wand, die über seinem Kopfe das Fenster hatte. Und er ließ die schwere Klappe am Eisenhalter herabgleiten, um Luft in den engen Raum hineinzulassen ... Dann lockerte er das blau-weiß karrierte Halstuch: ihm war, als müßte er ersticken.

Ein nervöses Schluchzen erschütterte seinen Körper und es begann sich seiner jenes schreckliche Gefühl zu bemächtigen: die Zellenangst, die den Befallenen laut aufschreien und toben und mit dem Schädel gegen die Mauer rennen läßt, bis er gänzlich ermattet zusammensinkt.

Der Schlüssel rasselte im Schloß und der hereintretende Aufseher kommandierte:

»Fertigmachen zur Vorführung!«

Ein Zittern befiel den jungen Beamten und er folgte dem Aufseher schnell, glücklich, daß er nicht mehr allein in dieser fürchterlichen Zelle bleiben brauchte, daß er vielleicht etwas tun könne zu seiner Befreiung.

Nun ging es die Galerie des zweiten Stockwerkes entlang, dann die eiserne Wendeltreppe hinab in den ersten Stock und weiter ins Parterre nach dem Zentral hin, in das alle Gänge und Korridore des weitläufigen Gebäudes zusammenlaufen.

Maaß ging vor dem Aufseher her durch einen glasgedeckten Gang, der hinüber ins Kriminalgebäude führte. Und seine Schritte hatten wieder die Elastizität der Jugend, er hoffte ja, freizukommen. Einmal mußten diese Menschen doch einsehen, daß er unschuldig war!

Aber nun, nachdem er mit seinem Führer zwei schmale Steintreppen hinaufgestiegen war und den breiten Korridor betreten hatte, kam er doch noch nicht ins Zimmer des Untersuchungsrichters.

Man brachte ihn in das »Zimmer der Angeschuldigten«, einen großen Raum, dessen Luft von der Ausdünstung der vielen und nicht immer reinlichen Gefangenen, die man da hineintrieb, verpestet war.

Maaß blieb eine Weile in der Nähe der Tür stehen, bis einer von den Dreien, die am Fenster standen, sagte:

»Na, man immer rin in de jute Stube ... Du scheinst den Rummel hier noch nich zu kennen! Nebenbei sagt man juten Tach!«

»Guten Tag!« sagte Maaß leise und zaghaft.

»Also, wo wa ick doch stehn jebliem?« meinte ein kleiner Dicker mit einer schlimmen Nase.

»Na, wo Du Dir die Staude ebent rieberjezogen hattest un die junge Frau kam un fragte, ob det Dein Hemde were,« half ein älterer Mann im schwarzen, fuchsigen Anzug, der eine Stahlbrille trug und von den anderen »Apothekerjustav« genannt wurde.

»Ach so, ja richtich! Also ick stand da, so unschuldig wie 'n Lämmeken, un die Staude, Hemd. die ick eben ausjezogen hatte, die rannte daweile alleene weg, vonwejen die villen Bienen. Läuse. Ick vabeuje mir also vor ihr un sage: »Jnädije Frau,« sag ick, »et is zwar nich meine, aber 't wird meine! Un jetzt is et ooch meine – oder is et nich meine?« – Und damit trat ick janz dichte an se ran un hob de Hand uff – hier seht eich den Platong jefälligst mal an!«

Der Dicke erhob seine Rechte, die wirklich zweimal so groß war, als man es nach seinen sonstigen Körpermaßen hätte erwarten dürfen.

»Un da fing se an zu plärren, det ick ihr rasch 'n Mund zuhalten mußte, det Frauenzimmer! ... Aber drieben in 't Haus hatten se 't doch schon jeheert, mir blieb also weita janischt üblich, als zu teilachen. fortlaufen. Imma haste nich jesehn, los, rieber über die Wiese, und dabei in de eene Hand meine Kluft Anzug. un in de andere de Trittchen. Stiefel. 'n Obermann Hut. hatte ick Jottseidank damals nich, un so braucht' ick 'n ooch nich feste zu halten! ... Mit eenmal komm ick an' Jraben – so breet war er! Aber ich 'n Anlauf jenomm un rieber, det jing man so! Wie ick drüben bin, dreh ick ma um un lächle, weil ick dachte: »Na, Franze, nu biste scheene raus mit siebzig un 'n Freilos! ... Jawoll, Scheibe! ... Ick denke, mir laust der Affe! Denn wat sehen meine Oogen, da hinten macht eener 'n Hund los ... Na, wat soll ick eich da lange azehlen: bis an 'n Wald bin ick noch jekommen, denn war 't Essig! ... Die Tele wie son Varickta hinter mich her un plötzlich hatte se mir un det neue Hemde, wodruff ick so stolz war, un war jleich in Fetzen! ... Wißt Ihr, wat 'n Bauernverhör is? ... Nee? ... Na, ick kann eich sagen, det hab' ick an den Tach kenn' jelernt! Un zwar jar nich, wie 't Mode is! Mit alle Schikanen! Wenn ich dadran denke, denn juckt et mir heite noch!«

»Na, un wie kommst 'n hierher, Dicker?« fragte ein sehr Großer, der eine wahre Fechtergestalt und ein paar Dolchaugen in dem wie aus braunrotem Stein geschnittenen Gesichte hatte.

Der Dicke schüttelte wehleidig den Kopf:

»Ach, Menschenskind, det wa' ja die jrößte Demlichkeet! Da waren nemlich 'n paa' Holzarbeeter, die in de Nähe tetig waren. Die fanden mir, wo ick lag, denn mit det uffstehn und jehen, det jing de ersten paa' Stunden man sehr mies ... Na, un die beeden Leite, die fragen mir natierlich, warum det ick denn da liejen dhäte? Ick meente, ick hätte mir da drieben ausjezogen und dabei hätte mir 'ne Frau ieberrascht, weil ick jrade mein Hemde jewechselt hätte – det ick et aber mit eens von ihre vawechselt hatte, davon hab' ick zu die Leite nischt jesagt. Die waren nu janz kolossal entrüstet dadrieber, und red'ten ma zu, ick sollte ma doch um Jotteswillen dabei nich beruhigen un se wollten ma helfen, det ick mein Recht kriegte. Un denn luden se mir uff un brachten mir bei'n Amtsvorsteher. Der nahm 'n Protokoll uff, denn allens, wat recht is, ick sah aus wie 'n Tartarbiefstick mit Zwiebeln, und ick wurde soja uff Kosten von die Leite, die mir vahaun hatten, 'n paar Tage in der Heimat Herberge zur Heimat. verpflegt. Aber denn drehten die den Spieß um un vamasselten mir bei'n Staatsanwalt. Na un da haben se det denn richtig so rausjedreht, det ick hochjing, wejen Raub! Jawoll, ausjerechnet! Weil ick se bei'n Schlung jefatzt hatte, die Olle!«

Der Schlüssel klapperte, alles war still.

»Behnke!«

»Jawoll, hier!«

Der Dicke verließ, affektiert gleichgültig mit den Armen schlenkernd, das Zimmer.

»Da kriecht a seine drei Jahre, det knallt man so!« sagte Aptekerjustav, mit einer Kopfbewegung hinter dem eben Gegangenen herdeutend.

»Wat jloben Sie denn, vaehrter Herr, det Se kriejen werden?« wandte er sich mit einer ironisch tiefen Verbeugung an Maaß.

Der wich unwillkürlich zurück, wobei er voll heimlicher Furcht sagte:

»Ich ... ich ... ich weiß nicht ... ich bin unschuldig! ...«

»Dat sind wa alle!« rief der andere laut auflachend und sämtliche Insassen des Zimmers stimmten in diese Heiterkeit ein.

»Oder jloben Se etwa ...«

Aber da rasselte wieder der Schlüssel und aus der eintretenden Stille heraus verließ wieder einer das Zimmer.

»Das wa 'n Erpresser,« meinte der alte Herr mit der Brille, »is schon dreimal verknaxt – macht fünf Jemmchen minimum!«

Maaß sah den Alten erstaunt an; woher wußte der alles das so genau? War es am Ende ein Beamter, der hier zwischen die Verbrecher gesteckt wurde, um aufzupassen? ...

Der Alte aber nahm das Anstarren des Jüngeren als eine Aufforderung, sich mit ihm zu unterhalten, näherte sich Maaß und sagte gedämpft:

»Na und Sie? ... woll wejen Schiebung, was? ... ich meine, wegen Betrug?!« setzte er hinzu, da Maaß ihn so fremd ansah.

Alfred Maaß seufzte tief auf.

Sollte er sich diesem Menschen anvertrauen? Unter anderen Umständen hätte er es sicher nicht getan, aber hier, heute, in der schrecklichen Gemütsbewegung, die ihn ganz krank machte, in der Aufregung und qualvollen Erwartung dessen, was die nächste Stunde ihm bringen würde, konnte er sein Mitteilungsbedürfnis nicht zurückhalten.

»Wegen Mord,« sagte er leise.

»Das heißt, ich hab' es nicht getan,« sprudelte er, als er das Zurückweichen des Alten sah, sofort hervor, »ich bin absolut unschuldig! Die sind ja hier alle verrückt! Wie sollte ich denn dazu kommen?! ... Die Frau meines Kollegen! ... Weil ich sie früher mal gekannt hatte!«

Er brach in lautes Jammern aus und schlug die Hände vors Gesicht.

»Wejen Mord?« der Alte wiegte den Kopf hin und her, »det is woll der Fall in de Koloniestraße, wovon se jestern abend bei uns in Schlafsaal jeredet ham' ... na, heeren Se mal, 'ne Frau, ne janz junge Frau!«

Der Sprecher zog sich zurück und während Maaß weinend stehen blieb, sammelten sich die sämtlichen anderen in der Ecke beim Fenster und berieten miteinander. Offenbar waren ihre Meinungen geteilt, denn hin und wieder fielen lautere Worte, die wie Streit klangen.

Endlich sagte der Alte vortretend:

»Det vasteh ick nich, det se Ihn' iebahaupt hier rinjebracht ham ... sone janz schweren Sachen kommen doch for jewehnlich hier nich her ... det heest, es is ja mechlich, det Sie't nich waren, aber for jewehnlich ... na mit een Wort, wir beschweeren uns dadrieba! ... Mit 'n Raubmörder in eene Zelle, det brauchen wa uns nich zu jefallen lassen!«

Damit kehrte er sich ostentativ von Maaß ab, ging wieder zu den anderen, die die Unterhaltung, jetzt lauter und ohne auf den selbst hier Ausgestoßenen Rücksicht zu nehmen, fortsetzten.

Alfred Maaß hatte die Hände vom Gesicht genommen und eine Weile mit offenem Munde dem sich abwendenden Alten nachgestarrt.

Jetzt setzte er sich auf die nunmehr gänzlich freie Bank. Auf seinem Gesicht erschien allmählich wieder das Lächeln, mit dem er an jenem Nachmittag die von der wütenden Menge umlagerte Morgue verlassen hatte. Er hörte auf nichts mehr, was jene redeten. Seine Seele war blind und taub für alles, was um ihn her vorging,, nur den Racheschrei seines Herzens vernahm er noch über die blöde Ungerechtigkeit des Schicksals und der Menschen, die sich alle, aber auch alle verschworen zu haben schienen, um ihn zu peinigen.

Als bald der Aufseher wieder hereintrat, umringten die anderen Gefangenen ihn sofort und forderten, alle durcheinanderschreiend, Maaßens Entfernung.

»Denn det haben wa doch nich vadient,« faßte der Alte ihr Lamento zusammen:

»Mit 'n Raubmörder in eene Zelle, nee, dazu hat det Jericht keen Recht! Dafor jibbt et besondre Zellen! Det wer ja noch scheener!«

Der Aufseher war offenbar selber bestürzt. Es lag ein Versehen vor; der Maaß hierher gebracht, hatte vergessen, ihm die nötigen Mitteilungen zu machen. Uebrigens hatte er Maaß gerade eben holen wollen.


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