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15.

Die Aerzte im Krankenhaus »Friedrichshain« hatten dem Patienten auf keinen Fall die Erlaubnis geben wollen, jetzt schon die Anstalt zu verlassen. Aber Heinz Marquardt ließ sich nicht halten. Das Gesicht und den Kopf mit Pflastern beklebt und den linken Arm, den er im Kampfe mit den Verbrechern zur Abwehr vorgestreckt hatte und der daher am ärgsten mitgenommen war, noch in der Binde, verließ er das Krankenhaus, bleich wie der Tod und mit jenen unnatürlich glänzenden Augen, die den Fieberkranken etwas so Unheimliches geben.

Die unbeugsame Energie seines Willens, dieser Wille, der nur noch ein Ziel auf Erden kannte, und der durch nichts zu brechen war, der jeden anderen Wunsch in ihm verzehrte und jede Schwäche überwand – der war wie der Befehl einer geheimnisvollen und grausamen Gottheit, die den Unglücklichen rastlos vorwärtstreibt und ihm erlaubt, seine Menschlichkeit abzustreifen und als verkörperter Rachegeist seinem finsteren Idol zu folgen.

Die Frau, bei der er jetzt wohnte, schrie laut auf bei seinem Anblick.

»Mein Gott!« Dabei rang sie ihre runzligen, von vieler Arbeit harten Hände.

»Wat ham se denn mit Ihn' jemacht, Herr Marquardt?!«

Sie redete immer noch, als ihr Mieter schon längst die Treppe hinunter war. Dann klopfte sie bei der Nachbarin.

»Ham Se 'n Momang Zeit, Frau Schulze?«

Marquardt ging langsamer wie sonst. Er hatte zu Hause bei sich einen Brief vorgefunden, der ihn beschäftigte.

Der Brief enthielt seine Kündigung. Da seine Anstellung erst in zwei Jahren erfolgt wäre, hatte die Behörde das volle Recht, ihn zu entlassen.

Er grämte sich wenig darüber. Er würde das Geld, was ihm noch zustand, mitnehmen und im übrigen höchstens noch einen Besuch bei dem Direktor Weckerlin machen, um sich vorläufig auf unbestimmte Zeit krank zu melden.

Schlimm war nur, daß er die vierhundert Mark, die er dann noch zu kriegen hatte, erst in Monaten erheben durfte.

Bei dem nächtlichen Streit, dessen Folgen er noch in allen Gliedern spürte, war auch das erborgte Geld verschwunden ... wer weiß, ob die Kerle ihn nicht nur deshalb mißhandelt haben, um ihm dabei sein Geld fortzunehmen. Und hätte er an jenem Abend sofort der Polizei Anzeige von seinem Verlust machen können, so wäre er vielleicht noch wieder zu seinem Eigentum gekommen, ebenso wie jener reiche Herr sein Armband zurückerhalten hatte. So hatten die Beamten nur die Achseln gezuckt: jetzt nach acht Tagen noch bares Geld bei diesem Gesindel finden, nein, das ist wirklich mehr, als man verlangen kann!

Und Geld mußte Marquardt haben, woher immer!

So entschloß er sich noch einmal zu seinen Verwandten nach Schöneberg hinaus zu pilgern.

Aber der Vetter ließ ihn gar nicht zu Worte kommen.

»Geld willst Du haben? ... nochmal Geld?! ...« Der Mann lachte laut auf, »ich glaube, Du bist nicht mehr ganz gesund hier!« wobei er heftig gegen seine Stirn klopfte, »ich habe geglaubt, Du bringst mir meine hundert Taler zurück und da kommst Du und willst mich noch mal anbetteln! ... Nee, mein Junge, daraus wird nichts, glaubst Du vielleicht, ich stehl' es? ... Hier, hier!« er hielt Marquardt seine roten Hände dicht unter die Nase: »damit muß ich mir's erarbeiten!. Ich sitze nich auf'n Kontorschemel und starre in Luft, wie Ihr in Eurem faulen Bureau! ... Ich sage Dir, sei froh, daß Du meine Frau nich zu Hause triffst, die hätte Dir 'n Marsch jeblasen, daß de ein für allemal die Nase voll jehabt hättest! ...« Er sprach unaufhörlich, schnell und mit entrüsteter Stimme, »nein, ich kann Dir bloß sagen, schlag Dir diese verrückten Ideen aus dem Kopf! Einmal biste nu beinah dran kaputgegangen! Das kannst Du doch nich ... Du bist doch zu dumm dazu!«

»Zu dumm?« sagte Heinz, der zuerst verlegen, dann störrisch und schließlich richtig böse wurde.

»Hör mal, Du, ich verbitt' mir sowas! ... Du natürlich, was verstehst Du denn davon! Du sitzt hier und bändigst Deine Heringe! Wie sollst Du auch wissen, wie einem Menschen wie mir zumute is!«

Der andere wurde grün vor Aerger.

»Na, warum kommste denn her? ... was? ... Du, wenn de so anfängst, dann wer' ich da auch mal was sagen, was ich glaube!«

»Das interessiert mich wenig!«

»Aber mich interessiert es! Weil's sich um mein Geld handelt, Du, verstehste?! ... Du denkst ganz einfach, ich bin so dumm und merk' das nich, daß Du mich neppen willst! ... Aber da irrste Dich! Ich bin schlauer als Du denkst!«

»Na, na!«

»Jawoll Du! ... Du denkst, laß Dir man immer Jeld jeben von dem Schafskopp. Wiederkriejen tut er's doch nich! Und denn jehste hin und verjuckst es! Jawoll, mein Junge, Dich hab ich jetzt erkannt!«

Heinz Marquardt stützte sich schwer auf den Ladentisch.

»Was tu ich?« sagte er tief aufatmend, »was tu ich?«

»Neppen willst Du mich! Denkste etwa, ich fürchte mich vor Dir, wenn de ooch noch so jroße Augen machst! Und nu mach, daß de Deiner Weje kommst, sonst laß ich 'n Jendarm holen!«

Heinz Marquardt sah ihn noch einmal mit einem langen Blick an, dann wandte er sich zum Gehen. In der Ladentür traf er die Frau des Vetters.

»Nanu, Herr Marquardt, was machen Sie denn?«

Er aber beachtete die Frau gar nicht und hörte auch nicht mehr die Worte, die der Kolonialwarenhändler seiner Frau zurief. Bloß daß sie sagte:

»Aha! na, das is gut, daß Du ihm nischt jejeben hast!«

Das hörte er noch.

Dann ging er im feinen Staubregen der lauen Witterung hastig die Hauptstraße hinunter, ohne sich umzusehen, immer gerade aus und von dem Wunsche beseelt, sich so schnell als möglich aus dieser Gegend zu entfernen.

Erst wie er beim Botanischen Garten war, verlangsamte er seine Schritte.

Und plötzlich fiel ihm etwas ein, daß er sich an den Kopf faßte und stehenbleibend sich fragte:

»Wie hab' ich daran nur nicht gleich denken können!«

Es war gut, daß der Weg, den Heinz Marquardt zu machen hatte, nicht gar so weit war, seine Kräfte waren dem nicht gewachsen gewesen. Als er in der Maaßenstraße 87 ankam, zitterten ihm die Knie und er fühlte den Schlag seines Herzens bis in den Hals hinauf. Etwas mochte auch seine seelische Aufregung daran schuld sein, die bange Ungewißheit, ob er hier die Unterstützung finden würde, ohne die er sein schweres Werk nicht ausführen konnte.

Das hohe Vestibül des sehr vornehmen Hauses mit seinen in die Marmorwände eingelassenen Riesenspiegeln machte ihn noch ängstlicher. Und mit zager Hand zog er den Bronzegriff der Klingel.

Ein Bedienter öffnete, ein englisch frisierter junger Mann im knappen Jackett mit Perlmutterknöpfen an den engen Hosen.

»Sie wünschen?«

»Ich möchte Fräulein Hilda Boras sprechen.«

»Bedaure sehr! ... Das gnädige Fräulein empfängt jetzt nicht.«

Heinz Marquardt bekam einen großen Schreck. Und wie er in seiner Bestürzung gar nicht wußte, was er sagen sollte, wollte der Diener ihm schon die Tür vor der Nase zumachen. Aber da zog er hastig die Karte vor, die er damals von ihr bekommen hatte. Und mit einer fast bittenden Gebärde sagte er:

»Aber sie hat es mir ja selbst gesagt! ... Da sehn Sie doch mal! ...«

Der Diener betrachtete mißtrauisch die Karte, dann meinte er sehr zurückhaltend:

»Na, ich werde fragen ...«

Wie er aber zurückkam, war er recht höflich.

»Darf ich bitten?«

Und half dem Gast den Mantel ablegen und öffnete mit beflissenem Lächeln die Salontür.

Die schöne Bewohnerin dieser kostbar eingerichteten Räume kam Heinz Marquardt mit wirklicher Freundlichkeit entgegen.

»Sie Armer! ... Ich habe von Ihrem Unglück in den Zeitungen gelesen! ... Wären Sie doch damals nur gleich mit uns mitgegangen! ... Denken Sie doch, wenn Graf Saarwald nicht zurückgegangen wäre mit dem Kommissar ...«

»Da wär' ich sicher nicht mit dem Leben davongekommen! ... Aber vielleicht wäre das besser für mich! ...«

Er hatte auf ihre Bitte in einem der mit silbergetöntem Gobelinstoff bezogenen Fauteuils Platz genommen und sah trübselig vor sich nieder.

Mit einer beschwichtigenden Bewegung ihrer ideal geformten Hand, deren leuchtender Schmelz durch kostbare Ringe noch gehoben wurde, tröstete sie ihn.

»Sie sollten sich vor allen Dingen von diesen traurigen Gedanken befreien! ...« Und mit einem mitleidigen Blick ihres schimmernden, im Ausdruck so rasch wechselnden Augenpaares setzte sie hinzu:

»Aber das wird Ihnen gewiß recht schwer, in Ihrem jetzigen Zustand! ... Sagen Sie, haben denn die Aerzte Sie so herausgelassen aus dem Krankenhaus? ... Sie können doch so gar nichts unternehmen! ...«

»O!« sagte er, und auf seinem abgemagerten Gesicht zeigten sich die roten Flecken der Aufregung, »ich kann! Ich kann alles, gnädiges Fräulein! Mein Leben hat nur noch den einen einzigen Zweck! ... Wenn es wirklich dahin kommen sollte, daß ich das, was ich mir vorgenommen habe, nicht mehr ausführen kann, dann häng' ich mich auf!«

Sie verschloß ihm die Lippen mit ihren schlanken Fingern, die er in einer Regung leidenschaftlicher Dankbarkeit inbrünstig küßte ... Wer weiß, ob sie ihm Geld geben konnte und wollte, aber auf jeden Fall nahm sie Anteil an seinem Geschick – schon das erquickte ihn und machte ihn ihr ganz und gar ergeben.

»Und nun erzählen Sie mir von ihr!« sagte das schöne Mädchen, das in ein Gewand aus weicher, dunkelgrüner Seide gekleidet, in seiner raffinierten Einfachheit nur den Schmuck der roten, goldglänzenden Haare als Kontrast dagegen stellte.

»Wie gut, wie lieb und wie schön muß Ihre Frau gewesen sein, daß Sie ihr so die Treue halten!«

Er sagte nichts, nur seine Tränen sprachen.

»Haben Sie sie lange besessen?«

»Ein halbes Jahr.«

Sie ließ ihn ruhig sich in seine Erinnerungen versenken, dann sagte sie mit ihrer leisen, wie fernlockende Musik klingenden Stimme:

»Dachten Sie nie daran, welch' ein Glück in so kurzem Besitz liegt ... wie süß es ist, nur Liebe gegeben und nur Liebe empfangen zu haben ... ohne den geringsten Tropfen Haß! ... ohne ein hartes Wort! ... immer nur Liebe – dachten Sie nie daran?«

Er horchte auf, doch grollend sagte er:

»Aber es hätte darum doch so bald nicht enden brauchen!«

»Bald? ... bald? ... Das Glück ist nur ein Augenblick ... ein Hauch, der verweht im Winde ... eine süße Illusion, nichts weiter ...«

Ihre Stimme gab eine Ahnung von diesem Glück, sie schien körperlos, wie Geisternähe.

»Sie sind doch glücklich! ... Sie tragen sie ja noch immer in sich, diese Glut, die nicht verlöschen kann! ... Wissen Sie nicht, daß unsere Herzen im Leben sterben und im Tode leben?!«

Er sah sie an und trank den Balsam ihrer Worte wie ein Verdurstender. Und dann fiel ihm ein, daß er ja hergekommen war, um Geld von ihr zu fordern. Und die Angst von vorhin erfaßte ihn zwiefach, weil er einsah, daß er jetzt nicht imstande sein würde, sie zu bitten.

Es schien, als sähe sie die Furcht hinter seiner Stirne zittern und sich verstecken. Sie sagte plötzlich mit ganz verändertem, hellklingendem Ton, der ein Lächeln auf seine Lippen zauberte.

»Aber Sie brauchen Geld, nicht wahr?«

»Ja, woher wissen Sie denn?« stammelte er.

»Aber das stand doch auch in der Zeitung, daß Ihnen diese schrecklichen Menschen Ihre Brieftasche, alles, was Sie besessen, genommen haben ... nicht wahr, Herr Marquardt, Sie werden meine Hilfe nicht zurückweisen? ... Ich komme so selten in die Lage, wirklich etwas Gutes zu tun ... hier kann ich es mal.«

Er war auf die Knie gesunken und verbarg seine nassen Augen in ihrem Kleide. Sie lächelte, daß all der Schmelz, alle Jugend wieder in ihr Gesicht kam, und blickte verstohlen in den großen Kristallspiegel und fand sich selbst mit dem vor ihre knienden Manne in der Pose der Barmherzigkeit und der Rührung, welche die Wahrheit waren, ganz bezaubernd.

Indem klopfte es.

Heinz Marquardt sprang verwirrt auf.

Und nach einer Pause, in der die Schöne ihrem Besucher Zeit ließ, sich zu sammeln, trat der Diener auf ihr »Herein« in den Salon und meldete Herrn Schindler.

Da lachte sie hell auf.

Diese Lustigkeit hatte etwas so Ansteckendes, daß auch Heinz Marquardts Gesicht gleich hell wurde.

»Passen Sie auf,« flüsterte sie, »in fünf Minuten haben Sie Ihr Geld ... wieviel brauchen Sie denn?«

Eh' Heinz sich noch für eine Ziffer entscheiden konnte, trat Herr Schindler schon mit einem Blumenbukett herein, das viel zu groß war, um elegant zu sein.

Er machte ein bitterböses Gesicht, als er Marquardt bemerkte, dann aber sich zu einem süßsauren Lächeln zwingend, sagte er im nachgemachten Kavalleristenton:

»Na, schon wieder auf den Beinen, Herr ... Herr ...«

»Marquardt!« vervollständigte Hilda.

»Ah ... ja ... Herr Marquardt ... richtig! ... ganz recht ... hatte total vergessen! ... Nu sagen Se mal, Herr Marquardt, wie war Ihn' denn da so, als Sie so unter die Rotte Korah fielen?«

Er lachte ein paarmal kurz auf, offenbar erschien ihm diese Situation komisch.

»Er dachte an Sie, Herr Schindler!« nahm Hilda wiederum statt ihres Schützlings das Wort, »das heißt, nach der bösen Affäre hat Herr Marquardt besonders intensiv an Sie gedacht! ... Sie wissen doch, daß man dem Aermsten dabei sein ganzes Geld weggenommen hat?! ... Na, und ... das übrige ... das brauch' ich Ihnen, lieber Freund, doch wohl nicht erst sagen, was?«

»Wieso?« Der junge Mann, heute mit einem englischen Anzug in kleinem Karomuster angetan, der ihm das Aussehen eines etwas abenteuerlich geformten Schachbrettes gab, sah ganz verdutzt drein. Vielleicht kam ihm schon eine Ahnung dessen, was er erdulden sollte, aber sicher wußte er jedenfalls noch nichts.

»Wieso?« fragte er nochmals, »ich hatte doch nichts damit zu tun, mit der Affäre ...«

»Doch!« Hilda blieb stockernst, »doch, Herr Schindler! ... Sie haben damit zu tun! ... Nicht viel allerdings, sondern für Ihre Verhältnisse sogar sehr wenig! ... Um lumpige tausend Mark handelt es sich! ... Und nicht wahr, mein Lieber, daß Sie Herrn Marquardt diesen kleinen Verlust ersetzen, das ist doch ganz selbstverständlich, darüber reden wir gar nicht lange!«

Herrn Schindlers Gesicht schrie in diesem Augenblick nach dem Photographen. Aber Marquardt zitterte: wie konnte sie bloß so töricht sein und so viel von dem Menschen verlangen! ... Das gab der ja nicht, nein! nein! Jetzt würde er gewiß ohne einen Pfennig abziehen müssen!

Emil Schindler war inzwischen zu sich gekommen.

»Der Witz ist vorzüglich, jeliebte Hilda!« grinste er.

Aber sie unterbrach ihn sofort:

»Pst, Emilchen! Nicht so familiär! Das kann ich mir wohl erlauben, aber Sie noch lange nicht! Und vorläufig ist auch gar keine Aussicht, daß wir jemals dahin kommen. Ich pflege nämlich meinen Verkehr nicht unter Knickern und Geizhälsen zu suchen ...«

»Wie meinen Sie denn das?« jammerte er, »was soll ich denn tun?«

»Na, ich glaube, ich habe Ihnen das doch hinreichend angedeutet!«

»Na, was geht mich denn der ... der Herr da an!«

Hilda stand auf und wandte sich zu Heinz:

»Bitte, Herr Marquardt, wir wollen uns im Nebenzimmer weiter unterhalten!«

»Aber nein! Nein!« Emil Schindler war schon an ihrer Seite: »Sie wissen doch, daß ich alles tue, was Sie haben wollen! ... Daß ich jeden Blödsinn ausführe, wenn Sie's befehlen.«

»Erstens befehle ich keinen Blödsinn und zweitens werden Sie selten oder nie imstande sein, das zu beurteilen! ... Also wollen wir das Geschäftliche bitte erst erledigen, Sie gestatten doch!«

Und ohne Umstände dem Jüngling in die innere Jakettasche greifend, suchte sie nach seinem Portefeuille.

»Nee, Jott sei Dank,« meckerte er, »da is es nich! Draußen im Paletot ...« Er ging zur Klingel.

»Na, das hätt' ich wissen sollen,« scherzte sie, da hätt ich Sie wegen der Lappalie erst gar nicht lange angestrengt!«

Der Diener kam und brachte auf Hildas Befehl den Ueberrock des jungen Mannes.

»Da Sie schon gerade dabei sind, Emilchen, lassen Sie gefälligst gleich noch einen braunen Lappen raus, ich habe meiner Putzmacherin für morgen 'ne kleine Abschlagszahlung versprochen ... so, my boy, schönsten Dank! Und hier, lieber Herr Marquardt, haben Sie Ihr Eigentum zurück ... wenn der Herr es Ihnen auch nicht gerade genommen hat, so war doch sein Vater darin groß, im Nehmen, meine ich ...«

»Aber Hilda!«

»Aber Emil! ... Ich behaupte ja auch nicht, daß Ihr verehrter Papa jemals etwas gestohlen hat ... nein, nur genommen, und zwar Prozente, zweihundert und darüber ... So, lieber Emil, und jetzt, nachdem Sie Ihre Schuldigkeit voll und ganz getan haben, jetzt können Sie wieder gehn ... Morgen um diese Zeit bin ich für Sie zu sprechen, der heutige Tag gehört meinem armen Freunde hier, der mich nötiger braucht, wie Ihr alle zusammen! ... Und grüßen Sie den Grafen, wenn Sie ihn sehen!«

Der kleine Herr wollte lamentieren und legte sich schließlich aufs Bitten, aber es nützte ihm alles nichts, sie führte ihn selbst hinaus.

Dann zu Marquardt zurückkehrend, scherzte sie:

»Na, was sagen Sie nun zu mir? Bin ich nicht ein herzloses Ungeheuer, das die Männer ausraubt, wie ein Vampyr? ... Ach, lieber Freund! ... im Grunde genommen macht mir das alles keinen Spaß! ... Ich möchte nicht in Dürftigkeit leben, da würde ich eine zugemachte Ofenklappe oder etwas Blausäure vorziehen, aber das Verschwenden wird auf die Dauer auch langweilig ...«

Sie dehnte ihren schlanken Körper, breitete die Arme weit aus und mit ihren goldfarbenen Augen in Weiten starrend, von denen bei Mann, der vor ihr saß, nichts ahnte, sagte sie mit ihrer süßen Stimme so leise schwebend, daß es war, als redete das Unsichtbare, das Schweigen selber:

»Ich habe Sehnsucht ... wonach weiß ich nicht ... mein Hunger ist nicht zu stillen, weil ich meine Speise nicht finde ... vielleicht die Liebe, die ich nicht kenne ... wer sie mich lehren würde! ... wer sie mich lehren würde! ...«

Und dann trat sie in einer jäh erwachenden Regung an Marquardt heran:

»Du armer! ... Du hattest sie gefunden und hast sie verloren! Und nun suchst Du ... aber die Sterne fallen nur einen Augenblick ... Dann verlöschen sie für immer ... und sucht man die toten Sterne? ...«

Sie beugte sich über ihn und küßte seine fiebrigen Lippen, daß er erschauerte.

»Dich könnte ich lieben, aber nur so, wie Du jetzt bist, so elend, so traurig um die Tote! So bist Du anbetungswürdig, so ...«

Er starrte sie fassungslos an. Er verstand dieses Suchen nach Sensationen, dieses Tasten einer bis ins Abnorme verfeinerten Seelenspitze nicht. Und sie sah das und berauschte sich doppelt an seinem Staunen.

Dann erhob sie sich und sagte:

»Geh jetzt ... aber ja, eins noch, wenn Dir einmal auf Deinen finsteren Wegen ein Mensch mit Namen Erwin Boras aufstoßen sollte ...« Sie besann sich:

»Nein, vergiß den Namen lieber wieder, er hat ihn vielleicht schon selbst vergessen ... aber achtgeben kannst Du doch: er ist groß, wie ich, nein, noch größer, hat glänzend schwarzes, sehr glattes Haar und ein starres, düsteres Auge ... Wer er war? Auch das will ich Dir sagen: er war mein Bruder ... Und solltest Du ihn finden, so nenne ihm nicht meinen Namen, sage überhaupt nichts von mir, sondern sprich bloß zu mir von ihm! Ich weiß nicht, wie Du ihn finden wirst, aber ich fürchte ...«

Sie unterbrach sich plötzlich.

»Ich glaube, daß ich ihn trotz alledem lieb haben müßte, wenn er wiederkäme ...«

Und plötzlich, sich wie eine furchtsame, frierende, kleine Katze auf einen seidenen Puff niederkauernd, sagte sie leise:

»... Wir rannten immer zusammen durch die Straßen, der kleine Junge und ich ... wir bettelten, bis sie uns eines Tages beide ins Waisenhaus brachten. Aber er blieb nicht, er riß aus ... Und dann kam er eines Tages zu den Leuten, wo ich Kammermädchen war, und bat mich um Geld ... ich gab ihm auch welches aber sie fingen ihn doch ein ...«

Ihre traurigen Augen schienen weit hinaus nach dem Verlorenen zu suchen.

»... Wie wir uns wiedersahen, half er mir. Ich hatte zum erstenmal kennen gelernt, was die Männer wert sind ... und ich glaube, ich wollte mich umbringen ... Ganz zufällig kam er ... ich sehe noch heut die Konditorei in der Friedrichstraße, wo ich für meine letzten fünfzig Pfennig Schokolade trank. Damals hatte er eine Stellung und eine Braut, Trude hieß sie und war ein süßes Geschöpf ...«

Marquardt horchte auf.

»Trude? ... So hieß meine Frau ...«

»Ach! ... ja, die Truden sind immer gut ... ich hatte eine Schwester, die hieß auch so ... aber sie starb mit zwei Jahren ... Gott sei Dank!«

»Und die andere?« fragte Marquardt, den ein peinliches Gefühl bewegte.

»Ach die! ... Ja, eines Tages erfuhr sie, daß Erwin schon mal Unglück gehabt hatte. Da war's aus ... und ich glaube, das hat ihn wieder hineingestoßen in das wilde Leben ... ich weiß nicht ... wir haben uns danach selten mehr gesehen ... Ein paarmal las ich in der Zeitung ... ach! ...«

Sie schüttelte sich. Und mit einer Bewegung, als wollte sie alles von sich fortdrängen, erhob sie sich von dem Kissen und streckte Marquardt die Hand zum Abschied entgegen.

»Leb wohl und denk' an mich! Ich bleibe Deine Freundin! ... Und höre, vielleicht kann Dir das nützen: Jeden Freitag abend ist hier eine Gesellschaft von allen möglichen Menschen beisammen. Alles sehr elegant gekleidete und daher feine Leute. Der bekannte Graf Manolesko war seinerzeit auch hier und hat uns von seinen indischen Reisen unterhalten ...

»Der Hochstapler?« fragte Heinz zögernd.

»Jawohl! ... Vielleicht hat es Zweck, daß Du herkommst, mein Lieber! ... Also leb wohl, auf Wiedersehen!«

Und sie umarmte ihn und küßte ihn wie eine Schwester.

Ganz wirbelig und wie berauscht erreichte der junge Beamte die Straße.


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