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14.

Das Gefolge, das die so jäh aus dem Leben gerissene Trude Marquardt zu Grabe geleitete, war fast unabsehbar; aber da war nicht die lange Reihe dunkler, mit schwarzen Pferden bespannter Trauerwagen hinter der Galakutsche, welche unter versilbertem Baldachin einen prunkvollen Sarg birgt, keine rauschende Weisen spielende Musikkapelle ließ sich in diesem traurigen Zuge vernehmen, und selbst die Feierlichkeit, die von wahrem oder erheucheltem Schmerz diktierte Stille fehlte diesem Begängnis.

Wie bei den Heerhaufen in alter Zeit, die sich truppweise, hier und dorthin verstreut, fortbewegten, zogen die Ansammlungen arbeitsloser, neugieriger und skandallüsterner Menschen dahin, vor und hinter dem Sarge, den ein schmuckloser Wagen in hastiger Gangart fortzog.

Selbst Radfahrer waren im Zuge, und die auch hier nicht fehlenden Verbrecher der verschiedenen Kategorien erkannten in einigen von den Radlern schnell ihre guten Bekannten vom Polizeipräsidium.

Der Britzer Emmauskirchhof, zu dessen Parochie die Verstorbene gehörte, war, als der Kondukt anlangte, von uniformierten Polizisten abgesperrt.

Es war ein nebliger Tag. Eine große Traurigkeit lag über den Totenfeldern.

Die Beerdigung war, mancherlei Formalitäten wegen, erst spät am Tage vor sich gegangen, und als man draußen auf dem Gottesacker ankam, hatte der amtierende Geistliche noch zwei frische Gräber einzusegnen, ehe er sich dieser Toten, der er erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken beabsichtigte, zuwenden konnte.

Drüben auf den Feldern trieben sich zahllose Krähen umher, die jetzt, da der Tag schon zur Neige ging, und die Sonne sich langsam in ihr flammendes Pfühl vergrub, abstrichen und mit lautem Gekrächz über die Ruhestätte der Geschiedenen dahinschwebten.

Ein grandioses und zugleich schauerliches Bild, diese ungeheure Ebene, in der Friedhof sich an Friedhof reihte, mit ihrem gelben unfruchtbaren Boden, in den unablässig die menschliche Saat hineingesenkt wurde, von der es heißt, daß sie einst aufblühen soll zu neuer unvergänglicher Schönheit.

Aber das empfand die Menge nicht, die man vorsichtig, wie Bestien in ihren Zwinger, zu Paaren durch das von Wachtmännern flankierte Friedhofstor hineinließ.

Wie eine Ermordete beerdigt wird, das wollten sie sehen, darum hatten sie den weiten Weg gemacht, zu Fuß an diesem kalten Wintertage, der aussah, als sollte es nimmermehr Frühling werden.

Als ein Teil der Leute drinnen war, verschloß man einfach das Tor, so die in weitaus größerer Anzahl draußen Harrenden zum Murren bringend, das sich bald zu Schimpfworten und lauten Verwünschungen steigerte.

Der Polizeihauptmann, der hier den Sicherheitsdienst leitete, trat alle Augenblicke vor das Tor und spähte nach den Schreiern aus, die sich dann sofort in der Menge duckten und zurückwichen.

Aber plötzlich schien dieser Gewaltige anderen Sinnes geworden zu sein. Ein Herr in Zivil war an ihn herangetreten und hatte leise einige Worte mit dem Offizier gesprochen. Daraufhin ließ dieser die Torflügel beide weit aufmachen und, nachdem die Menge, wie in einem plötzlich aufsteigenden Mißtrauen, einige Augenblicke gezögert hatte, drängte sie mit doppelter Gewalt in breitem Strom durch das Tor, an dem linksstehenden Blumenparterre des Totengräbers und dem Beinhause vorüber, dann zwischen den Gräbern zerrinnend und in kurzer Zeit fast den ganzen Kirchhof mit ihrer durch den Ernst des Ortes kaum gedämpften, schwatzhaften Neugier erfüllend.

So voll war der Kirchhof, daß man in einem weiten Umkreise um das für Trude Marquardt bereitete Grab die Hügel nicht sah. Wo immer die kleinen Eisenkreuze, die mit schon verwischten Namen beschriebenen Porzellanbibeln und seltner, viel seltener, Marmor- oder Granittafeln aus dem Epheu der Gräber, zwischen Gras und dürren Kränzen hervorragten, überall standen und bewegten sich Menschen. Männer und Frauen und selbst Kinder, die gefühllos umherschnüffelten; die, rings umgeben vom Tode, sich nicht für einen Augenblick von den lächerlichen und törichten Angewohnheiten ihres Lebens befreien konnten.

Uebrigens patroullierten auch viele Schutzleute auf den breiten Wegen, welche den Kirchhof rechtwinklig durchschnitten und ihre Kameraden in Zivil, die ihre Räder beim Totengräber eingestellt hatten, halfen denen in Uniform, offenbar auf der Suche nach bekannten Gesichtern.

Die Pforten des Kirchhofs waren wieder unauffällig geschlossen worden. – Die Menge wartete, da noch immer der helle Ton der doch nur in der nächsten Nähe verständlichen Predigerworte herüberklang.

Endlich vernahm man von drüben das dumpfe Schollern der Erde: jenes Grab wurde zugeschaufelt.

Der Prediger ging zurück zur Leichenhalle.

Die Volksmasse drängte nach, als sollte ihr dieser Mann, wie weiland Jesus von Nazareth, ein Wunder zeigen; und es war doch nur eine arme ermordete Frau, die in einem schlichten Sarge lag, den nicht einmal die Liebe der Hinterbliebenen ihr gespendet hatte.

Denn der Gatte, der auf dieser Welt allein ihr gehört hatte, lag von den Genossen desjenigen, der sie um ihr junges Leben gebracht hatte, verwundet und halbzertreten in Fieberphantasien im Krankenhause ...

Von Angehörigen waren nur Herr und Frau Lehmann, jenes Kolonialwarenhändler-Ehepaar, erschienen, bei dem sich Heinz Marquardt Geld geliehen hatte, um den Mörder seiner Frau zu finden.

Diese guten Leute hielten sich dicht an den Pastor, einen untersetzten, noch jugendlichen Mann, dessen Schwärmergesicht doch nichts zu sehen schien von dem widrigen Troß, der in schamloser Schaulust hinter ihm herdrängte.

Herr Lehmann, der um den Aermel seines braunen Winterpaletots einen Flor und einen sehr schmalkrempigen hohen Zylinder trug, hielt das in Sammet mit Silberbeschlägen gebundene Konfirmationsgesangbuch in der Linken, während er am rechten Arm seine Frau führte, eine fette Blondine, die über ihrem schwarzen Kleide ein Pelzcape aus imitiertem Chinchilla trug.

Sie trauerten beide aufrichtig, wahrscheinlich mehr um den Vetter, dessen Leben nun auch in Gefahr schwebte, als um die Ermordete, die sie ja kaum gekannt hatten, und – begreiflicherweise – auch wohl um ihr Geld, das sie schon nicht mehr wiederzukriegen fürchteten.

Und noch jemand war da, der Marquardt und auch die Verewigte gekannt hatte: Ernestine Augst.

Aber nicht allein die große Zuneigung zu dem Verwitweten trieb das Mädchen hier hinaus, da waren eine ganze Menge von anderen Gründen, wegen deren sie an dem Leichenbegängnis teilgenommen hätte, auch wenn sie sich auf allen Vieren hätte nach Britz schleppen müssen.

Bei ihr war es aber weder Neugier noch die Sucht nach Veränderung, was sie nicht auf einem Platz bleiben ließ. Sie suchte jemand. Einen Menschen, dem sie ihre Beobachtungen hätte mitteilen können. Einmal glaubte sie, diesen Menschen gefunden zu haben in dem Kolonialwarenhändler.

Aber kaum machte sie Miene, an ihn heranzutreten, als Frau Lehmann, die den zweifelhaften Charakter des Mädchens mit dem sicheren Blick der Kleinbürgersfrau und Ladeninhaberin sofort erkannte, ihren Mann so ostentativ beiseite zog, daß Ernestine zu einem zweiten Versuch nicht den Mut fand.

Sie hatte übrigens auch wohl bemerkt – die kleine Szene spielte sich vorher, als der Geistliche noch an jenem anderen Grabe beschäftigt war, ab –, daß die Frau ihren Mann derb ausschalt, jedenfalls weil sie ihn im Verdacht hatte, die Annäherung des Mädchens habe eine für den Kaufmann nicht eben rühmliche Vorgeschichte.

Die kleine, runde Ernestine fieberte vor innerer Erregung! ... War denn niemand hier, dem sie ihre Beobachtungen mitteilen konnte? Der Polizei, das wäre das Allereinfachste gewesen! – Aber davor scheute sie sich. Aus allen möglichen Gründen. Der Gedanke an die Polizei war ihr so unangenehm, wie all' den Leuten, die aus irgendwelchen Ursachen nicht gern etwas mit den »Behelmten« zu tun haben. Und dann fürchtete sie sich vor der Rache derer, die sie verraten mußte.

Noch glaubte sie unbemerkt geblieben zu sein von jenen beiden Männern, die sie selbst mit so atemloser Spannung verfolgte.

Diese beiden Leute bewegten sich hin und her unter dem Publikum. Wenn Ernestine noch eben ihre ziemlich ähnlichen hellbraunen und steifen Filzhüte zu sehen geglaubt hatte, so waren sie im nächsten Augenblick unter der Menge verschwunden. Aber jetzt, jetzt sah sie sie wieder! –

Nein, nur den einen! – – –

Das war ihrer! – – –

Eben trat er auf einen Hügel, um besser sehen zu können.

Sie duckte sich, von rasender Angst ergriffen. Die Narbe, die ihren üppigroten Mund zerschnitt, brannte wie Feuer.

Ja, ja, ihn kannte sie ganz genau, diesen rohen, gewalttätigen Patron, der, wie in einem gräßlichen Hohn, den Namen Heiland trug. Dieses blasse, schmale, verwegene Gesicht mit den vor keiner Schandtat zurückschreckenden Augen, die sich hinter einem schwarzen Hornkneifer versteckten ... Mager, und zähe, daß er eine Woche lang nicht zu schlafen brauchte und doch genau so frisch war, wie am ersten Tage ... ja, das war er! ... wo er bloß das Geld jetzt wieder her hatte zu der eleganten Schale Schale = Anzug., und sogar seinen Stock hatte er wieder, den mit dem silbernen Knopf und dem Stilet drin ...

Eine rasende Wut kam über das Mädchen. Ein Zorn sondergleichen, der eine seltsame Mischung von Haß und Bewunderung und Aerger war, daß er ihr jetzt nicht mehr gehörte. Aber dann dachte sie wieder an Marquardt, an den Mann, der sie verschmäht hatte und den sie doch liebte mit jener tiefen innigen Zuneigung, die zu jedem Opfer bereit ist.

Da richtete sie sich auf, und wie ihr früherer Geliebter in diesem Augenblick auch gerade herübersah, trafen sich ihre Augen – in denen des Mädchens war nur eine finster drohende Verachtung, während er höhnisch lächelte.

Er verschwand aber gleich vom Hügel.

Der Geistliche fing an zu sprechen.

Das blasse Asketengesicht hinaufgekehrt zu dem grauwolkigen Winterhimmel, der finsterer und immer finsterer wurde, hob der Priester seine große Hand auf und rief mehr, als er sprach:

»Andächtige!«

Und als sei ein Beschwörungswort ausgesprochen von diesen frommen Lippen, so bannte plötzlich das Schweigen die Tausende, die den Gottesacker belebten.

»Da liegt eine, die ermordet ist!«

Die Hand, die in dem Schatten des Abends immer größer wurde, zeigte dräuend auf den Sarg.

»Ermordet von einem Bruder, von einem Menschen, den Gott auch gemacht hat, und der das Herz seines Gottes mit heiligem Groll erfüllt über diesen Frevel!«

Die Worte klangen nicht mehr, als kämen sie aus dem Munde des einen Mannes, sie kamen vom Himmel herunter, von dem schwarzgrauen, lastenden Winterhimmel, der im Niedergang wie Brandfackeln leuchtete.

Und die anklagende Stimme wurde noch lauter:

»Wer hat das getan? ... Wer ist so verrucht, so aufrührerisch gegen seinen Schöpfer, daß er es wagt, ein Leben zu zertreten, das Gott gemacht hatte, damit es blühen sollte und Früchte tragen für die, die es liebten?!«

Der Geistliche hob seine beiden Arme hoch gen Himmel und schleuderte noch einmal seinen Zornesruf über die Menge hinweg:

»Wer hat das getan?! ...«

Da begannen die Frauen ringsum im Kreise zu schluchzen. Und die Männer, die sich nicht so ans Herz fassen wollten, wischten doch mit dem Rücken der Hand über die Augen.

Auch in Ernestines Augen perlten die Tränen. Aber sie trocknete sie schnell wieder fort, denn eben tauchte ihr ehemaliger Bräutigam drüben wieder auf und neben ihm – ja! – ja! ja! das war er!! –

Ihr Auge, das jenen nicht losließ, stritt mit dem Ohr, das des Pastors Worte immer wieder ergriff.

»Es wird gesagt,« klang es stark und voll von dem aufgeworfenen Sandhügel, »wenn das Opfer des Mörders begraben wird, dann kann der, der seine Hand mit dem schuldlosen Blute befleckt hat, den Drang nicht zügeln, dorthin zu eilen, an die offene Grube, um noch einmal hinabzusehen auf den Leichnam. Ist das so und ist er vielleicht hier unter Euch Andächtigen ...?«

»Ja!« kreischte plötzlich eine gellende Weiberstimme, und ein Arm reckte aus der Menge, »ja, da ist er! ... Da drüben steht er!«

*

Nun entstand eine wahre Panik! Die Menschen stießen und drängten sich wie unsinnig. Sie fielen über die Gräber, Frauen wurden zur Erde geworfen, man trat auf die Kinder, und der ganze Friedhof hallte von Wehgeschrei und wütenden Rufen.

Die Polizeibeamten, die der Aufschrei des Mädchens in die wildeste Aufregung versetzte, drängten durch die Menge nach dem Mörder, von dem ja keiner wußte, wie der aussah, und sie umringten das Mädchen, Aufklärung fordernd, auf sie einschreiend, wodurch sie die zitternde Ernestine um den letzten Rest ruhiger Ueberlegung brachten.

Ein nervöses Fieber schien die Aermste gepackt zu haben. Sie weinte und schluchzte, und irgend etwas Vernünftiges aus ihr herauszubringen, war ganz unmöglich.

Nun stürzte ein Teil der Beamten nach dem Ausgang, aber die Menschenmenge, von der nur ein ganz geringer Teil wußte, worum es sich handelte – die Fernerstehenden hatten ja weder des Pfarrers Worte noch Ernestines Gekreisch verstanden – die Menge brandete gegen das Eisengitter, heulend und schreiend, wollte selbst hinaus und arbeitete sich in der Angst, totgedrückt zu werden, brutal zurück, damit immer größere Verwirrung anrichtend.

Einige wollten nachher einen Mann über die ziemlich hohe Mauer des Kirchhofs klettern gesehen haben. Aber die Beschreibungen dieser Leute widersprachen sich, die Polizei war allein auf Ernestine Augst und deren Wissenschaft angewiesen.

Die hatte sich zu dem Pastor geflüchtet, und wie ein echter Mittler zwischen dem Mitleid des Allgütigen und dem elendesten seiner Kinder hielt der noch immer auf dem Sandhügel stehende Geistliche seine Hände über der Knienden.

»Lassen Sie sie!« wehrte er dem Kommissar Hartmuth, der das Mädchen sofort verhaften wollte. »Mir wind sie alles sagen!«

»Ja, ja!« schluchzte Ernestine, »Ihnen, Herr Pastor, bloß Ihnen!«

Und durch die Menge, die sich allmählich beruhigt hatte und scheu zurückwich, ging der Priester mit der Dirne, wie einst der unsterbliche Galiläer mit der großen Sünderin ...

Die Nacht war herab gesunken, und ein kaltes Wehen erhob sich. Durch die wieder geöffneten Tore schoben sich die Menschen, mehr geängstigt als erschüttert von der furchtbaren Nähe des Verbrechens.


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