Hans Hopfen
Peregretta
Hans Hopfen

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Die Buchstaben tanzten mir vor den Augen, ich las noch einmal, was mir unverständlich, was mir unmöglich däuchte. Ich rief das Gesinde aus dem Schlaf und sie kamen alle herbei, aber Niemand wußte eine Sylbe von dem Verschwinden Peregrettens, Niemand bis auf Einen, und der stand auch nicht vor mir, der Kutscher. Auch die Pferde und der Wagen waren davon. Gegen Mittag indessen kam der gute Bursche mit seinen Rossen arglos nach Hause, und als ich ihn wie ein Rasender anfiel, war er ganz verblüfft. Erst nach und nach konnte ich dem vor Erstaunen Starrenden die Antworten auf meine wiederholten Fragen abnöthigen. Als er nach Mitternacht aus dem Wirthshause heimgekommen, habe ihn seine Herrin mit der Weisung empfangen, sofort anzuspannen. Denn ich sei bereits mit Lohnpferden vorausgefahren, um in Grimmelsdorf die dringendsten Geschäfte für eine kleine Reise zu besorgen, zu welcher wir uns Beide rasch und plötzlich entschlossen hätten. Dort angekommen, hieß sie ihn sofort umkehren, denn es sei besser, dem Herrn, der wahrscheinlich schon lange auf ihn wartete, nicht in seinem 165 Zorne zu begegnen. Dieß habe er denn auch sich nicht zweimal sagen lassen, unterwegs aber sich um so mehr Zeit gegönnt, da er Niemanden von der Herrschaft daheim zu finden denken konnte. Von der Richtung, welche meine Gattin eingeschlagen, hatte er keine Ahnung. – –

Frage mich nicht, was ich nach dieser Erkenntniß meiner Lage alles angab und aufbot. Obwohl ein umfahrendes Suchen kaum mehr Erfolg versprechen mochte, als ein ergeben zuwartendes Daheimbleiben, bis etwa da oder dort eine mehr oder weniger verlässige Spur auftauchte, so duldete doch meine martervolle Verlassenheit kein Stillesitzen und Zusehen. Noch am selbigen Tage verabschiedete ich meine Dienerschaft bis auf zwei alte, erprobte Leute, denen ich mein Haus anvertraute, und dann reiste ich, der ich weder links noch rechts wußte, auf's Gerathewohl in die weite Welt hinein, um nach dem Schatten des Weibes zu fahnden, das mich in so unseliger Verblendung verlassen. Meine ersten Nachforschungen stellte ich in jener Kreishauptstadt an, welche wir jüngst mit einander besucht. Es war nichts zu entdecken. Und so fuhr ich denn Land aus Land ein, die Kreuz und Quer durch's liebe heilige Reich und machte Halt in jeder Stadt, in jedem Dorf, überall, wo nur, in Palästen oder Scheunen von 166 Brettern, die die Welt bedeuten sollten, ein deutsches Wort auf deutscher Zunge klang. Ich inquirirte alle Bühnenvorstände, ich bestach alle Theateragenten, ich holte alle Reisenden aus, ich beschrieb die Erscheinung Peregrettens allen Kellnern in den Gasthäusern, sowie den Lohnbedienten und Fremdenführern. Ich besuchte alle Kirchen und öffentlichen Plätze, und dann packte ich wieder plötzlich auf, weil mich ein vages Gerücht, irgend eine trügerische Nachricht, ja eine leise Ahnung nur sofort nach der entgegengesetzten Himmelsgegend trieb, um dort von Neuem meine heillosen, alles Anhalts entbehrenden Nachforschungen anzustellen. Es ist eine kleinliche Spielerei, eine lange, beschwerliche Reise zu unternehmen, die doch ihr festes Ziel und Ende hat, gegenüber diesem Fliehen nach allen Linien der Windrose hin. Ich hätte ebensogut ausziehen können, um eine Nadel auf der Landstraße zu finden, eine Welle im Weltmeer wieder zu erkennen.

So oft ich in einen Wagen stieg, redete ich mir vor: während dich dein Wahn just nach Westen zieht, spricht sie vielleicht in dem fernsten Städtchen des deutschen Ostens zum versammelten Volke. Die peinlichsten Stunden waren immer die Abendstunden, wo ich mir sagen mußte: jetzt steht sie auf einer Bühne, von tausend Augen gesehen, von tausend 167 Ohren gehört, während sich deine Sinne vergebens abmühen, in der Fülle der Begegnenden ihre Stimme zu vernehmen, ihre Gestalt zu entdecken. Dann malte ich mir – o wie viel Tausend- und Tausendmal! die Szene des plötzlichen Wiedersehens und Wiederfindens aus, bald wild und stürmisch und zwingend, bald überlegt, zurückhaltend und damit zufrieden, sie nur endlich gefunden zu haben. Wie oft schwor ich bei mir, ich wolle sie mit keinem Blick, mit keinem bösen Wörtchen kränken, wenn ich sie nur erst wieder mit meinen Händen hielte; und dann weinte ich wieder die bittern Thränen der Entrüstung über diese sinnlos sündige Flucht.

Mit dem alten Diener in meinem Hause blieb ich in fortwährendem, wenn auch sehr einsylbigem brieflichen Verkehr. Er war stets von meinem Reiseziel, wenigstens von den größeren Orten, in Kenntniß gesetzt und hatte die Weisung, mir allwöchentlich wenigstens zweimal zu melden, ob die Verschwundene kein Zeichen von sich gegeben habe. Das war noch mein bester, mein tröstlichster Gedanke, daß wenn ich mich halb todt gesucht und gerade recht weit von der Heimat wäre, daß dann ein hastiger Brief meines alten Klaus mich eiligst nach Hause riefe, denn Peregretta habe alsdann doch Wort gehalten und sei endlich wieder heimgekehrt, von Reue getrieben oder 168 Sehnsucht, oder weil ihr die Welt nur ungastliche Mienen geboten, oder weil sie vernommen, wie ich rastlos, friedelos nach ihr die Länder durchstreife. Aber dieser Strahl der Hoffnung hatte nie dauernde Kraft, alsbald löste diese friedlicheren Gedanken die quälendste Eifersucht ab, welcher eine erfinderische Phantasie mit fluchenswerthem Fleiße dienstbar war. In fieberhafter Aufregung malte meine Einbildungskraft mir täglich tausend Möglichkeiten vor, eine peinigender denn die andere, Möglichkeiten, wie sie Peregretten auf dem gefahrvollen Wege begegnen mußten oder mochten, den sie ohne Führer und Freund, bloß ihrer eigenen Seelenkraft vertrauend, beschritten hatte. Bald war's die Noth oder der Mangel an Anerkennung, die mir die reinen Züge meines Weibes im Hohlspiegel meiner Phantasie verzerrt erscheinen ließen; bald waren es Leichtsinn, Ruhmsucht, Eitelkeit und Gefallsucht, die in irrendem Kreisel um ihr scherzendes Ebenbild sich drehten. Dann sagte ich mir, sie hat dich, der sie gequält, der sie der lichten Sphäre, welcher ihre Geister angehörten, freventlich vorenthielt, sie hat dich, den Narren, den sie geliebt, vergessen, nie kehrt diese freie Lerchenseele wieder in den engen Käfig deiner grotesk verzierten Häuslichkeit zurück – du wirst sie niemals wiedersehen.

In diesem schwarzen Gedanken bettete ich meine 169 Nächte, wie sich der Trappist in seinem Sarge schlafen legt. Jedoch der asketische Mönch zwingt wohl mit dem Zauber der Gewöhnung auch Schlaf und Traum auf die harte Liegerstatt des Todes, wie auf ein Bett von Eider und Flaum; wenn aber ich so schweigend, in den Wagenwinkel gedrückt, dahinfuhr durch die schwülbrütende Sommernacht, wenn ich in die wehende Funkensaat stierte, die mit Gewittereile an den kleinen Fenstern vorübersprühte, und die Stationen zählte, die wir in der Nacht zurücklegten, und nichts hörte als das eintönige Klappern der Maschinen, oder hie und da den Ruf eines Wächters, oder das Bellen eines Hundes, welchen der rasselnde Zug über die Schienen aus seiner Ruhe geweckt, und nichts fühlte als den dumpfen Schmerz in Haupt und Herzen und die ewig wiederholten gleichmäßig schaukelnden Bewegungen, in welchen sich der Wagen auf dem ehernen Geleise fortrollte – da kam kein Schlaf über meine müden Sinne, und nur zuweilen löste ein erquickungsloses Verschwinden des Bewußtseins oder eine die Bilder des Tages in abscheulichste Fratzen verzerrende, traumartige Nervenerregung das finstere Brüten meiner nächtigen Seele ab. In jedem Train, der an dem unseren vorüberbrauste, meinte ich dann beim Schein der Laternen eine Gestalt wie die ihrige erkannt zu haben, jede Frauenstimme, die aus dem 170 Gewühl beim Aus- und Einsteigen Nächtens an mein Ohr klang, schien mir, nur geflissentlich entstellt, die ihrige. In solchen Nächten, wenn ich mit brennenden Augen in's formlose Dunkel starrte, und mit verhaltenen Wehrufen leise meine Hände rang, da, meine ich, sehnte ich mich zuweilen eben so sehr nach des Schlummers Erholung, wie nach dem Wiedersehen Peregrettens.

Es fiel mir öfters ein, einmal gehört zu haben, daß auch die Fische und etliches andere Gethier einer schlummerlosen Nachtruhe pflegten; aber der Mensch ist nicht wie das stumme Wasserwesen, und welkt dahin und verkommt, wenn nicht ein süßes Hinüberdämmern in's Nichts das aufzehrende Bewußtsein des Daseins zuweilen von seiner Seele nimmt.

Wenn ich dann die langen Fahrten auf den Eisenbahnen mit dem Aufenthalt in Städten oder Flecken vertauschte, war mein Zustand um nichts besser, die Aufregung des wieder und wieder enttäuschten Suchens und Stöberns steigerte meine Ruhelosigkeit nur immer mehr. Wenn ich des Tages durch die Straßen ging, meinte ich noch immer das Stoßen und Klappern der dampfgehetzten Räder in den Ohren zu hören, und wenn ich Nachts, nachdem ich ein oder auch mehrere Theater besucht, todmüde mich auf meinem Lager hin und her wandte, wiederholten 171 meine zerquälten Sinne noch fortwährend das Geschrei der Schauspieler, das Stimmen und Musiziren des Orchesters, das Beifallgeklatsche der Zuhörer, Alles in wüstem Durcheinander.

Die Kräfte meiner Sehnen schwanden, die Haare fielen mir von den Schläfen, und über meiner Stirne lagerte sich ein dumpfes Schmerzen, welches mich nicht mehr verlassen wollte. Dennoch hielt die Maschinerie meines Leibes, von der treibenden Hast des Einen Willens gejagt, nach all' den Leiden und Störungen über Erwarten zäh aus. Dagegen gewahrte ich das Veröden und Erschlaffen meiner Seelenkräfte. Mein Geist, der immerdar nur auf den Einen Punkt starrte und in seinen Planen, ihn zu erreichen, immer mit derselben grausamen Gleichmäßigkeit gekreuzt wurde, begann alle Aufmerksamkeit, alles Interesse für die Dinge der ihn umkreisenden Welt zu verlieren und nur mit dem Einen Wunsch in stumpfsinniger Beharrlichkeit zu verkehren. Ich ließ ihm keinerlei Erholung und führte ihm auch von Außen keine bildende oder aufheiternde Nahrung mehr zu. Denn ich las nichts mehr als die Anzeigen über Reisende und Verunglückte, und dann sämmtliche in Deutschland erscheinende Theaterjournale, diese, den erbärmlichsten Theil der Tagesliteratur, freilich mit ängstlich wiederholender Genauigkeit.

172 Solch' ein Leben – wenn es anders noch ein Leben zu nennen ist – hatte ich nun schon zwei Monate geführt; da finde ich in irgend einem Komödienblättlein einen ausführlichen Bericht über die erstaunliche Erscheinung einer neuen Schauspielerin, welche durch Talent und Bildung ungewöhnliche Erfolge erringe. Das ganze Signalement, auch die Auswahl ihrer Rollen entsprachen vollkommen der Vermuthung, die da sofort in mir aufstieg. Nur der Name klang fremd und theatralisch, aber was konnte das auf sich haben? Wie oft hatte ich in den letzten Wochen schon Anzeigen von weit geringerer Wahrscheinlichkeit zu Liebe weite Tagereisen unternommen. Ich griff sofort nach anderen Journalen annähernden Datums und fand in ihnen einige Notizen, bald größere, bald kleinere, welche jedoch sämmtlich meine Vermuthung zu bestätigen schienen. Sofort machte ich mich zum Aufbruch fertig.

Der Ort, wo ich die bezeichneten Nachrichten geschöpft hatte, war ein Kaffeehaus in Zürich, wohin ich der zur neuanhebenden Saison ankommenden Schauspieler wegen von Karlsruhe gereist war; das Theater, auf welchem ich mein Weib wiederzufinden hoffen durfte, gehörte einer vielgenannten Provinzialhauptstadt mitten im deutschen Norden.

Ich fuhr Tag und Nacht, ich konnte nicht mehr 173 essen und kaum mehr stille sitzen; ich sah immer zum Wagen hinaus und mein Herz schlug manchen Schlag über die Sekundenzahl. Ein Gefühl, das ich hätte Freude nennen mögen, ließ mich alles das weniger empfinden.

Als ich am Bahnhof meiner Absicht ankomme, ist's bereits finstere Nacht; ich aber gebe mein Gepäck einem Wärter und lasse mich vom ersten besten Menschen, der mir in die Hände läuft, an's Theater weisen. Das Komödienhaus lag inmitten der Stadt, an zwanzig Minuten vom Bahnhof weg, und keine Kutsche war mehr zu gewinnen. Als ich mit meinem Begleiter so hinschritt unter den Gaslaternen, und den gutwilligen fremden Mann, den meine Theaterwuth zu unterhalten schien, zu schleunigerem Vorgehen antrieb, stellte ich in aller Hast Fragen über Aeußeres, Schicksale und Verhaltungsweise des neuen Gastes, dessen er wie die ganze Stadt alles Lobes voll war. Um den Namen des heute aufgeführten Stückes hatte er sich nicht gekümmert.

Da hielt er auf einem großen Platz und zeigte mir ein hohes, säulengeschmücktes Gebäude, welches, von einzelnen Gasflammen beleuchtet, stolz in die dunkle Nacht hinaufragte. Ich ließ meinen Führer stehen und eilte mit fliegenden Füßen dem Hause zu. Auf den ausgehängten Zetteln stand mit 174 großen Lettern »Othello«. Die Kasse war bereits geschlossen.

Ich rannte von einem Logendiener zum andern, mir gegen gutes Trinkgeld irgend Eintritt zu gewinnen; sie bedauerten alle auf's Lebhafteste, daß sämmtliche Plätze überfüllt wären, und sie bei Strafe der Entlassung keinem lebenden Wesen ohne legitime Entréekarte eine Logenthüre öffnen dürften. Während all' dieser Verhandlungen erscholl nach kürzeren oder längeren Pausen wohlvernehmliches Beifallsstürmen aus dem Innern des Hauses. Ich stieg immer wieder einen Stock höher, da faßte mich auf der vorletzten Treppe ein hochaufgeschossener, schmieriger, krausköpfiger Junge, welcher eine große runde Platte voll süßer Eßwaaren trug. Er mußte meinen Preisanerbietungen zugehorcht haben und erwartete mich im Schatten der Wendelstiege, um mit mir ein Geschäft abzuschließen.

Ich gab dem Menschen, was er verlangte. Dann schob er mich mit einer kurzen Mahnung zur Dreistigkeit in eine Loge, deren Besitzer so sehr von der Vorstellung in Anspruch genommen waren, daß sie des Neuangekommenen gar nicht Acht hatten. Lautlose Stille herrschte im Hause; ich trat hinter zwei besetzte Stühle und streckte mich, um die Bühne mit den Augen zu erreichen.

175 Es durchfuhr mein ganzes Wesen wie ein elektrischer Schlag, den ich von den Schläfen bis in die Kniee spürte. Das war wirklich mein Weib Peregretta, das sich dort unten vor Zofe Emilien auf den Stuhl setzte, und nun leise mit den Fingern durch die losgesteckte Flechte furchend, wie aus freiem Sinnen und Ahnen zu singen anhub:

»Ein Mädchen saß seufzend am Weidenbaum früh,
    Singt Weide, grüne Weide!
Die Hand auf dem Busen, das Haupt auf dem Knie,
    Singt Weide, grüne Weide!«

Ueber meine Wangen liefen die hellen Thränen, ich hörte und sah nichts mehr als mein Weib, mein schönes, großartiges, herrliches Weib. Alle meine Schmerzen waren ihr vergeben. Ich fühlte nichts mehr, ich wußte nichts mehr als das Eine: »Das ist sie.« Erst als mit dem herabrauschenden Vorhang ein donnernder Jubel in allen Räumen des dichtgefüllten Hauses losbrach, erweckte mich der Lärm aus meiner Verzauberung, und ich besann mich auf mich selbst zurück und auf Vergangenheit und Gegenwart und auf den Zweck meines Hierseins.

Während sich der Lärm des Hervorrufens mehrmals wiederholte, stürzte ich hinab auf die Straße und lief um das Theater herum, bis ich die Thüre zu den nach hinten gelegenen Räumen fand, welche 176 die Zugänge zur Bühne und die Garderoben enthalten mußten. Ein stämmiger, übellauniger Portier trat mir alsbald entgegen und wies auf's Gröblichste alle meine Anträge zurück, die ich nicht nur mit Geld-Anerbietungen, sondern auch, thöricht genug, mit Betonung meines guten Rechts, meine Frau wiedersehen zu wollen, unterstützte. So lange die Vorstellung währte, hieß es, dürfte ein für allemal Niemand, wer nicht eben mit der Vorstellung zu schaffen hätte, hinter die Coulissen oder gar in die Ankleidezimmer gelassen werden. Wenn ich auf die Darstellerin der Desdemona Ansprüche hätte, so sollte ich dieselben in ihrer Wohnung geltend zu machen versuchen, und mich jetzt bei Vermeidung polizeilicher Intervention sofort zum Teufel packen.

Ich meinte nichts Besseres thun zu können, als so schleunig wie möglich auf meinen usurpirten Platz zurück zu kehren. Da ich die Loge nicht sogleich fand, ging ich geradewegs in die nächste beste andere. Der Entreakt dauerte sehr lange. Als ich nicht die Miene des Verirrten und keine Anstalten die Loge zu verlassen machte, außerdem wohl auch erhitzt und aufgeregt genug aussah, um aufzufallen, so richteten sich bald die Blicke der Nachbarn auf mich. Ich fühlte dieß, und in der Besorgniß, hinausgebeten zu werden, wandte ich mich an einen Nebenmann als 177 ein Fremder, der seinen Platz nicht habe wiederfinden können und um eine kurze Gastfreundschaft bitte. Was er zur Antwort gab, weiß ich nicht, denn schon hob sich der Vorhang.

Ein Regisseur im schwarzen Frack trat mit dem Gesichtsausdruck eines Verlegenen vor das staunende Publikum und bedauerte die unliebe Verzögerung, welche die Vorstellung erleiden müsse. Die Darstellerin der Desdemona sei plötzlich von einem heftigen Unwohlsein ergriffen worden, so daß ihre Mitwirkung im fünften Akte eine baare Unmöglichkeit. Frau so und so, die wahrscheinlich für gewöhnlich die unglückliche Venetianerin zu agiren pflegte, habe sich bereit erklärt, dem lieben Publikum zu Liebe den fünften Akt zu übernehmen. Man bitte um Nachsicht und Geduld.

Murren, Klatschen, Gezisch und Gelächter ließen sich nun in dumpfem Durcheinander hören; ich aber eilte die Treppen hinab in's Freie.

Der Portier hatte mir zwar Straße und Hausnummer angegeben, aber ich hatte letztere überhört oder vergessen. Dennoch wollte ich nicht umkehren, da mir Zeitverlust das Gefährlichste dünkte. Ich frug nach der Richtung und ward sofort von einem der Vielen, welche das Theater nun vor dem fünften Akt verließen, in eine ziemlich nahe gelegene Gasse 178 beschieden. Einzelne Gaslaternen brannten; nichts Lebendiges war in ihr zu begegnen, nur zuweilen bewegte sich ein Schatten flüchtig über die Gardine eines hellerleuchteten Fensters da und dort, und von fernher aus größeren Straßen tönte das Rasseln vorübereilender Wagen.

Ich ging musternd an den Häusern entlang, als könnte ich es dem betreffenden schon von außen ansehen, daß es meine Frau verberge. Da stieß ich unversehens auf einen kleinen Jockey, der gestiefelt und gespornt unter einer Laterne auf einem Stein saß und, den Mützenschild über einem Ohr, eine kalte Cigarre zwischen den Zähnen, das Haupt an die Wand lehnte und schlief.

Ich weckte den Jungen auf und frug ihn, ob er mir nicht sagen könne, in welchem dieser Häuser die dermalen so gefeierte Schauspielerin wohne, und dabei nannt' ich ihm den angenommenen Namen meiner Frau.

Der Bursche streckte sich, drehte seine Cigarre in der Hand um und sagte mit affektirtem Lakonismus:

»Bitte, haben Sie Feuer, mein Herr?«

»Nein,« rief ich mit einem Fluche der Ungeduld, meine vorige Frage wiederholend.

»Eklige Nächte das!« war die Erwiederung der lakirten Pigmäe, »fortwährend genirt; keine Ruh bei 179 Tag und Nacht, reiner Leporello auf Ehre!« Nachdem er herzhaft gegähnt hatte, fuhr er fort: »Nach der neuen Schauspielerin haben Sie gefragt? Famose Person, was? Die Blume der Kunst; der ganze Adel schwärmt um sie. Wo sie wohnt, wollen Sie wissen? Ah so! hier!« Damit wies er mit dem rechten Bein auf die Pforte des gegenüberliegenden Hauses. »Nummer neunzehn, erste Etage rechts. Können sich darauf verlassen. Selbst dort gewesen. Bouquets vom Klubb hingetragen; preiswürdige Bouquets, sag' ich Ihnen, Camellie zu drei Thaler. Fabelhaft!«

Ich hatte mich schon zum Gehen gewandt, da stieg ein schändlicher Verdacht in mir auf.

»Was treiben Sie denn eigentlich hier?« frug ich den Junkeraffen.

»Warten!« sagte er.

»Auf wen warten Sie denn?« sagt' ich.

»Auf meinen Herrn, wenn Sie nichts dagegen haben!« versetzte die kleine Unverschämtheit.

»Und wo ist denn Ihr Herr zur Stunde?«

»Mein Herr?« entgegnete der Gefragte, »bei der Schauspielerin.«

»Was?« rief ich, und faßte ihn am betreßten Kragen, »hier? bei ihr?«

»Den Teufel auch!« sagte er abwehrend. »Was 180 schreien Sie denn so nachtwächtermäßig? Herr Graf sind hier drin, dos-à-dos. Kleine Salomanowska, hilfsbedürftiges Talent. Was denken Sie, Fremdling! jenseitiges Ufer bei Nachtzeit nicht zu erreichen, selbst am Tage nur mit Hindernissen. Große Künstlerin, aber gar keine Künstlernatur, Mangel an Humor und Geschmack. Immer in Trauerkleidern, Gatte gestorben, also Wittwe, Biederweib überhaupt, Ausnahme von der Regel. Teufel à la glace. Schade um die schöne Person, verlassen sich darauf!«

Ich ließ ihn schwatzen und versuchte die Hausthüre zu öffnen. Dann tastete ich im dunklen Flur, bis ich die Treppe fand, die ich rasch beschritt. Ich klingelte an der Thüre des ersten Stockwerks; eine ältliche Frau, in dunkle Gewande gekleidet, mit einem Tuche die thränenden Augen trocknend, öffnete mir. Sie frug mich nach meinem Begehren. Als ich sagte, daß ich ihre Herrin zu sprechen wünsche, nannte sie mich sofort bei meinem Namen und führte mich in ein geräumiges Zimmer, in dem eine kleine Lampe brannte.

Es waren nur wenige Kleidungsstücke und zwei bis drei Bücher, welche auf den bescheidenen Möbeln umherlagen, sonst war keine Spur des Bewohntwerdens zu entdecken.

»Ihre Frau ist so eben abgereist,« sprach die 181 Alte, »Sie werden sie vergebens in diesen Zimmern oder sonst wo in der Stadt suchen.«

Ich brach in einem Stuhl zusammen. Dann fuhr ich auf, packte das Weib, das mich vom Scheitel bis zu den Füßen betrachtend, vor mir stand, an den Armen und drohte ihr, sie durch alle Mittel zum Reden bringen zu wollen.

»Des Drohens bedarf's nicht,« war ihre Antwort, »was ich weiß, will ich Ihnen gerne gestehen, um so mehr, da mir kein Schweigen geboten ist.«

Nun erzählte sie unter einem Kreuzfeuer ungestümer Fragen, wie sie erst seit sechs Wochen in Diensten meiner Frau gestanden habe, heute aber wieder von ihr entlassen worden sei. Sie wußte viel Rühmens zu sagen von Peregrettens künstlerischen Erfolgen, die diese seit ihrem Beisammensein im nördlichen Deutschland geerntet habe. Obwohl man ihr schon glänzende Anerbietungen gemacht, wollte sie sich dennoch nirgends binden lassen, sondern reiste in Gastspielen von einem Theater zum andern. Hier hatte sie zuerst einen ganzen Monat zu bleiben die Absicht, dieselbe sei aber durch mein Dazwischentreten vereitelt worden. Gleich nachdem sie im Ankleidezimmer durch die Portiersfrau mein Andringen gegen deren Gatten erfahren, habe sie sie, die Erzählerin, welche auf ein möglicher Weise sehr jähliches Ende 182 ihrer Dienstzeit immer vorbereitet war, verabschiedet. Da die Koffer stets gepackt blieben und nur immer das Nöthigste für den Tag ausgekramt wurde, so hatte sie nichts weiter mehr zu thun, als die Effekten Peregrettens sofort an die Post zu schaffen. Jene selbst war gar nicht mehr nach Hause gekehrt, sondern aus dem Theaterwagen in ein Eisenbahncoupé gestiegen und jetzt wohl länger denn eine halbe Stunde schon auf den Schienen.

Ueber das Reiseziel, welchem Peregretta nunmehr zustrebe, verschwor sie sich hoch und theuer, gänzlich in Unkenntniß zu sein. Ich frug sie dann auf ihr Gewissen um das persönliche Verhalten meiner Frau, und sie berichtete mir bei ihrer Seele Seligkeit (wie sich die Alte ausdrückte), Peregretta habe sehr ruhig und schweigsam vor sich hin gelebt, und niemalen gelacht, es wäre denn auf der Bühne. Im Ganzen sei sie sehr liebevoll, freundlich und leicht zu bedienen gewesen, nicht selten aber von arger Heftigkeit befallen worden, wo sie alsdann in Zorn und Aerger oft nahe an ungerechte Härte gestreift. Um jedweder Zumuthung zu Besuchen und allem übrigen persönlichen Auftreten in der Welt von Vornherein abweisend entgegenzukommen, habe sie stets Trauerkleider getragen, und sich auch ihr gegenüber als eine junge Wittwe gegeben. Sie habe es oft selbst 183 gesehen, wie sie über den Verlust ihres Gatten Thränen vergossen. Huldigungen habe sie nie unfreundlich abgewiesen, aber in einer Art angenommen, als gebühre ihr nichts Geringeres. Mißliebiges, Feindseliges wurde von ihr so wenig als möglich beachtet, und wo diesem nicht auszuweichen war, mit stolzer Geduld getragen.

Ich bat die alte Frau, die über den Verlust ihrer Herrin sehr in Trauer versunken schien, ob sie mir nicht einen Schluck Wein oder sonst eine Erfrischung besorgen könne, da ich mich sehr schwach fühlte; und sie versprach es. Während sie fort war, musterte ich das Zimmer auf und ab und spähte nach dem, was von Effekten meines Weibes etwa in der Hast des Abziehens zurückgelassen worden. Ich fand nicht viel, ein Sacktuch, ein Nachthäubchen, ein Paar Pantoffeln und Aehnliches. Ich stellte Alles auf dem Tisch zusammen und spielte damit wie ein Kind. Nachdem ich ein wenig Wein zu mir genommen, setzte ich mich an's geöffnete Fenster und bat die Dienerin nochmals, mir zu erzählen, was sie nur wisse.

Wie wir so vor einander da saßen im Halbdunkel der verlassenen Wohnung und leise mit einander von der Entflohenen plauderten, da kam's unten immer näher die Straße herauf mit sanft 184 erklingenden Flöten- und Waldhorntönen, mit Fackelschein und Menschengewühl. Unfern vor dem Fenster, an welchem ich ruhte, hielt der Zug, und die Frau belehrte mich, es sei ein Ständchen, welches einige Offiziere der Garnison nach der wiederholten Aufführung des Othello mit ihren Regimentsbanden bringen zu dürfen sich ehrerbietigst ausgebeten hatten.

Ich ersuchte die Alte, mich zu verlassen und sie that es. Ich fühlte, wie nach und nach meine Seelenkräfte nachließen und das Bewußtsein zu schwinden begann; stier und fast gefühllos starrte ich auf die im Fackelscheine sich regenden Gestalten, horchte ich auf die melancholischen, gezogenen Töne des Ständchens hinab und Müdigkeit ergriff meine Seele. Die Musik verklang, die Fackeln entfernten sich. Ich meinte, ich hörte den Tod, der leise tretend durch mein Zimmer geschlichen käme; da wankte ich nach dem Bette meiner Frau und versank alsbald in einen tiefen Schlaf, den ersten erquickenden, anhaltenden Schlaf, der mir seit Monden gegönnt war.

Aber ich schlief nicht hinüber, wie ich gewähnt, ja wie ich gewünscht hatte. Ich erwachte im alten Leben und in den alten quälenden Sorgen; ja dießmal mit einem Gefühl verbitternden Zornes. Peregrettens Flucht war nun nicht mehr die übereilte That blinder Eifersucht, nicht bloß das 185 widerstandslose Gehorchen dem gebieterischen Drange der Kunst; es war der lieblose Eigensinn eines eiteln, schadenfrohen, pflichtvergessenen Weibes. Ich war in meinen Rechten als Gatte gekränkt, ich war mit den zahllosen Leiden meiner alle Lande durchwandernden, herz- und hirnzernagenden Sehnsucht verspottet und verachtet. Und nun wollt' ich nicht nachgeben von meinem Rechte, und mich nicht gefühllos und hochmüthig verhöhnen lassen in meinem Elend.

Ich lief Treppen auf Treppen ab, und klopfte an alle Thüren, von denen ich hoffen konnte, daß sie Aufschluß über die Pläne meiner Frau entdecken könnten. Man kam mir meistentheils mit bedauernder Förmlichkeit und bereiten Ausflüchten entgegen. Das Wahrscheinlichkeisresultat der verschiedenen Ergebnisse meiner, mit der ängstlichen Genauigkeit tiefgekränkten Selbstgefühls angestellten Forschungen ging darauf hinaus, daß die Verschwundene wahrscheinlich einem Rufe an das dermalen zu St. Petersburg bestehende deutsche Theater gefolgt sei, der in der jüngsten Zeit und unter sehr glänzenden Bedingungen an sie ergangen war.

Mein Entschluß stand alsbald fest, allein um ihn in's Werk zu setzen, war es nothwendig, vorher noch geschäftliche Anordnungen und Ausgleichungen zu beseitigen, welche sich der Ausführung des 186 Vorhabens gebieterisch in den Weg stellten. Durch die fortgesetzten kostspieligen Kreuz- und Querzüge, die ich durch Deutschland nun seit mehr denn neun Wochen gemacht, durch den theuren Aufenthalt in Gasthöfen, durch das Ausgeben großer Summen an Theateragenten, Winkelredakteure und ähnliches Gelichter, fand ich die Menge meines verwendbaren Geldes zu einem Häuflein zusammengeschmolzen, von dem ich zwar immerhin bis zum Erfluß der nächstfälligen Zinsen ein gemächliches und wohlanständiges Leben hätte führen können; zu einer Entdeckungsfahrt aber in's heilige Russenreich, die sich weiß Gott wie lange ausdehnen und nach Art des höheren oder höchsten »Schutzes,« dessen Peregretta möglicher Weise dort genoß, zu außerordentlichem Aufwand außerordentlicher Mittel nöthigen konnte, schien dieses Restchen viel zu gering.

Da packt' ich denn sofort wieder auf und reiste Nacht und Tag, bis ich wieder in unserer Kreishauptstadt angelangt war. Der empfindliche Zustand, in welchem sich meine zerrütteten Nerven befanden, ein Zustand, welcher mein Haupt mit einem glühenden Reif umzog und mich nicht lange fest in den Knieen stehen ließ, sollte mich weder von meinem Wanderplan noch von der Beseitigung der obwaltenden Hindernisse auch nur eine Stunde abhalten. Ohne den 187 Reisestaub von meinen Schuhen zu schütteln, trat ich, wie ich angekommen war, in die Wechselstube des Bankiers, eines alten erprobten Freundes meines seligen Vaters, der meine sämmtlichen Geldangelegenheiten seit dessen Tode mit einer Sorgfalt, Treue und Geschäftskenntniß verwaltet, die ich nicht genug loben kann.

»Herr meines Lebens,« rief der alte Mann aus, als er mich erkannte, und die Feder fiel ihm von der Hand, »guter Gott, wie sehen Sie aus und wo kommen Sie her?«

Der besorgte Greis meinte nichts anders, da er den rasch gealterten, entstellten Klienten in seiner verkommenen Touristentracht anstierte, als ich käme von Wiesbaden oder Homburg vor der Höhe, wo sie mich rein ausgeplündert hätten.

Da mich das ganze Zwiegespräch, so nothwendig es sein mochte, doch ungemein peinlich berührte, so war ich Willens, die Geschichte so kurz und bündig als möglich abzumachen. In der Rücksichtslosigkeit, welche dem Unglück eigen ist, sah ich von Förmlichkeiten, von der nothwendigen logischen Begründung meines Begehrens ganz ab, und erklärte dem staunenden Greise mit barschen, rasch hervorgestoßenen Worten, daß meine Bedürfnisse von dem Betrage der mir zustehenden Zinsen im Stich gelassen wären, und 188 ich aus diesem Grunde meinen Vermögensstock selbst anzugreifen beschlossen hätte. Ich wäre deßhalb gekommen um ihn zu bitten, einen großen Theil desselben in landläufige Münzsorten umgesetzt zu meiner Verfügung zu stellen.

Der Bankier fuhr sich mit den welken Fingern ein paarmal durch die wenigen durchsichtigen Löckchen, welche sein blankes Haupt schmückten, und meinte, ich müsse ja doch noch ein niedliches Sümmchen zum Verleben haben, bis auf's Weitere.

Ich nannte ihm den Betrag, den ich zu Handen hatte, erklärte ihm aber zugleich, daß ich Unternehmungen beabsichtigte, deren Kosten größere Gelder beanspruchten.

Der Alte schlug die Hände zwischen seinen Knieen zusammen und wollte Heftiges erwiedern, besann sich aber, und indem er mich mißtrauisch ängstlich ansah, schob er mir ein Glas Wasser zu und sagte gutmüthig:

»Lieber Heinrich, Sie sind so heiser; das Sprechen thut Ihnen wehe. Trinken Sie doch ein wenig und überlegen Sie sich nochmals, was Sie zu thun Willens sind.«

»Ich trinke kein Wasser,« sagte ich, da mir aber Stirn und Schläfe wie in Fieberschmerzen tobten, steckte ich die zehn Finger in das dargereichte Glas und bestrich mir damit das Gesicht und die Schläfe.

189 Er sah mir mit gespannten Augen zu und hub dann an:

»Fern sei es von mir, Sie um die kostspieligen Pläne auszufragen, welche Sie einen, wie mir scheint ebenso unnöthigen wie unüberlegten Schritt zu thun reizen; aber das will ich Ihnen zu überlegen geben, daß Sie das Glück Ihres Lebens, die von dem Drückendsten, den Nahrungssorgen befreite Stellung, das Glück Niemandes Diener oder Herr sein zu müssen, keiner von ungefähr angeflogenen Laune, nicht dem Schwindelprojekte eines gewissenlosen Spekulanten, oder gar der eitlen Befriedigung einer Raserei, wie das Spiel, zum Opfer bringen dürfen. Bedenken Sie doch, daß Sie ein liebes Weib haben, daß Sie –«

»Eben weil ich ein Weib habe,« schrie ich ihm in's Gesicht und stieß ein beinernes Falzmesser, welches ich in meiner Verlegenheit ergriffen hatte, so zornig auf den Schreibtisch, daß es in Stücke brach und der Alte erschrocken von seinem Stuhl auffuhr. Ich war in den letzten Tagen so aufgeregt, daß ich oft ohne nähere Veranlassung in lautes Schluchzen ausbrach; wenn meines Weibes erwähnt wurde, konnte ich mich dessen gar nie erwehren, und so liefen mir auch jetzt die hellen Thränen über die vor Wuth und Aerger zitternden Backen.

190 »Sie wissen nicht, was Sie thun, nicht was Sie reden, Heinrich. Ich habe Sie mein Tage nicht so gesehen,« sagte der Alte nicht ohne Erzürnen.

Ich aber fuhr auf und rief:

»Wohl weiß ich, was ich rede und was ich will, und ich kann reden und kann verfügen wie ich will über meine Gelder, verstehen Sie mich, denn ich bin der Herr meines Vermögens!«

»Sie sind Herr Ihres Vermögens,« klang ruhig seine Antwort, »wie Sie auch Herr Ihrer Leibesgliedmaßen sind, und trotzdem würd' ich Sie ebenso sicher, so lange ich es im Stande wäre, gewaltsam abhalten, sich die beiden Daumen an ihren Händen oder die großen Zehen an den Füßen abzuschneiden, als ich es jetzt verhindern werde, daß Sie um irgend einer aberwitzigen Laune, oder wohl gar um des elenden Roulettespieles willen das Erbe Ihrer Kinder, die sauererworbenen Ersparnisse Ihres edlen Vaters auch nur um ein paar Tausender verstümmeln.«

»Was zum Teufel,« ächzte ich ihn an, denn das Sprechen war mir trotz der Aufregung schon sehr peinlich, »sind Sie mir ein Vormund oder Pfleger, oder sind Sie nur der Bankier, den ich für seine Geldgeschäfte bezahle?«

»Ich bin Ihr Bankier,« erwiederte stolz der Alte, »und bin nicht Ihr Vormund, aber wissen Sie, 191 was ich außerdem war, und bin und bleiben werde? Der treue Freund Ihres seligen Vaters, und daß Sie's nur verstehen, auch der Freund seines Sohnes. Und dieser Sohn, den ich sozusagen schon kannte, ehe er geboren war, der ein Ehrenmann ist, wie sein Vater es war, der wird mir morgen danken, wenn er seinen Projektenschwindel oder seine Spielwuth ausgeschlafen hat, daß ich nicht, wie er heute gewollt, mit ihm in's helle Feuer gesprungen bin.«

Es war ein eigenthümlicher Gedankengang, der sich jetzt mit eigensinniger Gewalt meines Vorstellungsvermögens bemächtigte, während ich dem greisen Redner auf die schmalen, blassen, zitternden Lippen sah.

»Merkst Du,« sagte ich im Stillen zu mir selbst, »merkst Du, wie sehr er sich ereifert, der alte Knabe, der doch sonst ein so herzensguter, stiller, gelassener Rechenmeister ist. Aber er hat Dein Geld in großen Spekulationen stecken, an denen seine zähe Greisenseele mit allen Gedanken und Gefühlen hängt, und nun fürchtet er: wer den Finger nimmt, der will bald die ganze Hand; geb' ich dem Heinrich jetzt die verlangte Summe, so kommt er nächstens und entzieht mir die Verwaltung seines ganzen Ein- und Auskommens. So denkt er, der Zahlengauner, und sieh' nur, sieh', in welche Aufregung er sich 192 hineingestikulirt und wie er von seiner Freundschaft Wunder predigt, und wie seine Augen rollen und wie seine Backenknochen wackeln. Solche Aufregung ist einem alten Mann gar ungesund und Du solltest ihn beruhigen, und wenn er sofort sich in seine Hitze hineinredet, so trifft ihn am Ende gar der Schlag, und dann mußt Du still hier in der Stadt bleiben und Jedermann Auskunft geben, weil Du dabei gewesen, und wenn Du nach Rußland reisen wolltest, so würde Dich die Polizei fassen, dieweil Du als Flüchtiger in dem Verdacht liefest, daß Du's ihm angethan. Drum mußt Du ihn besänftigen und beruhigen und abkühlen.«

Während dieses Raisonnements, dessen ich mich noch gar wohl erinnere, sahen wir uns unverwandt in die Augen. Der Mann schwieg schon eine Weile, und ich streckte abermals beide Hände in das vor mir stehende Glas und bespritzte das Gesicht des Alten aus allen zehn Fingern mit dem kalten Wasser, in der guten Meinung, seine Hitze abkühlen zu müssen.

Der überraschte Greis suchte sich mit peinlichem Ausdruck in den Zügen die lästigen Tropfen abzuwischen. Dabei fiel mir nun plötzlich ein, daß ich ihm gethan hätte wie ein katholischer Pfaffe, der einem mit Weihwasserbesprengen den leibhaftigen Teufel 193 austreiben will. Ueber dieser Vorstellung und über den possierlichen Gesichtern, die die geplagte Haut des Alten schnitt, mußte ich helllaut auflachen, da ich noch kurz vordem ohne Grund geweint hatte.

Alles Besinnen auf den Zweck meines Hierseins war mir völlig entschwunden. Von diesem Augenblick erinnere ich mich nicht mehr genau, was nachher gesagt und gethan wurde, aber ich meine, daß ich auf einmal wieder heftig auftrat und mit den Gerichten drohte, und den Alten einen Spitzbuben schalt, der mir mein gutes Geld nicht aushändigen möge. Vor der Thüre des Comptoirs stürzte ich zusammen. Der mißhandelte Kaufmann ließ mich in eine Stube seines Hauses und zu Bett bringen. Ich ward schwer krank, alle Gedanken des Stehen- und Gehenwollens waren mir von Grund aus vergangen; es währte nicht lange, so verging mir auch das Bewußtsein. In lichten Augenblicken mein' ich den Bankier und meinen Onkel aus Amerika öfters mit besorgten Mienen an meinem Lager stehen gesehen zu haben. Zuweilen waren meine Hände an's Bett gebunden, glaub' ich, auch schmerzten mich die Gelenke und die Ellenbogen die übrige Zeit, wenn auf Augenblicke mich das Gefühl meiner selbst besuchte. – –

 

194 Es mochten viele Wochen vergangen sein, als ich mir wieder ein Mensch dünkte, wie andere Menschen. Nun ich aber da um mich sah, und die Dinge und die Leute, welche mich umgaben, zu betrachten, zu unterscheiden anfing, da fand ich mich nicht mehr in der Krankenstube meines Bankiers, sondern an einem fremden, nie gesehenen Orte, einem Ort voll Frieden, voll Behagen, voll Vertrauen erweckender Stille.

Ich wohnte in einem hohen, lichterfüllten Gemach, dessen Möbel mit frischen blanken Linnen überzogen waren; Blumen des Spätsommers standen auf meinem Tisch, daneben aus der glatten Wand plätscherte leise und traulich aus einer zierlichen Brunnenröhre frisches Wasser.

Ich wandelte durch lange Gänge eines in Kreuzform aufgeführten Gebäudes. Hohe Bogenfenster wiesen auf ein im Sonnenschein lachendes sich herbstlich verfärbendes Hügelland. Auch hier sprangen kleine Brunnen aus der Wand in graue Marmorbecken. An mir vorüber gingen plaudernde Paare, die mich wie einen alten Bekannten grüßten. Und ich grüßte sie wieder wie aus Gewohnheit und ich meinte, ich thäte damit wie schon manchen Tag vorher. Auch diese Gänge war ich schon gewandelt, und auch den großen beleibten Mann mit den klugen 195 Augen hinter der Brille hatte ich schon öfters gesprochen, und wie er mir heute treuherzig freundlich die Hand schüttelte, so hatte er ja schon gestern gethan und ehegestern auch. Da kam auch der Sohn des Mannes, der muntere krausköpfige Junge, und frug mich, ob wir nicht miteinander einen Gang machen wollten. »Fechten?« sagt' ich zu mir selber und fühlte an meinen Arm. Er war von greifbarer Muskulatur und ich besann mich, daß ich mich gestern über die gelungene tiefe Quart meines sechzehnjährigen Schülers gefreut hatte. Heute aber hatt' ich keine Lust zu den Rappieren, ich bat ihn, mit mir seine Familie zu besuchen.

Wir gingen durch eine Thüre, an der ich oft schon angeklopft zu haben wußte. Darinnen saß eine freundliche ältliche Dame, die sich nach meinem Befinden erkundigte; dann kamen zwei blühende Töchter heran und reichten mir zum Gruße die Hände. Auch noch Andere waren zum Besuche da, und dort drüben am Klavier stand der junge Compositeur aus der Stadt, den ich neulich einmal geärgert hatte.

Die jüngere Tochter unterhielt sich lieb und lange mit mir und dann sagte sie:

»Warten Sie nur, wir wollen Ihnen eine Freude machen.«

Sie holte eine Geige aus ihrem Kasten, der 196 Krauskopf nahm sein Violoncell, und sie setzten sich um das Klavier zurecht, vor welchem die ältere Schwester zur dreifachen Begleitung mit lieblicher Sopranstimme einen Gesang anhub, den sie mein Lieblingslied nannten.

»O wann kehrst Du zurück,
Mein treuer Johnie;
O wann kehrst Du zurück?
Wenn das Korn ist eingebracht,
Und verwelkt der Blätter Pracht,
Dann kehr' ich zurück,
Mein süßes Liebchen.
Dann kehr' ich zurück!«

begann es, ein schottisch Lied von Beethoven.

Ich dankte gerührt und mußte mich verabschieden, denn auf meinem Herzen lagen Thränen, und ich sehnte mich hinaus in's Freie, in's Grüne.

Da ging ich hinab in den geräumigen Garten, wo auch viele Andere waren und wandelten oder spielten. Aber ich hielt mich ferner von der Menge und setzte mich dort unter die zwei Buchen am grünen Tischchen, denn das war ja mein Lieblingsplatz, und meine beiden gewöhnlichen Gesellschafter warteten bereits auf mich, in heftigem Gespräche begriffen. –

Der eine war ein alter Bekannter, der kleine Herr von Woltershausen; Du erinnerst Dich wohl 197 seiner, der immer so unmenschlich soff, und den wir auf der Universität wegen seiner gespreizten Manieren nicht ausstehen konnten. Er kam mir seitdem sehr gebessert vor und ich hatte einen guten Genossen an ihm.

Der Andere trug das dunkele Kleid eines Seelsorgers; ich besann mich nicht, ihn früher gekannt zu haben, nun aber that er mit mir und ich mit ihm wie Bruder und Kamerad, und wir sprachen alle drei ein Gespräch, als setzten wir da von Neuem an, wo wir gestern abgebrochen.

»Ich versichere Sie, Hochwürden,« sagte der Woltershausen zu dem Priester gewendet, »das ist ein Kanuff, wie die Erde keinen zweiten trägt. Was geht denn das ihn an, wenn ich nun einmal des Sonntags meiner guten Laune nachhängen und mich um drei Uhr des Nachmittags zu Bette legen will? Und das sag' ich Ihnen, wenn es so fort geht, daß er mir die zwei weiteren Krüge Abendbiers versagt, bleibe ich keine vierzehn Tage mehr länger hier, und wenn Sie mir zwei Schildwachen vor die Thüre setzen, wie sie vor meines Onkels, des Generals, Hause im Sonnenschein auf- und abbummeln. Was glaubt denn der Herr, daß ich mich hier eingestiftet habe, um vor Durst umzukommen, wie ein Karpfen auf dem Sand? Der verfluchte Kerl der!«

198 »Wer?« fragte ich den Redner, der ärgerlich an dem sorgfältig geknüpften Halstuch und den kleinen zierlichen Vatermördern nestelte und zupfte.

»Ach wer? Er!« war die breitmäulige Antwort, und der Geistliche fiel kopfnickend ein:

»Ja wohl, Sie haben ganz Recht, Herr Baron. Glauben Sie, daß ich ihn durch all' mein inständiges Bitten hätte erweichen können, mir einen neuen Fiedelbogen zu kaufen? Keineswegs, und Sie wissen ja,« fuhr er zu mir gewendet fort, »wie bitterlich nothwendig ich eines solchen bedürfte. Ich bin ein armer Seelenhirt, und kann mir dieß Begehren nicht aus meinem eigenen schwindsüchtigen Seckel bestreiten. Er aber drückt mein Talent absichtlich, denn er ist ganz für den jungen Notenquäler aus der Stadt eingenommen, der lauter langweiliges Zeug zusammenjodelt. Ja, nur um den nicht aus dem Licht zu schieben, läßt er mich mit meinen herzerfreuenden, bergwaldfrischen Weisen nicht aufkommen.«

»Wer?« fragt' ich abermals.

Und der Pfarrer erwiederte, mit den Händen unwillig gestikulirend:

»Na wer kann so was im Stande sein, wenn nicht Er, der Direktor! Aber wissen Sie was, lassen wir ihn, der die Macht in Händen hat; alleweil geht's doch nicht an, das Licht zu verhängen, und 199 kommen wird auch der Tag, wo ich hintreten darf vor die Menschheit und sagen: hier bin ich. Mittlerweile lade ich Sie ein, lieber Heinrich, mit auf mein Zimmer zu kommen, um die Früchte meiner Morgenstunden beurtheilen zu wollen. Den Baron lassen wir wie gewöhnlich, denn er hat keinen Geschmack für unser Treiben. Ich sage Ihnen ganze sechse, ganze sechse, und was für welche, Sie werden staunen.«

Wir ließen den Woltershausen, der gemächlich seine Füße auf die Bank zog, und die Hand an der Stirne schritt ich dem plaudernden Pfarrer nach. Ich hatte eine Lieblingsmelodie, ich hatte ein Lieblingsplätzchen, ich hatte einen Direktor, und alles das schon ziemliche Zeit, und doch wußt' ich nichts davon und hatte keine Ahnung, wie so und woher ich an diesen Ort gekommen war – und wo war ich denn eigentlich?

Solcherlei Fragen bestürmten mich heftig auf dem kurzen Wege nach des Pfarrers Stube. Es war eine Zelle ganz wie die meinige, nur daß an den Wänden ein sechs bis sieben neue Fiedelbogen aufgehängt waren und in einer Ecke zwei mächtige Stöße beschriebenen Notenpapiers aufgeschichtet lagen, auf deren höchstem eine Violine thronte, die mit dem Hals in den Winkel gelehnt war.

200 Der Geistliche suchte hinter seinem Nachttischchen und holte da noch einen anderen Fiedelbogen hervor, der aber alt, abgegriffen und krausen Haares war.

»Sehen Sie,« sagte er, indem er an dem Liebling mit einem mächtigen Stück Colophonium auf- und abfuhr, »da hängen sie herum, die nichtsnutzigen Dinger, die funkelnagelneuen, die doch zu nichts zu gebrauchen sind als zum Rockausklopfen. Was ich mir beim Einkaufen auch Mühe gegeben habe, ich konnte doch keines habhaft werden, welcher nicht verpfuscht und gar nicht in der Hand zu führen gewesen wäre. Dieß hier ist doch mein einziger und alleiniger, wenn ihm auch die Haare vom Leibe weghängen. Mein Zauberstab, unter dem mir die Quelle der Erfindung so reichlich fließet, wie einst dem Sohne Jochebeths das Wasser, da er den Stein der Wüste mit seinem Stecken schlug. Nun setzen Sie sich und hören Sie meine neuesten Kompositionen.«

»Was,« sagte ich, »Hochwürden komponiren auch?«

»Aber um aller Heiligen willen,« entgegnete er weinerlich, »wenn Sie nur nicht jeden Tag, den Gott vom Himmel gibt, dieselbe leidige Frage stellten. Das ist denn doch unfreundlich!«

Darauf trat er mit ausgebreiteten Armen vor die zwei hochgeschichteten Papierstöße und rief:

»Wie oft hab' ich Ihnen gesagt, daß hier in 201 diesem Winkel der Zweck und die Freuden meines Daseins aufgestappelt liegen, daß diese Blätter lauter Kompositionen enthalten, die ich auf meiner lieben Violine erfunden, daß diese Kompositionen lauter Gebirgsländler sind, sechstausend dreihundert siebenundfünfzig Ländler! Ach, ich sagt' es Ihnen erst gestern und Sie haben's heute schon wieder vergessen.«

Damit fing er an, seiner Geige die rechte Stimmung zu geben, indem er mehrmals laut vor sich hin sprach:

»Sechstausend dreihundert siebenundfünfzig und heute früh sechs ganz neue, macht Sechstausend dreihundert dreiundsechzig.«

Er kratzte eifrig auf den Saiten herum; ob es schön oder häßlich klang, vermag ich nicht zu sagen, denn meinen Ohren fehlte noch die Ruhe der Auffassung, geschweige denn die der Unterscheidung. Ich sah nur den Mann im langen Kittel an, der vor mir mit fliegenden Haaren im Schweiße seines Angesichts Musik machte, ich sah nur auf die neuen Fiedelbögen an den Wänden und auf den Papierberg in der Ecke und sagte staunend zu mir selber:

»Was? ein Compositeur von sechstausend dreihundert dreiundsechzig Ländlern? Der Kerl ist ja ein Narr.«

Da erschrak ich vor meinem eigenen Gedanken, 202 Thränen stürzten aus meinen Augen und ich verbarg mich eiligst in mein Gelaß. Denn nun wußte ich, wo ich war, und Mitleid mit mir selber überkam meine schaudernde Seele. –

Als ich etliche Wochen später die Kreisirrenanstalt zu E. verlassen durfte, zählte man vom Datum meines Eintritts an gerade ein Vierteljahr. Ich reiste langsam, wie es mir vorgeschrieben war, hierher zurück, und bewohne nun mit jenem alten Diener und einer erprobten Köchin dieß Haus, das freudelos und öde geworden.

Seit einem Monat bin ich nun wieder da, und dieß Schreiben, an dem ich nun schon manchen Morgen geschrieben, ist außer den nothwendigen Briefen geschäftlichen Inhalts das Erste, welches ich in die Welt hinaussende. Von Peregretten weiß ich nichts. Während der Zeit meiner Rekonvalescenz habe ich mich an einen Freund gewendet, welcher in der Nähe von St. Petersburg eine chemische Fabrik besitzt, und denselben gebeten, unter dem Personal des deutschen Theaters Nachforschungen zu halten. Die Antwort, welche ich von ihm erhielt, versicherte mich, daß er die Mitglieder der besagten Bühne sämmtlich persönlich kenne, daß indessen dermalen keine Dame dort zu finden sei, in welcher er die Hausfrau eines seiner Freunde zu erkennen im Stande wäre.

203 Ich weiß nicht, ob dieser Brief die reine Wahrheit enthielt, und ob nicht gleichzeitig mit meiner Anfrage auch eine freundliche Weisung unseres um seine Patienten treubesorgten Direktors an meinen Adressaten ergangen war, welche seine korrespondirende Freundschaft wohl beeinflussen mochte.

Sei dem nun wie ihm wolle! Wenn ich auch in Stunden der verzweifelnden Erinnerung schon manchesmal meine Koffer auf's Neue zu packen begonnen habe, die Ernüchterung kommt von Groll und Angst herbeigeführt immer noch rasch genug, um mein Vorhaben wieder sofort zu beseitigen. Ja, wenn ich auch wüßte, wo sie zur Stunde wäre, und wenn mir das wunde Herz darüber vergehen sollte, ich würde sie nicht mehr zu binden und zu halten suchen.

Meine ganze Seele hängt noch an dem Weibe wie dazumal, als ich sie zum ersten die meine nannte; aber mein Wille ist müde geworden, todtmüde. Und wär' ich's auch im Stande, meine kriechende Energie zur alten Höhe aufzurichten, es könnte nicht lange währen, so würde sie an der Betrachtung all' des Leides, welches jene Irrfahrt über mich gebracht, alsbald wieder in sich zusammensinken. Nein, nein, ich habe des lastenden Elends die Fülle, und will es tragen wie ein Mann, aber ich will, ich will nicht 204 wieder wie ein zweibeiniges Thier mit gewesenen Menschen zusammengesperrt werden, um in jenen kühldurchwehten Gängen stumpf an allen edleren Sinnen die Brunnen des Vergessens rauschen zu hören, und nach den Ländlern thorsinniger Seelsorger zu tanzen. Ich will nicht!

Nun könnt' ich zu Dir sagen: »komm' zu mir, und hilf mir in Einsamkeit und Betrübniß mich wieder an das Leben gewöhnen!« und meinen langen Brief schließen. Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende und soll auch nicht zu Ende sein, darum vernimm noch dieß Wenige.

Ein Mensch, der aus einer Irrenanstalt wieder in die Welt entlassen wird, hat unter der Gesellschaft eine ähnliche Stellung, wie ein Zuchthäusler nach überstandener Strafzeit. Auf der Gasse schon weisen einem die kleinen Buben mit Fingern nach; tritt man wo in ein Zimmer, so stoßen sich die Leute mit den Ellbogen, und zupfen sich an den Falten und behandeln uns mit ängstlicher Zuvorkommenheit und Besorgniß, indem sie recht theilnehmende einfältige Fragen stellen, auf die sich die Antworten von selbst verstehen, oder indem sie alles Werthvolle und Zerbrechliche aus der Nähe unserer Hände räumen in der Furcht, wir möchten diese Kostbarkeiten unversehens durch die geschlossenen Fensterscheiben werfen. 205 Wenn man dann fort ist, geht das Geplauder wie ein Gebirgsbach aus aufgerissenen Schleusen. »Er hat von jeher etwas Verrücktes an sich gehabt,« heißt es da, »und der Vetter, der mit ihm auf der Schule gewesen war, sagte schon vor anderthalb Jahren, der Mensch sei ein wahrer Narr; dann kamen die vielen Weiber und die schweren ausländischen Weine, bis die Geschichte erst recht umschlug, und wer einmal so 'nen Hieb im Hirn sitzen hat, an dem bleibt auch immer etwas mehr oder weniger haften, da macht man uns nichts weiß; sehen Sie nur seine sonderbaren Manieren, seine steifen Haare, seinen stieren Blick. Ach der arme junge Mensch!«

Da sind es nun gar wenige Leute, die's über ihr Herz bringen mit einem fortzuleben wie vordem, und als hätten der gesunde Sinn und die gute Freundschaft niemalen eine Unterbrechung erlitten. Aber wie sehr man diese Wenigen zu schätzen sich gezwungen fühlt, wie gern in Dankbarkeit alle Gedanken bei diesen lieben Menschen einkehren, das weiß nur der, welcher so manchen alten Kameraden einen Umweg einschlagen sah, sobald ihn dieser aus der Ferne erblickt hatte.

Ich hab' es bei meinem kurzen, durch geschäftliche Liquidationen bedingten Aufenthalt in der Provinzialhauptstadt, ich hab' es seit meinem noch so 206 sehr zurückgezogenen Aufenthalt dahier oft genug bitter empfinden müssen, was es Trauriges an sich hat: ein Narr gewesen zu sein.

Während sich erprobte Freunde zurückzogen, während selbst Diener und solche, die mir durch Wohlthaten zu großem Dank verpflichtet, sich vor meiner Berührung scheuten, wer waren die Ersten, fast möchte ich sagen die einzigen, die mir hier wohlthuend, liebevoll entgegenkamen?

Diejenigen, von welchen ich Schadenfreude oder doch kalte Härte erwarten mußte, Diejenigen, welche ich, wenn auch mehr aus Zufall oder Leichtsinn, als mit bösem Willen, gekränkt und durch öffentliches Aergerniß des Empfindlichsten beleidigt hatte. Auf die Kunde meiner bevorstehenden Entlassung aus der Kreisirrenanstalt war die Familie Püren hierher gereist, und hatte trotz der vorgeschrittenen Jahreszeit ein Haus gemiethet, um hier in diesem kleinen vergnügungsarmen Landstädtlein ihren Winteraufenthalt zu nehmen.

Gleich bei meiner Ankunft empfingen sie mich mit so viel achtungsvoller Theilnahme, mit so edel zurückhaltender Herzlichkeit, daß sie ein tiefgefühltes Bedürfniß meiner geknickten Seele auf's Schönste befriedigten.

Seitdem, wenn ich meine armgewordenen vier 207 Wände verlasse, geht mein Weg über die Straße nach dem Hause Püren. Wieder sitz' ich heimliche Stunden lang bei Natalien und ihrer Mutter, und wir sprechen von diesem und jenem, von Politik und Landwirthschaft, von alten Freunden und neuen Bekannten, und mir wird wohl dabei und ich fürchte den Schlag der Uhr, der mich wieder heimschickt in die trübe Einsamkeit, welche nur die quälenden Geister meiner Erinnerungen bevölkern. Dort aber bei Natalien wird des vergangenen Verhältnisses, dort wird des Bruchs, dort wird meiner Leiden keine Erwähnung gethan; den Namen Peregretta's hab' ich dort noch niemalen vernommen. Dann wird mir oft zu Muthe, als könnte gar Vieles wieder gut werden, ja zuweilen, als sei schon Alles wieder so wie damals, da ich diese weißen, schmalen Finger küßte und die Frage der Entscheidung in die geküßten Hände legte. Nur etwas älter sind wir geworden, Natalie um drei bis vier Jahre etwa, ich um's Vierfache dieser Zeit, die Mutter ich weiß nicht um wieviel.

Die gute Frau scheint mir etwas schwach geworden zu sein, sie hat die alte aufdringliche Schwatzhaftigkeit, die lebenssüchtige Munterkeit, ja ein gut Theil ihrer wohlerzogenen Steifheit verloren. Die Zügel des ganzen Hauses führt Natalie mit autokratischem Willen. Manchmal kommt der Bruder aus 208 der Garnisonsstadt zum Besuch, bringt auch etliche Kameraden oder alte Freunde seiner Familie mit. Sie Alle erweisen mir die Ehren ungetrübter Achtung und ritterlicher Gegenseitigkeit, und in ihrem Kreise wiederfuhr mir's, daß ich lachen und munter sein konnte, war's auch nur auf eine kurze Weile.

Ein paarmal schon hat sich's gefügt, daß ich stundenlang mit Natalien allein gelassen wurde. Dann gab's ein sonderbares Gespräch von gleichgültigen Dingen, das oft unversehens eine ernste Wendung nahm, und dann wieder plötzlich stockte, bis ein gleichgültiger Einfall, ein Quidproquo von gestern den Bann löste, dem unsere Lippen, die sich dereinst in Liebe berührt, alsbald wieder verfielen.

Wenn ich dann so da saß vor der schweigenden Jungfrau, die mit den Fingern der Rechten träumerisch über die Tasten des großen Flügels irrte, während sie die Linke manchmal in meinen Händen vergaß, oder es trübe lächelnd duldete, daß ich mit den langen, breiten Ringen ihres goldenen Haares spielte, dann sagte ich zu mir selber: »Das Weib Deiner Leidenschaft, dem Du Dein ganzes Leben geweiht, zu dessen Füßen Du gebreitet hattest Dich selbst und Alles, was Dein eigen war, das Weib, welches Dein Herz und Deine Liebe gekannt, wie keine Menschenseele mehr, das hat Dich böswillig verlassen, um dem 209 Dämon des Ruhmes nachzujagen, und weil sie die Unruhe ihres dunkeln Herzens nicht an Deiner Seite ließ. Und als Du ihr nachsuchtest Land auf, Land ab, wie der treue Hund, der seinen Herrn verloren, floh sie vor Dir, wie vor einem Peiniger, einem Aussätzigen. Das herzlose Beifallsgeräusch einer täuschungslustigen Menge war ihr vollauf Ersatz. Sie lächelte ein vor dem Spiegel wohleinstudirtes Lächeln, als Du mit den Qualen tiefster, wahrster Empfindung rangst. Sie hat Dich krank und grau und elend und wahnwitzig gemacht, und da die Schwere der Krankheit und der Hohn der Menschen auf Dir lastete, ist sie nicht heimgekehrt, um Dein Stab, Deine Stütze, Dein Trost, Deine Erquickung zu sein. Fern, unerreichbar ferne blieb sie, sich im lichten Glanze ihres Künstlerruhmes sonnend, und ließ Dich im düsteren Schatten Deines verwaisten Herdes allein.

»Dieß Mädchen, dem Du Liebe geschworen und nicht gehalten hast, dessen Herz Du zuerst erweckt aus dem arglosen Schlafe der Kinderspielzeit, und dann verlassen, gekränkt, beschämt hast; dem Du ein anderes Weib vorgezogen, welches Du auf der Straße gefunden hattest; dieß Mädchen, um das Du Dich nicht mehr gekümmert Jahre lang, und wäre es nur mit eines Auges Blick, dieß hat Dich geliebt durch 210 Trennung und Verlassenheit, dieß hing an Dir in den stolzen Jahren ihrer vielumfreiten Blüte, und, nun Dich Alles umgeht und Dich die Besten fliehen, läßt es die Stadt und die gewohnten Freuden eines glänzenden, rauschenden Winters, dessen Festkönigin sie sein würde, um Dir, dem armen Kranken, die Hand zu reichen, um von Deiner Stirne die Runzeln der Trübsal zu scheuchen und die Furchen des Wahnsinns, dem Du um jener Andern willen verfallen bist.«

Schon war ich nahe daran, dieß schöne Wesen zu fragen, ob sie's noch einmal mit mir wagen wollte, ob ihr der Mann meiner Schicksale noch ihrer Lieb' und Treue werth schiene; aber ich brachte das entscheidende Wort nicht über die Zähne. Dieß reut mich fast und ich lasse vielleicht die nächste Gelegenheit nicht abermals ungenützt dahinziehen. Ich weiß und kann mich täglich neuerdings überzeugen, daß Natalie nur auf mein erstes Wort wartet, um mir an die Brust zu sinken; die gerichtliche Lösung von meinem treulosen Weibe kann bei vorliegender böslicher Verlassung keiner Beanstandung unterliegen, und warum, warum soll ich mein Leben vertrauern in Einsamkeit wie ein Sünder, den die Marter seines Gewissens in ein Kloster hetzt? Warum? weil mich ein Weib verlassen? Warum? da mir noch einmal 211 das Leben und die Liebe winkt und ich noch einmal glücklich werden könnte?

Aber mein Freund, es gibt Stunden, wo mich jede Falte eines Vorhangs, jedes Stäubchen auf dem Teppich, die Fußstapfen im Schnee des Gartens, die leisen Töne des eisernen Windhahns auf dem Dache, das Klirren der Teller, das Knistern des Feuers, kurz Alles und Alles um mich her an die erinnert, die ich verlor. Dann steig' ich Nachts auf das flache Dach meines Hauses, dann sperr' ich mich tagelang in ihr Schlafzimmer ein, und sage mir's vor: wie wenn sie doch wiederkäme! Wohl mein' ich's dann zu fühlen, daß die alte Liebe nicht todt sei, und daß ich Niemandem zu eigen bin als Peregretten.

In solcher Stimmung habe ich auch diesen Brief begonnen. Nun aber die Schuld, der Jammer und die Schicksale, welche seit sechs Monden mich verwandeln mußten, in Einer Folge an meinem Bewußtsein vorübergezogen sind, nun denk' ich anders. Ich sehe es Alles vor mir, was ich um des Weibes willen gelitten, und das schwere Theil meines eigenen Verschuldens fliegt vor dieser Last pfeilschnell in die Höhe. Ich nenne den Rest von Sehnsucht, der mir noch im Kern meines Herzens sitzt, eitle Schwäche, Feigheit des Entschlusses. Ich will aufräumen damit, ich will mich entschließen.

212 Du aber hast nun gehört, nun sollst Du kommen und sehen, Du sollst wägen und prüfen, und dann sagen, ob mein hinkender Verstand noch den rechten Weg läuft, oder ob er abirrt vom Pfade des Erlaubten und Guten.

Zur Ergänzung der Geschichte von Peregrettens Enteilen, wie auch damit Du wissest, was Natalie mir früher gewesen, leg' ich Dir einige von jenen Briefen im Original bei, welche ich vor meinem Verlobungstag an die Püren geschrieben, von jenen Briefen, welche meine Frau am Tage nach unserem nächtlichen Gelage in meiner Mappe gefunden.

Eile Dich, spute Dich, Du bist mir von Nöthen und ich harre Dein mit Schmerzen.«

 


 


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