Georg Hirschfeld
Die Belowsche Ecke
Georg Hirschfeld

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Dreizehntes Kapitel

Was im Geschehenen als Untergang erscheint und dem Blick der Zurückbleibenden hoffnungslos, kann oft die entscheidende Wendung eines Entwicklungsprozesses bedeuten. Als hätte ein unsichtbarer Spielleiter die Menschenpuppen auftreten und verschwinden lassen, so begreift man erst am Ende des Spiels ihr Schweben und Stürzen, ihr Begehren und Versagen. Wildeste Schmerzen verklingen und das Recht der Lebendigen gilt.

Was Rudolfs letzte Nacht dem Hause Below zugefügt hatte, lichtete sich nur langsam in vielen, ringenden Tagen. Joachim Friedrich hatte seine Frau und zwei Kinder verloren. Hermann waren Mutter und Geschwister geraubt worden. Das Unerklärliche aber klärte ihnen den Blick dafür, was Dauer hatte, und wo ihre Zukunft lag. Als sie die Füße aus der letzten Umschlingung lösten, war ihnen der Sieg gewiß.

Below pflegte das Grab seiner Minna, als ob sie nur in einem tiefen Schlummer da unten läge. 432 Treue umfriedete ihren Hügel. Wenn Fritz ihr nachkam, würde sie ihn erwarten. Daran glaubte er. Aber seine Todessehnsucht wurde wieder fortgescheucht. Der ihm von seinen Kindern immer am fernsten gestanden – Hermann trat jetzt ganz zum Vater.

Der alte Mann sah in diese treuen Helferaugen und vergaß, daß sie ihm jemals fremd gewesen waren. Als hätte er einen »selbstgezogenen« Sohn an ihm, so blieb er jetzt mit ihm zusammen. Die Welt der Wissenschaft, aus der Hermann kam, nahm er mit kindlichem Respekt als natürliche hin, und er zweifelte nicht mehr, daß alle Bücher unter den rechten Augen Leben wurden. Sein Erbe war ein verwandelter Begriff. Es mußte nur ein guter, ehrbarer Mensch sein – daran klammerte sich Below.

Er folgte Hermanns Rat. Die Burgstraße verließ er und kaufte sich draußen, am märkischen Walde, in Klein-Machnow an. Dafür genügte sein heiß Umkämpftes auf der Reichsbank und für seinen Lebensabend, mochte er nun kürzer oder länger werden. Hermann hatte das Häuschen, das kein moderner Villenkasten, sondern eine umgebaute, ländliche Schule war, für den Vater gefunden. Below paßte in das einfache Ding, dessen Stockwerk mit wildem Wein bezogen war, hinein. Es war sein Stil, sein Alterssitz, und in stillen Stunden glaubte er noch den fröhlichen 433 Lärm zu hören, den barfüßige Dorfschüler hier vollführt hatten.

Kulicke, der Gärtner und Portier, hatte in diesem Hause noch seine Bildung genossen. Frau Kulicke machte die Stuben rein, denn Bertha, die alte Magd der Belows, war nicht mit nach Klein-Machnow gezogen. Die trieb es nach dem Tode ihrer lieben Frau zu mächtig, Krankenpflegerin in Bethanien zu werden. Sie hatte immer höhere Ideen gehabt als ihr Kollege Unter den Linden, Gottlieb Pinkert.

Aber Below wohnte nicht ganz allein. Martha blieb bei ihm und führte seinen kleinen Haushalt. Ihr Leben war abgeschlossen.

Jetzt hatte sie den klaren Blick, der wunschlos war und hinnahm, was ihr noch beschieden war. In wesenloser Ferne lag das Gewühl der Vergangenheit. Nur zuweilen durchzuckte sie noch der wilde Gedanke: Noch einmal anfangen. Noch einmal als das scheue Mädchen, das die Leute schön gefunden hatten, hinter Vaters Ladentisch stehen, gehorsam Handschuhe nähen und den Kunden anprobieren – wie fern, wie fern. Und Rudi Below kam. Ja, er kam. Auch in den letzten Traum. Er mußte kommen, und alles mußte geschehen, die ganze, unfaßliche Lebensfahrt, wie es geschehen war. In fernen Gräbern lagen nun der überschäumende Rudi, der schnell verwelkte Fred. Martha legte die Blumen 434 ihrer Frauenseele darauf und wandte sich gefaßt dem Rest des Daseins zu. Wer ruhte, war am Ziel. Man mußte sich nur darauf freuen können. Das hatte Rudi nie gehabt. Sie hatte es jetzt, und deshalb fand sie gute Tage.

Den Vater sah sie nur noch, wenn er sie brauchte. Wünschel wußte, daß Martha ihm in der Not zur Seite stand. Er schimpfte sich weiter durchs Leben, das ihm im Beschimpftwerden seinen einzigen Reiz bot.

Below wäre das Zusammensein mit der resignierten Frau doch zu einsam geworden, wenn Hermann und die Seinen nicht in der Nähe gewesen wären. Aber so war es weislich eingerichtet. Nur wenige Landhäuser trennten alt und jung.

Anfangs wurde nur Below besucht. Da kam Anna und brachte ihre Kinder mit – inzwischen war auch ein kleiner Fritz erschienen – da lernte Annas Mutter den Großpapa Below kennen, an dessen Schicksal sie jahrelang teilgenommen hatte. Hermann kam täglich, brachte Bücher, ordnete mit Martha das Wirtschaftliche und verließ den Vater nie, ohne ihm neuen Lebenstrieb gegeben zu haben. Es senkte sich Abenddämmerung nach all den Stürmen auf einen schwer geprüften Mann. –

Das kranke Ungetüm, die U. B., fand inzwischen auch seinen Helfer. Der arme Rudi Below. Er 435 hatte wirklich heimgezahlt, was Berlin ihm geliehen hatte. Sein Tod wurde seine wirksamste Reklame. Als man sich nicht mehr damit schaden konnte, erwachte die Sentimentalität der Weltstadt.

Das Finden der Geschwister, dessen merkwürdige Umstände durch den geschäftskundigen Koloman Raczag bekannt wurden, ihr gemeinsames Ende im nächtigen Grunewald packten die Gemüter. Man machte sich gern wieder einmal einen seelischen Vorwurf, denn die Räder des Betriebes rollten weiter.

Nun, in der milderen Mitleidsstimmung, ging man ernstlich daran, die Belowsche Ecke in Ordnung zu bringen. Aber Kretschmar hatte recht – es war ein ›Augiasstall‹, der erst richtig duftete, als man die Türen aufriß. Herkules fehlte. Furchtbare Verworrenheit förderte die Prüfung der Bücher zutage. Es war der greifbare Zeitschaden, den man vor sich hatte: eine versteinerte Orgie der Geschmacklosigkeit, ein Zerrbild der Modelaune und ein Strafgericht auf Sand gebauter Spekulation.

Wechsler, der Hauptschuldige, war nicht mehr zu fassen. Dieser zehnfach Gesiebte hatte sich noch in Sicherheit gebracht. Sein Prozeß wäre die Klärung geworden.

Aber nun lauerte das Elend eines brotlosen, längst um seine Löhne gebrachten Personals. Nun zitterte es ringsumher, in Banken und 436 Industriewerken, überall, wo Unehrlichkeit oder Dummheit verstrickt worden war. Man durfte nicht zu stark an der U. B. rütteln. Ließ man sie in Staub sinken, so riß sie allzu viele Stützen mit. Dies war die Rache des toten Rudi.

Man überlegte hin und her, man dankte Below, dem Hauptgläubiger, seine Resignation und klammerte sich pietätvoll an den Bodenwert, der nicht umzubringen war (70 000 Mark die Quadratrute!) – aber der Reorganisationsplan wollte nicht gelingen. Das Genie fehlte.

Da hieß es plötzlich, aus dem allmächtigen Hause Ascher sollte die Hilfe kommen. Was niemand erwartet hatte – nicht die junge Tatkraft der Söhne riß das Unternehmen an sich, der alte Berthold selbst stand wieder auf dem Plan. Ihm gelang es in wenigen Tagen, was wirre Monate nicht gebracht hatten. Er ›interessierte‹ sich plötzlich für die U. B. Durch seine Autorität gelang es, einen Ring von Industriellen zu bilden, dessen Führung die Firma Ascher übernahm. Sie ließ die Belowsche Ecke, die ihren alten Namen wieder erhielt, von den feinsten Architekten der Zeit umbauen. Ascher hatte als Autodidakt den Spürsinn, nichts, was durch Ungeschmack und Wertlosigkeit gefährdete, hineinzulassen. So verwirklichte der alte Geschäftsmann, was Rudi Belows Schwärmerei vergebens ersehnt hatte. Freilich war es nur ein Kaufhaus der Eleganz, ein Magazin. Aber zusammenzutragen, was gekauft 437 werden konnte, nie in unverkäufliche Objekt zu geraten – das war Berthold Aschers Gabe. Damit stieg er gelassen über Rudi Belows Grab hinweg.

Er tat es, um sich dem eigenen zu nähern. Nun hatte er nichts mehr in Berlin zu tun. Sein letztes Werk sandte er schon aus der Dunkelheit. Man sah den alten Organisator nicht. Man rottete sich zusammen, wie eine ängstliche Herde, und verkaufte ihm blindlings alle gescheiterten Ansprüche. Die Söhne führten die Verhandlungen. Wenn man sie nach dem Vater fragte, wurden sie einsilbig und machten ehrlich bekümmerte Gesichter. Berthold Aschers physischer Zusammenbruch war unaufhaltsam. Er wollte nur in seinem Lehnstuhl sitzen, im stillen Hinterzimmer der Bellevuestraßenwohnung, und rechnen. Rechnend eignete er sich noch an, was belowisch war. Dann konnte er getrost nach Weißensee fahren.

Man wußte, daß sein Versagen an dem Tage eingetreten war, da Rudolf und Erna erschossen im Walde gefunden worden. Ein merkwürdiges Zusammentreffen, das man sich nicht erklären konnte, denn ein besonderes Mitgefühl für das Schicksal des Belowschen Hauses hatte man Ascher niemals angemerkt.

Jedenfalls war seit jenem Tage seine Körperkraft gebrochen. Nur der rastlose Geist lebte noch, und während dem Einsamen die stetig wachsende, 438 tobende Riesenstadt draußen aus dem Bewußtsein schwand, berechnete er mit genialer Klarheit ihre Erfolgsmöglichkeiten und Reize. –

Joachim Friedrich Below hatte einen anderen Lebensabend. Je enger seine Wünsche umgrenzt wurden, desto weiter sah er sie in Leben umgesetzt. Ein Sohn, der seines Blutes war und mehr als sein Blut, eine Tochter, die ihm nie gekannte Anmut und Weibeskraft offenbarte, zwei gesunde Enkelkinder, das Mädchen blond, der Junge braun gelockt – das war ein gewaltiges Vermögen. Da traf es ihn zuweilen tief ins Herz, wenn er des unglücklichen Rudi gedachte, dessen Flehen er ein Bankdepot versagt hatte.

Wie reich konnte doch das ärmste Leben immer noch werden. Es kam nur auf die Herzen an. Es galt nur die Frühlingsformel, die ein großes Blühen weckte und kleine Verdorrtheit wie schmutzigen Schnee zerfließen ließ. –

Es war an einem Abend im Mai. Joachim Friedrich saß in Hermanns Gärtchen. Die Kinder spielten zu seinen Füßen, aber ihre Aufmerksamkeit war zwischen zerrauftem Spielzeug und der Schokoladentüte geteilt, die Großpapa ihnen mitgebracht hatte.

»Es ist merkwürdig, wie dämonisch solche Tüte ist, solange sie geschlossen bleibt,« meinte Hermann, der die Kinder beobachtete.

439 Anna lachte leise.

»Erlaube ihnen doch –«

»Nein – pardon . . .«

»Gern, Väterchen.«

»Was muß erst geschehen? Min? Der Fritz ist noch zu klein – dem mußt Du es sagen. Also, was geschieht, wenn ich die Tüte hier aufmache?«

Minchen sah den Vater mit großen, sehr bestimmten Augen an.

»Das wirst Du gleich erleben,« meinte Below amüsiert. »Aber anders vielleicht, als Du Dir's vorstellst. Mit Kindern is es so 'ne Sache.«

»Die Sache wollen wir mal prüfen. Also, Minchen, hier mach' ich jetzt die Tüte auf. Das sind ja wunderbare Pralinés. So. Was geschieht nun?«

Minchen lachte kurz und ging mit der offenen Tüte zu allen hin, um anzubieten. Anna klatschte in die Hände. Hermann aber blieb ernsthaft und nickte nur. Der Großpapa hatte feuchte Augen bekommen. Er zog die beiden Kleinen, die nun endlich zum Naschen kamen, an sich. So saß er da, der alte Fels mit blühendem Behang, ein schöner Anblick. Er mußte, wie immer in solchen Glücksmomenten, an Minna denken. Anna spürte das, nahm die Gitarre zur Hand und sang ein kleines russisches Lied. 440

»In der Steppe, grau gebreitet,
Weiß ich doch, was mir gehört,
Seh' den Stern, der mich geleitet,
Wo mich auch die Welt betört.

Heimat, bist du nur ein Schimmer
Und ein Wort in meinem Ohr –
Hältst im Mutterschoß doch immer,
Was sich fern zum Glück verlor.«

Sie schwieg. Es dämmerte im Garten. Below saß, den weißen Kopf in die Hände gestützt. Die Kinder fühlten etwas Fremdes und hatten sich mit ihrem Spielzeug in einen Winkel zurückgezogen.

»Ja, das is es,« flüsterte der Alte plötzlich. »Haben wir nu eigentlich, was man so Heimat nennt, Hermann? Wir Berliner?«

»Das ist die Frage, die uns jetzt viel beschäftigt.«

»Euch Jungen, nicht wahr? Das denk' ich mir. Ich bin ja a. D. Ich mache nicht mehr mit. Ich hatte mal 'ne Heimat. Ganz entschieden. Du weißt schon, wo. Aber sie is verschwunden. Und man kann nicht mal sagen, daß es schade drum is.«

Below sagte nichts mehr. Hermann schien seine Antwort zu überlegen. Anna war mit den Kindern ins Haus gegangen.

»Ja, so'n russisches Gemüt,« begann Joachim Friedrich wieder. »Du lieber Gott, Deine Frau kann 441 wenigstens an 'ne Heimat denken. Es is ja woll nur Sehnsucht. Aber Du, Hermann – für Dich bleibt so was nicht übrig. Da muß ein Klotz Geld verdient werden, wo Deine Heimat is. Da fressen die Hasen den Kohl weg.«

»Vater,« erwiderte Hermann, »es ist das Schwerste, aber ich glaube doch an ein Gelingen. Ich sehe nicht nur Untergang, sondern auch Zukunft. Das ist die Kraft von Berlin. Wie lange wird man sich noch mit Geschichtsbüchern herumschleppen? So schön die Vergangenheit ist – Goethe hat gesagt: ein Buch mit sieben Siegeln. So steht es um jedes Haus, das übrig geblieben ist und keine lebendigen Menschen mehr beherbergt. Ich ahne den größten Umwandlungsprozeß. Ein wenig werden ihn meine Kinder noch erleben. Die bleiben Berliner, aber sie lügen sich in keine fremde Kultur mehr hinein. Der riesige, zusammenströmende Komplex bringt selbst die Krisis und die Gesundung. Die innere Stadt wird sich überlassen bleiben, ein steinerner Herd der Industrie, ein großer Markt, keine Menschensiedlung. Draußen aber wird sie von Gartenstädten umringt, wo die Berliner der Zukunft sich geistig und körperlich heranbilden. Bescheidenere, weisere Berliner. Die unsern Rudolf verwerten, nicht untergehen lassen. Die ein Talent zu bilden verstehen in der zweckmäßigen Schönheit der Technik, in der freien Natur, die ihnen dann endlich wieder gehört.«

442 »Das siehst Du, Hermann? Aber das steht wohl bloß in Deinen Büchern?«

Below erschrak, als ihm die letzten Worte entschlüpft waren. »Entschuldige . . . es war nicht böse gemeint . . .« Er errötete auf seine alten Tage. »Ich weiß ja, daß Du keine Redensarten machst. Das weiß ich jetzt. Du und Anna – Ihr seid Arbeiter, bessere Arbeiter als die Spekulanten und Geldmacher. Ihr bringt die Karre auf Eure Weise vorwärts. Aber es steckt nu mal in mir: Tatsachen, Hermann. Wo sind Tatsachen? Das frag' ich Dich ohne Vorwurf. Und so war Mutter auch.«

Er sah seinem Sohn nur zaghaft in die Augen. Aber zu seiner freudigen Ueberraschung fand er feste, gütige Heiterkeit darin. Hermann hatte ihm nichts übel genommen. Er griff vielmehr nach seiner Hand und erwiderte: »Vater, es bleibt eben so: Ihr seid die Jungen, und wir – na, wir wollen das nicht näher bezeichnen. Jedenfalls – vor Deinem Ungestüm müssen wir besonnen bleiben. Das ist der Lauf der Welt. Aber ich möchte Dir versichern: Es steht nicht nur in Büchern, was ich hoffe und erwarte. Tatsachen sind schon da – doch es merkt sie nur, wer sich darin entwickelt. Das empfinde ich täglich bei meinen Vorlesungen vor jungen Hörern. Das fühlt Anna, wenn sie bei den Armen draußen in den Vorstädten ist und ein bißchen Trost bringt. Irgendwo leuchtet es immer wieder auf. Ich sehne mich auch nach Taten, Vater – sonst blieben ja meine 443 Worte nur Worte. Laß mich ruhig einen dürren, alten Professor werden. Mag ich bis an mein Lebensende als grauer Theoretiker gelten, die Rudolf so verachtet hat – schließlich ist doch das ganze, was unsereiner zustande bringt, ein Baustein der Zukunft. Schließlich helfe ich doch die Belowsche Ecke tragen. Und wenn's nur ein schmales Buch von einem Toten wird: Unsere Kinder müssen zu essen und zu lesen haben. Die wissen dann vielleicht etwas von meiner ›Tat‹.«

Below drückte Hermanns feine Hand in seinen harten Händen. »Ja, mein Junge . . . Nu bin ich zufrieden . . . Mach's man so, wie Du willst.«

 


 


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