Georg Hirschfeld
Die Belowsche Ecke
Georg Hirschfeld

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Zweites Kapitel

Ein fundamentaler Entwicklungsunterschied entscheidet über den Lebenserfolg des Berliners. Entweder ist er der Erbeingesessene, wie eine Pflanze dem Erdreich der Ahnen entwachsen, dessen Zusammensetzung er als vorbildlich empfindet. Oder er ist der Eingewanderte, der Zufallsmensch der Provinz, der in dieser Stadt mehr als anderswo seines Glückes Schmied sein soll.

Ein Vertreter des ersten Typus war Joachim Friedrich Below. Er gehörte zu den Besitzern vieler Gottesgaben, die nur ihr Erbe verwalten und, wenn es ihnen angegriffen wird, mit entsetzten Augen fragen: Was will denn das Leben von mir? So muß es doch sein! Pietät der Kinder gegen die Eltern, Festhalten an König und Vaterland, goldehrlicher Handel und Wandel. Was sollte ich anderes tun als mich an diese Ewigkeitswerte zu halten? Meine Rasse tut genug, wenn sie dafür eintritt.

Der andere Typus aber findet so Festes nirgends vor. Er sieht es nur bei denen, die ihm fremd bleiben, 30 und betrachtet, was dort ethische Geltung hat, für sich nur als nützlich.

Berthold Ascher war vor dreißig Jahren nach Berlin gekommen. Der Handlungsgehilfe aus Posen, arm und häßlich, fühlte eine prinzipielle Ablehnung seiner Person, aber die Kraft des Talents ließ ihn diese Ablehnung nicht zurückgeschreckt empfinden. Er nahm von vornherein den Kampf gegen sie auf. Für ihn gab es nur Siegen oder Unterliegen. Man hatte ihm zu Hause höhnend erzählt, in Berlin liege das Geld auf der Straße, und als der kleine Rotkopf hinkam, sah er es wirklich so. Er verlegte sich auf ein zähes, sein ganzes Dasein beherrschendes Studium des Geldverdienens. Er bedurfte nichts für seinen Körper – Kaffee und Käsebrot genügten. Aber sein Geist erfüllte sich, wie das Warenhaus der Zukunft, mit allen Lebenselementen derer, die ihn umgaben. Er brauchte nicht wie Below hundert Voraussetzungen zu erfüllen, die tote Mächte über ihn verhängt hatten. Das Exempel seines Lebens war nur ein Beweis, und seine Seele blieb in biblischer Ferne.

So gelang es Ascher bald, und er fand auch die Frau, die für ihn paßte. Bertha Salomon gab seiner Anpassungsfähigkeit das Fundament. Ihre Familie hatte das Ansehen der Belows und lebte fast ebenso lange in Berlin. Ihre Mutter war mit Rahel Levin verwandt und ihr Großvater einer der ersten Juden gewesen, die Berliner Bürgerrecht 31 erworben hatten. So studierte Berthold Ascher an seiner Frau, was in der neuen Welt Geltung hatte. Ihr Hausstand blühte, ihre Kinder, vier Söhne, gediehen. Ascher wäre ein wahrhaft glücklicher Mann geworden, wenn nicht der rastlose, alle andern Lebensreize deckende Ehrgeiz seine Triebkraft gewesen wäre.

Der Anfang war auch bei diesem Napoleon klein. Aschers erstes Geschäft in der Rosenthaler Straße hatte keine bestimmte »Branche«, sondern lieferte dem bürgerlichen Haushalt alles Neue und Nützliche. Noch gab es keine Warenhäuser in Berlin, aber dieser enge Laden mit der Gasflamme war ihr erster Pionier. Dort bedienten nur Mann und Frau, ein pockennarbiges Mädchen half – es war nicht sehr reinlich und ansehnlich bei Aschers, nur um anderthalb Groschen billiger als anderswo. Das sprach sich herum, das machte ihr Glück. Zwei Kommis wurden angenommen, die Knaben besuchten das Gymnasium, und das Geschäft wurde in ein größeres Lokal nach der Königstraße verlegt. Das Zentrum Berlins hatte Ascher von vornherein aufgesucht, und seine Frau, die Altberlinerin, bestärkte ihn darin.

Aber Bertha Salomon starb, als das Glück nach der Königstraße verpflanzt wurde. Das Dasein des Witwers wurde nur noch harte, kalte, rastlose Arbeit. Sein Garten verdorrte, und er pflanzte nichts Neues. Aber er hatte vier Söhne. Bevor ihre Knabenseelen zur Kultur und Sehnsucht 32 erwachten, wurden sie schon vom Willen des Vaters ergriffen und systematisch in seine Zwecke eingespannt. Auch sie lernten nur, daß ihnen alles feindlich war und besiegt werden mußte. Das Geld aber war das einzige Mittel dieses Sieges. In Skepsis gepanzert war hier die Jugend wie das Alter. Was Below für sich und seinen Sohn vergebens ersehnt hatte, gemeinsame Arbeit, beherrschte hier selbstverständlich die ganze Familie. Vater und Söhne nahmen wirklich das Geld von der Straße auf.

Das Tempo der Zeit war ein anderes geworden. Aschers Wahrscheinlichkeitsrechnung löste das Exempel des Verkehrs. Die atemlose Beschleunigung, die er sah, mechanische Kräfte physische ersetzend, Sieg der Unhistorischen über die schwachen Verteidiger der Ueberlieferung – das waren die Symptome. Hier galt es, zu vereinigen, was zwecklos auseinanderlag, dem Drang nach kleinem Vorteil durch den Pfennignutzen entgegenzukommen. Ascher aus Posen war nicht dazu da, gebrechliche Traditionen zu stützen, sondern sie umzureißen, zu vermischen in unentwirrbarer Buntheit. Er erweiterte sein Geschäft in der Königstraße, er begann die Artikel der Kleinkaufleute an sich zu reißen und um ein Bruchteil billiger zu verschleudern. Er kalkulierte großzügig und brach den Bann, der über bürgerlichem Kleinmut lag.

Als der Erfolg kam, mußte er lachen – warum hatte man ihn den Ersten werden lassen? Aber auf 33 den Ersten kam es an. Aschers Warenhaus war die Lösung. Was geschah denn da? Ein Handelsmann aus Posen verkaufte Schinken und Würste – ihre Schinken und Würste? Daneben führte er Briefpapier – wurde denn das nicht fleckig? Und Parfüms behaupteten sich neben Schokolade, Arbeiterstiefel neben Damenhüten? Etwas billiger sollte der verdächtige Krimskrams sein, aber schlechter natürlich auch. Doch nein – die Leute erzählten, es seien ganz dieselben Würste wie beim Hofschlächtermeister, dieselben Parfüms wie bei Lohse. Und Schlipse gab es dort, so elegant und billig – davon wußte man noch nichts in Berlin.

Der Sturm begann. Ein geschickter Regisseur hatte alle Wirkungen vorausberechnet. Das bunte Allerlei des Lebens, das Gesellschaftsbild lockte. Hier bekam der kleine Mann endlich etwas vom großen Luxus des Daseins zu kosten, er konnte sich für wenige Pfennige als Gourmand fühlen. Denn der findige Unternehmer eröffnete einen »Erfrischungsraum« in seinem Warenhaus, ein märchenhaft billiges Restaurant, und plötzlich hatte er die Herde in verstärktem Maße auf seiner Weide. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Doch während in der Königstraße alles klappte, war es Aschers Industrietalent schon gegeben, über die Königstraße hinaus zu denken. Der Zug nach dem Westen, der anfangs der neunziger Jahre besonders stark war, mahnte ihn, den rechten Augenblick zum Staatsstreich nicht 34 zu versäumen. Berlin war keine einzelne Stadt mehr, es entwickelte sich zu einem Bündel von Städten, deren jede ihr fruchtbares Eigenleben hatte.

Ascher ging dem Wachstum des Riesengeschöpfes nach. Noch kamen die Schöneberger und Charlottenburger nach Berlin, um einzukaufen. Aber der Potsdamer Platz war der Eingang zur Stadt geworden – was wußte man noch von alten Toren? Ueber die Leipziger Straße ging die moderne Empfindlichkeit nicht mehr hinaus. Dort also mußte der große Hafen entstehen, der alle Schiffe aufnahm. Ungeheure Mittel waren nötig, um dem teuersten Pflaster Berlins ein großes Grundstück zu entreißen. Doch Ascher war selbst überrascht, als die Bilanz des ersten Jahrzehnts ihn belehrte, daß ein solches Vermögen schon in der Königstraße verdient war. Wenn er es wagte, seinen ganzen bisherigen Erfolg in das neue Grundstück zu stecken, dann fand er auch die Teilhaber, die den Bau zahlten. Der große Nutzen seiner Idee drängte sich jedem hellen Kopf auf. Ascher wollte eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung gründen und selbst allmählich alle Anteile an sich reißen. Aber er wagte zugleich noch das Kühnste mit seinem unerschrockenen Verstand. Er griff Berlin im Herzen des Verkehrsstromes an. An der Leipziger und Friedrichstraße wollte er den neuen Palast bauen. Mit verblüffender Zuversicht zwang er die fehlenden Kapitalien herbei.

35 So stand es am Anfang der neunziger Jahre, als Rudi Below das Haus seiner Eltern verlassen hatte. Noch waltete Stillschweigen über den großen Plänen, aber an der Börse spukten schon Gerüchte davon. »Wie kann man überhaupt 'ne Tragödie aufführen mit seinen Kindern? Was heißt das? Die Kinder müssen doch von vornherein fühlen, daß der Vater das Richtige tut? Einen Prachtjungen, keinen Schwächling, nach Amerika schicken, um einer Dummheit willen? Na – Herr Below muß es ja wissen.« So dachte Ascher in seiner goldenen Sicherheit und musterte befriedigt seine Söhne, die wahrhaftig keine Reckenreihe waren. Von 24 bis 16 – sie hatten alle schon ausgelernt. Moritz, der Aelteste, hinkte ein wenig und liebte die Musik. Aber dieses zartere Einsamkeitsbedürfnis hinderte ihn nicht, mit harten Augen Umschau zu halten, was seinem Gelde zur Verfügung stand. Die eleganteste Konfektioneuse war ihm in Zärtlichkeit ergeben. Das strebsame Mädchen wußte, was es tat. Isidor, der zweite Sohn, war sehr dick und gleichmütig – er wollte am liebsten den ganzen Tag Kisten packen und Stoffballen schleudern. Heinrich, der dritte, war ein gefühlloser Rechner, und Julius, der Jüngste, die Schönheit der Familie, liebte und lebte sich durch die Halbwelt. Dennoch war auch er ein Sparmeister in seiner Verschwendung. Sie standen alle am richtigen Platz. Die gemeinsame, originelle Idee, der sie dienten, machte ihre Tüchtigkeit zur 36 Genialität. Aschers gingen Wege, wo ihnen nichts mißlingen konnte.

Adolf Wünschel hatte sich nach Marthas Flucht fanatisch seinem bescheidenen Geschäft gewidmet. Der einsame Mann nahm keine neue Hilfskraft an, nachdem ihm sein Kind gestohlen worden. Vom Morgen bis zum Abend stand der Gealterte hinter dem Ladentisch, kurzatmig, mit bösem Blick, und nur, wenn Kunden kamen, hatte er die immer gleiche, erstarrte Freundlichkeit. Es war eine Freundlichkeit, die niemand warm machte. Man störte eigentlich diesen krummen, scheuen Menschen, wenn man sein Geschäft betrat. Bei einer welken Stubenpflanze Dinge der Lebensfreude kaufen, war ein Widersinn. Handschuhe hatten solche Bedeutung – Wünschel aber verkaufte sie, als ob er nur mit Trauerkleidung handelte. Jetzt mußte man sich von den dürren Fingern des astmathischen Alten das Leder anmassieren lassen. Der Handschuhhändler merkte kaum, daß seine Kunden nicht wiederkamen. Er wollte es auch nicht merken, denn die unablässige Arbeit sollte ihn rechtfertigen und halten vor allen Schlägen des Lebens. Erst ein paar gute Freunde zeigten ihm das drohende Gewitter. Wünschel, der ein unsauberer Geizkragen geworden war, nahm das Mittagessen in keinem anständigen Restaurant ein, sondern kletterte täglich in ein dumpfes Kellerlokal hinunter, das in der Mauerstraße gegenüber der Dreifaltigkeitskirche lag. Hier verkehrten kleine 37 Geschäftsleute, Droschkenkutscher und Dienstmänner, aber es fehlte nicht an Elementen, deren Art und Beruf im Dunkeln blieb. Die Zwielichtfarbe des Lokals hatte auch sein Wirt. Herr August Mauke, der den Beinamen »Quatschmauke« trug, wurde von seinen Gästen nie recht ernst genommen. Er war ein politischer Raisonneur und mehr als rot – man munkelte, daß er ein heimlicher Anarchist wäre. Mauke liebte die sensationellen Neuigkeiten, die er seinen Opfern in perfider Weise beibrachte. Er lullte sie erst doppelt mit beruhigenden Worten ein, befragte sie dann mit glückverheißender Trösterstimme nach ihren geheimen Nöten und Schmerzen, um sie plötzlich mit einer furchtbaren Wahrheit niederzuschmettern. Wünschel fühlte sich zu diesem kahlköpfigen, in Filzpantoffeln schlurfenden Menschen hingezogen. Er lachte nicht über ihn, wie die andern, sondern spürte hinter Maukes Temperament etwas Besonderes, das auch seinen Lebensweg beeinflussen konnte. Jetzt besonders, nach Marthas Flucht, war ihm die zynische Atmosphäre voll Zoten und Haß, die Maukes Lokal erfüllte, willkommen.

Als er an einem Wintermittag müde und tiefsinnig in den dichtbesetzten Keller hinunterkam, fühlte er mit dem ersten Blick, daß Maukes Giftpfeil heute auf ihn gerichtet war. Er merkte es daran, daß nicht die Kellnerin ihn nach seinen Wünschen fragte, sondern der Wirt in eigener Person, sehr tröstlich und liebenswürdig. Wünschels Herz klopfte, 38 er bestellte das kärgliche Mahl, und seine Beklommenheit wuchs, als die übrige Gesellschaft mit listigem Lächeln zu ihm hinübersah. Herr Mauke brachte ihm persönlich die Suppe.

»Na, wat jedenken Se denn nu zu unternehmen, Herr Wünschel?« fragte der Restaurateur immer noch sanft, aber sein stechender Blick bohrte sich in die Seele des Gastes.

»Meine Suppe will ich essen,« knurrte Wünschel.

»Am besten tun Se woll, Se ziehn mit Ihren Jeschäft nach Westend raus, denn bis Charlottenburg is et ja nu Essig, und det Haus nebenan koofen, dazu fehlen Ihnen woll doch de Däuser?«

Wünschel fuhr wie ein bei der Mahlzeit gestörter Hund auf. »Was reden Sie denn da – Quatschmauke – wozu soll ich denn ein Haus kaufen? Wozu soll ich denn nach Westend ziehen?«

»Um de scheene Jejend is et ja schade. Sie haben jrade noch so mollig in de Friedrichstraße jesessen, dicht an de Leipzijer. Bei uns hier an de Dreifaltigkeitskirche is et ja ejal. 'n Budiker kriegt immer sein Publikum.«

»Drücken Sie sich jetzt deutlicher aus oder –!«

»Na, immer ruhig Blut und warm anjezogen. Sie verkoofen doch Winterhandschuhe. Haben Se denn ejal jeschlummert in de letzten vier Wochen? In die Blätter hat et ja schon jestanden: Der Ascher aus de Königstraße kooft Ihre janze Nachbarschaft, Ecke Leipziger und Friedrich – da soll 'n 39 Warenhaus hinkommen, wie 't Berlin noch nich jesehn hat. Noch doller als in Amerika. Fünf Etaschen, dausend Kommis und fünfhundert Meechens. Der Jude hat 'n Vogel, aber et wird ihm schon jlücken.«

Wünschel sah mit seinen erloschenen Augen scheu die umsitzenden Gäste an. »Ist das wahr?« Man lächelte. »Ich war ja noch vorigen Montag mit Ascher zusammen. Wir treffen uns oft in der Belowschen Ecke – ich kenn' ihn sehr gut. Aber das ist ja unmöglich – er hat nicht das mindeste davon erwähnt?«

Mauke wieherte. Sein Blick wurde noch diabolischer. »Der wird sich hieten! Bis jestern hat ja noch keen Aas wat jewußt! 'ne jroße Jesellschaft hat er jejründet, aber er soll selber allens drin haben! Janz heimlich hat er sich in de Königstraße zwee Miljonen zusammenjediebt! Nu is det Jeschäft richtig! Nu könnt ihr man alle inpacken, de janze Nachbarschaft!«

»Wieso denn, warum denn –?« stammelte Wünschel.

»Na, det is doch klar – der hat doch alle Sachen, die ihr habt – und jibt se 'n Drittel billiger. Wo anders bringt er 't wieder ein. Die Berliner müßten ja besoffen sind, wenn se in eure muffigen Kartongs rumkrabbeln täten, statt allens so pikfein und haufenweise hinjeschmiert zu kriejen.«

Wünschel stand auf. Sein gekrümmter Körper reckte sich, und seine mageren Hände zitterten. »Da 40 weiß ich aber wirklich nicht – da weiß ich wirklich nicht, was ich sagen soll, lieber Herr Mauke! Soviel will ich Ihnen denn doch – und allen hier, die sich gewissermaßen ins Fäustchen lachen, sagen – – an ein anständiges Detailgeschäft kommt der Warenhausschwindel nicht 'ran! Wir sind gewappnet! Wir werden einen Verein gründen! Das Publikum wird sich für uns entscheiden! Ich war auf solche Niederträchtigkeit nicht vorbereitet! Herr Ascher soll sich hüten!«

Nach diesen prophetischen Worten machte Wünschel kehrt und kletterte die Kellertreppe hinauf. Aber bevor er im Freien war, verlor er schon seine Sicherheit, denn er hörte hinter sich herlachen.

Der Frühling machte die Neuigkeit wahr. Das Eckhaus und die Nachbarhäuser in der Friedrich- und Leipziger Straße hatte Aschers Konsortium erworben. Rasch wurde demoliert, und ein Neubau entstand, der die Sensation Berlins war. Wünschels Laden grenzte nun dicht an Aschers Industriepalast. Er wirkte wie eine Karikatur, man übersah ihn fast. Aber der Handschuhverkäufer hielt sich – seine Feindschaft gegen den mächtigen Nachbar gab ihm den letzten Halt. Er beschimpfte die Warenhausbesitzer, wo er sich befand, und als ihn ein Brief des jüngsten Ascher energisch darauf aufmerksam machte, daß man den Beleidiger mundtot machen würde, hörte er nicht auf. Aber er wurde nicht mehr ernst genommen. Das Mißverhältnis zwischen seinen 41 Interessen und denen des großen Unternehmens war zu offenbar. Man lachte über den Raunzer, und als die Jahre des Baus vorüber waren, als die Eröffnung des in Lichtflut prangenden Etablissements einen großen Erfolg bedeutete, ging man über Wünschel zur Tagesordnung über. Er mußte es mitansehen, wie man an seinem Laden vorbei in das Warenhaus zog. Wünschel vereinsamte. Bald merkte er es trotz seiner Bedürfnislosigkeit: Die Not kam schleichend auf ihn zu, er steuerte in einen tiefen Abgrund. Nicht der Gedanke an die Witwe seines Bruders, die er mit zwei unmündigen Kindern erhielt, noch weniger der Wunsch, für die treulose Martha ein Erbe zu schaffen, jagte ihn in den letzten Trotz hinein. Er wollte prinzipiell nicht unterliegen. Er wälzte den allgemeinen Kampf in seinem Gemüt und suchte Propaganda für seine Rache.

In der Belowschen Ecke, die er trotz seiner Erfahrung mit dem Sohn des Hauses noch zuweilen besuchte, glückte es ihm nicht, gegen Ascher zu hetzen. Den indifferenten Konservativismus Belows konnte Wünschel nicht überwinden, und die anderen Stammgäste waren egoistische, weinselige Schlafmützen. Zuweilen traf er auch Ascher selbst, aber der zynischen Trockenheit des Gewalthabers war Wünschel nicht gewachsen. Ein böser Trieb zog den Vereinsamten schließlich aus seinem Laden in die Prachträume des Nachbars. Die Oeffentlichkeit des Warenhauses ließ ihn im Verkehrsstrome untergehen, er konnte hier, 42 ohne zu kaufen, stundenlang umherwandern, mißgünstig gaffen und sich voll Haß pumpen. Es befriedigte ihn fast, daß er sein eigenes Geschäft vorzeitig schloß und zufällig hinverirrte Kunden wieder abziehen mußten. Was sollte denn sein Geschäft noch? Er hielt es offen, wenn er Lust dazu hatte. Hier drängten sich jetzt Tausende, hier wurde natürlich ebenso viel gestohlen wie gekauft. Und die Mehrzahl gaffte nur. Was für Waren sah man? Lauter Schund. Die Herrenwelt kam auch nicht deswegen zu Ascher – die Verkäuferinnen, lauter raffiniert gewählte, hübsche Mädchen, waren die Attraktion. Also kein solides Geschäft mehr. Quäkte da nicht irgendwo Musik? Sollte man nicht in einem schwülen Wintergarten promenieren, wo Papageien schrien und tropische Pflanzen hingen? Strebte nicht vor allem der ganze Verkehr, statt ausgestellte Waren zu prüfen, zum ersten Stock hinauf, ins Restaurant? Und von dort wieder unaufhaltsam in den dritten, wo es nur Lebensmittel gab, spottbillig, jedes Detailgeschäft verderbend? Es war ein gemeiner, genußsüchtiger Geist überall. Die Arbeit wurde erniedrigt, der alte Begriff von Einzelfleiß und Einzelbegabung; man warf das Gute zum Schlechten, man fragte nur nach dem Preis. Der verbitterte Wünschel blieb mit finsterem Lächeln im Lichthof stehen. Dieser Anblick imponierte ihm. In mächtigem Quadrat fünf Etagen hoch, überall Leben und Laufen, Licht und Verdienst in den zahllosen 43 Gängen, in den auf und nieder gleitenden Fahrstühlen. Ein großer Bluff, aber genial organisiert. Der alte Ascher war nicht zu sehen; der saß wohl im Zentralbureau. Aber die Söhne, diese unansehnlichen Menschen in ihrer fanatischen Arbeitshast, waren immerfort unterwegs. Auch der hinkende Moritz hielt sich nicht zurück – er war der schnellste und energischste von allen. Wünschel sah ihm mit einem Blick nach, der fast Sympathie war. Wie beflügelte doch der Zauber des Erfolges. Geber und Nehmer. Es war ein böser Geist, der hier siegte, aber es war ein Geist. . . .

Als Wünschel sich tiefsinnig dem Ausgang näherte, wurde er von hinten festgehalten. Mauke, der Kneipwirt, hatte ihn eingeholt. Sie kamen in ein wohltuendes Schimpfgespräch und blieben den Abend über beisammen. Wünschel fühlte, daß diese Begegnung bedeutungsvoll war. Er wollte heute aus dem geheimnisreichen Menschen klug werden. Ohne ihn zu fragen, wohin er ginge, folgte er ihm in den fernsten Norden hinaus. Es war ein lauer Frühlingsabend. Fahle Sonnenröte brannte über den häßlichen Straßen, ärmliche Menschen kamen müde von schlecht bezahlter Arbeit heim. Wünschel ging neben dem Kneipwirt wie im Traum. Mehr zu sich selbst, als zu Mauke begann er zu sprechen: »Darf das nu alles so sein? So viele Schicksale plötzlich von einer Faust gepackt, und Fleiß und jahrelange Arbeit, alles vorüber? Als ob es gar 44 keine Eltern gegeben hätte? Jeder zwecklos? Jeder nur Maschine? Aufs Geld kommt es an, aber nicht auf dieses und jenes, sondern überhaupt aufs Geld.«

»Ja, wenn man 't sich jefallen läßt,« erwiderte Mauke ruhig.

Wünschel sah ihn nicht an. »Ich habe mir's nicht gefallen lassen, aber nun steh' ich doch vor dem Abgrund.« Der Kneipwirt pfiff vor sich hin. »Ich wollte die Ladenbesitzer der ganzen Friedrichstadt vereinigen, um gegen Ascher zu protestieren, aber ich fand lauter Drückeberger. Für eine gemeinsame Sache ist niemand mehr zu haben. Sie wollen sich mit den Warenhäusern verhalten, nicht dagegen auftreten. Wenn alle Stränge reißen, müssen sie Aschers Lieferanten werden.«

»Na, und Sie?«

Wünschel blieb stehen – jetzt trafen sich seine Augen mit dem stechenden Blick des Wirtes. »Niemals, Herr Mauke,« stieß er heiser hervor. »Lieber laß ich mich auf die Straße setzen und bettle mir mein Brot zusammen.«

»I wo denn – det werden Se doch nich dun?«

»Ja, man müßte auch eigentlich etwas ganz anderes. Man müßte – Dynamit nehmen, Bomben schmeißen in diese niederträchtige Herrlichkeit! Ueberhaupt – die Banken richten es an und die Adligen und die Kapitalisten – die müßten alle sterben, alle müßten zugrunde gehen!«

Mauke schwieg eine Weile, dann sagte er: »Mit 45 de Lippe jeht det allens janz famos. Aber wenn man brummen soll dafor oder Reindeln seine Bekanntschaft machen – Sie reden mir zu ville, Herr Wünschel. Nehmen Se mir det nich übel.«

»Aber Mensch – wo hat man denn Gelegenheit zur Tat?! Ich dürste ja danach!«

»Wahrhaftig?«

»Mir ist alles egal! Ich finde das Leben, die Gesellschaft, in der wir existieren, so durchweg falsch, so abscheulich und – Herrgott –!«

»Sind Sie eijentlich politisch 'n bißken drinne?«

Mauke stellte diese Frage in anderem Ton als sonst. Es war etwas Warmes und Vertrauliches darin, etwas, was Wünschel wohl tat. »Ich muß Ihnen offen gestehen – ich schäme mich, daß ich mich niemals richtig damit beschäftigt habe. Die Politik, die jetzt gemacht wird, kam mir immer ekelhaft vor. Ich hasse Bismarck, aber aus Bebel mach' ich mir auch nichts. Wir kommen ja nicht weiter. Was nützt denn das? Der Zukunftsstaat – aber das Volk bleibt in Knechtschaft.«

Jetzt schob Mauke seinen muskulösen Arm unter den hageren des Kaufmanns. »Hören Se mal, Herr Wünschel,« sagte er leiser. »Sie scheinen mir doch der rechte Mann zu sind. So eener, den wir suchen.«

»Wer denn – wir –?« fragte Wünschel wirr und unter den stechenden Augen zusammenzuckend.

»Na, det werden Se schon sehn. De Hauptsache is: können Sie den Schnabel halten? Nich bloß 46 so für heute und morjen, sondern überhaupt, bis ins Jrab, Herr Wünschel?« Der Handschuhhändler nickte hastig – er schien zu begreifen. »Na – denn kommen Se mal mit.«

In einer Nebenstraße an der Nordgrenze Berlins, wo zwischen kahlen Bauplätzen erst wenige Häuser standen, hatte Mauke den Schlüssel zu einem noch nicht mit Putz bekleideten Bau und schritt durch zwei Höfe auf eine Parterrewohnung zu, an der die eisernen Jalousien heruntergelassen waren. Wünschel folgte ihm mit pochendem Herzen ins feuchtkalte Innere. Dort war Licht, und überrascht sah der Kaufmann eine Versammlung von sechs bis acht Männern, die bei seinem Erscheinen aufsprangen. Doch Mauke klärte die Genossen über den Gast auf. Die Beratung wurde fortgesetzt. Es war ein anarchistischer Bund, man sprach die Donnerworte der aktiven Propaganda. Wünschel hörte mit sausenden Ohren zu. Was er vernahm, war nicht das, was er fühlte, aber es rührte ihm doch die Seele an. Er sah mit Dingen spielen, denen er ausgewichen war, er mußte an eine Freiheit glauben, die er nie für möglich gehalten hatte. Todesurteile hörte er, Enterbte sprachen sie aus, aber daß sie Fürsten gelten sollten, befriedigte Wünschel nicht. In seinem Herzen brannte eine andere Rache. Das Wesen der ganzen Gesellschaft, den alles erdrückenden Drachen Kapital wollte er unterminieren. Und plötzlich kam es über ihn. Der gekrümmte Mensch, 47 der so stumpf vor sich hin gestarrt hatte, erhob sich und hielt die erste Rede seines Lebens. Es war der Ausbruch eines Vulkans. Es erschütterte ihn bis ins Letzte und erschütterte seine Zuhörer. Weinend setzte er sich wieder. Man nahm ihn in den Bund auf und traute ihm mehr zu als den Jüngsten.

Nun war es mit Adolf Wünschels ehrlichem Leben vollständig aus. Er geriet in geheime Konspirationen, er leitete die Druckerei von Flugschriften und dachte in seinem fanatischen Haß allen Ernstes daran, von seinem Laden aus das Aschersche Warenhaus zu untergraben, eine ungeheure Mine bis zur Leipziger Straße zu legen und den Kleinhandel mit einemmal an seinem Verderber zu rächen. Aber das alte Mißverhältnis störte schon den ersten Plan. Wünschel konnte nämlich die Miete für seinen Laden nicht bezahlen, und der Hauswirt, der sich nur dafür interessierte, sein Grundstück an Ascher zu verkaufen, setzte den lästigen Handschuhhändler auf die Straße. Wünschels Waren verfielen den Gläubigern – er stand nun wirklich als Bettler da. Da er seinen Unterhalt verdienen mußte und der anarchistische Bund ihn nur ausnützte, nicht über Wasser hielt, nahm Wünschel einen armseligen Posten als Stadtreisender an. Er mußte für wenige Groschen seine alten Beine den ganzen Tag umhertraben lassen. Auch verlor er mehrmals seinen Posten, da kein solides Geschäft den gefährlichen Räsonneur behalten wollte. Trotzdem hielt er an seinen wilden Ideen 48 fest. Jede freie Stunde hockte er in Maukes Kellerlokal, und auf seinen Rücken wälzte man die gefährlichsten Machenschaften. Als er aber eines Abends zu Mauke hinunterklettern wollte, fand er zu seinem Schrecken die Tür versiegelt. Der Kneipwirt war kurz vorher verhaftet worden, eine Haussuchung hatte ihn schwer belastet. Schadenfreudige Nachbarn erzählten Wünschel jede Einzelheit und deuteten ihm an, daß er sich am besten sofort aus dem Staube machte. Aber der unfreiwillige Revolutionär wollte nichts davon wissen. Er dachte entsetzt an die Schätze der Geheimschriften, die in seiner Wohnung lagen, er eilte sofort dorthin. Doch wurde er in seinem Stübchen schon erwartet. Als Wünschel Licht anzündete, griffen energische Fäuste nach ihm und führten ihn in das Polizeipräsidium. Erst als er das wohlbekannte rote Haus betrat, stockte ihm das Herz. Er fühlte, daß er bis zu dieser Stunde als ehrsamer Bürger an den Gesetzen vorübergegangen war und nichts Reales mit ihnen zu tun gehabt hatte. Jetzt erst zerriß der dumpfe Traum, der sein Gemüt in Worte giftschöner Hoffnungen verstrickt. Als die Wirklichkeit einsetzte, wurde ihm alles schal. Er begriff, daß er trotz seines Rache- und Rechtsgefühls sich selbst verloren hatte, und beugte den grauen Kopf, um Strafe wie Frieden zu empfangen. 49

 


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