Georg Hirschfeld
Die Belowsche Ecke
Georg Hirschfeld

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Viertes Kapitel

Die Tauben auf dem Dach der Belowschen Ecke putzten ihr Gefieder und gurrten vergnügt in den hellen Sonnenschein hinein. Der Frühling war unterwegs und schwebte mild erwärmend über den harten Straßen. Frau Minna aber fand sich nicht in den Frühling. Sie schien das Kommando über sich selbst verloren zu haben. Seit jenem Zusammenbruch auf der Treppe war sie nicht mehr zu Kräften gekommen. Sie blieb in der Wohnung. Das Lokal wurde ihr ein fremdes Land. Sie mußte eine Vertreterin, Fräulein Löffelholz aus Dresden, ans Büfett setzen, jede Tätigkeit verbot ihr der Arzt. So war sie auf ihre Gedanken angewiesen, die kein Doktor verbieten konnte. Frau Below dachte an ihre Kinder. Fidel, der Hauskater, lag neben ihr auf dem Bett, ließ sein silbergraues Fell von ihrer matten Hand streicheln und schnurrte, wie die Gesundheit. Seine gelben Schlitzaugen sahen die kranke Frau aufmerksam an. Minna glaubte anfangs, daß der Kater ihr Sorgen und Sinnen 106 verstand. Sie stellte schon insgeheim eine Theorie der tierischen Vernunft auf, von der sie ihren skeptischen Gatten überzeugen wollte – dann aber mußte sie sich wieder sagen, daß Fidel nur auf ihr Mittagessen wartete. Hatte er seinen Happen weg, so streckte er den Schwanz in die Höhe und entfernte sich. Ja, Minna Below war sehr allein. Bis Hermann von ihrem Zustand erfuhr. Da wurde es anders.

Joachim Friedrich mußte sich jetzt doppelt dem Geschäft widmen. Aber um die Hilfe eines seiner Kinder anzurufen, war er zu stolz. Hermann, der durch das Stocken der mütterlichen Korrespondenz beunruhigt wurde, erhielt von seinem Onkel, dem Prediger an St. Marien, Auskunft. Dieser stellte den Zustand der Kranken als bedenklich hin. Die Folge war, daß Hermann und Anna sofort Arendswalde verließen und nach Berlin kamen. Frau Below lebte auf, als die Jugend in einer Frühlingsabendstunde ihr Zimmer betrat. Das waren tüchtige Menschen aus dem Leben draußen. Warum konnte sie sie nicht immer bei sich haben? Warum ging es auch denen anderswo besser, zwischen Menschen und Dingen, die ihr fremd waren? So zog es durch ihren schwachen Kopf, während sie Hermanns Hand festhielt. Annas fremdländische Gestalt stand schlank am Fenster. Plötzlich geschah Minna etwas, was bei den Belows nur ganz selten vorkam: sie resignierte. Sie wollte lernen, daß es Menschen gab, von denen sie nichts 107 wußte. Sie wollte von ihnen wissen, ob Rudolf, ob Erna . . .

Eines Nachmittags fand Hermann seine Mutter friedlich eingeschlafen. Sie hatte eine Zeitung gelesen, die ihrer Hand entfallen war. Es mußte irgend etwas darin stehen, was den Ausdruck der Schlafenden so glückschimmernd machte. Vorsichtig hob Hermann das Blatt auf und suchte gespannt darin, was die Mutter wohl gelesen haben mochte. Jetzt fand er es. Es war ein Bericht aus New York über einen neuen Varietéstern, der dort phänomenalen Erfolg hatte. Eine Tänzerin – Erna hieß sie. Erna Paulana. Man schwärmte von ihrer kühnen Grazie. Man prophezeite der jungen Berlinerin eine Saharetzukunft und setzte ihr Talent natürlich sofort in Dollars um.

Also davon träumte die Mutter. Sie sah ihr Kind in unerhörtem Glanze. Etwas märchenhaft Duftendes preßte sie an sich, während ihr krankes Herz pochte und die Brust unter der Decke sich senkte und hob. Hermann schlich sich zu Anna, die auf der Treppe auf ihn wartete. Dann stiegen sie zusammen hinunter und gingen durch das Brandenburger Tor in den Tiergarten hinaus. Es war eine weiche, sehnsuchtsvolle Luft. Von der harten Asphaltstraße der Charlottenburger Chaussee, wo Automobile und elektrische Wagen surrten, bogen sie bald in stille Seitenwege ein. Hier hatte die Berliner Natur noch ein Plätzchen. Hier wurde es 108 wirklich ruhig. Hermann erzählte Anna, was er erfahren hatte. Mit einem leisen, skeptischen Lächeln sprach er von Erna und staunte, als seine junge Frau dadurch in fremdartige Erregung geriet. Sie malte sich Ernas Werdegang in Amerika aus, sie schwelgte darin, wie ein freies Frauendasein sich entfalten konnte. Hermann widersprach ihr nicht, denn in seiner abwägenden Ruhe hatte er dieselbe Gerechtigkeit gegen jedes Eigenleben wie Anna. Aber er merkte sich alles, was sie unter den Frühlingsbäumen sprach. Nicht nur für sein Urteil über Erna, sondern auch als Warnung vor jedem Zwange, den sein Einsamkeitsbedürfnis auf Annas Weltfreude legen konnte. Als sie zur Stadt zurückkehrten, kam das Erstaunen auf ihre Seite. Sie hatte nur unbekümmert herausgeplaudert, was sie empfunden, und er schien merkwürdig davon ergriffen zu sein. In der Dämmerung zog er sie plötzlich an sich und küßte, als ob er sie um etwas bäte, ihren weichen Mund. –

Als der Mai vorüber war und Minnas Schwächezustand sich nicht bessern wollte, zog Sanitätsrat Kleimann Below zu einer entscheidenden Besprechung ins Nebenzimmer. Below schien erwartet zu haben, was der Hausarzt verlangte, denn er senkte den grauen Kopf und hörte es ohne Einspruch an. »Ihre Frau muß fort, lieber Herr Below. Noch ist es Zeit. Die Hauptsache ist doch, daß Sie sie behalten, nicht wahr – nicht nur hier, im Beruf, 109 sondern überhaupt. Ja, ich kann es Ihnen nicht verhehlen – dieses kraftlose Hindämmern Monat für Monat, das kann direkt dorthin führen, wo es kein Zurück mehr gibt. Ich kenne Sie doch, Herr Below – Sie können ein starkes Wort vertragen.«

»Was soll geschehen?« fragte Below leise und sah ihn mit geröteten Augen an.

»Packen Sie Ihre Frau zusammen und bringen Sie sie möglichst schnell nach Strausberg in das Sanatorium von Professor Kessel. Ich habe Ihnen davon erzählt. Ich halte sehr viel von Kessels neuer Methode, namentlich Herzkranke zu behandeln. Aber wie gesagt, es handelt sich da um keine kurze Kur von zwei oder drei Monaten, sondern Kessels Patienten siedeln überhaupt zu ihm über, auf Jahre manchmal. Das schließt natürlich nicht aus, daß Ihre Frau vollständig mit Ihnen in Verbindung bleiben kann. Sie werden sie häufig besuchen können. Nur das andere Milieu, verstehen Sie, die vollständig andere, hygienische Lebensweise, die ihre fernere Lebenszeit umkrempeln wird – das ist das Gute, darin sehe ich das einzige Heil für Ihre Frau.«

Below saß mit gefalteten Händen und schwieg. Sanitätsrat Kleimann rückte bewegt an ihn heran: »Glauben Sie mir, Herr Below, ich weiß, was ich von Ihnen verlange. Ihre Lebensgefährtin soll fort, von der Sie sich noch nie getrennt haben. Aber die Notwendigkeit – zu ihrem Besten – – Sie sind doch ein couragierter Mann.«

110 »Es is gut,« erwiderte Below und schnäuzte sich stark, um seiner Erregung Herr zu werden. »Ich weiß natürlich, was ich zu tun habe. Ich habe mich ja nie beklagt, Herr Sanitätsrat. Mir wird eben alles genommen. Aber wird sie denn wollen? Solchen alten Menschen plötzlich mit der Wurzel aus 'm Blumentopf reißen – geht das?«

»Es muß gehen. Ich kann es Ihnen verraten: Ihre Frau ist schon einverstanden.«

»Wirklich? – –«

»Ich habe es mit ihr besprochen.«

Dies wirkte auf Below. Er reckte sich und ging zu ihr hinein. Am nächsten Nachmittag schon brachten er und Hermann die Kranke nach Strausberg, in Professor Kessels Sanatorium. Als Minna in dem Krankenwagen lag, sah sie sich noch einmal um. Da hatte sie eine seltsame Vision. Vor ihren Augen gerieten die achtzigjährigen Mauern ins Wanken, es rieselte an den Wänden entlang, über die blank geputzten Fenster hinweg, und alles lag mit leisem Donner in einer grauen Staubwolke. So entschwand es ihren Augen, leblos, die Stätte ihres Glücks. Aber sie kämpfte gegen die Ohnmacht, die über sie herkommen wollte. Da Mann und Sohn gar zu ernste Gesichter machten, war sie es, die einige Scherzworte fand und für ein Reisegespräch sorgte. Below liebte seine Frau wie nie zuvor. In dem alten Städtchen Strausberg, das so schmuck und 111 friedlich im Frühsommerschmuck seiner Gärten lag, hob sich ihre tapfere Stimmung noch. Die Quitzows, die hier vor Zeiten gekämpft hatten, fielen der Kennerin der märkischen Geschichte ein, und sie meinte scherzend: »Na, Hermann, Du könntest doch auch hier bleiben? Die ollen Raubritter – das is doch was für Dich?« Professor Kessel empfing seine neue Patientin. Er hatte einen kraftvollen Christustyp, und seinem ganzen Wesen war es gegeben, zagende Seelen bald heimisch zu machen.

Below nahm Abschied. Mit mühsamer Beherrschung versprach er in acht Tagen wiederzukommen. Trotz der gut verlaufenen Uebersiedelung hatte er doch Angst, daß Minna ihn noch am Bahnhof einholen könnte. Als der Zug sich in Bewegung setzte, gestand er dies Hermann mit mattem Lächeln. Sein Jüngster hatte ihm noch nie so gut gefallen. Was war das doch bei seiner Jugend für ein reifer, fester Mensch. Wie schade, daß er auch auf ihn verzichten mußte. Doppelt schwer kam es Below jetzt zum Bewußtsein. Hermann wäre vielleicht doch der richtige Erbe gewesen. Denn einen Erben mußte er haben. Drei Kinder, erwachsene, gesunde Kinder, und doch allein? Was war das für eine unerhörte Ungerechtigkeit? Es kam ja nicht nur auf ihn an – er hatte auch eine Verantwortung seinem Namen gegenüber. Zinsen mußte der bringen für Kinder und Kindeskinder. So war es richtig und von Gott gewollt. Aber die Belows waren von 112 Gott verlassen. Er sah diesen Hermann an, dessen Augen ihn zu trösten schienen. Er nahm seine zarte Hand, aber diese Hand konnte nur schreiben, diese Stirn nur denken. Ferne, hohe Dinge, vor denen auch Below Respekt hatte. Sollte er so einem mit Weinfässern kommen, mit Speisenkarten und einem Stammtisch, wo alte, egoistische Schwätzer saßen? Er fühlte Hermanns Zurückweisung, ohne daß er sie vernahm. Wie Tantalus betrachtete er die junge Kraft seines Sohnes. Nahe und doch fern. Die Haare sträubten sich Below, denn er dachte auch an einen anderen, an einen Verschollenen, von dem es gewiß war, daß er ein Erbe geworden wäre. Anders geleitet! Richtig verstanden! Viele Jahre war Rudolf nun fort. Man hatte nie etwas von ihm gehört. Weder von ihm noch von der Tochter des unseligen Mannes, der nun ärmlich als Agent durch die Berliner Straßen schlich. Es kamen grauenvolle Bilder vor Belows Phantasie. Vielleicht hing dieser schöne, stolze Junge schon am Galgen drüben? Was verschwand und verdarb nicht alles in Amerika. Rudolf war es an der Wiege gesungen, in der Fremde zu sterben und zu verderben.

Voll Sorge bemerkten die Stammgäste Belows Veränderung. Man überlegte in gutmütiger Verständnislosigkeit, wie man dem Vereinsamten helfen könnte. Aber Below zog sich immer mehr in sich selbst zurück. Er merkte, daß sein Geschäft unaufhaltsam abwärts ging. Der Verdienst wurde 113 minimal, die Zinsen des Vermögens reichten nicht mehr aus, und große Lieferantenforderungen mußten bezahlt werden. Er zehrte bereits vom Kapital. Wie sollte das weitergehen? Wo enden? Unsolide – ein Below – im eigenen Hause. War das denkbar?

Dieser Weindunst, diese süßen, trägen Kellergespenster – wie haßte er sie jetzt manchmal. Die Zeit schlich an ihm vorüber, wie in Filzpantoffeln. Solange noch Gäste da waren, fühlte Below die Gespenster nicht so, da wurde geschwatzt und gelacht, und er lachte zuweilen mit. Aber wenn alle fort waren, dann ließen sie sich auf die leeren Stühle nieder und saßen um ihn herum und tuschelten ihm häßliche Dinge ins Ohr. Gewaltsam raffte er sich zusammen und stieg in die Wohnung hinauf. Aber die Weingespenster kamen ihm nach. Sie fanden zwar da oben keinen Halt und irrten wie Höllenfeuer an den Wänden entlang, bis ein alter, fröstelnder Mann im Bett lag und die Augen schloß. Ein steifes, glattes Bett stand neben ihm, ohne Wärme, ohne Leben. Würde es jemals wieder die Gefährtin zeigen? – –

Am Morgen nach einer traumbeschwerten Nacht öffnete Below die Augen und fühlte sich etwas frischer als sonst. Er hatte noch einen kurzen Nachschlummer getan – nun konnte er nach den Postsachen greifen. Er blinzelte noch ein bißchen, die Sonne stach allzu grell durch den Spalt des Fenstervorhangs, aber er konnte doch schon übersehen, was 114 gekommen war. Von Minna nichts – man durfte nur alle drei Tage in Strausberg korrespondieren. Aber auf der Morgenzeitung lag ein Brief mit fremder Handschrift, der Belows Interesse erregte. Er nahm ihn an sich. Französische Marke? Aus Paris? Ein Weinhändler war das nicht. Die wohnten nicht im Grand Hôtel. Wer konnte es sonst sein? Alles, was von Paris kam, empfing Below, der die Belagerung 1870 mitgemacht hatte, mit einem Gemisch von Respekt und Unbehagen. Auch erinnerte ihn die steile, amerikanische Schrift an etwas Aufregendes, was nicht zu seiner Morgenstimmung gehörte. So kam es, daß er den Brief eine ganze Weile zwischen den Fingern drehte, ohne ihn zu öffnen. Endlich kam ihm der Entschluß. Nun riß er den obersten Streifen ab und las. –

»Paris, 12. September 1905. Lieber Vater! Ich weiß nicht, wie die Ueberraschung sein wird, wenn Du diesen Brief erhältst, aber daß ich sie Dir bereiten muß nach 12jährigem Schweigen, verüble mir bitte nicht – es hängt mit den zwingendsten Umständen zusammen. Ja, ich lebe noch (hast Du mich nicht tot geglaubt und nicht mal in einer feierlichen Grube mit Efeudach, sondern im Winkel, wo die armen Sünder liegen?) – ich lebe und kann Dir, meinem Erzeuger, nur sagen, daß ich meines Lebens froh bin, daß es mich treibt, Dir von Herzen für die Liebenswürdigkeit zu danken, mich in die beste aller Welten 115 gesetzt zu haben. Ich heiße noch immer Rudi Below, obwohl ich amerikanischer Bürger bin und Großindustrieller. Der Gedanke an meine Heimat, an meine Eltern und an meine Geschwister hat mich in all den Jahren nie verlassen. Nimm das bitte ganz unsentimental – so ist es gesagt. Ich meine weiter nichts, als daß die natürlichsten Zusammenhänge sich nicht zerstören lassen. Ich denke ohne jeden Groll an Euch. Furchtbar schwere Zeiten liegen hinter mir. Ich mache sie aber keinem Menschen zum Vorwurf, denn sie sind der Fond meines Sieges. Ich habe gesiegt. Auch über Euch zu Hause, über Eure Anschauungen meine ich. Ich bin der »Selfmademan«, von dem man sich auf dem Kontinent gewiß eine falsche Vorstellung macht. Daß ich Euch als grüner Junge bei Nacht und Nebel davongelaufen bin, war Eure Schuld, denn Ihr habt mich ganz sündhaft falsch behandelt. Aber ich nehme die Schuld auch auf mich. Mit Freuden – man muß sich auf seine »Fehler« etwas einbilden. Um es kurz zu sagen: mir ist in Amerika nichts erspart geblieben – aber das Resultat? Ich bin ein gesunder, vielerfahrener, vermögender Mann geworden. Ich bin verheiratet, Vater eines Sohnes – und wer ist die Mutter? Rate mal! Kein abenteuerliches Weib, wie es Eurer Weinstubenphantasie vorschweben mag, sondern keine andere als Martha Wünschel, dieselbe Martha Wünschel, die ich vor 12 Jahren »verführt« habe. Na? Wie wird Dir? Das hat der 116 Tagedieb, der Schwindler nun doch zustande gebracht. Einfach ein bißchen treu geblieben, 12 Jahre lang. Weil die Frau sich als besonderes Exemplar ihrer Gattung erwiesen hat. Aber ich will weder weich werden, noch mich rühmen. Das geht keine Menschenseele was an. Ich wollte die Tatsachen nennen und weiß, daß Du auf dergleichen Wert legst. Und Mutter? Wie geht es Mutter? Und Hermann? Von Erna bringe ich Euch Grüße – der geht es fabelhaft gut. Ja, ich bringe Euch Grüße, Vater, und stelle Euch anheim, ob Ihr sie akzeptieren wollt. Ich bin jetzt in Paris und zwar mit Frau und Kind. Wir haben Amerika schon im Mai verlassen, haben erst in London die Season mitgemacht und sind dann von einem englischen Seebad nach Paris gefahren. Aber nun treibt es mich doch mächtig nach Berlin. Herrgott, wie mag da alles aussehen nach 12 Jahren! Ich habe viel davon gehört! In Berlin sieht man ja Straßen wie Gras wachsen! Das gefällt mir! Aber die Belowsche Ecke steht natürlich noch, wie sie war! Die rührt sich nicht! Na prosit, Vater, mit französischem Sekt! Hältst Du es immer noch mit dem deutschen? In acht Tagen rückt Euch die Familie Rudi auf den Hals, aber da wir immerhin nicht von gestern auf heute kommen, bitte ich Dich um Nachricht, ob wir akzeptiert sind. Gruß an alle. Und Vergebung, Verständnis, nicht wahr, ohne Redensarten, auf beiden Seiten.

Rudi.«

117 Below starrte den Schicksalsbrief an; er zitterte in seinen Händen. Stunden vergingen, bis Below sich gefaßt hatte. Zunächst dankte er Gott, daß Minna jetzt nicht da war. Diese Erregung für ihr krankes Herz – was schickte der Himmel immer wieder für Prüfungen. Aber als er ruhiger wurde im Bewußtsein, auf sich selbst gestellt zu sein, war er auch fähig, sich im einzelnen mit dem merkwürdigen Dokument zu beschäftigen. Je mehr er in den Inhalt dieses Briefes eindrang und sich ein Gesamtbild machte, kritisch, aber doch mit heißem Herzen, desto mehr wurde auch das Gefühl in ihm mächtig: das Gesamtbild war gut. Er glaubte dem Menschen, der diesen Brief geschrieben hatte. Er war sein Sohn und war es doch nicht mehr. Kein schriller, frecher Klang von ehemals, sondern die wuchtige, selbstsichere Stimme des Lebens. Wie lange hatte er sie nicht vernommen? Below konnte sich niemand anvertrauen. Er erschrak bei dem Gedanken, den Stammtischgenossen die Rückkehr seines Sohnes zu erzählen. Das mußte er mit sich selbst ausmachen. Er allein wußte ja von den Gespenstern, die ihn bedrängten. Merkwürdige Fügung, daß der Brief gerade jetzt gekommen war. Aber er wollte noch nicht weiterdenken. Ein Erbe? – Nein! Der nicht. Er mußte sich zusammennehmen. So setzte er sich an den Sekretär und schrieb seinem Sohn nur wenige Zeilen. »Lieber Rudolf! Meine Ueberraschung war groß, wie Du Dir denken kannst, aber sie ist, 118 wenn ich ihr ins Gesicht sehe, freudig. Ich heiße Dich willkommen nach langer Zeit, willkommen soll mir Deine Gattin, Dein Sohn sein. Ihr werdet mich allein zu Hause treffen. Hermann ist verheiratet und wohnt in Arendswalde an der Anhalter Bahn – das heißt, nicht einmal, denn man muß noch eine halbe Stunde mit dem Omnibus fahren. Und Mutter – der ist es recht schlecht gegangen. Ihr Herz, wenn Du Dich erinnerst. Wir mußten uns im Juni entschließen, Mutter nach Strausberg in ein Sanatorium zu bringen. Auf sehr lange wahrscheinlich. Also ein ander Bild zu Hause – nur der Aelteste ist noch da. Aber wie gesagt: Willkommen! Herzlichen Gruß Euch dreien. Dein Vater.« –

Nie war Below eine Woche so lang geworden. Er bekam, aus seinem immer gleichen Tempo aufgerüttelt, einen neuen Zeitbegriff. Es war, als ob die linke Lindenseite endlich einmal auf die rechte übergriff. Rudolf antwortete nicht noch einmal. Der ruhelose Vater blieb über die Ankunftszeit im unklaren. Pinkert hatte er doch ins Vertrauen ziehen müssen. So kam es, daß er vom Frühschoppen fort aus einer anstrengenden Unterhaltung mit dem schwerhörigen Weinschenk in die Wohnung hinaufgerufen wurde. Ihm stockte das Herz – auf der Treppe standen Pinkert und Bertha. Sie hatten rote Köpfe und nickten nur. Er war gekommen. »Janz anders, aber doch . . .!« Und Martha? Und der Junge?

119 Below war hinaufgegangen. Er öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Ein hochgewachsener, schlanker Mann mit lichtblondem, dünnem Haar stand am Fenster und sah auf die Linden hinaus. Er trug einen eleganten, grauen Reiseanzug, Lackschuhe und hatte das alte Gemach mit einem feinen Wohlgeruch erfüllt. Jetzt drehte er sich um und schritt auf Below zu. Sie umarmten sich. Ohne Hemmung geschah das. Below aber, fast versagend, stand krampfhaft aufrecht und küßte eine etwas harte, kühle Wange. Dann blickte er Rudolf in die Augen. Das eigentümlich Leuchtende des Knaben hatten sie nicht mehr. Sie waren kälter, bewußter geworden, und Schatten vergangener Not lagen um sie herum. Nur zuweilen kam ein merkwürdig phantastisches Flackern in ihr Blau.

»Also, Vater – ich danke Dir für Deine Antwort – nun bin ich da . . .«

Seine Stimme war anders – frisch, sonor, aber etwas ironisch und mit amerikanischem Akzent.

»Wo ist denn Deine Frau – und Dein Kind?«

»Martha und Fred habe ich zehn Minuten später bestellt. Die sind noch drüben im Hotel Bristol. Damit nicht alles auf einmal kommt.« Er lachte kurz und nahm den Arm des Widerstandslosen. »Hier ist alles unverändert. Du auch, Vater.«

»Wirklich? . . .«

»Na, ein bißchen Silberschimmer hast Du Dir zugelegt. Dafür kann ich Dir mit etwas Mondschein 120 dienen. 12 Jahre, Vater. Wie geht es Mutter? Was hast Du für Nachrichten?«

»Ganz gute . . .«

»Schade, daß sie nicht hier ist. Ich fahre natürlich nach Strausberg, sobald der Arzt es erlaubt. Wie lange wird ein gutes Auto brauchen?«

»Das kann ich Dir wirklich nich sagen . . . Ich fahre immer mit der Eisenbahn . . . Wann bist Du denn angekommen?«

»Heute morgen. Sofort ins Hotel – übrigens recht komfortabel – gebadet, und dann auf die Berliner Straßen hinaus. Warum lächelst Du?«

»Das klingt alles so merkwürdig – Rudi im Hotel Bristol –«

»Aha! Verstehe! Ja, so ist das Leben! Uebrigens Berlin! Bin entzückt, Vater!«

»Wovon denn?«

»Na, die Entwicklung! Das ist ja kolossal! Hier gibt es ja ganz andere Möglichkeiten als in Paris, so viel Berlin auch von Paris noch lernen kann! Berlin ist mir lieber als London! Es erinnert direkt an die Metropolen in Amerika! Mein völliger Ernst, Vater! Ich bin eine ganze Stunde im Auto herumgefahren!«

»Mit leerem Magen?«

»Nein, nein, gefrühstückt! Aber da sieht man was!«

»Ich komme ja gar nich 'raus . . .«

121 Die Unterhaltung stockte. Below sah geniert vor sich hin. Es war sein Junge, der da vor ihm saß, aber doch ein fremder, bedrohlicher Mensch. Jetzt klopfte es – Rudolf sprang auf. »Das wird Martha sein und der Junge!« Sie waren es wirklich. Martha Wünschel, eine etwas breit gewordene, aber hübsche und sehr sympathische Frau. Ihr Kind ein scheues Pflänzchen, das sich beständig an die Mutter schmiegte. Below gab der erregten Martha die Hand und beugte sich zu seinem Enkelchen. Die dunklen, ängstlichen Augen des Kleinen wurden freundlicher unter dem Blick des Großvaters. Als ob eine neue Welt sich ihm öffnete, sah er zu ihm auf und ließ sich von dem alten Manne emporziehen. Doch Rudolf schien von solchen Szenen nervös zu werden. Er blickte seinen Vater an, ob er die Schwächlichkeit des Knaben bemerkt hatte, und nahm ihm Fred wieder ab. Dann saßen sie lange bei einer Flasche Wein um den runden Tisch herum. Rudolf schwatzte, was ihm eben einfiel, während Martha ernst und schweigsam sich in Belows Anblick versenkte. Auch Fred ließ die Augen nicht von dem Großpapa. So kam es, daß Rudolf dem Vater fremder blieb als die Frau, die er eigentlich jetzt erst kennen lernte.

»Was hat das Leben doch aus Ihnen gemacht. So was hab' ich noch nie gesehen. Martha Wünschel. Das is also Amerika.«

Rudolf schwieg verblüfft, als der Vater sich plötzlich so an seine Frau wandte. Martha stand ihm 122 immer im Hintergrunde, wenn auch als feste, hochgeschätzte Reserve. Seine funkelnden Erzählungen schilderten dem Vater also nicht die neue Welt, sondern er sah sie durch diese einfache Frau?

Martha rückte mit aufleuchtenden Augen an Below heran. Jetzt sprach die Schüchterne zum erstenmal. »Sind Sie mit mir zufrieden? Ach, das freut mich, Herr Below. Daran liegt mir am meisten. Ja, ich bin tüchtig geschüttelt worden. Ich bin kein Berliner Mädel mehr. Ich bereue nichts, aber ich will auch alles gutmachen. Ob ich das Amerika zu danken habe? Das ist wirklich schwer zu sagen. Jedenfalls ist Amerika nicht alles. Sonst wären wir beide nicht nach Berlin zurückgekommen.« Sie sprach sehr warm und rasch, das helle Berlinisch von einst hatte sie verloren, es war jetzt etwas Dunkleres, Fremdartiges in ihrer Aussprache. Auch über der festen und breiten Gestalt lag ein Weltbürgertum, das Below bisher unbekannt gewesen.

»Na, ich weiß ganz genau, daß Amerika alles ist,« sagte Rudi etwas verstimmt. »Wir verdanken ihm, was wir sind, Du sowohl wie ich, Martha.«

Sie nickte begütigend. Below lächelte.

Dieser glänzende Mensch, der da vorgab, Rudi Below zu heißen, er saß schon ganz fest und sicher in der alten Stube, die unter ihm zu beben schien. Tiefer als Erinnerung an vergangene Leiden regte sich die Freude an seiner Existenz in Belows Brust. Noch lebte ihm also der Sohn, den das Schicksal ihm 123 nicht gegönnt hatte. Eine zweite Trennung war undenkbar, doch der Widerstreit der Gefühle zerriß ihm das Herz. Halb trieb es ihn, den Störenfried aus seinem alten Hause fortzuwünschen, halb klammerte sich seine ganze Hoffnung an ihn. –

Als Rudolf nachmittags einige Bekannte aus früherer Zeit aufsuchte, unter anderen seine Klubkameraden Rechtsanwalt Wechsler und Baumeister Fork, überließ Martha ihren Jungen der Bonne und machte sich auch auf den Weg. Rudolf durfte nicht ahnen, wohin es sie am ersten Tage zog. Sie hatte im Adreßbuch die Wohnung ihres Vaters gefunden. Weit draußen, in einer neuen Straße am Tempelhofer Feld wohnte er. Sie konnte ihm keine vorbereitende Nachricht geben, denn die bittere Entrüstung des Vereinsamten hätte ein Wiedersehen abgelehnt. Martha kannte ihren Vater und hatte im Lauf der Jahre begriffen, wie tief sie ihn verletzt hatte. Aber der Friede mit ihm war ihr nötig, wie Schlaf und Gewissensruhe. Sie mußte unter allen Umständen seinen Trotz brechen. In London hatte sie schon von Berliner Bekannten gehört, wie Aschers neues Warenhaus das Schicksal des armen Handschuhhändlers besiegelt hatte. Auch daß ihr Vater wegen politischer Umtriebe im Gefängnis gewesen, deutete man ihr an. Nun fristete er als Stadtreisender sein kümmerliches Dasein. Marthas Groll war durch das große Leben draußen weit von ihr abgerückt. Ihr Gemüt war von Erbarmen erfüllt – 124 sie träumte davon, als reiche, gerechtfertigte Frau vor Wünschel hinzutreten. Sie wollte ihm geben, so viel sie konnte, und den Lebensabend des alten Mannes sichern, denn er war ihr heilig geblieben.

Endlich brachte der Wagen sie in die neue Straße am Tempelhofer Feld hinaus. Im »Jartenhaus vier Treppen« wohnte nach der Auskunft des Portierkindes Adolf Wünschel. Mit zitternden Füßen stieg Martha hinauf. Wie war hier alles anders als in dem Patrizierhause Unter den Linden. Es roch nach Oelfarbe, Mauerstaub lag auf dem Geländer, die Treppen hatten keine Läufer, und in den feuchten, ungemütlichen Dunst des Baumeisterfabrikats grinsten aus den Flurfenstern bunte, pausbäckige Engel, die in jeder Etage Pauke und Triangel schlugen. Ganz erschöpft langte Martha im vierten Stock an. Sie las auf einem Schild den Namen ihres Vaters. Ein Schwindel befiel sie, dann aber, halb aus Angst vor einer Ohnmacht, hatte sie schon geklingelt. Schlurfende Schritte kamen heran, es wurde zweimal herumgeschlossen – plötzlich stand ihr ein kleiner, gebückter Graukopf gegenüber. Wünschel war aschfahl geworden – er hatte seine Tochter sofort erkannt. Er reckte sich und blitzte sie aus seinen eingesunkenen Augen an. Das Pathos, das ihm angeboren war, fand sich sofort in die Situation des empörten Vaters. »Was wünschen Sie hier? Ich bitte Sie, sich zu entfernen, wie Sie sich vor 12 Jahren entfernt haben! Ich kann Ihnen 125 aber nicht mitgeben, was Sie sich damals genommen haben! Ich bin ein armer Mann! Aber mein Haus ist rein!« Er hielt in seiner Rede inne, denn die große, vornehme Dame, die wirklich seine Tochter war, stand wie ein flehendes Kind vor ihm. Sie schluchzte. Sie kniete vielleicht noch – darauf wartete er. Aber das tat Martha nicht, sondern griff nach seiner welken Hand und küßte sie mit heißen Küssen und benetzte sie mit brennenden Tränen. Dieser erste Ansturm überwältigte Wünschel. Ihm war alles so lange nur Redensart gewesen, daß ein wirkliches Gefühl, das sich ihm darbot, befreiende, himmlische Wirkung auf ihn übte. Er weinte nicht mit seiner Tochter, aber er zog sie sanft in seine Wohnung. Martha setzte sich. Es war der Lehnstuhl, auf dem sie immer Krawatten genäht hatte. Ihre Mutter war darin gestorben. Indem sie den Kopf zurücklehnte und noch leise weiterschluchzte, schlich Wünschel, die Hände auf dem Rücken, umher. Dann brachte er ein Glas mit braunem Wein. »Madeira,« flüsterte er. »Nimm nur. Läßt sich trinken. Das halt' ich mir noch.«

Martha ließ sich wie ein Kind den Wein einflößen, dann wurde sie ruhiger und sah ihren Vater mit dankbar schimmernden Augen an. Sie streichelte seine Hand, und er ließ es geschehen. »Verzeih' mir,« sagte sie leise. Wünschel zuckte die Achseln und schlich wieder umher. Dann aber besann er sich, rückte einen Stuhl neben Martha und betrachtete sie. Sein 126 Schweigen schien sie zum Erzählen aufzufordern. Sie tat es. Sie breitete das Märchen der ganzen, vergangenen Jahre vor ihm aus. Sie sprach nur immer von »wir«, und Rudolf erwähnte sie nicht, aber der Vater mußte merken, daß sie für ihn sich bewährt hatte. Für diesen Menschen, den er haßte. Aber es kam auf die Liebe der Frau an. Sie wollte nicht wieder nach Amerika zurück, »der Mensch« hatte die Absicht, sich in Berlin niederzulassen. Ein Kind hatte Martha, ein Kind. Das waren glückliche Bilder. Leise schwebten sie heran. Merkwürdig unerwartete Abendsonne noch für ein altes, kaltes Herz.

Martha stand auf. Wünschel saß mit gesenktem Kopf und starrte vor sich hin. »Es ist doch ein Rätsel – die Bestimmung des Menschen. Und mit dem alten Below hat er sich ausgesöhnt? Dein Mann?«

»Ja, Vater.«

»Hm . . . Na, ich danke Dir, daß Du gekommen bist. Und laß Dich wieder mal blicken.«

»Ich komme, so oft ich darf.«

Martha blieb zögernd an der Tür stehen.

»Was willst Du noch?«

»Vater – es ist doch ganz selbstverständlich – ich brauch' es ja nicht erst zu sagen: Du verfügst natürlich über alles, was ich jetzt habe.«

»Ach so . . . Das Kapital von damals meinst Du? . . . Mit den Zinsen?«

127 »Vater!«

»Nein, nein! Ich scherze ja nur. Das hab' ich längst von Below zurückbekommen. Im übrigen hab' ich, was ich brauche. Solange ich noch arbeiten kann, geht's. Von Euch nehm' ich nichts. Auf Wiedersehen.«

»Ich komme bald . . .«

Martha stieg langsam die Treppe hinunter. Da steckte Wünschel noch einmal den grauen Kopf aus der Tür und rief: »Bring' Deinen Jungen das nächste Mal mit – verstanden?«

»O, gern, Vater!«

»Der braucht nicht bloß den andern Herrn Großpapa zu besuchen!« Nach diesen Worten schlug Wünschel die Tür zu. 128

 


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