Georg Hirschfeld
Die Belowsche Ecke
Georg Hirschfeld

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Siebentes Kapitel

Zwei Jahre bedeuten viel im modernen Berlin. Welche Feuerwerke des Erfolges verbrennen in solcher Zeitspanne! Wenn es wieder dunkel wird, wartet das Publikum auf ein neues Aufflammen. Der vergangene Effekt war schön, aber er ist vergangen.

Mehr als zwei Jahre wollten die Kenner der Reichshauptstadt nicht für die Verwirklichung von Rudolf Belows Plänen brauchen. Ueber die Gefahr einer Baukrisis, die alles zu lähmen drohte, kam man fort. Fork hielt seinen Termin inne. Von hundert Seiten wurde ihm freilich in die Hände gearbeitet. Da gab es keine große Dekorationsfirma, keine maßgebende Fabrik für Inneneinrichtungen, die nicht der »Union Berlin« (so hieß die neue Ecke) ihr Bestes lieferte. In den Ateliers arbeitete, an Honorar und Termin gebunden, die Phantasie der Künstler. Das Bedenken, das ihnen zuerst gekommen, wie unmöglich die Stileinheit beim Zusammenwirken so verschiedener Kräfte wurde, erstickte der Goldrausch. 189 Man meißelte und malte darauflos – die Leuchte des Erfolges setzte alles in ein gutes Licht. Man ›mußte dabei sein‹. Und so wurde man fertig. Die kleine Armee des Personals war aus aller Herren Ländern zusammengekommen, es knackte in den verschlossenen Pforten wie ungestümer Frühling – am 30. September 1907, einen Tag vor der Eröffnung, ließ Rudi Below eine Vorbesichtigung stattfinden.

Er hatte durch Kretschmar vorbauen lassen – man fiel auf die Begeisterungsseite. Der erste Blick schon durch die kolossale Vorhalle in den Lichthof mit seiner funkelnden Märchenpracht war ein vollständiger Erfolg. »Das müssen Sie sehen!« war die Parole. Kretschmar war glücklich – man machte ihn zur publizistischen Hauptperson. Er fühlte sich an der ›Union Berlin‹ persönlich beteiligt, und seine Augen zeigten feuchte Rührung. Ueberall sah man das lockig gerundete Haupt des Journalisten. Er wandelte Arm in Arm mit Rudi Below durch die Prachträume. Mit Joachim Friedrich, der in seinem schwarzen Rock wie ein verlegener Ministerialbeamter aussah, wechselte Kretschmar nur huldvolle Worte. Er ließ den Vater des Ganzen neben sich gehen, und Below fühlte in seiner Aufregung gar nicht, wie dieser Popanz sich blähte.

Rudolf hatte bemerkt, daß sein Vater, bevor man sich dem ehemaligen Stammtischzimmer näherte, kehrt gemacht und das Zentralbureau aufgesucht hatte. Er lächelte. »Das ist der einzige Raum, 190 den er meidet. Alte Erinnerungen – ist noch alles zu frisch. Aber kucken Sie mal rein. Wie wird Ihnen?«

Kretschmar stand in dem kopierten Stammtischzimmer. Gottlieb Pinkert befand sich wie ein Museumsstück als einziger Kellner darin.

»Is es möglich!« rief der Journalist, seine Hände zusammenschlagend. »Das is ja entzückend! Ihr habt ja die Ecke wiederhergestellt! Das is schenial, lieber Rudi! Passen Sie auf, das wird der Clou! So pietätvoll und doch – na ja, Sie wissen schon! Nee, reizend! Ach, hier wollen wir doch gleich mal 'n Schoppen trinken! Pinkert! Leben Sie oder sind Sie bloß 'ne Wachsfigur?«

»Ick weeß selber nich, Herr Kretschmar,« brummte der alte Kellner. »Soll ick 'n Schoppen Haus bringen?«

Kretschmars Enthusiasmus legte sich. In Pinkerts welken Zügen lag eine seltsame Trauer. Er glich einem alten Clown bei Tageslicht; das paßte nicht. »Nee, nee . . . 'n ander Mal, lieber Freund – was fällt mir denn eben ein – ich habe mich ja mit Nathanson in der Vorhalle zum türkischen Kaffee verabredet – kommen Sie mit, Rudi?«

Auch Rudi war froh, von der Stätte der Pietät fortzukommen. Sie schritten wieder durch das Neue. Kretschmar verkündete in jedem Zimmer sein Entzücken. »Nee, nee – – die Restaurants! Das 191 holländische und das amerikanische und das englische und das französische! Man weiß ja gar nich, wo man sich zuerst hinsetzen soll! Ein auserlesener Geschmack, lieber Rudi! Jeder Kellner ein Kavalier! Passen Sie auf – hier wird sich Europa amüsieren! Sie haben das Ganze ›Union Berlin‹ getauft? 'ne piekfeine Idee! Amerika is die Losung! Dieses große Kompliment wird Ihnen keine Nation übel nehmen! Und fürchten Sie nich, daß Sie zu teuer sind! Is ja Quatsch! Das sagen die Provinzonkels! Bei Ihnen kann man endlich wieder Austern essen! Sie kriegen den Adel, die haute finance, den vornehmen Fremdenverkehr!«

»Gott geb' es,« seufzte Rudolf. »Darauf ist alles aufgebaut. Ich breche mit der plebejischen Wirtschaft. Bei mir sollen die Ansprüche wachsen.«

»Aber das hab' ich doch immer gepredigt! Der alte Below – und der junge Below – 'ne noblere Zusammenstellung können sich die Leute nich vorstellen! Aber nu lassen Se mich mal in den ›Schiller‹ reinkucken – und in die ›Harmonie‹!«

Rudolf wurde etwas verlegen. »An der ›Harmonie‹ wird noch gebaut. Dieser Saal wird erst am ersten November mit einem Monstre-Konzert eröffnet. Wir werden höchstwahrscheinlich Caruso dafür gewinnen. Caruso kommt extra aus New York herüber.«

Kretschmar machte ein anbetendes Gesicht. Er sah die Notiz vor sich.

192 »Hier kommen wir zur ›Grace‹, zu unserm Ballsaal. Der Haupteingang mit der Freitreppe ist natürlich drüben.«

»Grace! Grace! Das is ja ausgezeichnet! Raffinierter Name! Danach tanzt man! Menschenkind, Sie sind 'n Regisseur! Sie haben Millionen im Kopp!«

Rudolf lachte und ließ eine Seitentür des Ballsaales öffnen. Ein Griff erleuchtete die elektrischen Kronen. Kretschmar taumelte zurück. Die Spiegelwände ließen den Riesenraum verwirrend, unübersehbar erscheinen. Auf dem Orchesterpodium standen noch Arbeiter in Hemdsärmeln und Filzpantoffeln – das störte ein wenig. »Oller Affe, halt' doch de Venus fest!« schrie eben einer dem andern zu. Man war damit beschäftigt, Marmorfiguren in Nischen einzupassen.

»Die Deckengemälde sind von Claudio Spicorelli,« sagte Rudolf rasch.

»Wer war 'n das? 'n alter Meister?«

»Nein, im Gegenteil, das ist ein noch unbekannter neuer. Den größten Auftrag haben wir absichtlich einem Unbekannten gegeben. Aber er wird ihn auch glänzend ausführen. Nur ist er leider kränklich und hat sich überarbeitet. Wer weiß, ob er seinen Erfolg erleben wird.«

»Macht er denn alles ganz alleine?« Kretschmars runde Augen sahen zum Plafond empor, als wollten 193 sie die Länge der Pinsel messen, die bis dort hinauf reichten.

»Keine Spur. Er hat natürlich ein Dutzend Mitarbeiter. Es handelt sich ja um einen Gegenstand von 200 000 Mark.«

In der Vorhalle fand Kretschmar seinen Kollegen Nathanson beim türkischen Kaffee. Auch Berthold Ascher traf man, der mit seinen Söhnen Rudolfs Einladung gefolgt war. Fragend trat Rudolf dem besten Kenner des Erfolges gegenüber. »Gut, gut,« sagte Ascher, mit dem fahlen Köpfchen nickend. »Es ist sogar noch mehr, als ich erwartet hatte. Also morgen die Eröffnung. Na, Sie können, glaub' ich, ruhig sein. Berlin ist voll von Ihnen. Man redet hier immer von Amerika, aber man kennt es nicht. Das wird Ihr Glück sein, Rudi.«

»Mein Ehrgeiz geht weiter, Herr Kommerzienrat. Aber Sie haben recht. Ich glaube, Berlin ist so: ein Unternehmen, wie das meine, muß mit den obersten Hunderttausend rechnen und darf die Fühlung mit den unteren Hunderttausend nie verlieren. Aber die große Masse wird hier nur Zaungast sein. Der komme ich mit Wohltätigkeit bei. Gott sei Dank gibt es jetzt so viel Reichtum und wirkliche Vornehmheit in Berlin, daß auch das exklusive Publikum seine Zentrale haben will.«

Below trat zu den beiden.

194 »Na?« fragte Ascher mit freundlichem Spott. »Der Seniorchef mit der Sorgenfalte?«

»Ich bin durchaus kein Seniorchef, lieber Ascher. Ich bin lediglich Gesellschafter. Und meine Sorge is weiter nichts als Staunen. Ich staune noch immer. Ich gehe hier wie in 'nem Märchen spazieren. Eben habe ich Rudis Personalliste gesehen. Raten Sie mal, wieviel Angestellte er hat.«

»Ich rate das nie.«

»765. Männliche, weibliche, kindliche – darunter vier Neger, zwei Chinesen und Gottlieb Pinkert.«

»Der gilt wohl als Kannibale aus dem Rixdorfer Urwald?«

»Ich kann mich gar nich an den Gedanken gewöhnen, daß mein Sohn das alles unter sich haben soll. Sehen Sie sich doch bloß mal den kleinen Kopf an – was is da alles drin verpackt.«

»Lieber Vater, es würde unweigerlich rausfallen, wenn es nicht so gut verpackt wäre. Ich bin Generaldirektor. Ich muß die ganze Verantwortung haben. Ich und selbstverständlich Wechsler, mein Syndikus. Ein Kopf, ein Wille oder nichts. Habe ich recht, Herr Kommerzienrat?«

»Aber natürlich.« Ascher antwortete nur flüchtig und sah sich nach seinen Söhnen um. Die waren beschäftigt. Isidor und Heinrich besichtigten noch immer. Julius frühstückte, und der hinkende Moritz stand in galanter Unterhaltung mit der Dame 195 eines Coktail-Büfetts. Kretschmar und sein Kollege Nathanson konnten sich beim Kaffee über die Aussichten der ›Union Berlin‹ nicht einigen.

Wechsler und Fork kamen jetzt, aufgebläht von ihren Erfolgen, in die Halle. »Na!« rief Ascher. »Die Stammtischgäste der Belowschen Ecke versammeln sich ja! Wann wird denn Hauptmann von Weinschenk mit Professor König kommen? Und wo schläft Rösicke?«

Man lachte, ging aber auf den Scherz nicht ein. Er brachte nicht das richtige Behagen. Besonders Below wurde wieder befangen. Man sah ihn allein im Lichthof auf und ab wandern. In der Entfernung wirkte der alte Mann noch fremdartiger. Er sah aus, als ob er sich verlaufen hätte. –

Die Eröffnung am 1. Oktober verwirklichte alles, was Rudolf erhofft hatte. Ein wunderbares Gewühl füllte die ›Union Berlin‹. Farbenschimmer, zarte Wohlgerüche, Frauenschönheit, zahlreich und erlesen, wie man sie noch nie beisammen gesehen. Was sich durch Geld und Namen, Anmut und Talent berechtigt glaubte, war erschienen. Auch durch Geburt, obwohl die Aristokratie über einen jungen Herzog in Kürassieruniform nicht hinauskam. Die Hohenzollern ließen sich einstweilen durch Vertrauenspersonen erzählen, was aus der alten Belowecke geworden war. Dabei hatte Rudolf für eine sehr kräftige patriotische Note gesorgt. Aber Joachim Friedrichs Besuch im Hofmarschallamt, den Rudolf 196 endlich durchgesetzt hatte, war doch nur so verlaufen, daß ein alter Lieferant antichambriert hatte. Below fühlte förmlich eine Genugtuung, daß er recht behalten. Man liebte seine Weine, man verlieh ihm das Hoflieferantenwappen, aber sonst – nun ja, er hatte das Eiserne Kreuz, er war mehrmals bei Bismarck gewesen, und Kaiser Wilhelm hatte ihn beim Spazierritt angesprochen – das alles stand auf einem andern Blatt. Ein direktes Geschäft war nicht damit zu machen. Indirekt tat Belows Name natürlich seine starke Wirkung. Man fühlte festen Boden unter den Füßen. Man stützte sich, wie immer in Berlin, befriedigt auf eine Tradition, um sie möglichst schnell zu untergraben.

Rudolfs ganze Existenz löste sich in den Ressorts auf, die er allein beherrschen wollte. Er konferierte mit den Abteilungschefs, mit den Kassierern und den Buchhaltern, wenn er nicht bauliche Veränderungen oder Küchenlieferungen inspizieren mußte. Er engagierte in seinem Privatkabinett neues Personal, teils für praktischen Bedarf, teils für phantastische Reklame. Ein rheinischer Weinküfer gab einer Pariserin, die ein Sektbüfett bedienen sollte, die Tür in die Hand. Ein Konzertagent stieß auf einen grinsenden Nigger. Es wurde Rudolf nie zuviel. Seine Spannkraft glich den Kabeldrähten. Wenn er im Bureau frei wurde, eilte er in das Etablissement und durchschritt die Säle, um seine Gäste zu begrüßen. Der tadellos elegante Mann, der für 197 die Herrenmode vorbildlich wurde, schwebte gleichsam, devot und doch vornehm, durch all den märchenhaften Prunk. Im amerikanischen Saal, wo der beliebteste Zigeunerprimas seine Geige schluchzen ließ, führte ein Teppichgang an Lauben vorüber, die täglich mit kostbaren Blüten besät wurden und magisch beleuchtete Tische enthielten. Hier aßen die Paare, in diesem Raum verkehrten die Vornehmsten der internationalen Welt. Rudolf wurde gesellschaftlich als Amerikaner genommen. Sein Genie gab ihm die Stellung. Er hatte den Erfolg für sich. Nur in der großen Vorhalle, wo alles durcheinander strömte, wurde er unsicher. Hier wünschte er sich oft ein Rückgrat, dessen Konstruktion ihn begabte, sich nach allen Seiten zu drehen. Sein angeborener Belowstolz mußte viele Konzessionen machen. Bald galt es, einen veritablen Prinzen zu begrüßen, bald sah er einen Geldmann aus der Behrenstraße kommen, dessen mißvergnügten Hochmut er aufheitern mußte. Es geschah einmal, daß Rudolf zwischen einen bayerischen Herzog, einen berühmten Pianisten und Pierpont Morgan geriet. Er wußte nicht, vor wem er sich zuerst verbeugen sollte.

Er hatte das Talent, über die äußeren Hindernisse fortzukommen. Außerdem waren die Frauen jeder Klasse ihm gewogen, das erkannte er als eine wesentliche Macht. Er führte ein geheimes Konto über zärtliche Blicke. Schon standen Gräfinnen, berühmte Schauspielerinnen und Kommerzienrätinnen 198 darin. – Aber im Innern der Maschine klappte nicht alles. Rudolf entdeckte immer neue Fehler, er schalt und knuffte sich selbst dafür. Ihm mangelte das große Eine – dunkel erkannte er es: der richtig wägende Geschmack. Ein genialer Regisseur, mußte er doch die Faktoren seiner Regie immer wieder von fremden Kräften holen. Er fand sie selten selbst. Herkommen, Bildung, Anlage hinderten ihn am wirklich Schöpferischen. Er wußte aus Vorhandenem etwas zu machen, aber worauf es ankam, das wußte er nicht. Die gesellschaftlichen Elemente ließ er durch Rechtsanwalt Wechsler herbeirufen. Er selbst berauschte sich an aristokratischen Namen, ohne ihre Bedeutung zu kennen. Ueberall drehte er elektrisches Licht auf, mischte, schmückte alles – aber ein zweiter Griff genügte, und es wurde wieder finster. Der zauberhafte Rausch war nur ein kaltes Blendwerk gewesen. Rudolf setzte von vornherein die gefährliche Göttin über all sein Tun: die Neugier. Sofort mußte er ihre Peitschenschläge fühlen: flüchtiges Hinschauen, Schlürfen ohne Dank, falsch klingenden Beifall, brutale Ablehnung. Er bemühte sich, mit allen Fibern seines Wesens, das Richtige zu treffen. Jede Berühmtheit des Hörsaales, des Musiklebens und der internationalen Bühne wurde von ihm aufgefordert. Persönlichkeiten von wahrer Bedeutung engagierte er neben Charlatans. Doch machte Rudolf hier noch nicht die bittere Erfahrung, die ihm andere Gebiete bringen mußten. Der 199 tiefsinnigste Professor und der seichteste Causeur, der Künstler von Weltruf und die zufällige Spezialität – alle waren sie für Geld zu haben. Rudolf mußte glauben, daß er auch auf den Gebieten des Geistes das Richtige traf, daß seine »Harmonie« und sein »Schiller« höchste Kulturbedürfnisse wären.

Nur was die Architektur des Etablissements betraf, hatte ihm sein ratloser Geschmack einen dauerhaften Streich gespielt. Dies mußte er einsehen, und voll Zorn erkannte er, daß hier nichts mehr gut zu machen war. Baumeister Forks grotesker Stilsalat gefiel dem ästhetischen Areopag nicht, man hatte jetzt feinere Künstler. Man hatte vor allen Dingen schrecklich viel gelernt. Im Tohuwabohu der Weltstadt ging man scheu und empfindlich, mit den Augen der Schönheitsucher, spazieren. Nicht das kostbarste Material konnte die schlechte Form verkleiden. Nur die Kopie des Stammtischzimmers wurde nicht in ihrer Lächerlichkeit erkannt. Man begrüßte sie mit gerührtem Beifall. Leute, die niemals in der alten Ecke gewesen waren, flüchteten sich aus dem Lärm der Prunkräume in die selige Stille von Alt-Berlin. Man biedermeierte sich ein. Gottlieb Pinkert hatte einen durchschlagenden Erfolg, obwohl er immer grämlicher und schmutziger wurde. Er war beliebter als das eleganteste Büfettfräulein. Sogar Herr von Wiesenlattich, der feine Kenner, der anfangs die Kopie als barbarisch verurteilt hatte, versöhnte sich damit und träumte hier seine aparten Träume. 200 Uebrigens kam Rudolf auf den guten Einfall, diesen echten Aristokraten als gesellschaftlichen Sachverständigen heranzuziehen. Es gelang ihnen mit Hilfe von Baron Troll, einen der vornehmsten Klubs in der ›Union Berlin‹ stationär zu machen.

Für seine Familie war Rudolf so gut wie verloren. Martha hatte von vornherein in dem neuen Unternehmen die Zerstörung ihres Glücks gesehen. Der innerste Wesenszug ihres Mannes war nur ihr bekannt. Rudolf war untreu. Aber das Leben hatte Martha so mit ihm zusammengeschmiedet, daß sie ihn mit wunderbarer Objektivität betrachtete. So war es drüben im Westen gewesen. Ein praktischer, gütiger Humor hatte ihr dort zur Seite gestanden. Es blieb ihr klar und tapfer bewußt, daß eine Frau solchen Zugvogel beständig festzuhalten hatte, mit lockerer Fessel, die ihn weit umherkreisen, aber immer wieder zu ihr zurückkehren ließ.

Martha blieb der Mittelpunkt seines Lebens. Die Streiche, die er begangen, waren nur »Dummheiten« gewesen. Nun aber gehörte er dem großen Getriebe, das er zuvor wie eine bunte Sonne angestarrt hatte. Nun gab es tausend von seinen Launen Abhängige, und daß ihm Lockenderes zur Verfügung stand als die tüchtige, alternde Frau, konnte ihm nicht entgehen. Martha kannte sich und ihn. Lähmend legte sich zum erstenmal ein Gefühl der Ohnmacht über sie.

201 Sie sah Rudolf fast nicht mehr. Seine ständige Entschuldigung war: »Ich habe zu viel zu tun.« Wenn Martha ihn in der »Union Berlin« besuchte, ließ er sie deutlich merken, daß sie ihm dort nicht willkommen war. Sie verstand allmählich, weswegen. Er fühlte sich durch sie gedemütigt. Er wollte eine andere, eine glänzende Frau dort sehen lassen, keine, deren Vorzüge den Leuten erst begreiflich gemacht werden mußten. Aber noch hoffte Martha. Sie rechnete auf seinen Ueberdruß, der von Blume zu Blume taumelte und schließlich alles verwarf. Wenn er nur sein Haus rein hielt. Das war Marthas Bitte, vor der ihr Stolz Wache hielt.

Eines Abends glaubte Rudolf sie bei einer Jugendfreundin in Zehlendorf. Aber die Verabredung hatte sich zerschlagen, und Martha kam unerwartet nach Hause. Im Vorzimmer hingen Hut und Mantel einer fremden Dame. Martha sah ruhig und prüfend hin. Es waren weit kostbarere Sachen, als sie zu tragen pflegte. Joseph, der Diener, drückte sich mit verkniffenem Lächeln herum. Sie hatte sich schon über seine Verblüfftheit geärgert, als er ihr die Tür geöffnet hatte – nun merkte sie, daß er diskret verschwinden wollte und zugleich auffällig blieb.

»Wartet jemand auf mich?« fragte sie fest. »So spät noch?«

202 »Nein, gnädige Frau.«

»Wem gehören denn die Sachen?«

»Einer Dame.«

»Schlaukopf, das seh' ich. Was will die Dame?«

»Das weiß ich nicht, gnädige Frau. Es ist ein Besuch.«

»Bei wem?«

»Beim Herrn Generaldirektor.« Mit dummschlauen Augen blieb der Diener vor ihr stehen.

Sie wandte ihm kurz den Rücken. »Es ist gut. Bringen Sie mir mein Abendbrot auf mein Zimmer.«

Sie ging mit festen Schritten fort. Erst als sie allein war, fühlte sie, wie zusammengeschnürt ihre Brust in Weh und Scham war. Aber warum denn? Sie hörte ein Rascheln und Flüstern, behende, leise Füße auf dem Korridor. Noch kämpfte ihr Stolz, ob sie hinausgehen sollte. Dann aber brannte die Empörung lichterloh.

Sie stand vor beiden. Ertappte sah sie, klägliche Betrüger, deren Erscheinung keinen Zweifel übrig ließ. Der Herr Generaldirektor hatte seine Sekretärin mitgebracht, Fräulein Giesicke. Das verschärfte alles. Das beschmutzte ihm Haus und Beruf. Das machte Martha plötzlich würdelos. So hätte er es nicht wagen dürfen. Sie warf dem Erschrockenen einen Blick zu, der in das Band ihres Lebens schnitt. Dann trat sie ins Zimmer zurück, um, kaum ihrer Sinne mächtig, das Bett zu erreichen.

203 Der Stich, den Rudolf ihr versetzt hatte, ging tief. Nachdem sie den Mann, den alle Welt bewunderte, so weit geführt hatte, forderte er nichts als Verzicht von ihr. Aber sie wollte noch nicht verzichten. Mit Grauen sah sie sich in den widerlichen Prunk ihrer Wohnung verbannt. Und was für ein welkes Pflänzchen ihr armes Kind, ihr Fred war, wurde ihr jetzt erst bewußt. Sie haßte die Domestiken, die Rudolfs Protzentum ihr zur Verfügung stellte. Mit organisatorischen Dingen, Werken der Wohltätigkeit, suchte sie sich zu betäuben. Hier waren ihr die Beziehungen, die sie ihrer gesellschaftlichen Stellung dankte, wertvoll. Hier konnte sie ihre alte Tatkraft beweisen. Mit leidenschaftlichem Eifer gründete sie ein Heim für krüppelhafte Kinder. Aber all das blieb nur Surrogat. Die einst in Armut reiche Frau war nun im Reichtum doppelt arm geworden.

Wenn es Martha ganz einsam im Gemüt wurde, flüchtete sie sich zu ihrem Hausgenossen, zu Joachim Friedrich Below. Unbedingten Glauben hatte sie da. Zwei Mißbrauchte fanden sich im Getriebe. Auch Below lebte im Exil. Er glaubte immer noch zu träumen und plötzlich erwachen zu müssen. Eines Tages konnte die gefährlichste Mißwirtschaft ans Licht kommen. Ein Gespräch mit Geheimrat Breitenbach, der sich aus ›Altersrücksichten‹ von der ›Union Berlin‹ wieder zurückgezogen hatte, machte ihm einen Fehlgriff besonders 204 klar: es hätte eine Aktiengesellschaft gegründet werden müssen. Aufsichtsrat und Generalversammlung hätten der Belowschen Solidität einen Halt gegeben. So aber – die dunkle G. m. b. H., die eigentlich nur aus Rudolf Below und Wechsler bestand – wer konnte dort volle Rechenschaft fordern? Wo fing der klare Erfolg an, und wo hörte die unklare Spekulation auf? So kam Joachim Friedrich auf wunderliche Ideen. Er glaubte mit seinem gesunden Menschenverstande alles übersehen zu können. Er fing eine ganz geheime, persönliche Buchführung an, die unmöglich stimmen konnte, in ihrer naiven Logik aber dem alten Kaufmann Beruhigung gab. Das umfassende System, das Below sich in seinem Kontobuch zimmerte, war ein grotesker Gegensatz zu der wirklichen Tätigkeit, die Rudolf ihm übertrug. Below leitete in der ›Union Berlin‹ lediglich das Weinlager. Hier schätzte man seine Kennerschaft. Aber er scheiterte auch hier an den neuen Anforderungen. Sein Sohn wollte ihn gewaltsam in den ›großen Stil‹ treiben und wünschte, daß der schwerfällige Sechziger in die Weingegenden am Rhein und nach Frankreich reisen sollte, um für das berühmte Berliner Haus einzukaufen. Aber Below entschloß sich dazu nicht mehr. Er verhandelte lieber mit den Agenten, die durch seine Gründlichkeit mürbe gemacht wurden. Er blieb in Berlin.

Der einzige Mensch, der ihn hätte aufrütteln können, war unerreichbar. Sein Engel war 205 verbannt. Minnas Urteil, ihre Klarheit – wie wären sie ihm jetzt ein Labsal gewesen. Hätte er wenigstens mit dem Gedanken Schluß machen, sein liebes Weib bei dem Arzt in der Ferne lassen können, ebenso in Vergangenheit versunken, wie sonst alles Alte. Aber Minna lebte. Sie war eine lebendige Mahnung. Unhaltbar wurde, was geschehen, je länger es dauerte. Immer stärker wurde das Gefühl in ihm: Sie ist doch die einzige. Sie steckt uns alle noch in die Tasche. Wenn sie käme und sähe – und sähe. . . . Er fühlte, daß sie ihn mit Absicht nicht mehr nach Haus und Geschäft befragte. Sie war ganz Liebe und zugleich ganz Mißtrauen. Ihr Herz bebte in unaussprechbarem Verdacht.

Nein, es war nicht mehr zu ertragen. Wenn er ihr nichts von Rudolf, nichts von Martha und Fred sagen durfte, wenn der Zauberpalast, den Rudolfs böse Geister erbaut, ein Märchen bleiben mußte für sie wie für ihn – so sollte doch sein Herz nicht länger lügen. Er setzte sich nieder und schrieb ihr dies:

»Mein liebes Minchen! Wundere Dich nicht über das, was ich Dir heute sage. Es soll eben nur mal gesagt werden. Wir beide stecken ja fortwährend in einem Du-sollst-nicht und Du-darfst-nicht. Das ist scheußlich, nicht wahr? Das wollen wir uns nicht mehr gefallen lassen. Laß Du den Professor doktern, ich sage Dir: ich hab' Dich lieb, wie immer, 206 Minchen. Ich habe inzwischen nichts getan, was ein Widerspruch dagegen wär. Wir sind noch die Alten. Das Herz spricht, wenn der Mund auch zugebunden ist. Es ist wohl nicht ganz klar, was ich Dir gesagt habe, aber ich habe es zum ersten Mal ohne zu schwitzen gesagt. Schriftlich geht das. Du wirst das Deinige heraushören. Wie immer

Dein Fritz.«

Er glaubte wirklich etwas Erlösendes mit diesen Zeilen ausgesprochen zu haben und hatte zwei frohere Tage. Dann aber kam Minnas Antwort.

»Mein Fritzchen! Das war mal endlich was Gutes! Herrgott, warum sind wir so verkniffen gewesen! Wir beide! Der Hermann saß auch immer vor mir wie im Staatsexamen. Das ist doch keine Kur. Da werde ich ja lieber Schneeschipper oder so was und bin bei Dir. Ueberhaupt, all die Dösköppe hier, die sich immer bloß selbst bekucken und sich wohlfühlen, wenn sie recht krank sind, das ist nichts mehr für mich. Ich muß hier weg – jetzt weiß ich's. Es ist die höchste Zeit, Fritz – sonst werde ich erst krank. Ich bitte Dich von Herzen: sage es endlich dem Professor. Ich spüre ja, wie Du mich brauchst, und das ist gut für mich, das brauche ich. Das ist viel besser als jede Kur.

Sage mir nicht, was inzwischen alles passiert ist – ich habe so meine Gedanken. Aber wenn's auch 207 das Schlimmste wär' – ich sage Dir: nu grade! Ich bin auf dem Posten! Ich nehme es noch mit jedem auf! Bloß vorwärts jetzt, Fritz, und nicht mehr zurück! Wir wollen beide gesund werden! Schließlich, wenn's nicht anders ist, wollen wir uns als Gesunde empfehlen. Der alte Schlag ist doch was wert. Telegraphiere mir sofort Deine Meinung.

Minna.«

Below küßte den Brief, aber er wußte nun, daß er sich selbst das Tor verrammelt hatte. Er durfte Minna nicht mehr in sein Leben kommen lassen. Von Angst ergriffen, telegraphierte er ihr:

»Bitte Dich von Herzen, bleibe vernünftig, halte treulich an Strausberg fest. Es hilft ja nichts. Zu Hause ist alles in Ordnung. Mein Brief sollte nur ein richtiger Gruß sein.

Fritz.«

Minna erwartete in Belows Antwort die große Entscheidung. Sie wagte kaum das Telegramm zu öffnen. Als sie es gelesen hatte, packte sie nur das eine schreckliche Gefühl: Einsamkeit! Und – von hier aus vergebens. Da war ihr Entschluß gefaßt.

 

An einem Sonntagnachmittag saßen Below und Martha in dem einzigen Raum der Kurfürstendammwohnung, den man ›gemütlich‹ nennen konnte. Sie saßen in Freds Kinderzimmer. Die französische Bonne hatte ihren Ausgang, und nun feierten die 208 Drei eine gute Zeit. Großpapa mußte dem Enkel Geschichten erzählen, und Martha hörte so neugierig zu, als ob sie davon die Bedeutung des Lebens erfahren könnte. Fred war krank, seine Lebensfähigkeit zweifelhaft. Aber war diese mühselige Knospe, die in der Zimmerluft gedeihen sollte, nicht die Hauptperson des großen Gewühles draußen? Wurde nicht für ihn im Grunde alles errungen und gewagt? An welche Genugtuung konnte Rudolf denken, wenn nicht an die Zukunft seines Sohnes? Oder glaubte er nicht daran? Wofür arbeitete er dann?

Fred spielte mit einem kleinen, wolligen Bären, der, wenn man ihn kniff, brummen konnte. Heute war der Mechanismus nicht in Ordnung, und Großpapa mußte sich bemühen, das widerspenstige Tier zu reparieren. Dabei lächelte er, den grauen Kopf auf das Spielzeug gesenkt, über seines Enkels Ungeduld. Der Bär war ja das Wappentier Berlins.

Plötzlich betrat Rudolf das Zimmer. Below und Martha fuhren erschrocken auf. »Nanu?« rief der Generaldirektor, der blaß und übernächtig aussah. »Ihr macht ja ganz verdutzte Gesichter? Stör' ich?«

»Durchaus nicht,« erwiderte Martha mit zuckendem Munde. »Wir freuen uns. Aber Du bist hier eine ungewöhnliche Erscheinung.«

209 Rudolf warf sich lachend in einen Sessel. »Die alte Martha! Heute ist ja Sonntagnachmittag! Da. will man auch mal wissen, ob man eine Familie hat!«

»Das könntest Du jeden Tag wissen.«

»Assez, mein Kind. Wenn ich Sechsdreierrentier wär' . . . Komm' mal her, Fred. Hoppla, auf 'n Schoß. Na willst Du nicht? Laß es bleiben. Total verändert ist der Junge. Nun heult er noch am Ende? Angenehm, wenn man mal nach Hause kommt.«

»Fredchen, geh' zu Papa – er ist so anfällig, der Junge.«

»Sehr schade. Müßte man ändern, Martha. Na hier, kuck' mal in die Tasche! Marquisschokolade! Ach, heute darf er sie essen. Müde bin ich! Hundemüde, Kinder!«

»Du siehst sehr angegriffen aus,« sagte Below.

»Ist das 'n Wunder? Jeden Tag diese Hetze?! Aber es geht, es geht. Das ist die Hauptsache. Gestern haben wir unsere größte Einnahme gehabt. Ich glaube, wir sind jetzt durch.«

In diesem Augenblick erschien Joseph, der Diener, und teilte mit, daß der Herr Generaldirektor ans Telephon gewünscht würde.

»Keinen Augenblick hat man Ruhe! Ich habe doch extra befohlen, daß man mich in der Wohnung ungeschoren lassen soll!«

»Die U. B. hat auch nicht angerufen, Herr Generaldirektor. Aus Strausberg ist telephoniert 210 worden. Ein Professor Kessel, glaub' ich, wünscht Herrn Generaldirektor oder Herrn Below zu sprechen – das weiß ich nicht.«

Below stand auf. Aber er wurde von einem Zittern befallen und konnte nicht zur Tür.

»Nanu! Nanu!« rief Rudolf, schnell gefaßt. »Bleib' doch sitzen, Vater! Reg' Dich nur nicht auf! Der Professor hat schon öfters telephoniert! Mutter ist es doch immer sehr gut gegangen!« Er folgte dem Diener.

Below starrte, von Ahnung zerwühlt, seine Schwiegertochter an. Martha war auch erschrocken, suchte ihn aber zu beruhigen. Jetzt kam Rudolf zurück. Man sah ihm an, daß etwas Außerordentliches geschehen war. Er war bleich und tupfte sich mit dem parfümierten Taschentuch die Stirn. »Na! Also ruhig Blut, Kinder! Mutter geht es ausgezeichnet! Das Leben ist nu mal grotesk – man muß aus alles gefaßt sein!«

»Was is mit Mutter?« fragte Below.

»Sie hat ihren heutigen Spaziergang dazu benutzt, um durchzubrennen!«

»Durchzub . . .?!«

»Ja! Was kann wohl mehr für ihre Gesundheit sprechen? Der sanfte Professor war ganz außer sich, aber ich mußte lachen. Jetzt weiß ich erst, daß Mutter noch auf der Welt ist. Das sieht ihr ähnlich. Sie hat die Schwester, die mit ihr ging, versetzt, ist 211 zum Bahnhof gerannt und hat den nächsten Zug nach Berlin benutzt. Sie muß schon hier sein.«

Below reckte sich gewaltsam auf. »Rudolf! Was is da zu machen! Rate mir! Das halt' ich nicht aus!«

»Aber nimm's doch nicht schwer, Vater!«

»Beruhigen Sie sich doch!« rief Martha. Fred war weinend hinausgelaufen.

»Um Gottes willen! Seid Ihr Euch denn klar, was passiert is? Die Frau – die fährt natürlich vom Bahnhof direkt nach den Linden! Die klettert aus der Droschke und will in ihre Wohnung rauf! Das is ja – das war ja noch nie da! Sie weiß ja nicht mal, daß Du wieder hier bist, Rudolf! Und Martha! Und Fred! Das ganze Leben wird ihr umgekehrt – in einer Minute!«

»Wir dürfen keine Zeit verlieren,« mahnte Martha.

»Aber was soll ich denn machen? Du hast die Verantwortung! Junge!«

Rudolf ging mit kurzem, krampfigem Lachen umher. Auch er fand vor diesem Elementarereignis keine Fassung. Dann stieß er hervor: »Ich kann sie unmöglich empfangen! Zum Bahnhof zu fahren ist es zu spät – der Zug ist schon angekommen. 'n Auto nimmt sich Mutter natürlich nicht, sondern 'n Taxameter, und der braucht 'ne ganze Zeit! Es bleibt nichts anderes übrig, als sie direkt Unter'n Linden abzufangen. Aber wenn sie jetzt auch meine 212 Bekanntschaft machen soll, das ist allerdings ein bißchen viel auf einmal! Sie muß erst ein vertrautes Gesicht sehen!«

»Dann werde ich nach den Linden fahren,« sagte Below und schwankte zur Tür.

Martha eilte ihm nach. »Aber nicht allein, lieber Vater! Vor mir wird sie nicht erschrecken! Sie wird mich gar nicht mehr erkennen! Lassen Sie mich mit!«

»Nimm Martha mit, Vater! Sei vernünftig!« Below stand mit gebücktem Kopf an der Tür und starrte seinen Sohn an. »Schade, daß Hermann nicht hier ist!« fuhr Rudolf fort. »Heute, wo man ihn mal braucht! Aber wer weiß, er ist zu feierlich! Ich rate Dir gut, Vater! Sei nur leicht und harmlos! Nimm's als selbstverständlich, mach' es ihr wie'n Märchen klar – sonst geht es überhaupt nicht! Das ganze Abenteuer liegt im Stil meines Unternehmens! Und nun geht, nehmt mein Auto! Verliert keine Zeit!«

Martha schob ihren Arm in Belows Arm und stieg mit ihm die Treppe hinunter. –

In der Mittagsstunde dieses Tages hatte auf dem Strausberger Bahnhof der Bummelzug gestanden, der täglich nach Berlin fuhr. Er wurde von den Strausbergern nur wenig benutzt, denn wenn man nach Berlin fuhr, wollte man es auch stilvoll tun, im Schnellzug. Nur bäuerische Handelsleute saßen mit ihren Kiepen in den alten Waggons. Kurz 213 bevor der rotbemützte Stationsvorsteher das Zeichen zur Abfahrt gab, lief eine korpulente, ältere Dame, dicht verschleiert, ein Täschchen in der Hand, durch die Perronsperre und stieg, vom Zugführer hinaufgehoben, in den letzten Wagen. Niemand hatte Minna Below erkannt. Spornstreichs, quer durch den Wald, war sie zum Bahnhof geeilt. Ihr Herz klopfte bedrohlich, aber die Freude, daß sie den Zug noch erreicht hatte, bewahrte sie vor einer Ohnmacht.

Nun saß sie mit listigem Lächeln und nach Atem ringend in der Bahn. Sie hatte die klugen Leute doch angeführt. In einer vollen Stunde, wenn Schwester Margarete an den Teich kam, nein, viel länger noch, in zwei Stunden, wenn überall gesucht worden war, konnte ihre Flucht erst gewiß werden. Dann war sie schon in Berlin. In Berlin aber – du lieber Himmel! Hatte sie den Boden erst unter den Füßen, dann konnte sie niemand wieder nach Strausberg bringen.

Mit Fritz und Hermann wurde sie fertig. Sie war ja keine entsprungene Verbrecherin. Nur ihr Haus wollte sie sehen. Gewißheit haben über alles. Die schrecklichen Widersprüche waren ihr unerträglich geworden. Sie hatte ihre alte Tatkraft noch. War etwas geschehen, drohte irgend etwas über dem Heil ihres Lebens – dann mußte sie vor allem da sein und dafür eintreten.

Ruhiger und der Berechtigung ihres Abenteuers sicher, lehnte sie sich an die harte Wand des 214 Dritter-Klasse-Wagens. Schlummer kam über sie, Träume, die sie lange nicht so rein und glücklich gehabt hatte. Sie sah sich schon vor ihrem alten Hause. Sie verließ die Droschke, stieg an der Weinstube vorüber die knarrende Treppe hinauf, klingelte – und Below öffnete selbst. Sie hörte nicht, was er sagte, aber sie sah ihn weinen. Das war seit Ernas Abreise nicht geschehen. . . .

Verdunkelung ihres zeitlosen Traumes, plötzliche Verlangsamung der schönen Friedensreise, Dampffauchen, rufende Menschenstimmen – Minna erwachte und begriff: Sie war in Berlin. Mit ihrer Frühstückstasche, in die sie das Notwendigste hineinpraktiziert hatte, stieg sie aus und blickte sich wie ein Defraudant um. Dann aber lächelte sie und ging zu den Droschken hinaus. Sie war ja immerhin ein anständiger Flüchtling.

Das dumme Herz klopfte aber wieder, als sie dem Droschkenkutscher ihre Adresse angab. Sie wollte von dem gleichgültigen Gesicht ablesen, ob das Haus, wohin sie verlangte, eingestürzt oder verbrannt war. Aber nichts von alldem war zu erfahren. Der Kutscher neigte sich nur ein bißchen vom Bock herunter und fragte: »Unter 'n Linden 69a, Madam? Se meinen also de U. B.?«

»Ich meine Unter'n Linden 69a.«

»Na ja, det mein' ick ooch. Det is doch de U. B.?«

»Ach was, fahren Se man los. . . . Wenn wir da sind, werd' ich's Ihnen schon sagen.«

215 Minna stieg zornig ein, während der Kutscher kopfschüttelnd seinen Gaul in Bewegung setzte. Eigentlich hatte sie noch sagen wollen: »Sie werden doch die Belowsche Ecke kennen?« Aber irgend etwas band ihr den Mund zu. Ihre erste, mutige Stimmung war verschwunden. Wie langsam rumpelte der Wagen. Sie hätte sich doch ein Automobil nehmen sollen, das sie sonst nicht ausstehen konnte. Endlich – Mittelstraße – Schadowstraße – Unter den Linden. . . .

Es gibt ein Märchen von einem alten Kaiser in China, um dessen Tochter Aladin, der Besitzer der Wunderlampe, warb. Der alte Kaiser hatte keine Nachbarn, und als er einmal sehr gut geschlafen hatte und erst spät am Morgen zum Fenster trat, wollte er seinen Augen nicht trauen, denn ihm gerade gegenüber, mächtig und wundervoll, hatten Aladins dienstbare Geister über Nacht ein neues Schloß gebaut. Soviel sich auch der alte Kaiser die Augen rieb, der wirre, verschlafene Mann, und immer wieder hinüberstarrte: es war doch ein wirkliches Schloß, und die vertraute Stätte war verschwunden. Geister bauten anders als Maurer und Zimmerleute. –

Dieses Märchen steht in Tausendundeine Nacht. Aber in Berlin, im Jahre 1907, Unter den Linden, erlebte es jetzt Minna Below. Die Droschke hielt, und wenn die alte Dame nicht eben noch am Schild der Ecke »Schadowstraße« gelesen hätte, wäre es zu 216 einem zweiten Disput mit dem Kutscher gekommen. So blieb sie eine Weile im Wagen sitzen und sah hinaus. Neugierige standen vor der Tür, als wenn ein Brautpaar erwartet würde. Was war hier los? Man starrte auch in ihre Droschke, aber mißbilligend, als ob sie sich verirrt hätte.

Nun kam ein Bürschchen, reizend anzusehen, in perlgrauem Jäckchen, mit Silberknöpfen, eine Samtmütze auf dem blonden Kopf. Es grüßte tief und half ihr beim Aussteigen. Da Minna ihre Füße halb gelähmt fühlte, ließ sie es gern geschehen. Auch vergaß sie ganz den Kutscher, der von dem Groom abgelohnt wurde. Sie stand da, obwohl die Leute um sie herum lächelten und einander auf sie aufmerksam machten.

Sie stand und sah sich das Haus an. Das Haus? Sie war ja ganz wo anders. Etwas Fabelhaftes stand vor ihr. Eine unendlich breite und hohe Front mit tausend Fenstern, Erkern und Balkonen. Der Haupteingang führte in ein blitzendes Gewirr, das ihren Augen wehtat. Hinter der schwanken Drehtür, die ein rotgekleideter Neger bediente, sah sie viele fremde Menschen, Lampen, Farben, wie die Pforte zum Märchenreich. . . . War das denn Berlin? War das die Belowsche Ecke? . . .

Endlich gewann sie die Fassung, ihren kleinen Freund, der eher mitleidig als mißbilligend neben ihr stand, zu fragen: »Entschuldigen Sie – bin ich denn hier bei Belows?«

217 Jetzt mußte der kleine Kavalier doch lachen. »Gewiß, gnädige Frau! Das heißt, Herr Below ist unser Generaldirektor! Hier ist ›Union Berlin‹!«

»Union Berlin?«

»Ehemals Jonathan Below.«

»Ehemals Jonathan Below?«

Sie starrte wieder zu dem himmelhohen Palast empor, aber im nächsten Augenblick drohten ihr die Sinne zu schwinden. Da fühlte sie sich von Armen festgehalten, die sie kannte. Niemand konnte sie jetzt so umfassen wie er. Fritz war bei ihr. Das bewahrte sie. Sie hielt sich aufrecht und ging an seinem Arm in das Spukhaus. Below hatte ein Zimmer, wohin er Minna führen konnte.

Endlich war er mit ihr allein. Und allen Blicken entzogen. Nun konnte die Kur beginnen. Aber wo anfangen? Wie straften ihn diese Augen, die sich langsam auf ihn richteten, in namenloser Angst! Wie saßen sie sich fremd, in einer Einöde gegenüber, die hier viele Jahre glücklich gewesen waren!

»Was is denn? . . . . Wo bin ich denn? . . .« fragte sie wie ein Kind.

»Nu sei mal ganz ruhig, mein liebes Herz. Wenn Du's erst begreifen wirst, is alles wunderschön, das wirst Du sehen.«

»Was denn? . . .«

218 »Du weißt doch, daß Du nichts erfahren durftest. Und wenn der Professor so streng verboten hat, daß du – –«

»Wo is das Haus?«

»Das Haus is da, aber es is anders geworden. Du wirst gleich hören wie. Und noch etwas is da – die Hauptsache – – na, nu freu' Dich und nimm's, wie's is – – – Rudolf – –«

»Rudolf?«

»Der is schon zwei Jahre wieder in Berlin.«

»Rudolf?«

»Ja! Und gut geht's ihm, und 'n tüchtiger Mensch is er geworden! Und denke Dir: er hat die Martha Wünschel geheiratet. Nu kamen sie beide aus Amerika und brachten ihr Kind mit . . .«

»Ihr Kind? . . . Rudolf hat'n Kind? . . .«

»Jawohl! Na siehste! Das freut Dich! 'nen Jungen!«

»Wie heißt er?«

»Fred!«

»Ach Jott – is das dasselbe wie Friedrich?«

»Ich glaube.« – –

Minna saß zurückgelehnt und schien sich ganz an das Enkelkind zu klammern. So gewann Below Zeit.

»Du Ausreißer – Du machst es einem nicht leicht. Ich hätte Dir ja alles schließlich geschrieben. Aber nu muß ich auf einmal . . . Dein Professor hat heute telephoniert –«

219 »Ich konnte nich länger bei Kessel bleiben. Ich mußte wissen, was los is. Denk' doch, Fritz, über ein Jahr werden ›kleine Veränderungen‹ an unserm Haus jemacht – kleine Veränderungen – und was aus 'm Jeschäft wird, davon hab' ich keine Ahnung . . . . Das Haus war doch in Ordnung? Das hatten wir doch eben erst abputzen lassen? Und am Lokal brauchte doch auch nichts jeändert zu werden? Und die Schimmelmann zwei Treppen – lieber Jott, die war doch immer zufrieden?«

Below stützte den Kopf in die Hand. »Es hatte sich Verschiedenes 'rausgestellt . . . Bei 'nem alten Haus is das nicht anders . . .«

»Also – verbrannt is es nich?«

»Aber Minna – – Du siehst doch – wir sind ja –«

»Das hatt' ich nämlich vor mir jesehen – – und wenn wir auch versichert sind – –«

»Kind – es gibt doch noch andre Möglichkeiten – großartige Möglichkeiten – daß alles –«

»Alles?«

»Anders wird! . . .«

In diesem Augenblick stand Minna auf, als wäre sie erwacht. »Wo sind wir?«

»In unserm Haus!«

»Mach' mich nich verrückt!«

»Minna, ich sage Dir jetzt die volle Wahrheit. Nimm's ruhig hin – ich bin am Ende meiner Kraft, Minna. Du hattest mich allein gelassen. Armes 220 Kind, das mußte ja sein. Aber ich war wie gelähmt, als Du fort warst. Es stockte alles. Und ich war so unzufrieden. Und zugleich war mein Glaube da – jawohl, mein Glaube an die Zukunft, Minna! Ohne das alte Gerümpel! Ohne die alten Quatschköpfe! Ich hatte eines der ersten Häuser von Berlin und war veraltet, verschuldet, ein zugedeckter Sumpf! Wenn ich einen Erben gehabt hätte! Ein einziges von meinen Kindern! Denk' doch, Minna, wenn wir beide unter der Erde wären – in fremde Hände wär es ja doch gekommen! Sie hätten es abgerissen, aber wie! Ausgeschlachtet hätten sie das wunderbare Grundstück! Denn nur der Boden hatte Wert! Im neuen Berlin! Das mußt Du begreifen, Minna! Nur der Boden! Und als ob ich's gewünscht hätte – in der schlimmsten Zeit – kam Rudolf!«

»Er hat Dir's abgekauft?«

»Er hat uns zu Teilhabern gemacht mit dem Grundstück. Mit zwei Millionen. So sind wir geblieben, wo wir immer waren, Minna. Aber die Bedürfnisse der Zeit – die sind anders – die kennt 'n Mensch wie Rudi! Der hat hier reingekuckt und –«

»Abjerissen – –?«

»Ja! Bis auf die Bäume!«

»Die Bäume! . . .«

»Na, nicht weinen! Die sind noch da! Und Pinkert is auch noch da! Aber sonst! Was war es 221 denn sonst? Alte Mauersteine! In diesen Sachen wollen wir nicht sentimental sein!«

»Is nichts mehr da von unserm Haus?«

»Nein, von den Nachbarn auch nichts – das Ministerium und Konditor Zimmermann und Gebrüder Gutmann – fünf Grundstücke! Eine Gesellschaft hat Rudolf gegründet, wo er Generaldirektor is! Wie soll ich Dir das so schnell erklären! Ein kolossales Etablissement! Du wirst schon sehen, was drin is! Der Erfolg is kolossal! Und unser Name is damit verbunden, wenn es auch ›Union Berlin‹ heißt! Rudolfs Gründung trägt doch unsern Namen!«

Minna sah ihn mit eigentümlich entrücktem Blick an. »Unser Name, Fritz,« flüsterte sie ganz sanft, »der war jut.«

»An dem is auch nichts geändert!«

In diesem Augenblick betrat eine junge Frau das Zimmer, die etwas sehr Gewinnendes hatte. Minna sah es. »Is das Martha?« fragte sie leise. Martha küßte ihr beide Hände. »Wo is das Kind?«

»Fred ist zu Hause, liebe Mutter. Kommen Sie doch mit zu uns.«

»Ja, Minna – da wirst Du Dich beruhigen. In Rudolfs Wohnung.«

»Da soll ich hin? . . . Du lieber Jott – Ihr reißt einen ja auseinander . . . Und wo wohnst Du denn, Fritz? Hier? – – –«

222 »Ich bin vorläufig zu Rudolf gezogen. Komm' nur. Da siehst Du Deine alten Möbel.«

»Faß mich mal an – kneif' mich mal – feste – mein Kopf, mein Kopf – ja, ja – ich spür's – – ich bin janz wach – – ich dachte nämlich, jetzt fahr' ich – jetzt lieg' ich wieder in meine Stube in Strausberg – und Schwester Margarete –«

»Ruhig. Komm' nur. Wir steigen in Rudolfs Automobil.«

»In Rudolfs Automobil . . .« Minna wiederholte es fast ehrfürchtig. Sie ließ sich hinausführen, Below zur Linken, Martha zur Rechten. Aber durch die Vorhalle mußte sie doch noch. Hier gab es eine feine, wispernde Musik, hier promenierten zur Teestunde die neuen Gäste der Belowschen Ecke.

Minna blieb stehen und sah sie lange an. Man achtete nicht auf die einfache Frau mit dem Leidensgesicht. Man machte sich keine Gedanken darüber, ob sie die verschollene Wirtin von ehemals war. Die Damen führten die neuesten Moden vor, die Herren saßen in Klubsesseln und nahmen sie kritisch in Augenschein. Phantastisch gekleidete Boys servierten Tee. Ein magischer Schimmer lag über dem allen, etwas, das mit dem einst Gewesenen keinen Zusammenhang hatte.

»Willst Du nicht mal in die Säle einen Blick tun?« fragte Below schüchtern, da er sah, daß Minna 223 ruhiger wurde. Sie nickte. Sie ging an seinem Arm durch das Märchenreich der Union. Minna ängstigte sich vor nichts. Sie staunte nur, sie fühlte eine tief beklemmende Ehrfurcht. Und dunkel lebte der Gedanken in ihr: Ihr Sohn sollte das alles geschaffen haben? Ihr Sohn? Der verbummelte Rudolf? – – –

Sie fuhren nach dem Kurfürstendamm. Hier wurde sie wacher. Die Luxuswohnung und Rudolf, ein vollständig fremdartiger Mann, dessen Wiedersehensfreude etwas Forciertes hatte. Und das Enkelkind . . . Dem lieben Gott sind tausend Jahre wie eines. So ging es durch ihr bebendes Gemüt. In einem bequemen Sessel saß sie, schwerer Südwein wurde ihr eingeflößt, und sie sollte etwas essen. Als der kleine Fred ihr mit seinen Händchen ein Biskuit zum Munde führte, nahm sie es und sog daran. Leben! Ja, das Kind. Das Kind war ein Gewinn. Sie riß es an sich, als ob es das einzige wäre, was kein höllischer Trug war. »Wo is Hermann?« fragte sie dann leise. »Eure Blumen riechen so stark.«

»Stören sie Dich?« erwiderte Rudolf. »Ich werde die Tür zumachen. Rate mal, was das Treibhaus wert ist.«

»Da hab' ich keine Ahnung . . .«

»75 000 Mark. Ich züchte Orchideen und verkaufe sie weiter.«

224 »So . . . Wo is denn Hermann?«

»In Arendswalde, Mutter,« sagte Below, der sich neben ihr niederließ. »Hermann weiß natürlich nicht, daß Du hier bist.«

Minna lehnte den Kopf zurück und hielt den kleinen Fred fest. »Nee, Kinder,« flüsterte sie mit geschlossenen Augen, »daß Ihr so schwindeln könnt . . .«

»Notlügen, Mutter,« meinte Rudolf auflachend.

Minna sah ihn zum erstenmal prüfend an. Es war ein Blick, als ob sie diesen Menschen, der ihr ältester Sohn sein wollte, jetzt erst bemerkte. »Meinst Du?«

»Aber ist denn nicht alles prachtvoll geworden? Du hattest doch 'ne öde Brandstätte erwartet oder so was? Und nun?«

»Ich weiß nich . . .«

Below schob Rudolf zurück. »Laß sie! Du quälst sie!«

»So! Ja, dann entschuldige! Quälen will ich sie wahrhaftig nicht! Weil ich sie groß gemacht habe? Weil die ganze Welt ihren Namen kennt?«

»Was Du jeleistet hast, mein Sohn, das is enorm – –«

»Aha! Da hast Du's, Vater! Ich habe nicht umsonst an Mutter geglaubt! So sah ihre ganze Flucht aus! Wenn sie's erst vor sich hat, dann tut sie den Schritt, den sie tun muß! Der Dir so furchtbar schwer geworden ist!«

225 »Den Schritt?« Minna rückte dem Versucher näher, und ihre Stimme klang etwas mütterlicher. »Den Schritt? – Aus allem, woran ich jewöhnt war, in Deine Riesensache? – Da, wo ich eben jewesen bin? – Ich bin 'ne alte Frau . . . Aber mächtig is es . . .«

»Siehst Du?«

»Aber das kostet doch – ich weiß nich, wie viel Millionen? . . .«

»Ich verspreche meinen Teilhabern 15 Prozent Dividende!«

»Is Vater auch dran beteiligt?«

»Ihr habt nur das Grundstück gegeben!«

»Hast Du noch unsers auf der Reichsbank?«

»Aber selbstverständlich, Minna! Daran wird nicht gerührt! Und bedenke doch, wie sich das Grundstück jetzt verzinst! Wir können jährlich mit 80 000 Mark rechnen!«

Während die anderen ängstlich gespannt in Minnas fahles Gesicht blickten, kämpfte sie rastlos gegen die Dämonen, die wieder in ihr hochkamen. Sie stützte sich auf die Armlehnen des Sessels, sie suchte vergebens ihr jagendes Herz zu bezwingen. Es umwirrte sie, was diese Stunde ihr gezeigt hatte. Below sah, wie sie litt. Noch einmal beugte er sich tröstend zu ihr nieder. »Minchen . . . Ich wollt' es doch für unsern Erben möglich machen!«

»Hast Du Dir Deinen Erben nich anders vorjestellt?«

226 »Anders ging es nicht . . .«

»Unter 'nem Erben versteh' ich nämlich den, der vor der Erbschaft Respekt hat. Der's übernimmt. Der die Arbeit seines Vaters weiterführt, so daß man janz jenau sieht, was der Vater jemacht hat, und was der Sohn jemacht hat . . .«

»Sieht man das etwa nicht, Mutter?« rief Rudolf.

»Von Vaters Arbeit sieht man nichts mehr!«

»Laß das,« flüsterte Below. »Ich wollte Platz machen.«

»Und Eure Jesellschaft – die jefällt mir nich.«

»Erlaube mal, Mutter! Unsere Gesellschaft ist erstklassig! Was weißt denn Du davon?«

»Vater hat mir im Automobil erzählt, wer dabei is . . . Ich habe alles janz jenau jehört . . . Wechsler seine Jeschichten? . . . Den kenn' ich. Ich bin keine unerfahrene Jeschäftsfrau! Erstklassig! Dein Vater – der is erstklassig!«

»Nehm' ich ihm denn etwas davon? Im Gegenteil! Ich fruktifiziere seinen Besitz, ich mach' ihn zum reichen Mann! Auch Euer gesellschaftlicher Fortschritt ist kolossal! Wo Ihr früher nur par distance einen Bückling machen konntet, das seht Ihr jetzt im eigenen Hause! Den Hof und den Hochadel! Die kommen jetzt zu Euch!«

»Mag sein – ich weiß ja nich, was Mode is. Aber zu uns kommen se nich, sondern zu Dir. Und 227 das werden se immer mehr bejreifen. Solide is es nich!«

»Mutter!«

»Das hab' ich auf'n ersten Blick jemerkt! Und das hätt' ich Dir jleich sagen können, Fritz, wenn Du mich jefragt hättest!«

»Minna –«

»Du bist durch die Jründerjahre jekommen, ohne daß 'n Stäubchen an Dir hängen jeblieben is, und jetzt jehst Du selber unter de Jründer?«

»Andre Zeiten!«

»Nee, das jlaub' ich nich! Baff war man damals auch! Ueber Nacht! Man wollte seinen Augen nich trauen! Jenau so wie heute! Und dann krachte doch alles zusammen!«

Rudolf ging zur Tür. »Das kann ich nicht länger mitanhören. Wenn Du mir durchaus nicht glauben willst, Mutter, werde ich Dir den Beweis liefern!«

»Was Du mir beweist, is mir schnuppe! Du sprichst 'ne andre Sprache als ich! Die Mittel, mit denen Du was erreicht hast, das sind nich meine Mittel!«

»Ist das mein Dank?!«

»Nee! Ich will jetzt von Vater hören, ob es ihm nich ebenso jeht wie mir! Denn sonst versteh' ich ihn ja nich mehr! Lebt denn in Dir nich auch das alte Haus? War das für Dich bloß 'n Misthaufen, 228 den man wegschippen kann, wie 'n Straßenarbeiter? Woran hängst Du denn eijentlich? An dem Jewibbel und Jekribbel da draußen?«

Below preßte den Kopf in beide Hände. »Laß gut sein! Es war eine Zwangslage! Ich konnte Dich nicht fragen!«

»Du mußtest mich fragen! Und wenn ich 'n Tod davon jehabt hätte! Ich bin Deine Frau! Wir wollten doch unsern Weg zu Ende jehen! Aber überlistet hast Du mich! Mit dem hast Du Partei jemacht, der immer hinter uns her war!«

Rudolf schlug ein höhnisches Gelächter auf. »Hinter Euch her! Das klingt ja, als ob ich Euer Feind wär! Euer böser Geist oder so was!« Martha suchte ihn zu beruhigen, aber er schob sie von sich. Er war jetzt von Zorn erfüllt, wie in verklungenen Zeiten. Der kleine Fred lief merkwürdigerweise nicht davon. Er blieb neben Minnas Stuhl stehen und starrte mit seinen großen, dunklen Augen bald auf die Großeltern, bald auf Vater und Mutter.

Minna erhob sich. »Wo is mein Haus? Wo sind meine Sachen? Hattet Ihr ein Recht dazu, 'ner alten Frau alles wechzunehmen, bloß weil sie nich da war?«

Below hielt sie am Arm fest. »Beruhige Dich doch! Alles is gut aufbewahrt! Es liegt auf 'm Speicher! Wir wußten ja nicht, wann Du wiederkommst!«

229 »Ja, wenn Ihr das jewußt hättet!«

»Verloren is doch im Grunde gar nichts! Im Gegenteil! Und ein Zurück gibt es doch nicht mehr!«

Da wandte sich Minna, so gut sie ihre Füße noch tragen konnten, zur Tür.

»Wo willst Du hin?«

Martha suchte die Fassungslose festzuhalten. »Sie bleiben doch bei uns?«

»Keine Minute länger!«

»Minna!«

»Ich suche mein Haus!«

»Um des Himmels willen! Was is Dir?«

»Ich suche mein Haus! Es muß noch da sein!«

»Halte Dich an mich! Ich bin drüber weggekommen!«

»Ja! Du! Bleib' hier, wenn Du Lust hast! Laß Dich füttern! Und wenn ich auf der Straße kampieren müßte – bei Deinem ›Erben‹ kann ich nich bleiben!« 230

 


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