Georg Hirschfeld
Die Belowsche Ecke
Georg Hirschfeld

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Sechstes Kapitel

Kinder kneten eine Schneekugel und wälzen sie über die Straße hin, bis sie zu mächtiger Größe anschwillt. Die lustigen, kleinen Leute glauben eine Art Erdball geschaffen zu haben, wenn er auch nur aus Schnee ist und, um groß zu werden, von der Straße mitnimmt, was gerade dalag. In der Sonne wird er bald zu schmutzigem Wasser. Aber auch als stattliche Kugel bleibt er unbeachtet liegen, denn Kinder haben bald wieder ein anderes Spielzeug.

Als es sich in Berlin herumsprach, daß eines der ehrwürdigsten »Lindenhäuser«, die Belowsche Ecke, fallen sollte, um einem Spekulationsbau Platz zu machen, nahm jedermann Stellung zu dieser Nachricht. So hart und unsentimental man auch in sein Berufsjoch eingespannt war, die Belowsche Sensation war etwas, wobei man sich aufhielt, freilich immer die Uhr in der Hand. Es zuckte an der Stelle, wo nach ärztlicher Meinung das Herz sitzt. Viele, die bei Below vorüberkamen, machten sich ernste Gedanken. Lange dauerte die melancholische 170 Stimmung allerdings nicht – dann fragte man schon wieder nach dem Geschäft. Man sah mit Rührung die Belowsche Ecke fallen und wartete zugleich voll Ungeduld darauf, was an der lukrativen Stätte sich erheben würde. Vom Kronprinzen, der im Automobil vorübersurrte, bis zum Sonnenbruder, der mit der Schloßwache marschierte, interessierte sich jedermann für Rudolfs Plan. Dieser hatte auf so allgemeines Interesse gerechnet, aber er verfiel doch der Täuschung, die seinem Unternehmerrausch wohltat. Sympathische Neugier bei der Aristokratie, skeptisch-philiströse bei der Bürgerschaft und schadenfrohe beim Proletariat waren nur äußerliche Faktoren, draußen auf der freien Straße. Für das Haus mußte ein Publikum erst erobert werden. Die Zuflüsse, die zu Gebot standen, waren bei allem Reichtum widersprechend. Sie konnten von dem Stil des künftigen Unternehmens kein Bild geben.

Wechsler, der Mann von überall und nirgends, hatte in märchenhaft kurzer Zeit das gesetzliche Drittel des Gesellschaftskapitals zusammengebracht. Die sieben Millionen, die vorhanden waren, wurden durch die von Wechsler verbreiteten suggestiven Gerüchte zu amerikanischen Milliarden. Der kreditierte Rest aber mutete wie die schlummernden Schätze des Erdkerns an. So allgemein auch in Neu-Berlin das Verständnis für wirklich vorhandene sieben Millionen war – die Gesellschafter, die der Rechtsanwalt zusammenzauberte, gehörten, wenn man 171 ihnen auch keine Unsolidität nachweisen konnte, allzu verschiedenen Rangstufen an. Die sonderbare Mischung im großen beruhte auf einer nicht minder sonderbaren im kleinen. In den Hauptbeteiligten lag das Problem. Hier zogen Joachim Friedrich Below, Rudolf Below und Rechtsanwalt Wechsler an einem Strange. Eigentlich gingen die Rosse nach drei Richtungen. Und in das gesellschaftliche Reich, wohin jeder strebte, kam jeder allein. Die Aristokratie interessierte sich für die Zukunft der Belowschen Ecke ganz anders als die Börse. Aristokratie und Geschäftswelt wiederum hielten sich messerscharf von den nächtlichen »Passanten« fern, deren Phantasie in Rudis Palast nur eine Stätte sah, wo lüsterne Provinzialen ihr Geld loswerden konnten.

Below hatte nach seiner Zusage an Rudolf Kampf auf Kampf zu bestehen. Die erhoffte betäubende Frische des Neuen, in der er den Sohn leben sah, blieb ihm versagt. Man antwortete ihm nicht, und er fand auch keine Zeit zu fragen. Täglich galt es, Gespenster des Alten niederzuzwingen. Die Stammtischgenossen machten es ihm leichter, als er anfangs gedacht hatte. Sie blieben, sobald die Gewißheit des Abbruchs da war, in ihrer Gesamtheit fort. Nur Berthold Ascher kam, mit offenbarer Neugier, die Pläne des jungen Below zu erlauschen. Ein bestimmtes Beifallszeichen aber konnte man dem Warenhauskönig nicht abzwingen. Er lächelte wohlwollend, doch man wußte nie, ob er 172 die Gründer auf Sand oder Felsen bauen sah. Auch vermochte Wechsler, der hier an die Grenzen seiner Ueberredungskunst kam, Aschers Beteiligung nicht durchzusetzen. Das Fortbleiben der anderen, so bequem es ihm war, beleidigte Below. Wie ein Sünder behandelt zu werden – das verdiente er nicht. Er hatte nur das Notwendige getan. Er hatte über sein eigenes Gut, nicht über fremdes, entschieden. Dieses eisige Schweigen deutete auf völlige Verurteilung hin.

Da machte sich Below eines Tages auf, die Grollenden einzeln zu besuchen und zu versöhnen. Doch niemand empfing ihn. Der Bruch war da, der historische Stammtisch hatte aufgehört.

Nun mußte Below sich ganz an die Jugend halten. Wenn das nur leichter gewesen wäre! Man behandelte ihn wie ein Anhängsel. Er sah wohl die Entwürfe des Architekten, er hörte über abenteuerliche Pläne verhandeln, aber beim eigentlichen »Machen« war er nie dabei. Auftrumpfen, gekränkt zur Seite treten, ging auch nicht. Man gab ihm nicht den mindesten Grund zur Klage. Im Gegenteil – der pietätvolle Respekt, den man ihm entgegenbrachte, war viel zu viel für Belows bescheidene Selbsteinschätzung. Brauchte man ihn denn wirklich? Nachdem man seinen Grund und Boden hatte?

Am schwersten wurde es Below, die treuen Angestellten fortzuschicken. Keiner von ihnen war 173 geeignet, den Sprung vom alten Hause ins neue mitzumachen. Rudolf inspizierte die Löffelgarde, wie er sie nannte, und entließ sie mit doppeltem Monatsgehalt. Below wich den Blicken seiner Leute aus. Als die schlimme Verabschiedung endlich vorbei war, sah er, daß ein einziger das Zimmer nicht verlassen hatte – Gottlieb Pinkert stand noch immer da, im hellen Tageslichte fahl und greisenhaft. Er blieb mit krummen Beinen an der Tür, sah wie ein kranker Hund seinen alten Herrn an und schien den Vorgang nicht zu begreifen. Da wandte sich Below entschlossen zu seinem Sohn hin:

»Pinkert bleibt doch natürlich? Von unserm Gottlieb wollen wir uns doch nicht trennen?«

Rudolf sah dem Vater an, daß er ihm nicht widersprechen durfte. Er engagierte Pinkert.

Als der Alte hinaus war, sagte Rudolf: »Dein Faktotum ist übrigens ein Original – er hat mich auf 'ne glänzende Idee gebracht. Wir werden die historische Ecke genau so, wie sie jetzt ist, in dem neuen Haus kopieren. An derselben Stelle. Wenn auch Zigeunermusik daneben ist und five o'clock-tea – die Gegensätze ziehen. In der neuen Ecke soll Pinkert bedienen. Nur seine Jacke muß er sich chemisch reinigen lassen. Antiquitäten kann man mit Handschuhen anfassen – aber wo man essen und trinken soll, muß es sauber sein.« –

Noch im Spätherbst wurde die Demolierung begonnen. Below hatte gar nicht daran gedacht, 174 sich eine neue Wohnung zu suchen. Nun stand er als Sechziger plötzlich vor einer häßlichen Obdachlosigkeit. Aber bevor ihn dieses Gefühl ergreifen konnte, hatte Martha schon Ordnung geschaffen. Sie richtete dem alten Mann in ihrer großen Wohnung am Kurfürstendamm zwei Zimmer ein, und die vertrauten Möbel darin ließen Below den Verlust seines Hauses nicht so schwer empfinden. Er willigte ein, zu Rudolf zu ziehen, obwohl er sich nicht klar war, ob sein Sohn dieselbe Freude daran hatte wie Martha. Zu dieser fühlte Below sich immer stärker hingezogen. Sein Enkelchen aber wurde ihm ein Quell der reinsten Freude.

Eine Bitternis hatte er noch zu bestehen, bevor er endgültig von der alten Ecke Abschied nahm. Seine einzige Mieterin, die Geheime Kriegsrätin von Schimmelmann, beharrte bis zuletzt in offenkundigem Protest gegen den ganzen Vorgang. Sie war von ihrem Wirt tief enttäuscht, sie sah ihn als Opfer seines Sohnes, und ihre ständige Redensart war: »Ja, wenn der Geheime Kriegsrat noch lebte!«

Da sie nicht anders opponieren konnte, blieb sie so lange in ihrer Wohnung, bis ihr das Dach buchstäblich über dem Kopfe fortgenommen wurde. Als der Himmel hereinblinzelte, weinte Frau von Schimmelmann, brach einen Zweig von der Linde ab, die an ihr Fenster reichte, und verließ die Belowsche Ecke.

175 Nun war das Haus ganz öd und leer. Mit rapider Geschwindigkeit setzte sofort die Zerstörung ein. Hacke und Spaten taten ihr Werk, und trüber Schutt wurde vor aller Augen, was fest und verborgen durch die Zeiten gedämmert hatte. Dieser Abbruch war eine einzige Indiskretion. Belowsche Wände verschmiert, zerrissen, die geblümten Tapetenfetzen mit dem Grabstaub entseelter Häuser, dem häßlichen Weißrosa, bestreut. Das gab ein Lachen und Fluchen hinter dem Bretterzaun. Wie gierig riß man den alten Keller auf – kein Wein war mehr darin, aber der Dunst stieg noch prickelnd in die Nasen. Man beneidete das Tote und schlug mit doppelter Wollust drein. An der Einfahrt in der Schadowstraße – unter den Linden hatte ein weise Polizeivorschrift den Bauzaun zu schließen befohlen – in der Schadowstraße standen immer Neugierige und sahen mit Genugtuung sinken, was so felsenfest ausgesehen hatte. In dieser Schadenfreude verstanden sich Arbeiter und Gaffer.

Nur einem Zuschauer nahmen die Fleißigen seinen Müßiggang übel. Dieser eine, der täglich kam und die Maurer ärgerte, war Adolf Wünschel. Er konnte sich an dem Anblick, daß die Belowsche Ecke fiel, nicht satt sehen. Grinsend musterte er die staubigen Ruinen und die traurigen Fensterlöcher. »Mist, Dreck, vorbei alles, alles,« murmelte er mit schmalen Lippen.

176 Der Abbruch der eigentlichen Ecke aber war ihm ein Fest. An das Neue, das an ihrer Stelle entstehen sollte, glaubte er nicht. Er stand nur da und sah dem Manne zu, der auf einem Lastwagen stand und den von fallenden Mauern niederrieselnden Schutt durch einen Bretterschacht in den Wagenbehälter leitete. Dieser Mann war ein Symbol des ganzen Abbruchs. Er hatte einen fürchterlich schmutzigen Ueberzieher an, aus dessen Tasche eine Schnapsflasche ragte. Er schimpfte frierend vor sich hin, war aber tüchtig und wollte schnell fertig werden. Plötzlich vernahm er das krankhafte Kichern des alten Wünschel, der dicht hinter ihn getreten war. Er fuhr zu ihm herum und schnauzte ihn wie einen Hund an, denn es war verboten, den Bauplatz zu betreten. Da wich der Graukopf auf die Straße zurück, lachte aber in sicherer Entfernung noch lauter und trabte davon. Er hörte, wie der Mann in dem fürchterlichen Ueberzieher ihm entrüstet: »Oller Maulaffe!« nachrief.

Kichernd und wirres Zeug stammelnd streifte Wünschel, als er in die Linden einbog, einen jungen Menschen, der wie er dem Abbruch zugesehen, aber das Stehenbleiben vermieden hatte. Wünschel kannte ihn nicht und lief weiter. Es war Hermann Below, den er getroffen hatte. Zum erstenmal stand Hermann vor der Greifbarkeit von Rudolfs Heimkehr. Er fühlte keinen Zorn, nur Trauer. Langsam schritt er in der Schadowstraße auf und ab, 177 scheue Blicke in das Innere werfend. Auch er konnte sich von diesem Anblick nicht trennen. Schließlich blieb er doch stehen und heftete seinen Blick auf die Linden des Hofes, denen man kein Leid zugefügt hatte. Ihre ehrwürdigen Kronen waren zwar beschnitten worden und mit Lappen umwickelt, aber sie standen doch da, die Bäume der Kindheit. Lange sah Hermann sie an, und seine Gedanken, die immer zu Anna flogen, brachten den Alten in ihrer Drangsal Grüße aus ihrer freien Welt. Plötzlich legte sich eine feste Hand auf Hermanns Schulter. Er fuhr herum und stand seinem Bruder gegenüber. Sie hatten sich schon gesehen, aber nur flüchtig, ohne ein Gespräch zu finden.

»Du bist hier?« fragte Rudolf mit ironischem Lächeln. »Das hab' ich mir eigentlich denken können. Was willst Du bei dem Abbruch? Vergrab' Dich nicht in die alten Geschichten. Ich habe hier zu tun, aber Dich wünschte ich erst zu treffen, wenn alles fix und fertig ist.«

»Bleiben die Bäume stehen?« fragte Hermann nach einer Pause.

Rudolf lachte. »Die sind Deine einzige Sorge! Ich weiß, was sie wert sind. Sie werden natürlich einen Ehrenplatz bekommen und eine Umgebung, die ihrer würdig ist.«

Hermann sah zur Seite, auf die Schuttwüste hinüber. Jetzt wurde Rudolf ungeduldig. »Komm' 178 doch . . . Dein Schaukelpferd von Anno dazumal konnte ich nicht aufbewahren, tut mir leid – auch die Galerie ist verschwunden. Für mich gibt es kein gefühlvolles ›Weißt Du noch?‹, ›Erinnerst Du Dich?‹, denn das wolltest Du doch eben sagen?«

»Für Dich gibt es nur ein ›Wissen Sie schon?‹, ›Haben Sie schon gehört?‹«

»Kerl, Du hast eine scharfe Zunge! Hab' ich Dir gar nicht zugetraut! Uebrigens, Dein Buch – die Phrase von der Heimat – gut geschrieben, aber total überspannt.«

»Ich schreibe jetzt andere Bücher.«

»So? Hast Du umgesattelt? Predigst Du nicht mehr die ›Flucht aus der Großstadt‹?«

»Ich predige überhaupt nicht mehr. Ich brauchte die Flucht für mich. Ich mußte erst lernen, was andere Menschen brauchen.«

»Entschuldige – das ist mir ein bißchen zu hoch! Das versteh' ich nicht! Willst Du nicht mal über mich was schreiben? Der Einsiedler über den Antihistor? Das wär' doch famos!«

»Das tut schon Herr Kretschmar im Mitternachtsblatt.«

»Bitte sehr, damit hab' ich nichts zu schaffen. Es ist eine Frechheit von dem Kerl, daß er sich Antihistor nennt. Unter dem Namen wollte ich schreiben. Aber schreiben – pfui Teufel – ich handle lieber.«

179 »Da hast Du recht.«

»Das sagst Du sogar? Ein Schriftsteller? Du wirst Dich wundern, mein Junge, wie ich handeln werde. Vor Deiner Skepsis fürcht' ich mich noch lange nicht. Wüstenlöwe! Hu! Was macht'n die Löwin? Wohl nett in Eurem Nest?«

»Rudolf –«

»Dein Ton! Ja, nimm' mir's nicht übel! Zu Zweien hab' ich Verständnis für die Wüste! Buen retiro! Schaff' ich mir auch noch an! Aber vorläufig heißt's arbeiten. Ich siege über alle Zaungäste. Paß mal auf. Na, wohin willst Du denn auf einmal? Was hast Du denn? Hab' ich Dich beleidigt?«

»Ich denke –«

»An Vater? Der ist sehr zufrieden.«

»Nein – ich denke an Mutter.«

»Ach was! Die ahnt nichts! In Strausberg!«

»Wer weiß das, Rudolf? Es lastet doch auf uns allen – – fühlst Du's nicht auch? Es ist ja ungeheuerlich – daß sie nichts weiß.«

»Was denn! Seid doch nicht so pathetisch! Wenn die Frau es erfährt, dann wird sie sich keine ekligen Trümmer angucken, wie Du hier, sondern etwas –! Na! Es lastet absolut nichts! Gar nichts! Geschieht alles zu ihrem Besten!«

Hermann gab plötzlich seinem Bruder die Hand – dann eilte er fort. Kopfschüttelnd sah Rudolf ihm nach. »Verrücktes Huhn. Du bringst die Karre 180 auch nicht weiter,« flüsterte er. Nach kurzem Sinnen trat er bei Hiller ein, um sich für eine Auseinandersetzung mit dem schwerfälligen Fork zu stärken. –

In Strausberg merkte man nur wenig von den Ereignissen der Weltstadt. Das alte Städtchen ging seinen gemächlichen Lebensgang, ringsherum lag schwere, märkische Erde. Natürlich interessierte man sich, wie überall in der Provinz, außerordentlich für die Ereignisse in Berlin. Wer dort gewesen war, rückte in der allgemeinen Achtung auf, und wer das Paradies noch nie erreicht hatte, baute daran in seinen buntesten Träumen. Aber die Mittlerrolle spielten die Zeitungen. Unternehmungslustige Strausberger hielten sogar Berliner Blätter. Im beschaulichen Kleinstadtleben spiegelte sich das Treiben der Millionenstadt sehr angenehm. Man sprach über alles, als ob man dabei gewesen wäre. Professor Armin Kessel aber, der Begründer der Heilanstalt in Strausbergs Nähe, begründete sein System auf das Gegenteil. Er verordnete vollständige Ahnungslosigkeit. Bis in das Kesselsche Waldrevier drangen die verführerischen Zeitungen nicht. Und was das Merkwürdigste war, es gelang dieser suggestiven Persönlichkeit, dem nervösesten Berliner die Neuigkeiten abzugewöhnen, ohne daß er stumpf und resigniert wurde. Genesung von der Großstadt, Vergessenheit von allen Schmerzen und Sorgen – dies war das Ziel. Kessel duldete den schriftlichen und mündlichen Verkehr mit den 181 Angehörigen der Kranken. Aber es gab keinen Brief und keinen Besuch, der seine Zensur nicht passiert hätte. Auch dies gelang dem seltenen Arzt, ohne Mißtrauen und Widerspruch zu erregen. Kein Gatte war der Gattin hier so viel wie »der Professor«. Dabei verlor sich keine Seele bei ihm. Er war vielmehr der beste Mittler, wunde Ehen zu heilen, zürnende Herzen auszusöhnen. In diesen nimmermüden Idealmann war jedes kranke Herz verliebt. Armin Kessels »Methode« war heilig. Man ließ sich gern so himmlisch überlisten. Ruhe, tiefe, kernfrische Waldesruhe war sein Rezept. Hier schwieg die Welt. Je leiser der Wahn, desto lauter das Echte und Dauernde.

Auch Minna Below erfuhr nach einiger Opposition die Wunderwirkung des Arztes. Es war, als hätte er ihr die Hand aufs Herz gelegt und es erneuert. Es ging ihr jetzt viel besser. So viel sie auch an ihren vereinsamten Mann denken mußte und alle Pflichten, die sie im Stich gelassen – die große Notwendigkeit der Genesung beherrschte doch ihr Gemüt, sie erfuhr zum erstenmal die goldene Macht des Egoismus. Minna ging noch über die Vorschriften des Arztes hinaus. Sie mied auch die Geselligkeit, die erlaubt war. Nur mit ihrer Pflegerin, einem schönen, stillen Mädchen aus adligem Hause, sprach sie. Der erzählte sie alles von ihren Kindern. Wenn sie mit Schwester Margarete Arm in Arm im Walde spazieren ging, am Teich 182 vorüber, dann rang sich manchmal aus Minnas Seele hervor: »Herrjott – Berlin! Der Hermann hat doch recht!« Schwester Margarete lächelte. Sie kannte Berlin nicht, aber sie verstand die Genesende vollkommen. Es tat Frau Below wohl, ihr ihren Mann zu schildern, der in der Waldesstille sich zum reinen Bilde formte. Ja, sie liebte Joachim Friedrich, wie sie ihn als Braut geliebt hatte. Rudolfs Verschollenheit, Ernas glitzernder Ruhm, Hermanns Abkehr – in wundersame Verschlingungen sah Schwester Margarete. Minna Below genas im Strausberger Walde. Sie kam sogar dazu, ihren alten Humor wiederzufinden. Sie belustigte ihre Pflegerin oft durch treffsichere Beobachtung der Leidensgenossen. Geheimrat Piek, der ständige Krakeeler der Mittagstafel, Fräulein Brecheisen, die sich täglich vor der Massage fürchtete, Studiosus Dippel, der für Fußtouren schwärmte und sich jedesmal etwas verknaxte, Doktor Lohmeyer, der interessante Mann mit der kunsthistorischen Bildung – all diese Sanatoriumstypen nagelte Minnas Berliner Witz so plastisch fest, daß man oft ein lustiges Gelächter im Park der Kranken hörte.

Doch diesen Tagen gemütlicher Befreiung folgten, als es herbstelte, auch trübe, von schweren Gedanken beschattete. Die Selbstvorwürfe Minnas wagten sich trotz des Professors energischem Trost wieder hervor. Sie war zu sehr Berlinerin, um die Gefahr, ihr Bestes im rücksichtslosen Getriebe 183 gelassen zu haben, nicht ganz zu empfinden. Und etwas anderes kam dazu. Ihre Nerven, die einst von Pflichten dicht umwickelt waren, verfeinerten sich, da zarte Hände sie enthüllt hatten. Sie sah ihr altes Haus, das traurige Antlitz ihres Gatten im Schimmer der Waldgänge. Sie glaubte alles zu sehen, was in der Ferne geschah, als ob sie dabei wäre. Nichts Gewisses trat ihr entgegen – nur ein Druck, eine Ahnung, das Gefühl etwa, das jemand auf glücklicher Meerfahrt hat, der plötzlich sein Haus in Flammen sieht. Dabei wußte sie nicht einmal von Rudolfs Rückkehr. Anfangs wollte man ihr diese Neuigkeit wenigstens beibringen. Hermanns Sanftmut sollte das schwierige Werk übernehmen.

An einem bewölkten Septembertage kam er nach Strausberg. Er fand seine Mutter in ihrer stillen Stube emsig mit einer Handarbeit beschäftigt. Hermann hatte sich auf der Fahrt sorgfältig vorbereitet – ein Lebensdrama zu dichten wurde ihm nicht schwer. Die Motive von Rudolfs Rückkehr, die Möglichkeiten, die sich daraus ergaben, hatte er recht plausibel beisammen. Erst als er seine Mutter in ihrer goldenen Wahrhaftigkeit vor sich sah, wurde er vom Unbeirrbaren beirrt und beging sofort einen Fehler. Er fragte sie interessiert: »Woran arbeitest Du denn da, Mutter?« Sie antwortete lebhaft: »Weißte, Hermann, ich will nu endlich mal die janze Wäsche vom Restaurant in Ordnung bringen. Es is zwar verboten, ich soll hier nich an so was denken, 184 aber ich kann's nich mehr aushalten. Ich mach' jetzt Bänder für de Servietten. Alles kriegt sein Schubfach, damit ich mal janz jenau weiß, was wir haben. Wenn ich dann zurückkomme, brauch' ich bloß zuzujreifen. Das is doch fein, nich wahr?«

Hermann saß mit gesenktem Kopfe vor ihr. Was er auf der Fahrt gedichtet hatte, fiel ihm wieder zusammen. Er wußte selbst nicht, warum. Die Mutter lebte eben eisern im ›Wirklichen‹. Jetzt sollte er von Rudolf sprechen? An das ganze Ungeheure rühren, was sich vollzogen hatte und immer noch vollzog? Die Mutter ahnte keinen Zusammenhang, aber der Begriff Rudolf konnte wie ein Sturmwind ihr stilles Gemüt aufstören. Wie recht hatte der Professor. Wie groß war diese »Kur«.

»Was is Dir denn, Hermann?« Minna richtete ihren Blick auf den Sohn. Sie verwirrte ihn völlig; ihr eben noch gesund gerötetes Gesicht wurde fahl, sie sah ihn aus der Tiefe an. Schlaff ließen die Hände die Arbeit sinken. »Nu sage mir mal, Hermann, was is zu Hause eijentlich los? Was is mit Vater? Warum kommt er nich mehr? Warum schreibt er so selten? Ich hab' ihm doch nichts jetan. Ich kann doch nichts dafür, daß ich hier sitzen muß und faulenzen.«

»Aber Mutter . . .« Hermann nahm sich gewaltsam zusammen. »Nichts ist zu Hause. Alles in Ordnung. Vater hat so viel zu tun. Ich seh' ihn 185 ja auch selten. Wir wollen jetzt von was anderm sprechen.«

»Von was anderm?«

»Von Anna, nicht von Berlin.«

»Ja, das is auch besser. Du bist nu mal kein richtiger Berliner, Hermann.« –

Hermann mußte, ohne etwas ausgerichtet zu haben, fort. Als er dem Professor das Resultat seines Besuches mitteilte, sagte dieser mit einem feinen Lächeln: »Sehen Sie, Herr Below – das habe ich gewußt. Lassen Sie sie nur.« – So kam es denn nicht anders:

Im Winter mußte Joachim Friedrich wieder einmal selbst nach Strausberg fahren. Im Schneesturm kam er an und war so müde, so sehnsüchtig und aussprachebedürftig, daß er fast die ganze Maske vergessen und Minna alles gestanden hätte. Im letzten Augenblick noch nahm er sich zusammen und hielt ihre schrecklichen Fragen aus.

»Was machen die Bäume?«

»Sind beschnitten worden.«

»Aber auch vorsichtig?«

»Natürlich, Minna. Die stehen wie die langen Kerle in Potsdam.«

»Na und die Schimmelmann? Hat sie noch Mäuse?«

Below lächelte, aber es riß ihm ins Herz hinein.

186 »Nee, Minna. Keine einzige mehr. Ich bitt' Dich, im modernen Berlin.«

»Was heißt das? Hältst Du unsere olle Kommode fürs moderne Berlin?«

»Gewiß nich. Nee, liebes Kind . . .«

»Na also . . . Was machst Du denn für'n komisches Gesicht?«

»Erlaube –«

»Du rückst ja immer so hin und her? . . . Is was passiert zu Hause?«

»Nich das geringste . . . Unser Estèphe is fein geworden . . . Hochfein.«

»So? Und der Mâcon?«

»Das weiß ich noch nich.«

»Du verwechselst das, Fritz. Der Mâcon war doch schon lange fertig. Den hab' ich ja noch mit abjezogen. Aber der Estèphe –«

»Is ja egal – –«

»Egal?«

»Dem Weinschenk seine Schwester is in Oranienburg gestorben.«

»Entschuldige, das interessiert mich nu weniger..«

»Und Bülow – na ja – mit Politik – da soll man Dich ja verschonen.«

»Mit Politik laß mich in Ruhe, Fritz.«

Der Professor erschien in der Minute, die er mit Below verabredet hatte. So war die Pein zu Ende.

187 Minnas Kehle war wie zugeschnürt. Das Versteckte, nicht das Verratene riß an ihrem Herzen.

Below nahm Abschied. Ihm schwindelte, er hatte das häßliche Gefühl, an seinem Rock untilgbare Spuren des Mauerschutts zu tragen, von dem Minna nichts ahnen durfte. Er hörte Kutscher fluchen, Wagenräder im Staube knarren und Hacken schlagen. Mit großen, gleichsam wunden Augen gab er Minna einen matten Kuß. »Leb wohl, mein Kind! Halt Dich gut. Auf Wiedersehen.« Der Arzt geleitete ihn hinaus. 188

 


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