Georg Hirschfeld
Die Belowsche Ecke
Georg Hirschfeld

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Erstes Kapitel

Am Stammtisch des Weinhauses Jonathan Below, Unter den Linden, Ecke der Schadowstraße, entstand eine lebhafte Bewegung. Man hatte sich eben erst von einer hitzigen Debatte erholt, die um das Hauptthema der neunziger Jahre, Bismarcks Entlassung, entbrannt war. Eben noch waren die alten Herren, den letzten Groll zu Tabakswolken verpaffend, in stilles Brüten versunken und dem Rotspon hingegeben, als es wie ein Lichtstrahl in all den Dunst kam und Versöhnung brachte. Man blickte auf. Hauptmann v. Weinschenk, der Kriegsinvalide von 1870, war in Bismarcks Interesse heiser geworden und mußte sich tobend räuspern. Professor König, der Achtundvierziger, glaubte den Gott der Junker endgültig gestürzt zu haben und lächelte ganz jugendlich vor sich hin. Herr Rösicke, Wäschefabrikant und Hoflieferant, tat etwas Besonderes beim täglichen Stammtischschlummer – er rekelte sich und machte die Augen auf. Joachim Friedrich Below aber, der wie gewöhnlich der Debatte ausgewichen 8 war und auf die Linden hinausblickte, drehte sich überrascht um.

Nur Gottlieb Pinkert, der älteste Kellner, reagierte nicht auf die Sensation für den Wirt und die Gäste. Er schlurfte wieder in das Hauptzimmer, um bei Mutter Below am Büfett zweimal »frische Wurscht« zu bestellen.

Was war geschehen? War ein neuer Gast erschienen? Ja. Doch keiner, der sich in der Belowschen Ecke niederließ – das wußte man genau. Obwohl er in dem ehrwürdigen Hause geboren war. Der hübsche Rudi, Belows ältester Sproß, der Achtzehnjährige. Man sah ihn immer nur über die alte Wendeltreppe in die elterliche Wohnung eilen, ein seltsam buntes Element in dem grauen Winkelgebäude. Ein Moderner, ein Kavalier, fast schon ein Gigerl, wie man sie nach Wiener Muster auch in Berlin nannte. Die alten Herren machten ganz verliebte Gesichter. Selten kriegte man den netten Jungen hier zu sehen. Nun auf einmal war er erschienen. Rudi Below war bei den strengsten Respektpersonen beliebt, obwohl man eigentlich nur von ihm wußte, daß er auf der Presse mit Mühe sein Einjähriges bekommen hatte und nichts mehr tat, als auf Vaters Kosten zu bummeln.

Er sah seinen »Alten« durch den plötzlichen Besuch in guter Laune. Das freute ihn. Der schlanke Junge mit dem glattgescheitelten Kopf, der feinen, geraden Nase und den grauen, etwas harten Augen 9 setzte sein anmutigstes Lächeln auf. Er schien zu fühlen, daß er den alten Kannegießern, die hier jeden Abend um die großen Dinge der Zeit stritten, ihre Mißstimmung zerteilte und als leibhaftiger Vertreter der Jugend versöhnlich wirkte.

»Da kommt ja ein seltener Gast,« meinte Joachim Friedrich Below. Niemand bemerkte, wie nervös es dabei um seinen Mund zuckte. »Junge! Was willst Du denn hier?«

Rudis mageres Antlitz errötete. Dann erwiderte er mutig:

»Mutter schickt mich. Du möchtest doch mal nach oben kommen, Vater. Sie hat was mit Dir zu besprechen.«

»Mutter? Na, das is aber neu! Die sitzt doch nebenan am Büfett? Da kann ich doch gleich zu ihr rüber –«

»Nein, Vater. Bitte – es geht nur oben. Ich geh' mit Dir 'rauf . . .«

»Ach, Du kommst mit? So, so . . .« Below wandte sich mit unbestimmtem Ausdruck zu den neugierig lauschenden Gästen. »'ne kolossal wichtige Beratung, meine Herren. Die Einsegnung meiner Tochter. Die Jungens wollen ihr 'ne kleine Festivität machen. Hermann, der große Dichter, hat wahrscheinlich was verbrochen. Ja, ja. Da muß ich wirklich um Entschuldigung bitten. Höhere Order –«

»Jeh' man, Below,« brummte Hauptmann v. Weinschenk. Die anderen lachten.

10 Mit etwas verlegner Miene begab sich der Wirt hinter seinem Sohne hinaus. Wohlgefallen folgte den beiden.

»Janz famose Rasse,« flüsterte der Hauptmann. »Hat das Beste abbekommen.«

»Von Vater und Mutter,« meinte Herr Rösicke.

»Das ist eine Familie vom alten Schrot und Korn. Wie viel gibt es noch davon in Berlin?« sagte Justizrat Brotbäcker, ein Notar, der leicht pathetisch wurde. »Es ist eine Freude, sie Sonntags alle in die Kirche gehen zu sehen.«

»Na, ich weiß nicht,« zischelte da plötzlich Professor König.

Weinschenk schlug mit der Faust auf den Tisch. »Nanu? Sie oller Pädagoge? Was haben Sie denn jejen Below junior?«

»Nichts Bestimmtes. Mit gütiger Erlaubnis! Aber ich erinnere mich von meinen Schülern her – in solchen Augen liegt Gefahr.«

»Für wen?«

»Für ihn und für alle, die mit ihm verbunden sind!«

»Da höre einer! Was meinen Sie dazu, Herr Ascher?«

Der Befragte, Berthold Ascher, Warenhausbesitzer aus der Königstraße, wiegte seinen häßlichen, aber bedeutenden Kopf. Er war der einzige Israelit am Belowschen Stammtisch, doch sein Urteil galt am meisten.

11 »Ich bin nicht maßgebend,« sagte er. »Meine Kinder sind anders erzogen.«

Nachdenklich schwiegen alle.

»Jeleuchtet hat er aber, wie der Junge plötzlich vor ihm stand,« sagte dann der Hauptmann. »Er is doch stolz auf ihn. Es is die Jugend. Wir sitzen hier und quasseln. Der jeht einfach auf die Straße 'raus. Der amüsiert sich und läßt 'n lieben Jott 'n juten Mann sein.«

»Wer weiß, was Vater und Sohn jetzt miteinander zu reden haben,« meinte Professor König düster.

»Mutter is ja auch dabei.«

»Ja, ja . . .«

 

In dem alten Wohnzimmer im ersten Stock, zwischen den gelbbraunen Biedermeiermöbeln, stand inzwischen Rudi Below seinen Eltern gegenüber. Nun waren sie völlig verändert – er sowohl wie sein Vater. Auch die Mutter wäre von den Gästen jetzt kaum als die immer heitere und rührige Wirtin erkannt worden. Ihr Asthma war stark. Sie schluchzte und rang nach Atem. Sie wollte so viel sagen, ihrem Jungen beistehen gegen den gefährlichen Zorn des Vaters, aber sie war nicht dazu imstande. Sie setzte sich und rang ihre Hände im Schoß. Rudi stand bleich an der Tür, von finsterem, unbeugsamem Trotz durchbrannt.

»Man leise, leise,« sagte Below, sich auf einen Stuhl stützend. »Daß es nich noch unter die Leute 12 kommt, die Schande, die Du Nichtsnutz über uns bringst . . .«

»Die Leute – Du denkst immer bloß an die Leute, Vater – an mich denkst Du nicht. Ich bringe keine Schande über euch.«

»Nee wirklich nich, Fritz,« flüsterte die Mutter.

»Sei Du man stille! Ihr macht Partei gegen mich! Ich lass' mir nich zum zweitenmal in die Kasse manschen! Sowas gibt's nich bei Below! Der Junge kriegt, was er zu kriegen hat! Für Schlemmer und Spieler, die sich die Nächte mit Frauenzimmern 'rumtreiben, hab' ich nich zu sorgen!«

»Du hörst mich eben nicht an, Vater. Das sind doch Ehrenschulden . . .«

»Ach, Quatsch! Ehrenschulden! Mit achtzehn Jahren! Ich weiß ganz genau, was es is! Wenn ich nich so'n milder Vater wär', und wenn Mutter hier nich – 'runterlangen müßte man Dir eine –!«

»Fritz! Fritz!«

»Ich tu's ja nich! Sei man ruhig, Minchen! Reg' Dich nich so auf! Denk' an Dein Herz! Das is der Junge wirklich nich wert!«

Rudolf wandte sich zur Tür. »Was ich wert bin, weiß Mutter, und ich werde mich hier keiner Beleidigung aussetzen. Vor den Gästen bist Du zuckersüß, und wenn wir unter uns sind –! Ach Gott, das kenn' ich ja! Ich weiß ja, heucheln soll man, immer bloß was vorlügen, nie so sein, wie man ist! Aber das war früher Mode, Vater! Jetzt 13 kommt 'ne andre Zeit! Jetzt heißt es Farbe bekennen! Jetzt –!«

»Halt Dein Maul oder –!«

»Fritz!«

»Ich geh' schon! Ich möchte Dir nur noch das eine sagen: Mutter hat es Dir ja auch schon gesagt: Ich bin Dein Sohn! Ich heiße Rudi Below! Spielschulden müssen binnen 24 Stunden bezahlt werden! In der Beziehung hab' ich dieselben Verpflichtungen wie 'n lumpiger Leutnant, der Dir wahrscheinlich mehr imponiert! Morgen abend um 10 Uhr muß ich die 670 Mark haben! Bar auf den Tisch, Vater! Ich will aus Rücksicht auf Mutter nicht sagen, was geschähe, wenn –«

»Geh' jetzt!«

Rudolf verließ das Zimmer. Man hörte ihn bald leichtfüßig die alte Wendeltreppe hinuntereilen. Nun ging er wieder auf die Linden hinaus, zur Friedrichstraße, ins nächtliche Leben . . . Die Eltern sahen sich schweigend an.

»Ach, Fritzchen,« stöhnte Minna. »Warum man bloß mit dem Jungen so viel auszustehen hat.«

»Da is nichts zu machen. Das muß man auf sich nehmen. Die Leute wissen ja nichts.«

»Willst Du's noch mal bezahlen?!«

»Natürlich, Minna. Aber es ist das letztemal. Du glaubst doch auch, daß es das letztemal is?«

»Ja, Fritz. Ich kenne Rudi.« 14

 

So sah es in der Belowschen Ecke aus – Parterre und im ersten Stock. Das Bild solidester Fleißesruhe, das diese Familie bot, war im Innersten angekränkelt. Mit peinlichster Angst überwachten Joachim Friedrich und Minna die konsequente Täuschung der Außenwelt. Sie waren geschickte Lebenskomödianten. Solange sie sich selber treu blieben, meinten sie, konnte ihnen nichts geschehen. Aber sie täuschten sich in dem Wesen der Stadt, das allmählich um ihr Dämmerleben herum erwachsen war. Sie täuschten sich auch in ihrem Kinde, das ein Geschöpf dieser Stadt war. Nützte es etwas, einen talentvollen Faulpelz von der Schule auf die Presse zu bringen? Er erreichte das Einjährigen-Zeugnis, aber sein rücksichtsloser Trotz wuchs im geheimen. Brachte es Segen, daß man Below junior, der abends gern von der rechten Lindenseite auf die linke ging, den Hausschlüssel nahm und sein Taschengeld auf ein Schülervermögen reduzierte? Er war achtzehn Jahre alt, er ließ sich einen Extraschlüssel anfertigen, und der Zauber seiner Persönlichkeit eröffnete ihm einen Kredit, der über die Markstücke der Eltern lächeln konnte. Rudi Below war schön. Die Frauen liebten ihn, wo er sie traf. Er ergab sich einer gefährlichen Lebensanschauung: aus den Augen, aus dem Sinn.

Solange Rudi etwas für sich erreichen konnte, machte er die Gebräuche der Eltern mit. Er besuchte jeden Sonntag mit ihnen die Kirche, sittsam, ein 15 Gesangbuch in der Hand. Er zeigte sich auch zuweilen im Weinlokal. So galt er als ein wohlgeratener Below.

Dieses Einverständnis in der Heuchelei erzeugte natürlich tiefste Trennung im Wahren. Denn hier war Rudi nicht zu halten – das wußten seine Eltern. Er ging ihnen durch, wie ein gefangenes Tier, das groß genug geworden, um über den Zaun zu setzen. Auch an seinen Geschwistern konnte er keinen Halt haben. Die lebten unter dem gleichen Druck wie er. Belows waren schlechte Pädagogen. Die sechzehnjährige Erna hatte die Höhere Töchterschule verlassen und irrte nun als Hauskind, das überall nützen sollte, in der alten Wirtschaft umher. Aber es blühte in ihr und kam ihr aus jedem Winkel blühend entgegen. Man beachtete das hübsche Kind fortwährend, aber man leitete sie nicht. Es stand im Hause Below felsenfest, was eine Tochter zu tun und zu lassen hatte.

Auch Hermann, den zwölfjährigen, scheuen Gymnasiasten, vertraute man ganz seinem Traumleben. Er zeichnete und dichtete. Er baute sich Häuser, große, phantastische – ganz anders als die Belowsche Ecke. Er war auch Geiger. Da er aber im Gymnasium Sekundus blieb, war man mit ihm zufrieden und überließ ihn seiner Dämmerung.

Rudolf ging entschlossen an Eltern und Geschwistern vorbei. Er wußte, wohin er gehörte. Dort, wo das Neue war, das glitzernde Leben der 16 Nacht, das kalte, bleiche Licht und die duftenden Frauen. Ihm zerfiel der alte Sündebegriff. Er war stolz auf seine Erfahrung. Wer immerfort im Dunkel der Wohlanständigkeit saß, konnte das Leben unmöglich kennen lernen. Auch ihn verurteilte man, weil er andere Wünsche hatte als die Philister. So hielt er sich denn an die, die ihn »verstanden«.

Sein künftiger Beruf, der ihn als Nachfolger in der Belowschen Ecke designierte, kümmerte ihn nicht. Mochten seine Eltern dort Geld verdienen – für ihn war es nichts, er ließ sich für so etwas nicht opfern. Mit allen Nerven atmete Rudi das andere Berlin, das neue, große und rastlose. Wenn es ihn haben wollte! . . .

Aber er war ja noch jung, er wollte sich vor allem austoben. Verzweifelt aber mußte er erkennen, welche Hindernisse ihm in den Weg gelegt wurden. Sein vornehmes Bürgerblut neigte dazu, sich der jungen Aristokratie anzuschließen, deren Eltern seinen Eltern so vertraut waren. Aber der nächste Anschluß, an das Militär, war Rudi versagt. Ein schwerer Rippenbruch, den er beim Reiten davongetragen, machte seinen stahlfesten Körper untauglich. So entging ihm, was er in Wahrheit als Soldat gefunden hätte – nicht Trunk und Spiel, nicht bunte Eitelkeit – ein gesundes Pflichtenleben: das hätte die Seite seines Wesens gepackt, die daniederlag. Er mußte Zuschauer bleiben. Er blieb auch als Privater ein Bürgersohn, so sehr er sein Aeußeres auf 17 den Adligen stutzte. Seine Mutter saß am Büfett, und Vater verkaufte den Bekannten Rotwein. Man war freundlich gegen ihn, aber man lud ihn nicht ein, und feudale Klubs blieben ihm so fern wie seinem Vater das Arbeitszimmer des Kaisers.

So mußte er denn niedersteigen, und wie willkommen er auch geheißen wurde, seine neuen Kumpane hießen nicht Alvensleben und Plüskow, sondern Mayer und Schröder. Ein schlimmerer Konflikt entstand in seiner Brust – hier mangelte ihm nicht das Wappen, sondern das Geld. Er kam in eine fidele Gesellschaft hinein, die Ererbtes und Erborgtes mit losen Händen streute. Gabrielle, eine entzückende, französische Sängerin, die man dem hübschen Below nicht streitig machen konnte, forderte ein Vermögen. Rudi brannte der Kopf. Er wagte eine Attacke gegen den Geldschrank des Vaters. Aber Joachim Friedrich blieb so fest wie immer. Als die schwach gewordene Mutter einen heimlichen Griff für ihren Liebling wagte, kam es zu einer Szene, die dem elterlichen Leben fremd war. Kein Außenstehender hätte sie den Belows zugetraut. Erna, die an der Tür gehorcht hatte, floh auf nackten Füßen in ihr Bett zurück. Hermann saß noch wach am Arbeitstisch. Mit großen Augen starrte er in etwas, was fremd und drohend zu ihm herüberdrang.

Belows glaubten allzu gern, daß es »besser« wurde. Sie fuhren tief in ihrem Geleise. Aber den kühlen Tugendbauten der Linden waren die heißen 18 Lasterhöhlen der Friedrichstadt benachbart. Rudis Flucht blieb so bequem, wie sie gewesen war. Taumelnd erfüllte er Gabrielle jeden Wunsch, und im letzten Augenblick fand er eine Hilfsquelle – er wurde in einen Spielklub aufgenommen. Bei seinem angeborenen Glück enthob dies Rudi aller Sorgen. Einige Monate wenigstens – dann wurde er in einer Nacht wieder los, was er sich mühsam erobert hatte. Rudi wollte das Schicksal zwingen, aber es blieb treulos. Bis er eines Tags nicht aus noch ein wußte. Er entdeckte sich seinen Eltern. Noch einmal, zum letztenmal, wurde die Schuld bezahlt. Aber das war nur die Lockung zu neuen Spielnächten. Dennoch bewahrte den Jüngling, mit dem die Zukunft etwas vorhatte, sein guter Geist vor dem Untergang. Er hatte nämlich einen gefunden, ohne ihn eigentlich gesucht zu haben. –

In der Friedrichstraße, unweit der Leipziger Straße, blühte um jene Zeit das Handschuhgeschäft von Adolf Wünschel. Der etwas verwachsene, immer fleißige Besitzer stand seit vielen Jahren auf seinem bescheidenen Posten, aber das Hoflieferantenwappen der Belows besaß er nicht. Adolf Wünschel war immer ein Revolutionär gewesen. Seine Kundschaft war wahllos, wenn auch solide – er lächelte über menschliche Torheiten und Standesunterschiede. Ein philosophischer Skeptiker, kaufte Wünschel nur dauerhafte Moden ein und hielt, ganz unspekulativ, nur das Notwendigste auf seinem Lager.

19 Wünschel hatte schon viel Unglück gehabt. Seine Frau war ihm jung gestorben, und sein Sohn war ihr bald nachgefolgt. Aber er hatte eine Tochter, die man nicht für das Kind dieses Vaters halten konnte. Martha Wünschel war schlank und hübsch. Sie wurde der unersetzliche Schatz des Handschuhgeschäftes. Mochte ihr Vater noch so gute Waren führen – die wahre Anziehungskraft seines Ladens war Martha. Das liebten die Herren gar zu sehr, vor ihr am Ladentisch zu stehen, ihrer duftigen Anmut nahe, und von der ernsthaft Blickenden sich das widerspenstige Leder an die Finger massieren zu lassen.

Auch Rudi Below gehörte zu diesen Verehrern. Zufällig nur war er, der sonst Kunde ganz anderer Geschäfte war, in Wünschels Laden gekommen. Sein Instinkt spürte in der hübschen Handschuhverkäuferin ein Wesen, das in seinen Bann geraten konnte. Martha war anders als die Frauen, die er sonst schon kannte, aber ihr fehlte auch merkwürdig stark die Philistertugend, die Rudi verachtete. Sie trug eine freudlose Jugend bei ihrem verbitterten Vater, der immer nur Pflichten forderte. Sie mußte den ganzen Tag, wie eine Gelähmte, bei ihrer Arbeit bleiben. Der Vater hatte scharfe Augen. Er hütete argusgleich seine kostbare Verkäuferin. Ging es dem Mädchen nicht ebenso wie Rudi, dem Knaben, in seiner gärenden Kraft?

Rudi hatte den Duft des Lebens, das Martha nur sah. Aus seinen blassen Zügen sprach das 20 Ringen der Nächte, die dem Stubenhocker Sünde, dem Freien die Welt hießen. Martha wußte nicht, wie ihr geschah. Als sie zum erstenmal vor ihm stand und einen feinen Wildlederhandschuh über seine aristokratischen Finger zog, sah sie ihm zufällig in die Augen. Sofort schoß das Blut wie ein Strom in ihr Antlitz. Sie wußte, daß sie erwacht war, und sehnte sich jeden Tag nach seiner Wiederkehr. Er kam. Er spürte in völlig anderer Weise als sie den Halt seines Lebens. Sie verständigten sich, und eines Abends, als Vater Wünschel eine kleine Geschäftsreise unternommen hatte, holte Rudi Below das hübsche Fräulein ab. Martha handelte zum erstenmal gegen den Befehl ihres Vaters; sie ging nicht in ihr Zimmer, sondern schloß den Laden von draußen zu und folgte Rudi in ein leuchtendes Theater.

Sie spürte, daß er schwer bedrückt war. Je freier und glücklicher er durch ihre Frische wurde, desto mehr empfand sie, daß an seinem Kern ein böser Feind nagte. Solange er der altkluge Lebejüngling blieb, der ihr imponieren wollte, verhielt Martha Wünschel sich abwartend und lächelte ein wenig über ihn. Erst als Rudi, seiner Jahre würdig, richtig grün wurde, wirres Zeug schwatzte und große Projekte entwickelte, wurde es ihr warm ums Herz. Sie fühlte eine tiefe Zärtlichkeit für ihn.

Nach dem Theater saß sie ihm im Spatenbräu gegenüber, zum erstenmal mit einem jungen Herrn 21 im Restaurant. Was ihre Freundinnen alle schon riskiert hatten – für sie war es Neuland. Aber ernst blieb ihr Sinn; sie schloß mit Rudi Below Kameradschaft. Hingegeben lauschte sie ihm und genierte sich, wenn sie seine fein polierten Nägel sah, über ihre vom Nähen zerstochenen Finger. Er kam überhaupt aus einer höheren Welt, aus der Belowschen Ecke, und seltsam genug, er haßte diese Welt, er suchte sich mit allen Kräften ihrer zu entledigen.

Sie wollte ihn erst beruhigen, aber allmählich fühlte sie doch, daß er recht hatte. Sie lernte von ihm. Auch sie war eine Geknechtete – bald sah sie ihren Vater mit seinen Augen an. Das große Mitleid und die Leidenschaft erwachten in Martha. Sie war von ihrem Bunde beseligt. Und angstvoll rang in ihr die Frage, die ein Mädchenherz nicht zu stellen wagt: Besaß sie noch die Kraft, den schönen, unglücklichen Menschen zu retten? Von Gabrielle sagte er ihr nichts. Aber ihr Instinkt empfand, daß eine Gabrielle hinter all seinen Nöten stecken müßte. Martha war ein Berliner Kind, Erziehung und Sitte trennten sie nur mit einem Schleier von den Abgründen des Lebens.

Adolf Wünschel merkte natürlich, daß Rudi Belows Besuche nicht seinen ausgezeichneten Handschuhen galten. Er sah auch die Veränderung im Wesen der Tochter, und diese Entdeckung gefiel ihm nicht. Wünschel teilte die ehrerbietige Sympathie 22 seines Bekanntenkreises für die Belows nicht, obwohl er dem Stammtisch der Lindenecke seit Jahren angehörte. Es lag in Wünschels Charakter, daß er sich immer dort einnistete, wo er dagegen sein konnte. Ein heimlicher Schimpfer, fühlte er sich am wohlsten, wenn er seine Stammtischfreunde grollend verlassen konnte. Jeder war ihm zu flach und zu dumm, zu hochnäsig und zu geldgierig – er zog sich immer selbstzufrieden zurück. Die »Beziehungen« Belows verdrossen ihn. Er blieb ein schäbiger Provinziale, während Below eingesessener Bürger war und seinem Königshause trotz 48 das meiste dankte.

Und die Kinder?

Nun verdrehte ein junger Below Wünschels Tochter den Kopf. Er traute der verzogenen Range nicht. Anfangs steckte noch ein Geschmeicheltsein in Wünschel, eine Hoffnung, daß sich nahe Verwandtschaft mit den Belows anbahnte, die wirtschaftlich von großer Bedeutung für ihn werden konnte. Dann aber knuffte er sich selbst ob dieser Eitelkeit und zog energisch Erkundigungen ein. Sie fielen erschreckend schlecht aus. Wutentbrannt lief er zu seiner Tochter.

»Du kümmerst Dich nicht mehr um den Menschen! Das bitt' ich mir aus! Ich verzichte auf seine Kundschaft! Er ist mir außerdem schon 60 Mark schuldig! Ich habe ein Kontantgeschäft – jawohl! Was soll das alles, Martha? Ein Mädchen wie Du – bist zwanzig Jahr alt – hängst Dich an solchen Menschen – bist ein Jahr älter als er – ich 23 weiß es, neunzehn ist er! Er denkt ja gar nicht ans Heiraten! Ich danke ihm auch dafür, ich habe mich erkundigt! Weißt Du, daß er ein halb verkommenes Subjekt ist? Der heimliche Gram seiner Eltern? Er ist ein Spieler, ein Schuldenmacher! Jede Nacht sitzt er, statt zu Hause zu schlafen, in einer Bar, wo der Auswurf der Menschheit verkehrt! Da ist Herr Rudi Below Stammgast! Und mit wem er da sitzt? Mit einem Frauenzimmer vom Lindentheater, mit der Gabrielle, für die er Schulden macht und sich zugrunderichtet, bis er eines Tags noch den Revolver – – na, warum bleibst Du nicht hier?! Bleib' hier, wenn Dein Vater mit Dir redet! Ich schmeiß' den Kerl raus, wenn er wiederkommt, der grüne Junge!«

Aber Martha hörte den Wütenden nicht. Sie lief in ihr Zimmer, schloß sich ein und weinte. Dann aber kam ihre treue Kraft zum Durchbruch. Sie glaubte, was der Vater ihr gesagt hatte, sie hatte es schon geahnt, aber das Signal, sich von Rudi zurückzuziehen, war es ihr nicht. Sie fühlte vielmehr einen unbeugsamen Beruf in sich, der ihr ganzes Wesen erfüllte. Eine Aussprache, die sie mit Rudi herbeiführte, riß ihm die Maske ab. Was Martha da erfuhr, war noch schlimmer, als was sie gewußt hatte. Er gestand ihr sein letztes Ringen, er ahnte nicht, wieviel ihr schon bekannt war. Seine Spielschulden würgten ihn, und Gabrielle hatte ihn heimgeschickt. Ihm blieb nur noch Marthas Verzeihung und der 24 Tod. Das erste wurde ihm sofort, und das zweite verlor sich, als er bei ihr war, denn Martha wußte nun, daß die Französin nichts für ihn bedeutete. Kühne Genugtuung erfüllte das sonst so stille Mädchen. Jetzt war sie es, welche die Projekte machte.

Ihr Vater kam, doch er war eingeschüchtert, als er dem jungen Below gegenüberstand. Er wies ihm nicht die Tür – erst als der Verführer seinen Laden verlassen hatte, schimpfte Wünschel auf ihn und wütete gegen die Tochter. Diese aber hörte nur noch, was ihre Zukunft anging. Rudolf von seinen Schulden zu befreien, ihn in Berlin zu halten – das war unmöglich. Aber ging er, so ging auch sie. Ohne Rudolf leben war ihr das Nichts.

Jetzt wurde sie ruhiger und schreckte vor keinem Wagnis zurück. Es wurde ihr überraschend leicht, obwohl sie sonst nur demütige Aufrichtigkeit gekannt hatte, ihren Vater zu betrügen. Wünschel glaubte sie von Rudolf endgültig getrennt, er schonte ihren Liebeskummer. Ein Verdacht gegen sein Kind konnte nicht in ihm aufkommen. Sie hatte ihr ganzes Leben bei ihm verbracht, er hielt sie für untrennbar. So ließ er es auch diesen Abend beim alten, legte die Geldschrankschlüssel auf seinen Nachttisch und suchte, müde und gebrechlich, wie er war, den kümmerlichen Trost des Schlafes. –

Am nächsten Vormittag, zur Frühstücksstunde, kam Minna Below aus der Wohnung zu ihrem Gatten hinunter, den sie im Stammtischzimmer traf. 25 Below saß dort nur mit einem einzigen Gast, denn die anderen Herren waren nicht so früh bei Wege. Der erste Gast war Berthold Ascher, der Warenhausbesitzer aus der Königstraße. Minna war von ihm geniert, sie winkte ihrem Gatten und ärgerte sich, daß er sie nicht sofort verstand. Aber Below mußte an Rudolf denken, als er Minnas ansichtig wurde, und wollte die wiedergewonnene gute Laune nicht verlieren.

Doch sie sah so auffallend erregt aus. Da mußte er sich erkundigen. Sein sorgloses Lächeln erstarb, als er ihre Flüsterworte vernahm.

»Rudi is nich da!«

»Nanu? Was heißt das?«

»Ich hab' eben nachjesehn! Er is jar nich im Bette jewesen!«

»Na, ich wundre mich jetzt über nichts mehr!«

»Erna und Hermann wissen auch nichts!«

»Aber reg' Dich doch nich auf, Minna. Er wird schon kommen. Denke gefälligst an Dich.«

»Ach was – ich denk' jetzt an den Jungen! Entschuldigen Sie bloß, Herr Ascher!«

»O bitte, bitte sehr, Frau Below – ich lese doch meine Zeitung!«

In diesem Augenblick betrat Adolf Wünschel, der sonst nie um diese Stunde die Belowsche Ecke besuchte, das Stammtischzimmer. Alle erschraken über sein Aussehen. Sein gekrümmter Körper schleppte sich, wie von einer Keule geschlagen. Seine 26 hervorstehenden Augen waren gerötet, das Antlitz fahl, das wirre Haar nun völlig grau. Er stierte die Belows an und übersah Herrn Ascher, der hinter der Zeitung hervorlugte.

»Sie wissen wohl gar nichts?« flüsterte er heiser.

»Was denn?« schrie Frau Below auf.

»Ist Ihr Sohn hier?«

»Was wissen Sie von Rudi?«

»Ihr Sohn ist nicht hier? Nun, dann sind sie also wirklich –«

»Wünschel!« rief Below mit starker Stimme und packte die erschlaffte Hand des Fassungslosen.

»Meine Tochter – heute nacht – Ihr sauberer Sprößling ist mit ihr durchgebrannt – hat sie verführt – das arme Kind!«

»Mein Sohn is mit Ihrer Tochter –?«

»Und mit meinem Geld!«

»Minna!«

Frau Below sank um. Sie wurde von Herzkrämpfen befallen.

Ascher holte einen Arzt. Als er mit ihm zurückkam, sah er, daß die Mutter sich ein wenig erholt hatte. Unvergeßlich blieb ihm der verwirrte Blick des sonst so festen Below. Er sagte nichts, er streichelte nur seine jüngeren Kinder, die angstvoll herbeigeeilt waren. Dann führte man Frau Below, die immer nur leise das Wort »Rudi« sagte, in die Wohnung hinauf. Verstört standen die Kellner zusammen.

27 Als Ascher aber das Gastzimmer verlassen wollte, kam ihm Joachim Friedrich plötzlich nach und sagte mit seltsam heftiger Bitte: »Diskret, lieber Freund – das is doch selbstverständlich, nich wahr?«

Ascher nickte, gab Below die Hand und trat auf die Linden hinaus. Es war ein heller Vorfrühlingstag. Wie kontrastierte dieses Hoffen und Werden zu dem großen Elternschmerz.

Ascher schritt langsam den Mittelweg entlang. Da kam ihm wieder jemand nach und ging neben ihm her, wortlos zuerst, dann heisere Worte sprudelnd. Der andere Vater, Adolf Wünschel. Ascher lächelte ein wenig. Warum kamen die Bedrängten alle zu ihm?

»Tut mir leid – tut mir sehr leid, daß Sie da eben Zeuge waren,« flüsterte Wünschel, vor sich hinstarrend. »Sie dürfen aber nicht glauben, daß ich mich unterkriegen lasse. Ich war immer allein und will auch allein bleiben. In allen Menschen steckt eine Bestie. Warum nicht auch in unsern Kindern? Meine Tochter hat mich bei Nacht und Nebel verlassen – meine Tochter hat mich bestohlen – um mit einem nichtswürdigen Schlingel – na, nun weiß ich's. Was kann noch kommen? Ich verfolge sie nicht – mögen sie an den Kongo oder nach Brasilien gehen. Mögen sie verhungern drüben. Ich kenne meine Tochter nicht mehr. Ich bin stark, lieber Herr Ascher. Das traut mir niemand zu. Die Belows – passen Sie auf – die werden es nicht verwinden. 28 Neugierig bin ich nur, ob sie mir das Geld ersetzen werden, das mir der Junge gestohlen hat. Aber auch das bedeutet nichts – gar nichts! Ich habe meinen ehrlichen Namen, mein gutes Geschäft! Verfluchte Bande! Jetzt ess' ich allein, was ich mir verdient habe!«

Ohne Gruß und seiner Sinne nicht mehr mächtig, ließ Wünschel den Warenhausbesitzer stehen. Er verschwand in der Lindenpassage. Die Leute sahen ihm nach, obwohl man hier durch Schaufenster genügend in Anspruch genommen war. Ascher schüttelte den Kopf. Er war seiner Kinder sicher. Um seinen angegriffenen Nerven etwas Stärkung zu geben, ging er zu Bols hinein und kippte zwei Schnäpse. Dann schlenderte er die Friedrichstraße entlang, um auf einem Umweg in die Königstraße zu gelangen.

An der Ecke der Leipziger Straße blieb er stehen. Hier sollte es also gewagt werden: Verwirklichung, Wahrheit seine große, schimmernde Idee. Noch wußte kein Mensch davon. Nur richtige Kalkulationen, keine Phantasien. Er sah schon die wahre Ecke in seiner Gewalt, und mit einem flüchtigen Lächeln bemerkte Ascher, daß Wünschels Handschuhladen sein Nachbar werden sollte. Armer Wünschel. Entweder mußte er mit den Preisen heruntergehen, oder die Preise taten es mit ihm. 29

 


 << zurück weiter >>