Georg Hirschfeld
Die Belowsche Ecke
Georg Hirschfeld

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Drittes Kapitel

Was eigentlich vorgegangen war in ihrem Elternhause, dessen Lebenstempo man ein dauerndes Schummerstündchen nennen konnte – Erna und Hermann, die jüngeren Belowkinder, machten sich kein klares Bild davon. Ihr Rudi, der allbeliebte Aelteste, war entflohen. Was war das für ein fremdes, romantisches Wort. Ihn, den sie halb als Spielkameraden, halb als Vorbild angesehen hatten, nannten die Eltern jetzt einen verworfenen Menschen, einen Entführer und Dieb. Das war unumstößlich – Erna hatte mehrere Auseinandersetzungen im Nebenzimmer belauscht. Wenn die Geschwister auch wußten, daß dieses schlimme Urteil nicht standhielt, weil die Zärtlichkeit der Eltern für Rudi zu tief wurzelte – etwas Schreckliches mußte doch geschehen sein. So geschickt die Eltern auch ihre Kämpfe verbargen und über den Verlust des Sohnes mit fast beleidigender Hast fortgingen – man sah doch die Spuren tiefen Leidens in ihren Zügen. Das hatte Rudolf über Vater und Mutter gebracht. Aber 50 was denn eigentlich? Am Ende nur, daß er wollte, was sie nicht wollten?

Das Erschwerende war, daß Erna und Hermann von diesem ersten großen Erlebnis so viel Gemeinsames empfanden und so wenig besprechen konnten. Das siebzehnjährige Mädchen und der dreizehnjährige Knabe waren in dem Alter, da eines auf das andere herabsah und es doch innig gern befragen wollte. Dämmerung umgab sie, der feine, scharfe Weindunst der Belowschen Ecke, der jeden Besucher sofort umfing. Er kam aus Kellern, die schon Küfergenerationen beherbergt hatten. Er nistete in allen Zimmern, an allen Bewohnern des Hauses. Vom Flur aus sah man in den Hof hinaus, aber nicht in einen von Neu-Berlin mit Zementpflaster und Rasenquadraten, sondern in einen einzigartigen – der Hof war nämlich auch ein Garten. Man hätte es nicht für möglich gehalten – auf diesem Berliner Hofe standen noch mächtige Linden, Jahrhundertbäume, deren Wipfel bis zum Dach ragten. Die alte »Galerie«, die um das Geviert des ersten Stockes lief, wurde zur Sommerszeit in Schatten gehüllt. Ein Ziehbrunnen, wie man ihn kaum noch traf, stand auf dem Hof, und zwischen zwei Baumstämmen war die Leine fürs Teppichklopfen befestigt. In der Galerie aber hatte es von jeher das sorglos fröhliche und träumerische Leben der Belowschen Kinder gegeben. Da war einst ein Stampfen vom übermütigen »Zeck«, und die Geheime Kriegsrätin 51 von Schimmelmann mußte immer wieder ihre spitze Nase mißbilligend aus der zweiten Etage stecken.

Nun war der Ernst des Lebens gekommen. Rudolf hatte sich selbst befreit. Und er hatte ein anderes Schicksal mit dem seinen verbunden. Das war es, was Erna glühend begriff, was Hermann, der nur den Mannesweg sah, erschrocken von sich wies. So blieb der Druck auf beiden. Sie saßen sich auf der Galerie gegenüber, sie empfanden dasselbe und blieben doch stumm und fremd. Es rauschte herbstlich in den mächtigen Lindenbäumen. Der Wetterhahn auf dem Dach der Belowschen Ecke funkelte in der Sonne, und die schwere Haustür fiel murrend ins Schloß.

Erna entschied sich eines Abends, als sie ihr seltsames Traumspiel wieder aufnahm, nackt, mit einem indischen Schal umgürtet, vor dem Spiegel zu stehen und selbsterfundene Tanzbewegungen auszuführen – an diesem Abend entschied sie sich für Rudi. Er mußte recht haben. Kümmerte man sich denn um sie, was in ihr gärte und nach Entfaltung schrie? Sie kannte Martha Wünschel nicht. Aber ihr Bruder liebte sie, und das Mädchen hatte, um ihn zu retten, ihren eigenen Vater bestohlen. Man fragte im Belowschen Hause zu wenig nach den Motiven. Man warf die Freiheitsdurstigen rasch zu den Verbrechern. Man war so erhaben, weil man nie etwas wagte. Wieder schritt Erna mit trotzigem Munde ihrer 52 jungen Schönheit froh an dem Spiegel vorüber. Sie wußte genau, was sie für einen Reichtum besaß. Das hatte auch Rudi gewußt. Mußte die Geliebte nicht alles für ihn opfern? Ach, Leidenschaft – die ganze Welt war voll davon. Nur bei diesen Uhrmacherseelen nicht. Hier ging alles seinen schweren, selbstsüchtigen Gang. Bis auch die anderen aus dem Geleise sprangen. Sie und Hermann. Die Eltern sollten sich in acht nehmen.

Erna hatte von Kindheit auf den leidenschaftlichen Drang zu tanzen. Herr Golmick, dessen Unterricht sie als kleines Mädchen, glatt frisiert, mit halblangem Rock, besucht hatte, ahnte schon den merkwürdigen Schmetterling in der unscheinbaren Puppe. Ernas Bewegungen waren von völlig anderer Rasse, als sie den Sprößlingen eines Schuhmachermeisters oder eines Regierungsrates zu Gebot standen. Sie wußte schon als Kind im Tanze ihre Empfindungen auszudrücken. Ihr Körper war von wunderbarem Ebenmaß, ein wahrer Menschenfrühling. Wenn dieses feine, kecke Gesichtchen, diese großen, braunen Augen den Zauber der Reife bekamen – aber lange wußte Erna nichts von ihrem Beruf. Erst als sie ein Gastspiel des russischen Hofballetts im Opernhause sah, war alles für sie entschieden. Sie stahl sich mit Rudolf in den Wintergarten und beobachtete die Otero. Nun hatte ihre Eigenart ein Vorbild. Die Eltern fanden ein gerührtes Vergnügen daran, als ihr Kind sich zu Hause als Tänzerin produzierte. 53 Sie ließen es sogar Bekannte sehen und hörten geschmeichelt, ohne ihre Skepsis aufzugeben, die Lobeserhebungen. Der Gedanke an eine Ballettzukunft ihrer Tochter lag Belows ebenso fern wie an die geschminkten Mädchen, die jede Nacht in ihre Fenster starrten. Sie waren mit Signora Baltazzi, dem Ehrenmitglied des königlichen Balletts, befreundet, aber es fiel ihnen nicht ein, diese Kapazität nach Ernas Talent zu befragen.

Doch an dem Abend, da die Siebzehnjährige, den indischen Schal um ihren nackten Körper geschlungen, vor dem Spiegel stand und sich für Rudolf entschied, tauchte auch das Bild der alten, bespöttelten Künstlerin vor ihr auf, und sie wußte plötzlich, daß ihr dort die Rettung winkte. Signora Baltazzi hatte so viele Schülerinnen, aus ihrer Lehre waren berühmte Tänzerinnen hervorgegangen – zu ihr wollte Erna gehen, ohne die Eltern zu fragen. Das Spiegelbild nickte und lockte, fremdartig schön, die Kerzenflammen flackerten. Jetzt wußte Erna, daß sie nicht gefangen blieb.

Die alte Italienerin in ihrem muffig niedlichen Heim, wo alles mit vergilbten Zeichen des Ruhmes behängt war, mußte sich erst von ihrem Staunen erholen, als eine Tochter der Belowschen Ecke in stammelnder Leidenschaft vor ihr stand und um Unterricht bat. Sie pflegte bei Gemütsbewegungen zu ihren beiden Schutzpatronen aufzublicken, deren Bilder an der Wand ihres Salons hingen. Der eine 54 war Kaiser Wilhelm der Erste, welcher der bewunderten Tänzerin sein Porträt mit Unterschrift verehrt hatte, der andere Paul Taglioni, ihr verstorbener Freund und Kollege. Aber das eigene, noch nicht erloschene Temperament spürte das aufflammende des jungen Wesens: sie ließ sich zeigen, was Erna konnte. Eine wunderliche Stunde für die alte, königlich preußische Schönheitspriesterin. So wuchs auch an der Spree, was sie nur im seligen Süden gewußt hatte? Die Granzow war kein größeres Talent gewesen als Erna Below, und Erna konnte eine Dell' Era ausstechen. Ihr siebzehnjähriger Körper war ein gewaltiges Kapital. Signora Baltazzi unterrichtete Erna und hoffte, dem geliebten Opernhause ein schönes Erbe zu hinterlassen. Peinlich war es nur, das Flehen der Belowtochter, daß vor den Eltern alles geheim bleiben müsse. Aber die Angst des armen Kindes war zu überzeugend. Es ließ sich machen, und die Folgen des Komplotts nahm die schlaue Alte auf sich. Nun lernte Erna. Nun rang sich die junge Grazie aus ihr heraus, bis in die Finger- und Zehenspitzen. Es waren selige Stunden bei Signora Baltazzi.

Hermann spürte der Schwester nicht nach. Er war froh, wenn man ihn sich selbst überließ. Das Verhalten seines Vaters hatte ihn von früh darin bestärkt. Es lag etwas in Hermanns Wesen, was Below achten, aber nicht lieben konnte. Ein Insichhineinblicken, eine Verschlossenheit, die lieber eigene 55 Wege ging, als das Vertrauen anderer zu suchen. Hermanns gute Leistungen in der Schule kamen nicht aus seinem Ehrgeiz, sondern aus dem Bedürfnis, zu Hause wohltätige Ruhe zu finden. Man sollte mit ihm zufrieden sein, um ihn nicht in seiner Welt zu stören. Es war kein kindliches Kind, das da heranwuchs. In der schweren Weindunstatmosphäre der Belowschen Ecke eine blasse Höhenpflanze, die nichts von den Zauberfässern des Alkohols wissen wollte. Bei diesem Sohn war es von vornherein ausgeschlossen, daß ein Erbe der Firma in ihm entstand. Below drängte ihn erst gar nicht in seinen Beruf hinein. Er wußte, daß Hermann studieren würde. Entweder Musik – das mochte sein unermüdliches Geigenspiel bedeuten – oder auch Jus, das Fach aller wissenschaftlichen Belows. Freundlich und gleichgültig sah Joachim Friedrich auf sein jüngstes Kind – so wie man einen fremdartigen, aber sicherlich anständigen Menschen betrachtet. Das Moralische, das Rudolf verloren hatte, verstand sich bei Hermann von selbst. In der Mutter aber keimte die Hoffnung eines besonderen Zukunftstraumes für ihren Jüngsten. Was Below zurückschreckte, zog sie mit sanften Händen zu sich heran. Es lebte ein Stolz in ihr auf Hermann, dessen Herkunft die einfache Frau sich nicht erklären konnte. Sie sah nichts Bestimmtes, keinen Helden der Zukunft in ihm – sie wußte nur, daß er nicht bei den Weinfässern bleiben würde. Wenn Frau Below daran dachte, wurde es 56 ihr noch einmal so leicht, die Küche zu kommandieren und eine rastlose Wirtin zu sein.

Hermann sah, wie seine Eltern um Rudolf trauerten, und es erfüllte ihn mit tiefer Sicherheit, daß sie um ihn nie trauern würden. Einsam ging er durch seine Schuljahre – er fand dort keine Kameraden. Mit achtzehn Jahren verließ er das Gymnasium, und seine erste Universität war nicht eine der romantischen Freiheitsstädte, zu denen es den Fuchs zieht, Heidelberg oder München – er blieb in Berlin. Sein Studium wurden die sozialen Wissenschaften. Er wohnte auch als Student in der Belowschen Ecke, aber die Tür wurde ihm nicht wie Rudolf verschlossen. Man sah keine Gefahr darin, Hermann einen Hausschlüssel anzuvertrauen. Er durfte, so oft er wollte, von der rechten auf die linke Lindenseite gehen. Aber er blieb in der Sphäre der bleichen Bogenlampen nicht. Im Gegenteil – die kannte er schon, dabei wollte er sich nicht aufhalten. Mit den nächtigen Frauen, die er niemals berührt hatte, mitleidig vertraut, die Männer, solange er nur ihre seichte Oberfläche sah, vermeidend, ging er aus dem Herzen der Stadt in ihren Körper, in die ungeheuren Gliedmaßen hinaus. Er wollte Berlin kennen lernen – bei seinen Eltern schlummerten nur die Ahnen von Berlin.

Was Hermanns ganzes Denken bestimmte, war der Vergleich. Sein Vater sah dem Leben mit lächelnder Skepsis zu, die in der eigenen Treue 57 wurzelte. Das gefährliche »Gehenlassen«, das die staatliche Philosophie von der »gottgewollten Abhängigkeit« gezeitigt hat, lag Below freilich fern – er war ein Bismarckjünger und konnte die Zähne zeigen. Aber er war so durch und durch Realist und stellte die Entwicklung des Bestehenden so hoch über alle revolutionären Wünsche, daß es ihm ausreichte, in seinem weindunstigen Hause bis zur letzten Minute »mitzumachen«. So war Below gestimmt, als er Rudolf verloren hatte und Hermann zur Universität gehen ließ. Hermann aber ließ diese Skepsis nicht an sich herankommen. Er glaubte. Sein ringender Besserungswille hieß ihn in alle Abgründe schauen. Zehn Schritte vom Elternhause brachten ihn in die Wüste – das wußte Hermann. Geld erstickte jede reine Flamme. Jede? Kam es nicht auch auf die Augen des Betrachters an? Hermann wollte nicht verurteilen. Kennen lernen – das war sein Wunsch. Und so zog es ihn zuerst in die Bewegung, die er am mächtigsten sah, in die sozialdemokratische. Ein junger Below wollte wissen, was für ein Geist dort entstand – gerade weil er anderswo herkam. Wenn seine Eltern ihn abends fortgehen sahen, wußten sie ebensowenig von seinem, wie sie Rudolfs Ziel gekannt hatten, und wie ihnen Ernas Besuche bei Signora Baltazzi begreiflich gewesen wären.

Hermann fürchtete sich vor keiner Spelunke, er setzte sich an den Grenzen der Weltstadt manchen Gefahren aus. Aber er hatte die Gabe, sich 58 »Verlorenen« nähern zu können. Ein Lächeln rief er auf den trunkentstellten Gesichtern hervor. Ein Kind war gekommen, aber ein gutes Kind. Man tat ihm nichts. Er war kein Spitzel. Man stahl ihm nichts, denn es lohnte sich kaum. Man ließ ihn reden, und im Asyl für Obdachlose, das Hermann oft besuchte, nicht nur um zu reden, sondern auch zu schenken, hatte er gute Freunde. Besonders der alte Asylvater war ihm gewogen.

Vor den Reichstagswahlen stand Hermann in einem großen Brauereisaale des Ostens und hörte die Rede des sozialdemokratischen Kandidaten. Tausende waren erschienen, und gärende Stimmung täuschte die Gewißheit vor, daß man vor einer großen Zukunft stand. Der neue Mann aber überraschte. Er kühlte die allzu leicht erregte Menge ab und gab ihr etwas dafür, was Hermann in hohem Grade fesselte: Einkehr bei sich selbst, eine Retardation der Bewegung im Interesse derer, die sie künftig gestalten sollten. Merkwürdig undankbar zeigten sich diese Zukunftsmenschen für die energische Abwehr der Schlagworte. Man sah es ihnen an, daß jeder ungern das wirkliche Leben ansah. Ein Ethiker sprach, der in voller Praxis stand. Es war eine stillere Wahlversammlung. Hermanns Aufmerksamkeit wurde jedoch von all den Köpfen im rauchigen Dunst des Riesensaales auf seine nächste Nachbarschaft gelenkt. Er hatte den alten Mann im Rollstuhl, hinter dem ein junges Mädchen stand, 59 schon mehrmals in Versammlungen gesehen. Der Vater schien an den Beinen verstümmelt zu sein, breite Arbeiterhände ruhten auf dem umhüllten Schoß, und sein bedeutender Kopf sah, in gesunder Frische des Körpers nicht achtend, zur Rednertribüne. Die Tochter hatte ein edles, leidgefestigtes Gesicht, fern von allem, was nicht zu ihren Gedanken gehörte. Nie war Hermann von einer so reinen Sympathie ergriffen worden. Er sah auf die Hände des Mädchens, die nicht von dem Griff des Rollstuhls ließen – sie war keine Arbeiterin. Aber sie mußte die Tochter des Invaliden sein. Heute führte der Zufall Hermann dicht neben die beiden. Er hörte sie sprechen, und es war nicht Deutsch – sie sprachen etwas Weiches, Mildes und doch Festes: Russisch.

Als der Redner geendet hatte und vor der Resolution eine Pause entstand, mochte der Alte Hermanns Beobachtung bemerkt oder auch ihm sein Interesse geschenkt haben – kurz, er wandte sich plötzlich zu ihm und sagte in gebrochenem Deutsch: »Das war etwas, was man gebrauchen kann, nicht so? In den Reichstag gehen die Herren ja nur, um sich zu sprechen, nicht die anderen. Wie? Hat Ihnen auch gefallen, mein Herr?«

Hermann errötete, da auch die dunklen Augen des Mädchens sich auf ihn richteten. Er nickte und erwiderte, nur den Alten ansehend: »Es war eine Ueberraschung. Man hört sonst nur billige Dinge 60 und erwartet nichts anderes. Plötzlich wird man vor ein Problem gestellt.«

»Sie sehen, es lohnt nicht. Die Leute sind ganz anders als sonst. Nicht, Anna?«

»Sie denken doch nach, Vater,« erwiderte das junge Mädchen.

»Die Resolution interessiert mich nicht. Wir wollen nach Hause. Der Herr scheint auch genug zu haben?«

Hermann schloß sich den Fremden lächelnd an. Er ging voraus und bahnte im Gedränge einen Weg, so daß Anna den Stuhl ihres Vaters hinausschieben konnte. Auf der Straße lächelte das Mädchen den jungen Mann dankbar an. Es war ein bezaubernder Ausdruck, weh und kindlich zugleich. Die Stimmung ergab, daß man noch nicht Abschied nahm. Hermann behauptete, denselben Weg zu haben. Langsam schritt er neben den beiden her. Er entnahm aus ihrem Gespräch das Wichtigste. Die russische Familie – Anna war das einzige Kind, und die Mutter lebte noch – war mehrere Jahre in Deutschland ansässig. Der Vater, ein Techniker, war einst als Werkmeister bei einem schweizerischen Bahnbau verunglückt. Er wollte einige Gehilfen, die sich leichtsinnig auf einem schon gesperrten Sprengungsgebiet aufhielten, zurückreißen und teilte ihr Schicksal. Doch jene fanden den Tod – ihm wurden die Beine zerschmettert. Nun wohnte Andreas Wisotzky mit den Seinen in Deutschland, 61 arbeitsunfähig, nur der Bildung seines regen Geistes hingegeben. Die drohende Not war durch die Tochter, von der man es am wenigsten erhofft hatte, niedergezwungen worden. Anna hatte, ohne an öffentliche Verwertung zu denken, aufgezeichnet, was sie in der Schweiz erlebt hatte. Es war ein Buch über die Bahnarbeiter. Durch einen befreundeten Journalisten bekam es ein Berliner Verleger zu sehen, und der starke Eindruck, den der Mann empfing, wiederholte sich hundertfach, als das Buch publiziert wurde. Alles, was Anna betraf, konnte Hermann nur indirekt erfahren, denn weder brachte sie ihr Werk zur Sprache, noch machte sie eine Bemerkung über seinen Erfolg. Sie hatte eine so scheue und zugleich starke Menschlichkeit, daß alles Literarische von ihr abgerückt war. Ihr Buch war ein Zufall, eine Betätigung, wie irgendeine andere Arbeit. Man konnte nur an diese hohe, reine Stirn, an diese dunkel schimmernden Augen denken, nicht an Tinte und Feder. Aber Hermann wußte alles, als ihr Vater den Titel des Buches genannt hatte. Er hatte es schon gelesen und liebte es wie wenige Bücher.

Ein Zufall, der ihm als Fügung erschien, brachte Hermann mit den Wisotzkys zusammen. Als er im Chaos der Existenzen noch nicht zu lange umhergeirrt war, fand er die eine, die all seinem Unbestimmten und Ringenden festen Boden gab. Jeden Abend besuchte er nun die Familie in ihrer kleinen 62 sauberen Wohnung am Humboldthain. Er begegnete Anna auch in ihrer Musikliebe, und sie besuchten Konzerte zusammen, zwei tief verbundene Genießer. So hörte Hermann Below allmählich auf, der Stammgast politischer Versammlungen zu sein. Sein Leben teilte sich von nun an zwischen dem Studium und Anna. Als sie eines Abends am Grunewaldsee entlangschritten, der in den schweren Prunkfarben des Sonnenunterganges lag, hatten sie ein Gespräch, das ihre Untrennbarkeit entschied.

»Ich bereue nicht, daß ich durch Kunst und Philosophie den Fragen der Zeit fern komme,« sagte Hermann. »Im Gegenteil, mir ist, als ob ich den wirklichen Fragen jetzt erst nahe bin. Es sind doch die Riesenkämpfe der geistigen Not, Anna, hinter die man kommen muß. Materielle Not täuscht uns nur Leiden vor – die wirklichen Probleme sind nicht nur bei den »Arbeitern«. Aus dem Ganzen, aus dem Universum heraus muß man urteilen. Da findet man die wahren Ungerechtigkeiten und fühlt, wo man ansetzen muß.«

»Die geistige Not,« wiederholte Anna sinnend. »Das ist das Schicksal meines Vaters. Er hat seine wahre Not erst erkannt,. als er körperlich vernichtet war. Als ihn die rohe Macht draußen nicht mehr brauchen konnte. Sie hatte von ihm bekommen, was sie wollte – dann ließ sie ihn liegen. Aber er fing nun erst an zu arbeiten und zu erfassen, was ihm der Kampf ums Brot verborgen hatte. Die 63 wahren Schätze der ›Reichen‹, die so furchtbar brach liegen. Wie er arme Gelehrte als seine Brüder fand – das waren die besten Stunden meines Vaters. Er war verstümmelt und rang nach Vollendung. Meine Jugend fiel ganz in diese Zeit. Meine letzten Kinderjahre und dann später. Geistige Not. Ich möchte immer mehr davon begreifen.«

Sie fuhren in die Stadt zurück und beschlossen, den Abend in der Philharmonie zu verbringen. Es traf sich so, daß die beiden heute die zweite Sinfonie von Beethoven hörten. Das Larghetto beantwortete ihren ringenden Seelen alles. Das Finale entließ sie in eine warme Mondnacht zum Geständnis.

Aber nun duldete es Hermann nicht mehr in Berlin. Als es galt, sein Glück zu genießen, mußte er Berlin den Rücken kehren. Das war die Tragik seiner Heimat. Sie zeigte ihm im schönsten Augenblick, daß sie keine Heimat war. Sie enthüllte ihm den Verlust ihrer Seele und zwang ihn zur Flucht. Er träumte mit Anna von einem märkischen Dorfe, das sie bei einem Ausfluge kennen gelernt hatten. Es war nicht fern von Berlin, empfing aber nicht mehr den Dunst der Weltstadt. Rein war es dort und ruhig im Buchenwalde. Weite Aecker, wortkarge Menschen und ein kleiner, glitzernder See. Aber noch konnten sie ihre Flucht nicht bewerkstelligen. Annas Eltern verließen Berlin nicht mehr, die Leiden des Vaters hielten sie fest. Hermann aber wurde, als er Berlin 64 schon fern gerückt war, durch eine Pflicht, an die er kaum gedacht hatte, an Berlin gefesselt. Er mußte Soldat werden. Da er ein Below war und ein neuartiger, der die gesunde Tradition und das bunte Erlebnis liebte, überwand er sich und trat sofort bei der Artillerie ein. Schon in den ersten, schweren Wochen erkannte er, daß auch dieser Zwang etwas von der ›geistigen Not‹ hatte. Als Hermann todmüde, als Uniformierter, zu Anna kam, sah er sie lächeln. Das entschied ihm alles. Er antwortete mit einem lauten Lachen und war nun für immer über das Drangsal fort.

Während seines Militärjahres starb Annas Vater. Hermann wußte von den schweren Leiden Wisotzkys, glaubte aber sein Ende nicht so nahe. Als er eines Abends zu Anna hinauf kam, flüsterte sie ihm im Flur mit glühenden Wangen zu: »Es geht zu Ende! Warte hier!« Heftig erschrocken, dann in schwerem Sinnen wartete Hermann. Anna führte ihn zu dem Sterbenden. Wisotzky sah Hermann Below lange an, ohne sprechen zu können. Dann nahm er seine Hand und legte sie in die Hand seiner Tochter. Die arme, verlassene Frau, die alles Gute und Furchtbare mit ihm geteilt hatte, lag weinend an Wisotzkys Bett – sie hatte von dem stummen Segen nichts bemerkt. Anna und Hermann aber beugten sich über den Dulder und küßten ihn. Er erkannte sie nicht mehr und schien in seltsame Fernen zu blicken. Tiefblauer Himmel und ein Regen doch von 65 Blutströmen. Helden zuoberst, aber feige Bestien, die ihren Thron umlauerten. Wisotzky starb. Nach seinem Begräbnis willigte die Witwe ein, mit ihren Kindern in das einsame Dorf zu ziehen. –

»Is es die, die Dich neulich nach Hause jebracht hat?« fragte Frau Below ihren jüngsten Sohn, als er wieder als schlichter Zivilist bei ihr erschien und ihr mit milder Bestimmtheit erklärte, daß er Anna Wisotzky heiraten wolle.

»Die ist es, Mutter. Mich hat sonst niemand nach Hause gebracht.«

»'n hübsches, schlankes Mädel – da haste recht. Ja, weißte, Hermann, ich bin 'n bißchen müde. Ich lass' Dir Deinen Willen. Was soll ich denn sonst machen?«

»Mutter, sie ist so, wie ich Dir gar nicht – –«

»Na ja, na ja, ich kann mir schon denken. Bring' se mal morgen her. Will se mir mal in der Nähe ankucken. Und vor Vater habe man keine Angst – dem sag' ich's schon.«

»Mutter! . . .«

»Müßt ihr denn nu aber wirklich fortziehn? Könnt ihr denn nich in Berlin bleiben?«

Hermann schüttelte den Kopf. Da nickte die Mutter traurig. Er wußte, daß sie jetzt an Rudolf dachte. Zwei Söhne – für sie verloren? Nein, so war es nicht. Aber eigentlich, im Innersten, war es doch so. Auch Hermann wollte fort . . .

66 Als Below von der neuen Schicksalswendung hörte, zuckte er nur die Achseln. Was waren ihm noch Hermanns Entschlüsse? Er machte die Tür auf und ließ einen eigenwilligen Geist hinaus. Er respektierte ihn, aber er trauerte nicht um ihn. Eine Russin, die Tochter eines mittellosen, invaliden Arbeiters. Warum nicht gleich die Kaiserin von China? Bei einem Below war alles möglich. Rudolf im wilden Westen, Hermann in einem märkischen Dorf. Wunderlich – man durfte sich auf seine Söhne nicht verlassen. Nur die Weine waren treu. –

Nun wurde es noch stiller im Belowschen Hause. Kein geräuschvoller Jüngling, der sich vor dem Spiegel für seine nächtlichen Fahrten vorbereitete, und kein ernster Student, das Bücherpack unter dem Arm, verkehrte mehr auf der alten Treppe. Ernas Geheimnis wurde dadurch sehr erschwert. Sie war nun das einzige Kind, und jeder elterliche Ruf galt ihr. Zwar waren die Eltern geschäftlich so in Anspruch genommen, daß sie Ernas Ausreden gern überhörten. Im Restaurant war die Tochter doch nicht zu brauchen, erstens, weil sie keine Lust dazu hatte, zweitens, weil eine Belowtochter als Büfettfräulein dem Familienstolz widersprach. Erna konnte auch nicht den ganzen Tag Handarbeiten machen oder Klavier spielen. Man ließ sich willig von ihr erzählen, daß sie zwei sehr anständige, gediegene Freundinnen gefunden hätte, die einem Verein erwerbstätiger Frauen angehörten. Dort 67 würde mäßig gelebt, gelesen, diskutiert, man machte auch Ausflüge – es war der beste Mantel für Ernas Heimlichkeiten. Doch die Furcht vor den Eltern drückte sie nicht so, wie der Konflikt, der über ihre Kunst gekommen war. Sie profitierte von Signora Baltazzi, aber ihr eigentliches Wesen wurde dort nicht entfaltet. Es war eine alte Frau, eine königlich preußische Ballerina a. D., deren Begriffe von Grazie und Dezenz einer jungen Stürmerin nicht entsprachen. Es blieb bei Pirouetten und Spitzentänzen von Gazerock-Mädchen, bei der dümmlichen Anmut pathetischer Armbewegungen und frisierter Köpfe. Eine hinsterbende Opernkunst war nichts für Erna, und das Nationale, in Carmen zum Beispiel, bot ihrem Temperament nicht genug. Sie verschwieg diese Krisis vor der gütigen Lehrerin, deren rührenden Freisinn sie so liebte, aber sie fand zum Glück Gefährtinnen ihrer Kämpfe. Eine fesche Oesterreicherin und eine rundliche Brünette aus Leipzig sagten sich energisch von der Oper los und strebten zum Varieté. Sie beschworen Erna, deren überragendes Talent sie bewunderten, ihnen zu folgen. Da diese erste Freundschaft noch ohne Berufsneid war, führten sie Erna mit Gewalt zu Mr. Simonson, einem Deutsch-Amerikaner, dessen Dialekt jedoch zum Galizischen neigte. Er war der Impresario. Seine traumhaften Versprechungen hatte die anderen Mädchen verlockt – er sollte auch Erna Below managen. Fast mit erschrockener Freude sahen die 68 Freundinnen die Ekstase dieses Kenners, als er Erna tanzen sah. Er engagierte sie, ob sie wollte oder nicht. Ohne ihre Eltern gab es für Erna natürlich kein Amerika – sie sehnte sich zwar nach Rudolf und wollte sein Leben mit ihm teilen, aber zu einer geheimen Flucht war sie zu stolz. So blieb es vorläufig dabei, daß aus den Besuchen bei Signora Baltazzi ein lustiges Bummelleben mit Mr. Simonson wurde. Erna lernte das verbotene Berlin kennen, sie kam in Theater- und Varietékreise – ihre unverbrauchte Jugend entzückte jedermann. Sie war dazu bestimmt, den Mächtigen unter den Männern den Kopf zu verdrehen, denn sie wußte sich zu wahren und war eine wirkliche Persönlichkeit.

Frau Below empfand allmählich eine lastende Unruhe Ernas wegen. Sie stahl sich freie Minuten im Geschäft ab und untersuchte, wenn die Tochter abwesend war, ihr Zimmer. Es war jetzt ein Duft in diesem kleinen Raum, der verdächtig war und nicht in die Belowsche Ecke gehörte. Der Kleiderschrank war immer zugeschlossen. Die mißtrauische Mutter griff schließlich zu einem Mittel, das ihr sonst verwerflich vorkam. Sie ließ sich einen zweiten Schlüssel anfertigen. Als sich endlich das Geheimnis auftat, waren duftige Spitzenröcke, ein spanisches Tanzkostüm, zierliche Schuhe und Pariser Modellhüte zu sehen – alles Dinge, die für Ernas Taschengeld unerschwinglich waren. Also das war die Lösung des Rätsels. Deshalb das übernächtige, 69 nervöse Wesen, der Schlaf bis gegen Mittag, der abscheuliche Duft. Vor allem: der »Verein für erwerbstätige Frauen«! Frau Below war wie versteinert. Wie weit mochte es schon gekommen sein. Gerade weil sie an das Schlimmste nicht glaubte, sah sie es schon gespenstisch vor sich. Sie weinte sich über Ernas einfachen Hauskleidern aus. Dann aber raffte sie sich auf, beschloß zu beobachten und zu verhindern um jeden Preis, solange es Zeit war.

Recht ungelegen kam ihr in diese Entscheidung eine Hochzeit, die bei Hofwagenbauer Gollnows am Schiffbauer Damm stattfand. Es waren alte Freunde, und man mußte die Einladung annehmen. Belows aber blieben nicht lange und gingen um 12 schon, da es eine schöne Winternacht war, nach Hause. Als Joachim Friedrich, in Zylinder und Pelzrock, von der Weidendammer Brücke in die Friedrichstraße einbog, um bis zu den Linden zu gehen, widerstrebte Minna und wollte lieber am Wasser bleiben, um durch die Neustädtische Kirchstraße heimzugelangen. »Aber warum denn?« scherzte Below, der ziemlich viel Champagner getrunken hatte. »Meinste etwa, sie werden mir den Zylinder eintreiben? Heute is doch nich Silvester.« Minna schwieg und dachte sich ihr Teil. Die Männer waren eben alle gleich – ihr Alter wollte jetzt nur wieder mal durchs Nachtleben schreiten. Er wollte was zu sehen bekommen. Sie dankte dafür. Es drückte ihr Gemüt in mütterlichem Mitleid, sobald sie diese oft hübschen und jungen 70 Geschöpfe in ihrer Verlorenheit sah. Sie mußte immer daran denken, daß um jedes vielleicht eine Mutter trauerte.

An der Ecke der Dorotheenstraße staute sich der Verkehr. Man mußte fest untergehakt bleiben und den riesigen Federhüten, den geschminkten Puppenköpfen sehr nahe kommen. Trotzig blieb Minna stehen und beschenkte einen alten Bettler – dafür sollte auch Below Zeit haben. Als sie aber in die Dorotheenstraße einbiegen wollten, stießen sie mit einer fidelen Gesellschaft zusammen, jungen Herren und Damen, die eben aus einer benachbarten Bar kamen. Below machte ein objektives Gesicht und strebte weiter – seine Gattin aber streifte die Uebermütigen mit strengem Blick. In diesem Moment setzte ihr fast das Herz aus. Den letzten Federhut, den weißen, trug ihre Tochter Erna. Sie war vorüber, hatte aber im Auflachen gerade die Mutter erkannt. Below bemerkte, daß Minna einer Ohnmacht nahe war. Doch bevor er erregt aus ihr herausbringen konnte, was sie gesehen, war Erna schon zurückgekommen und gesellte sich mit trotzigem Lächeln zu den Eltern.

»Du bist hier – –?« stieß Below hervor. Sie war ihm wie ein Gespenst in diesem Augenblick.

»Ja, ja, ich bin mit Bekannten im Wintergarten gewesen, Papa. Das darf ich doch – nicht wahr? Ich geh' mit Euch nach Hause.«

71 »So wie Du aus dieser Gesellschaft kommst?« rief die empörte Mutter.

»Ja, anders kann ich doch nicht!«

»Du freches Geschöpf Du!!«

Erna schwieg. Sie schwiegen alle drei, bis sie zu Hause waren. Dann erst gab es in demselben Zimmer, wo Rudolf gekämpft hatte, den Endkampf mit Erna. Sie rechtfertigte ihre Lügen, sie klärte die Eltern, so gut es ging, über ihre Zukunft auf. Mr. Simonson engagierte sie für 10 000Dollars nach Amerika, er hielte sie für ein Tanzgenie. Die Mädchen, mit denen man sie getroffen hätte, wären Kolleginnen, die Herren Schauspieler durchaus ehrenwerte, anständige Herren. Das Leben wäre eben doch ein bißchen anders, als die Eltern sich in ihrer Weinstube vorstellten . . . Mit dumpfen Köpfen hörten Belows zu. Was wurde ihnen da für ein Märchen erzählt? Ein neues Unglück oder ein Glück? Sie wußten nur eines: zu verdammen war hier nichts, aber sie mußten auch ihr letztes Kind hergeben.

Frau Belows Bruder, der Diakonus Freese von St. Marien, sah dem Zersetzungsprozeß der Schwesterfamilie mit bangem Staunen zu. Er war ein guter, kluger Mensch, aber ein Kanzelredner, der sich mit den Unwahrheiten seines Berufes abgefunden hatte. Der Diakonus lebte, um die Symbole nicht anzweifeln zu lassen, auf einer allzu geraden 72 Linie. Wenn es sich um Taufe, Hochzeit, Sterben handelte, war er in seinem Element. Er war ein Lutheraner vom alten Schlage, der das ungeheure Gewühl der Skepsis um sich her einfach nicht sehen wollte. Die Sünde suchte er überall, und wenn er sie entdeckt hatte, bekämpfte er sie als fanatischer Krieger. Was den Belows in den letzten zehn Jahren geschehen war, konnte er aber mit absoluten Begriffen nicht fassen. Die Ursache fehlte seinen kurzsichtigen Augen, und wenn er die nicht hatte, wußte er nicht: wo trösten, wo helfen. Ehre blieb Ehre, Sitte blieb Sitte – die Eltern hatten nach seiner Meinung immer das Rechte getan.

»Ihr habt Euch keinen Vorwurf zu machen,« sagte er zu seiner Schwester, die ihn jetzt oft in seiner alten Wohnung am Monbijouplatz besuchte. Minna war gar zu gern in diesem Hause, wo all ihre Kindheitserinnerungen wach wurden. Zwischen den geschwungenen Plüschmöbeln hatte sie einst mit dem Diakonus Blindekuh gespielt. Die Bilder der Eltern blickten aus Goldrahmen mit dämmerndem Lächeln herab, und gegenüber lag immer noch der Monbijougarten, wo sie als Kind die tellergroßen Rosen bewundert hatte.

»Aber was is nu wichtiger, Otto? Ob wir uns Vorwürfe machen, oder die Kinder machen uns welche? Es hat ihnen zu Hause an nichts jefehlt – das is jewiß. Wenn Fritz und ich auch den janzen Tag im Jeschäft waren. Kinder müssen sich 73 heutzutage selber überlassen bleiben. Aber dann braucht es doch nich jleich so zu kommen.«

»Rege Dich nicht auf, liebe Minna. Das Unabänderliche –«

»'n Mädel wie Erna läßt Vater und Mutter im Stich und fährt nach Hamburg, mit 'n wildfremden Menschen, und von Hamburg fährt se nach Neujork, und da tanzt se den Leuten was vor, in Trikots und jeschminkt und jarnich wie 'n anständijes Mädchen –«

»Die neue Generation –«

»Was liegt denn an dem Jeld, was se da drüben verdienen? Das Jeld kann es doch nich jewesen sein. Und keine Familie, mutterseelenalleine, nichts, was man 'n Heim nennt – bloß so Leute vom Theater. Was kann ihr da alles passieren. Und wenn se nu mal hinfällt? Wenn se sich nu mal 'n Fuß bricht? . .«

»Wer wird denn gleich an solchen Fall . . .«

»Nein, daß Hermann uns das auch noch antut! Der hätte wahrhaftig bei uns bleiben können! So jut hat er's jehabt, und jejen das Mädchen war auch nichts zu sagen. Aber wie de Verrückten sind se alle. Der sitzt jetzt zwischen Mistbauern – bei Hühner und Enten – und Rudolf, der schwindelt sich wahrscheinlich bei de Indianer durch.«

»So muß man sie eben lassen. Kämpfen lassen – siegen – oder nicht siegen. Jeder sucht seinen eigenen Weg. Wir stehen alle unter Gottes Hand.«

74 Es war sonderbar. Wenn Diakonus Freese den lieben Gott erwähnte, wurde er warm und sicher. Aber er bemerkte auch, daß er bei seiner Schwester, die er als vorzügliche Christin schätzte, das Gegenteil bewirkte. In der Kirche ging es noch – Minna besuchte jeden Sonntag seine Predigt. Auf der Kanzel konnte er noch so konkret von Gott und den Begriffen der Ewigkeit sprechen – da sprach er zum Volke, und Minna gehörte dazu, sie nahm es als ein Gleichnis hin. Aber in menschlicher Nähe, im traulichen Zimmer, war er nur ihr Bruder Otto und mußte das Pathos in der Kirche lassen. Hier verzog sie scheu das Gesicht, wenn er Gott beschwor. Auch heute kam es wieder über sie. Sie fürchtete die Verpflichtung ihres eigenen Glaubens, sie fühlte die Unsicherheit ihrer menschlichen Existenz und resignierte. Niemand konnte ihr Aufklärung geben. Sie verließ ihren Bruder und ging noch in eine alte Konditorei am Hackeschen Markt, wo sie eine Tasse Schokolade trank und in bunte, illustrierte Blätter starrte.

Below hielt sich an den Mut seiner Frau. In einer Täuschung, die ihm wohltat, sah er, daß ein einsames Mutterherz stark blieb. Minna saß wie sonst am Büfett. Wenn die umfangreiche Dame sich in ihrer prallen Seidenbluse eifrig bewegte, um die Bestellungen der Kellner auszuführen, schaukelten ihre langen, altmodischen Ohrringe, und das dunkelbraune Haar erglänzte. Mit wuchtiger, etwas 75 rauher Stimme rief sie die Namen der Speisen in den Schacht, der zur Küche führte, ganz ruhig und ihren Leuten vertrauend. Nur, wenn es etwas zu monieren gab, kippte ihre Stimme ins Helle und Spitze über. »Bertha! Wo bleiben denn wieder die Klopsä?!« Dies zum Beispiel brachte den hohen Ton, der in der Küche Flügel gab. Frau Below war eine vermögende Frau, sie hätte sich bequem eine Büfettdame halten können. Aber selbst im Beruf zu bleiben, war ihr Lebenselement. So sah man sie seit zwanzig Jahren Tag für Tag. Joachim Friedrich hatte nicht ihre sitzende Lebensweise, denn er verkehrte als liebenswürdiger Wirt in allen Räumen. Infolgedessen war er körperlich ihr Gegensatz, eine magere Beamtengestalt, altpreußisch aufrecht und elastisch, mit grauem, schlichtem Haar und kurzem Schnurrbart. In seinen blauen Augen wechselten tiefer Ernst und nachdenklicher Humor, und seine geröteten Züge hatten jene Lebensklugheit, welche den Berliner Edelphilister auszeichnet. Wenn er durchs Lokal schritt und die Gäste begrüßte, etwas breitbeinig, immer im schwarzen Rock mit Ordensbändchen, zeigte er Fürsorglichkeit und Zurückhaltung zugleich. Ein Buhlen um die Gunst der Gäste war ihm fremd. Er wußte, was er bot und warum man zu ihm kam. Sein Publikum bildete sich nach ihm. Man wollte keine Wirtsfloskeln – jeder hatte sein Eigenleben beim Weine. Man atmete eine unveränderliche Altersstimmung. 76 Die Belowsche Ecke war niemals richtig gelüftet worden. Weindunst und Tabaksqualm stiegen seit Jahrzehnten zur Decke empor, und der bemalte Plafond hatte ein verschwommenes Goldbraun bekommen. Die Wände des Hauptzimmers schmückten etwas steife Porträts, welche die preußischen Könige von Friedrich dem Ersten bis zu Wilhelm dem Zweiten darstellten. Es waren lauter strenge oder sinnende Monarchenköpfe, die, beständig eingeräuchert, wie durch einen Schleier auf den Betrachter blickten. An den Fensterpfeilern hingen feine Mahagonispiegel, uralte Mullgardinen mit vergoldeten Haltern schützten die Scheiben. An dünnbeinigen Eichentischen saßen die verschiedenartigsten Weintrinker auf niederen Biedermeierstühlen. Tischtücher gab es nicht in der Belowschen Ecke. Auch das elektrische Licht drang hier nicht ein. Man begnügte sich mit matten Glühstrumpfflammen. Der fremdeste Gast kam wie in ein Familienreich hinein. Die Kellner, alle »langjährig«, wußten wie gute Bediente mit den Wünschen der Gäste Bescheid. Dabei blieben sie selbständige Beamte und durften auch ein freies Wort wagen. In der Belowschen Ecke gab es noch nicht den Kellnertypus der Weltstadtrestaurants. Man stimmte entweder zu dem patriarchalischen Ton oder man kam nicht wieder. Auch das Leben der Gäste außerhalb des Lokals war den Kellnern vertraut. Sie trugen die Zeiteinteilung aller Herren beständig bei sich, und 77 deshalb war die Belowsche Ecke ein vorzüglicher Treffpunkt. »Is Herr Linke schon hier gewesen?« »Nee – Herr Linke kommt immer erst um zehn.« Der schnurrbärtige Kellner, der einem früheren Schutzmann glich, antwortete nicht devot, sondern wie eine ruhige, amtliche Auskunftsstelle.

Das Original des ganzen Lokals aber war Gottlieb Pinkert, der Nestor bei Belows. Er war schon Faktotum bei Joachim Friedrichs Vater gewesen. Rudolf, Erna und Hermann kannte er seit ihren Geburtstagen. In seiner kurzen, etwas fadenscheinigen Jacke, gebückt und schlurfend, mit rotem, glattrasiertem Gesicht und weißlichem Kahlschädel, war er als Bedienung nur im Stammtischzimmer möglich. Schon nebenan, unter den Zufallsgästen, lächelte man über den alten Mann. Pinkert, der immer mit grimmiger Miene seine Rebhühner mit Sauerkohl und seine Pökelbrust mit Erbsen vorübertrug, hielt sich nirgends auf. Seit vierzig Jahren schlurfte er zum Büfett, knurrte die Bestellungen, erboste sich, wenn er warten mußte, und kehrte dann wie ein Mann, der von einer großen Verantwortung beladen war, in das Allerheiligste zurück. Scherzen konnte man nur mit ihm, wenn man ihn näher kannte – Pinkerts Grobheit war gefürchtet, seine Schlagfertigkeit berühmt. Die Gäste vom Stammtisch hatten natürlich jeden Abend ihren Spaß mit Belows Hausgeist. Mehrere von ihnen waren ebensolche Originale und paßten nur in 78 dieses Lokal hinein. Doch gab es auch einige Erscheinungen, an die sich Pinkert nie gewöhnen konnte. Es waren jüngere Herren – ihr Stuhl war noch nicht eingesessen, und sie brachten die Atmosphäre Berlins mit, die hier verpönt war.

Gottlieb Pinkert mußte immer seinen Stachel haben, wider den er löken konnte. Das bildete die einzige Veränderung in seinem Kellnerleben. Im Winter des Jahres 1905 war es Doktor Werner von Wiesenlattich, den der zersetzende Geist des Stammtisches, Rechtsanwalt Wechsler, herangeschleppt hatte. Was wollten solche Leute in der Belowschen Ecke? Eines von den reichen »Aestern« aus der Tiergartenstraße, mit Automobil und Zobelpelz, dürr und lang, mit Spitzbärtchen und Eischädel, aber freilich auch mit klugen, schönen Augen. Pinkert haßte besonders Doktor von Wiesenlattichs Ringe. »Davon kennten fufzehn Beamtenfamiljen zwee Jahre leben! Und mit die Spinnenfinger hat er doch nie wat jetan!« Es war ganz klar, der Bankdirektorssohn langweilte sich bei Hiller und im Hotel Bristol. Er brauchte eine neue Sensation, und da der Luxus sie ihm nicht bieten konnte, suchte er sie in der altmodischen Primitivität. Nachher ging er ja doch immer in den Millionenklub. Pinkert traf so ziemlich das Richtige. Aber für die feineren Eigenschaften dieses Gastes fehlte ihm das Verständnis. Der reiche Mann war Doctor philosophiae, ein belesener Kunsthistoriker und Sammler. Sein Steckenpferd war 79 die Biedermeierzeit. Bilder und Möbel aus dieser Epoche konnten Herrn von Wiesenlattich in einen Taumel versetzen. Er hätte am liebsten die ganze Belowecke gekauft. Da dies nicht möglich war, kam er jeden Abend auf ein Stündchen. Die alten Herren am Stammtisch rückten zusammen und zwangen sich zur Höflichkeit – der Name Wiesenlattich hatte einen guten Klang.

Eines Abends aber ging es Pinkert doch über die Hutschnur. Da brachte der geduldete Millionär noch einen Fremden mit. Und was für einen! Ein kleines, abgezehrtes Kerlchen, viel geckenhafter als Wiesenlattich, ein Monokel eingeklemmt, und wie eine rastlose Maus alles um sich her beschnüffelnd.

»Hier sind wir also in der berühmten historischen Ecke, Baron Troll,« begann Herr von Wiesenlattich. »An diesem Tisch sollen Schopenhauer und Hegel gesessen haben – selbstverständlich an verschiedenen Abenden. Drüben, neben dem Ofen, war Bismarcks Platz.«

»Was Sie sagen! Als er schon Reichskanzler war?«

»Das doch nicht. In den fünfziger Jahren. Da war er noch nicht einmal Minister.«

Baron Troll nahm Bismarcks Platz ganz genau in Augenschein.

»Is nischt mehr von ihm da,« brummte Pinkert. »Nich mal eens von seine drei Haare.«

80 Der Baron streifte den Kellner mit einem erstaunten Blick. »Ich finde es hier entzückend,« sagte er dann, mit Trippelschritten umhergehend. »So wohltuend still. Nebenan, bei Madame Below, herrscht ja ein Höllenlärm. Da hört man von Balkanpolitik und Kursen reden. Aber hier ist Stimmung, Caché. Sehr fein. Ist dies das Stammtischzimmer?«

»Jawoll, det is't Stammtischzimmer,« erwiderte Pinkert. »Die Herren nehmen woll lieber drüben Platz?«

Baron Troll warf diesem ungewöhnlichen Kellner einen drohenden Blick zu. Sonst wurde jeder Plebejer davon entwaffnet – Pinkert aber nicht. Doktor von Wiesenlattich mischte sich lächelnd ein. »Ich gehöre ja zum Stammtisch, Pinkert.«

»Muß man hier etwa einen Passierschein vom Kellner haben?«

»Lassen Sie nur, lieber Baron. Die Hauptsache ist: was trinken wir? Ich denke, wir fangen mit dem Belowschen Hausbordeaux an.«

»Hausbordeaux? Ist der zu empfehlen?«

»Det kommt janz uf'n persönlichen Jeschmack an,« erwiderte Pinkert, indem er auf einen Stuhl kletterte und noch eine Gaslampe aufleuchten ließ. Dann kam er wieder herunter und reinigte die Stuhldecke mit seinem Aermel. »Die Herren hier, wat ihn trinken, die haben alle 'n sehr juten Jeschmack.«

81 »Impertinenter Kerl,« flüsterte Baron Troll seinem Freunde zu.

»Daran müssen Sie sich gewöhnen.«

»So?!«

»Also eene Haus,« sagte Pinkert, zur Tür schlurfend. »Und wat zu essen, meine Herren?«

»Nein, nein!« rief der Baron mit ängstlicher Schnelligkeit. »Ich esse nachher im Klub!«

»Rinderbrust mit Merrettig und Bouillonkartoffeln«, las Wiesenlattich lächelnd aus der Speisenkarte vor. »Rebhuhn mit Sauerkohl. Das ist eine Delikatesse in der Belowschen Ecke.«

»Essen Sie das vielleicht? Ist es schon so weit mit Ihnen gekommen?«

»Ich esse Rebhuhn. Selbstverständlich. Und einen echten Nordhäuser, Pinkert.«

»Scheen.« Der alte Kellner verschwand.

»Rebhuhn – Sauerkohl – Hausbordeaux – Nordhäuser! Wie fühlen Sie sich danach?«

»Ausgezeichnet – das werden Sie sofort sehen.«

»Na, entschuldigen Sie! Ich finde das alles ein bißchen pervers!«

»Oho!«

»Sie lassen sich von diesem unappetitlichen Kerl bedienen und werden unserm vollendeten Jacques im Bristol untreu? Alles wegen der paar Biedermeiermöbel?«

»Ueberhaupt. Im Ernst gesprochen, Troll. Hier besänftigt man seine Nerven.«

82 »Sie haben mir aber Originale versprochen. Wo bleiben die Originale?«

»Es ist noch ein bißchen früh. Wann kommen denn die Herren, Pinkert?«

Der Alte kam eben mit dem Wein zurück. Er drehte den Korkenzieher in die Flasche und zog ihn zwischen den Knieen heraus. Baron Troll erstarrte in Indignation. »Werden jleich hier sein. Der Herr Rechtsanwalt steht schon nebenan und redet mit Frau Below.«

Der also Angekündigte ließ nicht lange auf sich warten. Mit ihm wurde es geräuschvoll im Stammtischzimmer. Richard Wechsler, ein hübscher, beleibter Vierziger, hatte das agile und liebenswürdige Wesen, das bewußt Wärme verbreitet, Hoffnungen erweckt und Versöhnung stiftet, wo es auch auftaucht. Der Untergrund seiner schillernden Begabung war der Friedenston patriarchalischen Judentums und verband sich reizvoll mit der Nervosität des modernen Tatmenschen. Er trug sein gutes Herz beständig wie ein gefülltes Portemonnaie herum, er spielte den schlichten Mann der Arbeit. Dabei hatte seine Stimme einen verschleierten Gourmetklang, und sein Mund unter dem amerikanisch gestutzten Schnurrbart öffnete sich beim stärksten Wortsprudel schlaff und dreieckig, wie bei einem geübten Austernesser. Der Rechtsanwalt war liberaler Politiker. Er hatte alle Wandlungen dieser Bewegung mitgemacht. Bald gehörte er zu dieser, bald zu jener 83 Gruppe. Sicher war es jedenfalls, daß Wechsler, der ein luxuriöses Haus führte, viel Geld verdiente. Er war der richtige ›Macher‹, jeden Augenblick aus der Zeitkanone geschossen. Mehrere Aufsichtsratsstellungen in industriellen Unternehmungen gaben ihm einen undurchsichtigen Nimbus, und er konnte als Jurist auf schnelle Ehescheidungen ein Patent nehmen.

»Wie immer ganz persönlich erfreut,« begrüßte er Wiesenlattich und stellte sich Baron Troll mit einem kurzen »Name ist Wechsler« vor. Dann setzte er sich und breitete sich in seiner Bestellung aus. »Pinkert! Herzenspinkert! Kommen Sie mal her! Ich verhungere!«

Pinkert leierte die Speisenfolge von »Buljong mit Ei« bis zur »Rinderbrust mit Merrettig« herunter.

»Rinderbrust! Recht saftig! Und 'ne halbe Markobrunner! Ach, meine Herren, ich habe eben zwei Akte Tristan gehört! Wundervoll! Opernhaus ausverkauft! La – talidi – la talidi – –! Aber den dritten Akt halt' ich nicht aus!«

»Mein Freund kommt eben aus London und Paris,« bemerkte Wiesenlattich. »Das ist der richtige Globetrotter.«

»So! Wie interessant!«

»Die Moderne in den Weltstädten interessiert mich aber bei weitem nicht so wie die alten Kulturreste,« näselte Baron Troll. »In Berlin scheinen sie ja immer spärlicher zu werden. Hier freilich –«

84 »Hier ist alte Kultur, ganz alte Kultur! Historische Ecke! Prosit, Baumeister!«

Wechsler trank mit diesem Ausruf einem großen, blondbärtigen Manne zu, der eben das Zimmer betrat. Er hatte das rote, harte Gesicht von Leuten, die viel trinken, aber auch viel im Freien sind. Er lachte geräuschvoll. »Prost, Rechtsanwalt! Komme sofort nach! Wovon reden Sie eben? Historische Ecke? Ach, möchten doch meine Ecken ooch mal historisch werden!«

»In Wilmersdorf und Schöneberg kann man sich das allerdings nicht vorstellen!«

Baron Troll, der immer nervös wurde, wenn er in einer nicht standesgemäßen Gesellschaft zu sein glaubte, erhob sich und starrte von neuem den Schmuck der Wände an. »Ueberall interessante Erinnerungen! Ein Knaus! Ein Menzel! Und diese Autogramme! Hat das Bismarck geschrieben?«

»Selbstverständlich! Below war ja ein guter Bekannter von ihm! Pinkert, ist der Camembert durch?«

»Looft schon, Herr Rechtsanwalt,« erwiderte der Alte. Er taute jetzt ein bißchen auf, da mehrere Gäste anwesend waren.

»Wo steckt denn eigentlich Herr Below?« fragte Baron Troll. »Auf den bin ich am meisten begierig. Auf den echten bürgerlichen Wirt der alten Schule, den Urberliner. Und doch etwas Vornehmes.«

85 »Da werden Sie ein Prachtexemplar kennen lernen,« erzählte Wechsler, sein Rebhuhn zerteilend. »In diesem seinem Hause ist er geboren und aufgewachsen! Krieg 70 hat er mitgemacht! Eisernes Kreuz! Hoflieferant von fünf preußischen Königen! Der Mann ist 'n Wahrzeichen von Berlin! Das Sauerkraut war schon besser, Pinkert!«

»Ick koch' et ja nich!«

Jetzt öffnete Below die Tür und neigte seinen weißgrauen Kopf vor den Gästen. »Guten Abend, meine Herren! Nanu? Wo bleibt denn heute die alte Garde?« Baron Troll wurde vorgestellt, und Below setzte sich an den Stammtisch.

»Die kommen jewiß nich durch,« meinte Baumeister Fork. »Unter'n Linden is ja 'n fürchterliches Jedränge. Hofball. Da lassen die Patrioten keene Equipage aus.«

»Ich habe vorhin meinen Abendbummel gemacht,« sagte Below, der Forks letzte Bemerkung zu mißbilligen schien. »Bis zum Alten Fritzen. Es is doch seit dreißig Jahren immer dasselbe. Bloß 'n bißchen mehr Leute – na ja. Guten Appetit, meine Herren. Hat Gottlieb auch für alles gesorgt?«

»Heißt dieser Musterkellner Gottlieb?« fragte Baron Troll.

»Gottlieb Pinkert, Herr Baron,« erwiderte der Wirt arglos. »Er is übrigens besser als die meisten modernen Schwalbenschwänze.«

86 »Rauhe Außenseite – goldenes Herz,« sagte Wechsler und kratzte seinen Camembert ab.

»Aber dem Herrn Baron schmeckt wohl der Wein nich?« fragte Below, der jede Unzufriedenheit sofort witterte und aus der Welt schaffen wollte. »Was is es denn? Hausbordeaux? Nee, nee. Den dürfen Sie doch am ersten Abend nich trinken.«

»Nicht?« rief Wiesenlattich, in die Hände schlagend. »Ja, um des Himmels willen! Ich glaubte es gut zu machen!«

»Sehen Sie,« quakte der Baron weinerlich, »Herr Below selbst –«

»Wenn Sie mir erlauben, lasse ich Ihnen was andres kommen, Herr Baron. Ueberlassen Sie mir die Wahl?«

Belows ernster Eifer wirkte auf Baron Troll. Das war kein geschäftlich interessierter Wirt, sondern ein vornehmer Verwalter, ein Sachverständiger, dem es um die Ehre ging. Troll nickte lächelnd.

»Also eine Chateau Raillac, Pinkert. 84er. Herr von Wiesenlattich hilft wohl, und ich habe so 'ne geheime Ahnung, daß der Herr Baron auch ganz alleine damit fertig wird.«

Pinkert brachte eine verstaubte Flasche aus dem Keller, die wie von ihrem Inhalt berauscht in einem zierlichen Körbchen lag. Auch besondere, fein geschliffene Gläser kamen, und nun war Below in seinem Element. Er löste selbst das Siegel, öffnete 87 die Flasche und putzte den Hals mit einer feinen Bürste ab, alles schmunzelnd und ein bißchen nickend, als wollte er dem Trinker von vornherein sagen: »Na, die hier wird mich rechtfertigen. Da wirst Du erst fühlen, daß Du in der Belowschen Ecke bist.« Pinkert stand mit etwas leidender Miene dabei. Ihm tat es immer weh, wenn gewisse Weine nach seiner Ansicht an den falschen Mann kamen.

Nach dem ersten Glase zeigte es sich, daß Baron Troll erobert war. Aber sein Entzücken blieb wissenschaftlich. »Solche Gewächse haben Sie im Keller, Herr Below? Das ist ja prachtvoll.«

»Zwei Oxhoft hab' ich noch.«

»Sie scheinen – mit Erlaubnis zu sagen – keene Ahnung zu haben, wo wir hier sitzen,« polterte jetzt Baumeister Fork los. »Von Rechts wejen müßte jeder Jast erst mal in den Keller geführt werden, bevor er bei Below was zu trinken kriegt. Ich sage Ihnen, da liegt für hunderttausend Mark Wein unten. Da duftet's wie im Märchen. Aber alle Jartenblumen können mir jestohlen bleiben für so 'ne Blumen. Wenn's auch finster is, und bloß 'ne Funzel brennt, und Mäuse sind da und schmierige, schwarze Fässer.«

Baron Troll war eingeschüchtert. »Gewiß, gewiß – das würde mich alles außerordentlich interessieren. Wenn ich Ihren Keller gelegentlich besichtigen dürfte, Herr Below?«

88 »Aber sehr gern, Herr Baron.«

»Da komm' ich mit!« rief Fork.

»Nee, nee, Sie bleiben hier, Baumeister,« entschied Below mit jovialer Sicherheit. »Sie haben das Zipperlein, und wenn Sie erst mal unten sind, halten Sie sich für 'ne Prüfungskommission und fangen gleich an zu kosten.«

Das Gelächter, das diesen Worten folgte, wurde vom Erscheinen zweier neuer Stammgäste unterbrochen, die auf solche Weise jubelnd begrüßt wurden. Jetzt kam die alte Garde, von der Below gesprochen hatte. Ihre Hauptvertreter sogar: Professor Ottomar König, der achtzigjährige, pensionierte Gymnasialdirektor, und Hauptmann von Weinschenk, ebenfalls a. D. Es waren Dioskuren absonderlicher Art. Seit siebzehn Jahren holte der Hauptmann den Professor Abend für Abend aus seiner Wohnung am Köllnischen Fischmarkt ab und führte ihn in die Belowsche Ecke. Weinschenk hatte ein steifes Bein, hielt sich aber für den bedeutend Rüstigeren – er sah wie ein hochgewachsener Sohn auf den trippelnden, kleinen Greis herab. Professor König aber wehrte sich beständig gegen seine Hilfe, die ihm unentbehrlich war. Der eine schwelgte in der Undankbarkeit des anderen – sie machten sich beständig Vorwürfe, und niemals waren sie konform in der Belowschen Ecke erschienen. Auch heute kamen sie wieder am Abschluß eines Streites. Die anderen Stammgäste freuten sich schon immer auf diese 89 Würze des Abends. In der Tür machte sich der Professor von dem stützenden Arm des Hauptmanns los und eiferte beim Eintreten: »Ich danke! Hier bedarf ich Ihrer Hilfe nicht mehr! Ich danke wirklich! Aber so lassen Sie mich doch los!«

Der große Hauptmann erwiderte mit seiner Donnerstimme, die für Schwerhörige berechnet schien: »Also gut! Meinetwejen fallen Sie in die Panke! Ich hole Sie nich mehr ab!« Dies sagte er jedesmal.

Below legte sich ins Mittel und führte den alten König auf seinen Platz. »Der Herr Professor is aber auch was Solides.«

»Bestärke ihn man noch! So 'ne Unvernunft! 'ne kleene Verrenkung jenücht, und er kommt in de Klappe, und da findet er mit 80 nich mehr raus!«

»Ach was, ach was,« brummte der Professor. »Setzen Sie sich nur hin.«

»Setzen!« rief Wechsler übermütig zu dem alten Schulmann hinüber.

Herr von Weinschenk nahm Platz und streckte sein steifes Bein aus. »Und niemals 'n Abend ohne Streit! Das kenn' ich jar nich anders! Immer erscheinen wir hier wie de Kampfhähne!«

»Was hat es denn heute wieder gegeben?« fragte Below.

»Bitte, entscheiden Sie!« rief der Professor. »Wenn er mich mitten auf dem Damm der Friedrichstraße stehen ließe, mich alten Mann, so daß ich 90 unter ein Automobil käme – ich würde doch noch behaupten, daß es im Jahre 1870 noch keine Droschken erster Klasse gegeben hat!«

»Also das war der große Streitpunkt? Da hat der Professor übrigens recht.«

»Natürlich habe ich recht!«

Der Hauptmann bezwang sich, stützte den roten Kopf in die Hand und trommelte auf den Tisch.

»Na, was hast Du denn für Sorgen, lieber Lorenz?« fragte Below, um auch ihn zu besänftigen.

»Ach, ich halt' es nich mehr aus in Eurem Berlin! Hier erstickt man ja! Hier wird man ja langsam zu Tode jetrampelt und blödsinnig! Dies Jeschiebe, dies Jetute, dies Jeklingel 'n janzen Tag! Was brauch' ich mich denn immerzu rumschubsen zu lassen? Keine ruhige Minute hab' ich ja als pensionierter Offizier, und alles bloß, um in Berlin zu leben? Bin ich denn nich 'n Dromedar, daß ich nich schon längst auf meinem Jut bei Oranienburg sitze?«

»Ueber Ihr Verhältnis zu einem Dromedar bin ich mir nicht im klaren,« meinte Professor König, »aber daß Sie sich auf Ihr Gut zurückziehen wollen, das sagen Sie jetzt seit 25 Jahren.«

»Ich tu's, ich tu's, zum Donnerwetter!«

»Aber bedenken Sie doch auch, Herr Hauptmann,« bemerkte Wechsler jetzt mit seinem dreieckigen Feinschmeckermunde, »was Berlin Ihnen alles bietet!«

»Was bietet's mir denn?! Benzinjestank! Ich sehne mich ja nach einem Misthaufen!«

91 Ein stämmiger, beweglicher Herr, schwarzlockig, ein Pincenez vor den lebhaften Augen, platzte jetzt durch die Tür herein und riß seinen Radmantel von den Schultern. »Wie? Was? Benzinjestank? Misthaufen? Das sind Gegensätze! Gegensätze sind immer gut! Sagen Sie doch noch Idealparfüm! Guten Abend, meine Herren! Was gibt's Neues?«

»Das fragen Sie uns?« rief Below. »Sie Pressehäuptling?«

Kretschmar, der vielbeschäftigte Redakteur, war ebenso leistungsfähig im Essen und Trinken wie als Journalist. Er bestellte sich ein ganzes Konto bei Pinkert, bevor er Rede stand.

»Sie sitzen so jemütlich da,« sagte Baumeister Fork. »Hier hat sich eben die alte Jeneration höchst despektierlich über die neue jeäußert.«

»Wenn Se wollen, sag' ich's jleich noch mal,« brummte der Hauptmann.

»Aber liebster, bester Herr Generalfeldmarschall,« platzte jetzt Kretschmar los. »Sie sind doch 'n Kind des zwanzigsten Jahrhunderts!«

»Bin ich nich!!«

»Worüber beklagen Sie sich denn?«

»Ueber Euren lausigen, jroßartigen Berliner Verkehr! Brutalitäten sind das – weiter nischt!«

»Aber man muß doch die Nerven seiner Epoche haben! Stadt wie Berlin braucht Nerven! Alles drängt vorwärts! Heute gut, morgen besser! Nur kein Stillstand – darf ja nich sein! Pinkert, gibt es 92 Klopse? Παντα ρει! Heraklit war wahrscheinlich auch'n Berliner! Passen Sie auf, es wird noch viel doller! Straßenbahn kriegt Schnellverkehr oder wird unterirdisch! Hochbahn wird durch Schwebebahn ersetzt! Und in der Ferne seh' ich schon die lenkbaren Taxameterluftschiffe!«

»Dann sitz' ich in Oranienburg,« resignierte Weinschenk.

»So?« rief der alte König erbost. »Und wer holt mich ab?!«

Kretschmar lehnte sich nach seiner Gewohnheit weit in den Stuhl zurück und warf seinen feisten Oberkörper hin und her. »Meine Herren, meine Herren! Es is doch 'n Hochgenuß, seine Vaterstadt so anwachsen zu sehen! Wenn ich an meine Kindheit denke! Lieber Gott! Nach 'm Nollendorfplatz war's damals 'ne Landpartie, und an die Havel, wo man jetzt per Auto über die Döberitzer Heerstraße flitzt, kam man jeden Sommer einmal!«

Professor Königs Leidenschaft, zu debattieren, brach immer unvermittelt los. »Wenn ich so etwas höre! Dieser Kiekindiewelt! Dieser Kretschmar!« Er schlug auf den Tisch, daß die Gläser klirrten. »Sie waren ja noch gar nicht geboren, als ich so alt war wie Sie! Vor 50 Jahren, mein Lieber! Wie da Ihre Vaterstadt aussah – das wissen Sie nicht!«

»Allerdings nich! Entschuldigen Sie, daß ich nich früher geboren bin, ehrwürdiger Patriarch und Kirchenvater! Sie sind ja noch 'n Achtundvierziger. 93 Sie haben ja noch auf der Barrikade gestanden. Bei andern Achtundvierzigern kann man das allmählich bezweifeln – die haben nämlich alle auf der Barrikade gestanden. Aber Ihnen trau' ich's zu.«

»Ich habe ein dreifaches Wachstum von Berlin erlebt! Berlin war eine kleine Stadt im Jahre 48! Aber schön war diese Stadt! Ach – wunderschön!«

»Wahrhaftig!« rief Weinschenk, der mit seinem zweiten Schoppen fertig war.

»Weinschenk, davon wissen Sie nichts!« zischte König.

»Nanu!?« Der Hauptmann erhob sich halb.

»Wann sind Sie denn geboren?«

»Danach jeht's nich!«

»Ihre Zeit ist 70-71! Eine Epoche, die mich überhaupt nicht interessiert!«

»Aha! Jawohl! Die Jründung des Deutschen Reiches! Bismarck, Moltke, Roon – 'n Pappenstiel! Der alte Wilhelm – 'ne Episode! Daß Ihr vorher »Der Sänger hält im Feld die Fahnenwacht« jejrölt habt und Turnvereine jejründet und mit Redensarten um Euch jeschmissen – das war was!?«

»Redensarten?!!«

Below mußte sich wiederum ins Mittel legen. Jetzt war es im Stammtischzimmer zu laut geworden. Er liebte es nicht, wenn im Lokal nebenan gehorcht und über die Alten gespottet wurde. »Aber meine Herren, meine Herren! Ein bißchen piano, wenn ich bitten darf! Das hört ja die Geheime Kriegsrätin 94 zwei Treppen, und die nimmt so schon immer Brom zum Schlafen! Was größer war – 48 oder 70 – das läßt sich doch hier unmöglich feststellen. Wir regen uns jetzt um andere Sachen auf.«

»Ja, Below!« rief Weinschenk mit pathetischer Handbewegung. »Wir sind zum alten Eisen jeworfen! Kriegskameraden – zu nichts mehr nutze in dieser schlappen, nervösen, miselsüchtigen Zeit!« Der Hauptmann spuckte aus und roch mit Wehmut an seinem dritten Schoppen. Below schüttelte lächelnd den Kopf und schwieg. Auch die anderen waren durch die Heftigkeit des Streites stiller geworden. Jetzt kam Berthold Ascher langsam in das Stammtischzimmer. Ruhig grüßte er, mit kaum merklichem Sarkasmus. Pinkert nahm ihm seinen kostbaren Pelz ab. Dem Kommerzienrat – er war es inzwischen geworden – folgte Herr Rösicke, der phlegmatische Wäschefabrikant, der nie durch etwas anderes bemerkbar wurde, als daß er außerordentlich viel trank. Er setzte sich, schwieg und döste, bis er wieder nach Hause ging.

»Nein, nein,« murmelte der alte König, der nach dem anstrengenden Streit den Kopf auf die Brust senkte – »ich freue mich nicht an dieser Art Entwicklung.«

»Hier sitzt einer,« sagte der Hauptmann mit einem giftigen Seitenblick auf Ascher – »der freut sich!«

95 Ascher reagierte nicht und aß in seiner bedächtigen Art den Kaviar, den Pinkert ihm gebracht hatte.

»Verehrtester Herr Professor,« begann jetzt Kretschmar, sich den Schnurrbart wischend, »das Idyll von Anno dazumal war ja was Wundervolles, aber wir Leute von heute haben es ein für allemal begraben. Sonst versinken wir ja in ästhetischer Gefühlsduselei. Pardon, Doktor von Wiesenlattich – ich kenne Ihre Bestrebungen – das sollte nicht auf Sie gehen.«

Wiesenlattich lächelte. »Ich bezog das auch nicht auf mich. Ich bin Kulturhistoriker. Wenn ich in vergangenen Geschmacksepochen lebe und die frühere, gewisse Schönheit der heutigen, ungewissen vorziehe, so ist das ganz etwas anderes.«

»Ja, sehen Sie, und wir, wir Unhistorischen, wir schaffen eben 'ne neue Gewißheit! Uebrigens famos formuliert! Einen Augenblick – das lass' ich mir nich unter'n Tisch fallen.« Kretschmar schrieb es sich in sein Notizbuch.

»'ne neue Gewißheit?« fragte Below, nachdenklich vor sich hinnickend. »Beneidenswert, an sowas zu glauben. Manchmal wünsch' ich mir, in die Werkstatt reinzukucken, wo neue Gewißheiten gemacht werden. In Ihren Zeitungspalast zum Beispiel, Herr Kretschmar.«

»Warum kommen Sie denn nich mal? Ich zeige Ihnen alles. Die große Rotationsmaschine, die 96 unser ganzes Blatt ausspuckt – fertig gefalzt, geschnitten, illustriert!«

Hauptmann von Weinschenk rückte unruhig auf seinem Stuhl herum. »Aber Below – was willste denn da?«

»Ja, lieber Lorenz – hier wird immer bloß davon gesprochen.«

Diese Aeußerung schien den sonst so gleichmäßigen Ascher zu überraschen. Er sah Below über seinen Kneifer an und meinte: »Hört, hört. Das sind ja ganz neue Ansichten bei Belows?«

»Find' ich auch!« knurrte der Hauptmann. »Neue, aber keene anjenehme!«

»Nun sagen Sie mir mal, Herr Below,« brach Professor König von neuem los – »halten Sie vielleicht alles, was da draußen tobt und Radau macht, für Fortschritt?!«

Below zuckte die Achseln. »Tobt und Radau macht . . .«

»Dein Lokal is ein himmlisches Asyl des Friedens und der vornehmen Jeselligkeit!« rief Weinschenk. »Hier is die letzte Stelle, wo man zum Nachdenken kommt in Berlin! Wo man überhaupt noch weiß, was los is! Wir haben den wirklichen Fortschritt mitjemacht – das jenügt!«

»Den wirklichen Fortschritt? . . .« Below stand auf. »Sehen Sie mal die beiden Fenster hier, meine Herren. Die gehen auf die Linden raus, nich wahr? Das dritte is 'n Stiefkind – in der 97 Schadowstraße is nie was los gewesen. Aber hier. Was hab' ich hier nich alles mitangesehn. Am Fenster. Aber auch unten auf der Straße, mittenmang. Zum Beispiel 71 – da bin ich von Frankreich nach Hause gekommen, hinter dem alten Kaiser her, durchs Brandenburger Tor. Da hatt' ich 'n Kürassierhelm auf 'm Kopf – stellen Sie sich das vor, meine Herren: Below mit 'm Kürassierhelm und 'n Säbel in der Hand und Eichenzweige und – jung – – na ja . . . Da ritt ich hier vorüber, und am Fenster – hier an diesem – stand Minna.«

Nachdenklich blickten die Grauköpfe vor sich hin. Below trank erst einen Schluck, dann fuhr er fort: »Ich habe die Revue mit 71 angefangen – aber vorher 66 – vorher 64 – und ganz im Dämmer weiß ich's noch – ich war 3 Jahre alt, meine erste Erinnerung – 48, der achtzehnte März. Da wurde auch geschrien und geschossen Untern Linden, aber anders. Mein Vater kam plötzlich und riß mich vom Fenster weg. Später ritt Wrangel draußen vorüber. Und noch später – Bismarck. Und dann fingen die Sozialisten an. Draußen sah ich den alten Kaiser, wie Nobiling ihn getroffen hatte. Andere Zeiten, meine Herren. Wir Belows machten die Fenster zu.«

»Das war das Unbeirrbare an Euch!« sagte der Hauptmann dumpf.

»Aber auch das geht vorüber. Sogar Bismarck ging. Und alles wurde wieder frisch vergoldet. 98 Auch mein Hoflieferantenwappen. Aber unser Patriotismus – ich kann mir nich helfen, Lorenz – der war von besseren Eltern. Jetzt is doch alles mehr geredet als erlebt. Sagen Sie's nich weiter, meine Herren. Die Maße sind kleiner geworden. Unter uns: 'n Pudel is kein Tyras.«

Nun lachten alle. »Famos!« rief Kretschmar. »Wollen Sie das nich alles mal schreiben, Herr Below? Für meine Zeitung vielleicht? Wie wär's? Aufzeichnungen eines alten Berliners! Wär' doch reizend!«

»Nee, das find' ich nich. Ich wollte nur sagen: man soll sich davor hüten, engherzig zu werden. Man soll nie sagen: meine Jugend hatte Sinn, aber die von heute hat keinen. Ihren Sinn hat wahrscheinlich jede Jugend, meine Herren. Die Postkutschenzeit wie die eiserne oder die elektrische oder womöglich die mit Flügeln. Ich traue mir nich zu, aus ›meiner Zeit‹ erhaben auf alle andern runterzukucken.«

Below setzte sich. Man sah sich verwundert und beklommen an. Was war denn das für eine merkwürdig erregte Sprache bei diesem Ruhigsten von allen? War Below etwas Besonderes zugestoßen? Der Verlust seiner Kinder – nun ja – das wußte man. Aber er hatte doch den Stürmen standgehalten, selbstsicher und verschwiegen – nun sprach er plötzlich von der abtrünnigen Jugend, ohne sie zu verdammen? Alle seine Worte hatten Doppelsinn. 99 Fühlte er sich einsam? Unter seinen alten Freunden? – In die wehmütige Entfremdung, die sich über die Stammtischgesellschaft legte und ein scheu verlegenes Schweigen brachte, sprach Berthold Ascher plötzlich hinein. Mephisto spürte etwas von Ernte.

»Sie haben ganz recht, lieber Below. Man schneidet sich immer ins eigene Fleisch, wenn man die neue Generation nicht hochkommen läßt. Die erste soll der zweiten dienen. Das ist gesunde Mathematik.«

»Nicht umgekehrt?« fragte Professor König mit zitternder Stimme.

»Umgekehrt natürlich auch. Im Familienleben, Herr Professor. Aber wir reden hier von Staat und Gesellschaft.«

»Sie?!« rief Hauptmann von Weinschenk entrüstet. »Sie reden von Staat und Jesellschaft? Sie Millionär? Sie Warenhauskönig? Ihre Jesellschaft is doch die Familie Ascher! Das werden Sie mir nich übel nehmen!«

»Ich nehme Ihnen nie etwas übel, Herr Hauptmann,« erwiderte Ascher freundlich. »Ich weiß ja, Sie sind nicht mein Kunde.«

»Nee, wahrhaftig nich! Ich lasse meine alten Lieferanten nich im Stich, um bei Ihnen in siebzehn Fahrstühlen zu rutschen, in 'nem Palmenjarten Affen und Papajeien zu sehen, daneben bei Doppelkonzert 'ne Lachssemmel zu essen und schließlich 100 nich mehr zu wissen, was ich mir eijentlich kaufen wollte!«

»Aber ich habe den Geschmack der heutigen Generation getroffen, der Sie nicht angehören, Verehrtester.«

»Sollten Sie nicht auch dazu da sein, Herr Kommerzienrat, den Geschmack der heutigen Generation zu bilden?« fragte Professor König spitz.

»Durchaus nicht, Herr Professor. Das wäre Pfuscharbeit. Ich leite kein Gymnasium. Bei mir ist der große Markt, bei mir ist einfach alles zu haben. Ich wundere mich über keinen Anspruch, der an mich gestellt wird. Je verrückter, desto besser. Bin ich dazu da, meine Kundschaft zu rezensieren? Ich bin dazu da, sie zu bedienen. Mein Privatgeschmack ist eine Sache für sich. Wenn ich zu Hause ein gutes Buch lese, oder wenn ich hier in der Belowschen Ecke abends meinen Schoppen trinke – das genügt mir.«

»Armer Kommerzienrat!« rief Kretschmar. »Andere Freuden hat er nich!«

Jetzt kicherten alle. Ascher verstand die Anspielung, blickte aber mit seiner undurchsichtigen Miene vor sich hin und sagte, als man sich beruhigt hatte: »Ich respektiere jedenfalls die Freuden meiner Mitmenschen. Ich suche es zu verstehen, daß man mit dem Auto lieber kleine Kinder totfährt, als weniger als 100 Kilometer in der Stunde zu machen. Ich würdige es, daß man alte Häuser, wie dieses 101 hier, scheußlich findet und die Stilblüten, die Baumeister Fork aus der Erde zaubert, wundervoll. Prosit, Baumeister. Sie sind hier, aber das macht nichts. Sie wissen ja, der Bau meines neuen Warenhauses in Westend wird Ihnen doch übertragen.«

»Das weiß ich!« sagte der lange Architekt, der sonst sehr böse werden konnte. »Darum können Sie auch sagen, was Sie wollen, Herr Kommerzienrat! Solange wir keinen neuen Stil haben, nehmen wir natürlich die alten!«

»Nu würd' es mich aber sehr interessieren, lieber Ascher,« begann jetzt Below erregter, »wie Sie mich eigentlich beurteilen. Ich weiß, daß meine alte Bude sich in der großartigen Umgebung immer wunderlicher ausnimmt. Aber sie steht doch nu mal da. Wie komme ich Ihnen denn im modernen Berlin vor? Normal oder verrückt?«

»Offen gestanden mehr verrückt.«

Ein großer Aufruhr folgte diesen Worten, aber Ascher ließ sich nicht beirren.

»Sie sind nämlich auch 'n Artikel für den modernen Geschmack geworden. Darauf kommt es einzig und allein an. Sie sind 'n Luxusgegenstand, Below. Das Geld liegt bei Ihnen auf der Straße, aber Sie heben es nicht auf.«

Below sah Ascher mit seinen großen, blauen Augen durchdringend an. »Was meinen Sie damit? Das Geld liegt bei mir auf der Straße?«

102 »Na, Ihr Grundstück ist doch unter Brüdern zwei Millionen wert? Wieviel Umsatz haben Sie dafür im Jahr? 'n halbes oder ein Prozent?« Ascher stand lächelnd auf und ließ sich von Pinkert in seinen Pelz helfen.

Below folgte ihm. »Was meinen Sie denn, was ich tun sollte?«

»Bleiben Sie nur so, wie Sie sind. Wer weiß, ob Sie dem Publikum gefallen würden, wenn Sie anders wären.«

»Wie denn – anders?«

»Hier läßt sich was draus machen.«

Nach diesen Worten ging Ascher. Auch die anderen blieben nicht mehr lange. Es war ein anregender, aber kein schöner Abend gewesen. In Wechsler freilich rumorten Aschers Andeutungen herum, und er sprach geheimnisvoll auf Fork ein, mit dem er noch ins Café ging. Professor König und Hauptmann von Weinschenk entfernten sich in hellem Streit. Kretschmar übernahm die Führung Baron Trolls für den angebrochenen Abend, und Doktor von Wiesenlattich war nicht zu exklusiv, um eine Flasche Sekt in der American Bar vorzuschlagen.

Below blieb allein, während Pinkert die Flaschen forträumte. Jetzt schob sich Minna durch die Tür, denn nebenan war es auch leer geworden. Die Wirtin brauchte nicht mehr am Büfett zu sitzen.

103 »Na?« sagte sie kurzatmig. »Ihr seid ja heute recht lebhaft jewesen?«

»Wenn die ins Streiten kommen, gibt es kein Ende,« brummte Below und sah sie dann besorgt an. »Du hast es aber wieder mächtig auf der Brust, Minna. Nimm doch 'n Pulver.«

»Nützt ja nichts mehr. Komm' schlafen. Schlafen is die beste Medizin.«

»Tust Du's auch?«

»Ach ja . . .«

»Na, na! Wenn ich man wüßte, wenn ich schlafe, ob Du schläfst!«

»Das is 'n Kunststück. Das mach' mir mal erst vor.«

Sie stiegen langsam die Treppe zur Wohnung hinauf. »Ach, Minna,« flüsterte Below plötzlich.

»Na? . . . Was haste denn?«

»Die Leute am Stammtisch – das sind doch lauter olle verweppte Herzen.«

Minna sah ihn überrascht an und blieb stehen, indem sie sich am Geländer festhielt. »Da hast Du wohl recht . . . Du bist aber doch viel jünger als die?«

»Hoffentlich, Minna! Die fühlen sich bloß im Räsonnieren wohl, im Durchwühlen von alten, abgetragenen Sachen. Stickluft is es, was ihnen nottut. Dahinter bin ich allmählich gekommen. Erinnerst Du Dich, was Rudi immer für'n Abscheu davor hatte, mit den Alten zu reden?«

104 »Rudi?! . . . Wie kommst Du denn auf einmal auf den, Fritz?«

»Warum denn nich? . . . Und Erna und Hermann, die wollten auch immer lieber hinten auf der Galerie sitzen. Aber vergiß es, Minna, was ich eben gesagt habe. Es fuhr mir bloß so raus. Die haben heute abend so entsetzlich viel gequasselt. Uebrigens sind die Alten immer noch besser als die Jüngeren. Wechsler zum Beispiel – was soll so einer eigentlich bei uns?«

Below war vorausgestiegen. Als er seine Frau nicht nachkommen hörte, drehte er sich nach ihr um. Da lag ihr breiter Körper über das Geländer gebeugt und zuckte. Sofort war er neben ihr.

»Minna!« bat er zärtlich.

»Es is schon . . . es wird schon besser . . . Ich bin eben 'n alter Trümmer.«

»Komm' nur. Ich bring' Dich zu Bett.« 105

 


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