Georg Hirschfeld
Die Belowsche Ecke
Georg Hirschfeld

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Zwölftes Kapitel

In der U. B. fanden Martha und Hermann den ›Generaldirektor‹ nicht. Rudolf war an dem Tage, da Wechslers Flucht entdeckt worden, noch nicht dort gewesen. Die Beamten des Zentralbureaus gaben nur lakonische Auskunft. Sie schienen die Gegenwart der fremdartigen, ihre Gemütsbewegung kaum bezwingenden Menschen als peinlich zu empfinden.

Mit freundlicher Nachlässigkeit sah Herr Kuschel vom Pult auf. Er sprach von Rudi Below wie von einem schon Gestürzten.

»Ich weiß gar nichts. Ich kann Ihnen leider nicht das mindeste sagen, gnädige Frau.« Dabei blickte er wie ein Huhn zum Himmel und tupfte mit seinem parfümierten Tuch die Stirn.

»Aber mein Mann muß doch noch kommen,« stotterte Martha. »Er muß doch die Geschäfte leiten! . . .«

»O, gnädige Frau! Die Geschäfte – die gehen auch ohne ihn! Wenn das nicht wäre! Die gehen ganz von selber weiter!«

383 Jetzt fühlte Martha, was die Glocke geschlagen hatte. Unter der Gewitterlast der nahenden Katastrophe machten sich diese Schmarotzer selbständig, um im Trüben fischen zu können. Rudolf war das Opfer, auf das alles abgeladen wurde.

Durch einen Blick verständigte Martha sich mit Hermann. Sie gingen. Draußen wirbelte ein häßlicher Schneeregen. Der Märzabend war bitterkalt und enttäuschte die Frühlingsahnung des Tages. »Hermann, mir war, als ob der ganze, große Palast da aus den Fugen ginge! Als ob die frechen Menschen alle offene Gräber wären! Ist Ihnen nicht auch so, als ob wir froh sein könnten, daß wir heraus sind? Bevor das Haus zusammenstürzt?«

Hermann nickte. Aber was nun? Sie wollten zunächst nach dem Kurfürstendamm fahren, in die Wohnung. Vom Telephonieren hielt Martha ihren Schwager ab. Sie fürchtete, daß Rudolf, falls er zu Hause war, sofort davonlaufen würde. Sie mußten ihn überraschen. Mit keimender Hoffnung fuhren sie hinaus.

Der Diener und das Hausmädchen, die einen übel vertrauten Eindruck machten, sahen Frau Below in peinlichster Ueberraschung kommen. Sie glaubten ihren Herrn von dieser Dame längst getrennt. Sie zogen Gesichter, als ob sie die Tür zumachen wollten. Martha aber drang energisch ein.

Rudolf war nicht mehr da. Er hatte eine halbe Stunde in seinem Arbeitszimmer verbracht, den 384 Schreibtisch ausgekramt und alles durcheinander geworfen. Dann war er in großer Erregung wieder zum Automobil hinuntergelaufen. Reisegepäck hatte er nicht mitgenommen.

Die Domestiken sahen sich erschrocken an. Jetzt war es wohl aus mit der Herrlichkeit? Wo würden sie wieder einen so ungestörten ›Dienst‹ finden? Nichtstun, Wohlleben, Sportwetten? Betrübt schlichen sie in die Küche hinaus.

Nun setzte Hermann das Telephon in Bewegung. Es nützte nichts, die ganze Nacht unterwegs zu bleiben und Berlin abzusuchen. Nur ein gütiger Zufall konnte sie noch zu Rudolf führen. Martha lauschte auf jedes Wort von Hermann – er sprach durchaus wie von einem Lebenden. Das bändigte ihr pochendes Herz. Hermann riet auf jede Möglichkeit, wo Rudolf sich aufhalten könnte – keine wurde zur Wahrheit.

Als er eine volle Stunde telephoniert und seine Nerven mit höflichen Redensarten, Geduld und Enttäuschung ramponiert hatte, wandte er sich blaß zu Martha zurück. Er hatte die ganze Liste von Rudolfs Beziehungen durchgefragt. »Pech, nichts als Pech,« flüsterte er, »er wird schon irgendwo sein.« Doch als er nach weiteren Beruhigungsworten suchte, sah er, daß Martha ihm völlig verändert näherkam. Ihr Antlitz war entstellt, ihre bläulichen Lippen zuckten.

385 »Was haben Sie?« fragte Hermann bestürzt.

»Sie müssen jetzt an die Polizei telephonieren!«

»Aber Martha! Was glauben Sie denn! Ich kenne Rudolf! Das ist ganz ausgeschlossen!«

»Lassen Sie doch, Hermann! Fragen Sie die Polizei!«

Sie schluchzte wild auf und brach auf einen Stuhl nieder. Als Hermann sie fragend anblickte, deutete sie auf eine offene Schublade des Schreibtisches. »Was meinen Sie?«

»Da hat – das weiß ich ganz bestimmt – – da hat sein Revolver gelegen.«

Von der Polizei konnte Hermann auch nichts erfahren. Keiner der Unglücklichen, die bisher gemeldet worden, war mit Rudi Below identisch. »Sehen Sie!« flüsterte Hermann. »Nun reißen Sie sich doch los von dem Gedanken! Ich gebe Ihnen einen guten Rat. Fahren Sie nach Hause, Martha. Es ist Nacht geworden. Meine Eltern werden sich furchtbar ängstigen und Anna auch. Fahren Sie nach Hause und beruhigen Sie sie. Ich suche allein weiter. Ein Mann kann das viel besser allein.«

Willenlos ließ Martha sich von ihm aufrichten. Die schrecklichen Bilder ihrer Phantasie verließen sie nicht. Sie sah den Revolver blitzen, sie hörte ein schwarzes, eisiges Wasser rauschen, und der Helm eines Polizisten, der den neuen ›Fall‹ zu melden kam, leuchtete in ihr dumpfes Bewußtsein. Aber 386 sie fügte sich – sie sah, daß sie doch nichts nützen konnte.

Auch zog sie eine Ahnung nach der Burgstraße – was mochte inzwischen mit der kranken, alten Frau geschehen sein? – »Haben Sie denn irgend einen Anhalt, Hermann? Wo wollen Sie denn noch suchen?«

»Ich weiß nichts Bestimmtes, aber ich habe einen Anhalt. Fragen Sie mich bitte nicht danach. Ich habe auch Hoffnung, Martha.«

Er errötete und half ihr hastig den Mantel anziehen. Sie nickte dabei mit einem schmerzlichen Lächeln – jetzt verstand sie ihn. Ja, dieser Gedanke konnte ihm erst so spät kommen. Sie hatten wohl an falschen Stellen gesucht.

Martha ließ sich zum Wagen führen. Fröstelnd kam sie, eine machtlos einsame Frau, wieder nach der Burgstraße. Auf der Treppe und oben im Flur standen erregte Menschen. Der Arzt ging traurig an ihr vorüber. Da ahnte Martha, was geschehen war. Eine andere Seele hatte der Würger inzwischen ereilt. Und nun war Hermann nicht zu finden. Nun irrte auch der zweite Sohn durch die Nacht.

Martha sah Belows weißes Haupt über ein friedliches Antlitz gebeugt. Sie blieb wie gelähmt an der Tür stehen. Da näherte sich ihr ein Mann, den sie nicht kannte. Es war ein Mann in schwarzem Predigertalar, Minnas Bruder, der 387 Geistliche von St. Marien. »Sie ruht in Gott.« So flüsterte er, Tränen in der Stimme. Martha nickte hastig. Sie hatte in ihrem Leben ganz an Gott vergessen, aber daß Minna Below in ihm ruhte, daran glaubte sie. – –

Bei Koloman Raczag in der Taubenstraße gab es heute eine große Nacht. Man feierte das Debüt der Pamplonas, ganz entzückender Tänzerinnen aus Granada oder jedenfalls aus einer ähnlichen Gegend. Nach Mitternacht wurde es in ›Chik und Chek‹ erst lebendig. Hatte man den zugigen Hausflur und den Hof passiert, wo Spediteurwagen standen und das Lager eines Lederhändlers roch, so hinderte nichts mehr, im ›modernen Märchenreiche‹ unterzutauchen. Die Front des Ballhauses erstrahlte in bunten Glühlampen, protzig galonierte Diener mit weißen Perücken empfingen die Gäste, und in der Garderobe wurde zuerst das Portemonnaie erleichtert. Die Bewohner der Hofwohnungen schliefen wenig in diesen belebten Nächten. An manchem Fenster war Licht, und eine Madame im Nachtkostüm, ein blasses Kind lugte herunter, um immer wieder die imposante Einfahrt zu beobachten.

Rudi Belows Automobil war allgemein bekannt. Man lauerte darauf, wie Unter den Linden auf einen kaiserlichen Wagen. Aber heute schien er nicht zu kommen. So begnügte man sich denn mit anderen Lebemännern, sah schmunzelnd duftige Spitzenröcke 388 aus den Wagentüren hervorkommen und elegante Füßchen auf den Teppich hüpfen.

Das Etablissement bestand im wesentlichen aus einem Souterrain mit chambres séparées, oben aus einem Vorsaal, wo man bei Zigeunermusik speisen konnte, und aus dem großen Hauptsaal, der in halber Höhe von einer breiten Galerie umgeben war. Die freie Saalfläche dient dem Ball und den Tanzvorstellungen. Das Orchester, ein sehr gutes und großes – dafür sorgte Vater Koloman – beherrschte den Fond des Saales. Eifrige Kellner drückten sich an den Wänden entlang, Sektpfropfen knallten – von den magisch beleuchteten Tischen blieb keiner unbenutzt.

Oben auf der Galerie herrschte das bewegteste Leben. Dort soupierte man, aber die Hauptsache war der Korso der Kokotten, den man in Augenschein nahm. Bekanntschaften wurden meist oben gemacht. Man stand auch an der Brüstung, sah den Tanzenden zu, applaudierte, lachte, rief hinunter. Da es ein teures Pflaster bei Koloman Raczag war, fand man immer eine leidliche Eleganz. Die ›besten Herren‹, die hübschesten Damen verkehrten in ›Chik und Chek‹. Es wimmelte von nimmersatten Roués, mutigen Jünglingen und seligen Provinzlern. Zu Ausschreitungen kam es fast nie, denn Vater Koloman führte ein strenges Regiment. Er war ebenso ein Freund der Schönheit wie ein Diener der Polizei.

389 Das Auftreten der Pamplonas war für zwei Uhr angesetzt, aber man mußte sich schon um eins einen Platz sichern. Eifrig strebte deshalb Herr August Kretschmar, ein Stammgast in ›Chik und Chek‹, durch die Menge. Er zog ein paar Schützlinge hinter sich her, die mit ängstlichen Blicken trachteten, auf dem Blocksberg nicht getrennt zu werden.

»Wir müssen auf die Galerie, lieber Wollenberg!« rief Kretschmar. »Hier unten is es schon zu voll! Immer feste! Bloß 'n bißchen drängeln! Die netten Kinder machen schon Platz!«

»Jawohl, Schmalzlocke – weil Du es bist!« antwortete eine tiefe Stimme. Frau Wollenberg sah sich erschrocken um – eine schöne, stolze Blondine in zarter Atlasrobe hatte so gesprochen. Man drängte sich schnell hinauf. Herr Wollenberg schwitzte. Halb wollte er keine der pikanten Erscheinungen versäumen, halb ließ er die Augen nicht von seiner jungen Frau.

Kretschmar blühte auf. Er gab auf der Galerie Frau Wollenberg den Arm. »Lassen Se mich den Cicerone machen, Frau Melanie!« rief er mit weinschwerer Zunge.

»Sie sind wohl hier zu Hause?« lachte die Dame, mit glühenden Wangen Umschau haltend.

»Aber Melanie!« Herr Wollenberg wand sich.

»Laß mich doch, Hugo! Ich find' es entzückend hier!«

390 »Seh'n Se woll, die kleine Frau hat Leben in sich! Lassen Se se sich doch ausleben, lieber Wollenberg!«

»Bloß – es ist doch eine verrückte Idee von Ihnen, Kretschmar – nach einem Souper bei Hiller hierher! Wenn wir beide – – aber mit meiner Frau – –«

»Ja, so seid Ihr Männer!« rief Melanie, sich fächelnd.

»So sind die Männer!« wiederholte ein weiß und rosa geschminktes Gesicht mit blanken, schwarzen Aeuglein.

Frau Wollenberg war begeistert. Sie fühlte sich von dieser Ansprache geehrt. »Chike Person! Hast Du die gesehen? Fabelhaft chik!«

»Aber Melanie!«

»Laß mich doch, Hugo!«

»Laß sie doch, Hugo!«

Jetzt drängten sich die Schwarzäugige und die majestätische Blonde heran. Das Ehepaar Wollenberg begann Aufsehen zu erregen.

»Artig, meine Damen!« rief Kretschmar gebieterisch. Dann zog er die beiden fort. »Wir müssen vor allen Dingen einen Tisch nehmen!«

»Lalala – lalalala – ich tanz' mit meiner Frau!«

»Da drüben scheint was frei zu werden!«

»Der alte Brauch wird nicht gebrochen – hier können Familien Kaffee kochen!«

391 »Kretschmar!!« Wollenberg war verzweifelt.

»Das geht wohl auf uns?« flüsterte Melanie selig.

»So! Jetzt setzen wir uns! Na endlich. Das nenn' ich Glück haben! Vorzüglicher Tisch! Na, Wollenberg? Nu atmen Se auf? Gott, schönste Frau – es is doch bloß 'n Theater!« Kretschmar rückte an Melanie heran. »Se sehen sich's mal an, 's Berliner Nachtleben. Gehört doch auch zur allgemeinen Bildung! Kellner! Wir müssen was bestellen!«

Wollenberg schmunzelte. »Ich mache gute Miene zum bösen Spiel. Außerdem – wenn meine Frau sich mal was in den Kopf setzt . . . Trotzköpfchen muß sich austoben. So, Melanie, nun setz' Dich hin, mein Kind, und kucke Dich nicht mehr um. Das lenkt unnötig die Aufmerksamkeit auf uns.«

Die Augen der jungen Frau wanderten ganz verzaubert umher. »Ich finde das wunderbar!«

Kretschmar lehnte sich weltmännisch zurück. »Ja, ich bitte Sie, das is hier der Comble. Totchik, sozusagen. Also, was trinken wir, Wollenberg?«

Der Bankier studierte die Weinkarte. »Wollen mal sehen.«

»Moet Chandon, Moet Chandon! Ich weiß hier Bescheid!«

»Also gut . . . Eine Moet Chandon, Kellner.«

»›In Deine Augen seh' ich tief hinein! Ihr Grund soll Gold für meine Seele sein!‹ Aus meinen 392 Gedichten, vierte Auflage.« Kretschmar küßte Melanies Hand. »Seh'n Se mal, die Rotblonde, das is die Amerikanerin, wegen deren sich der kleine Kanitz erschossen hat.«

»Ach, wie interessant! Herrgott, was ist die doch?«

»Schweigen wir lieber von ihrem Beruf. Die beiden da drüben – das is 'ne Schwedin und 'ne Russin! International is es hier – das is das Großartige! Schönheiten aus aller Herren Ländern!«

»Die Herren gefallen mir nu weniger,« meinte Wollenberg.

»Na, wissen Sie – so 'n paar Millionen haben wir hier immerhin beisammen. Und wenig Provinz. Sehr wenig Possenonkels auf Schleichwegen.«

In diesem Augenblick kamen zwei schöne, feurige Mädchen in spanischer Tracht, untergefaßt und mit ihren Fächern winkend, vorüber.

»Wer ist denn das?!«

»Das sind die berühmten Pamplonas. 'n Abend. Lola! Herrliche Geschöpfe. Die tanzen um zwei. Da werden Sie was erleben.«

Hugo Wollenberg bemühte sich, sein Monokel einzuklemmen: »Direkt 'n ästhetischer Genuß, diese Erscheinungen.«

»Ueberhaupt, ich bin sehr froh, daß wir hergegangen sind,« plauderte Melanie. »Sehr froh, lieber Hugo. In unsern Kreisen sieht man ja doch nichts vom letzten Paris. Wenn man wissen will, 393 was am modernsten ist, dann muß man sich wirklich die Halbwelt ansehen.«

Jetzt stimmten in Kretschmars und Wollenbergs Lachen zwei Herren am Nebentisch ein. Sie standen rasch auf und entschuldigten sich. Dr. v. Wiesenlattich und Baron Troll waren ebenfalls Raczags Gäste. »Bitte tausendmal um Verzeihung, meine Gnädigste!« sagte Wiesenlattich lachend.

»Herr Doktor!« rief Kretschmar entzückt. Man setzte sich zusammen. »Aber daß Sie hier sind? So 'n piker Aesthet? Bei Koloman Raczag?«

»Wie meinen Sie das? Farben, Formen – ich sehe hier nichts als Farben und Formen.«

»Und Lebensstimmungen,« ergänzte Baron Troll.

»Aha! Naja! Mit 'n kleenen Finger! Silberstift! Nich wahr?«

Wiesenlattich wandte sich an Melanie Wollenberg – der Baron blieb zurückhaltend. »Wie gefällt es Ihnen hier, gnädige Frau?«

»Ach, ich möchte so gern alles wissen!«

»Alles wissen – hm . . .«

»Aber Melanie!«

»Sei doch nicht so dumm, Hugo! Ich meine, wer herkommt – auch von den Herren –«

»Bis zur höchsten Aristokratie!« rief Kretschmar. »Sogar ein lebendiger Großherzog is mal erkannt worden! Wegen meiner Beziehungen zum Hof darf ich leider keine Namen nennen, aber wenn 394 Sie ganz genau Bescheid wissen wollen, rufen wir Koloman Raczag! Da kommt er eben! Koloman! Einen Augenblick!«

Der Wirt, der herantrippelte, hatte etwas von einer kostümierten Puppe. Dazu stimmte sein rosiges Gesicht, der pechschwarze Schnurrbart und das graue, gekräuselte Haar. Er trug ein ungarisches Magnatenkostüm und hohe, lackierte Schaftstiefel. Nie verließ das liebenswürdige Lächeln sein feistes Gesicht.

»Meine Vererrten! Ich bihte! Was ist Ihr Befell?«

»Also, Vater Koloman, diese edle Dame hier will gern wissen, was so die Höhepunkte bei Ihnen sind – versteh n Se? Sie ist schon ganz entzückt, aber sie möchte es doch in der Entfaltung sehen, Orgie, Bacchanal –«

»Gnäddigste machen mich glicklich! Um zwei Uhr tanzen die Pamplonnas!«

»Das wissen wir schon.«

»Aber – aber – wenn er heute kämme! Leider, leider! Sie habben es nicht gut getroffen, Gnäddigste!«

Melanie Wollenberg brannten die Wangen. »Wer denn –? Er – –?«

»Herr Kretschmar wird wihssen, wenn ich meine! Unser Sektkönik! Unser Sardanapal!«

Kretschmar winkte ab. »Ach, Sie meinen Rudi Below! . . .«

395 Wollenberg verfärbte sich. »Rudi Below – –?!«

»Um Gottes willen, sprechen Sie nicht von dem, wenn mein Mann dabei ist,« flüsterte Melanie hinter ihrem Fächer.

»Aber es is ja noch gar nich gesagt – morgen kann ja die Börse wieder gut werden.«

»Ist denn – war Herr Below hier die Hauptperson?«

»War! War! Das firchten wir, meine Gnäddigste!« rief Raczag melancholisch. »Vielleicht werden sie missen trauern um ihn, unsre scheensten Medchen! Er hatte viele Feller, aber er war doch ein großer Mahn!«

»Hat er sich bei Ihnen amüsiert, der große Mahn?« fragte Wollenberg giftig.

»O, jedde Nacht! In Rossen hat er die Medchen gebetet! Und Sekt ist geflohsen, immerzu! Nur die teiersten Marken! Und eine Brieftasche hatte er! Unerschepflich! Und alles hat er dirrigiert! Er war der Wihrt, ich nicht! Getahnzt hat er nie, nur zugeschaut! Ein Scheenheitsrichter, wie er nie gewesen ist und niemals widder komt! Rudi Bellow!«

»Das is ja ein ergreifender Nachruf,« sagte Kretschmar. »Aber noch lebt er ja. Er is wahrscheinlich kerngesund, und ob er wirklich pleite is, das weiß man auch noch nich genau.«

»Rechtsanwalt Wechsler – durchgebrahnt –?« Raczag machte eine vielsagende Bewegung.

396 »Ja, die Bande,« zischte Wollenberg. »Die Betrüger. Da wird man noch liebliche Sachen zu hören bekommen Da fallen Hunderte von Existenzen.«

»Hugo! . . . Laß doch jetzt das Geschäft!«

»Rudi Bellow!« flüsterte Raczag und warf Frau Wollenberg einen ersterbenden Blick zu. »Betten Sie, Gnäddigste, daß er komt zurick!« Nach diesen Worten wandte sich der Ungar mit süßem Lächeln anderen Gästen zu.

»Aber plebejisch ist es doch, daß er hier den Großmogul gespielt hat,« meinte Baron Troll. »Finden Sie nicht auch, lieber Werner?«

»Gewiß,« erwiderte Wiesenlattich nachdenklich. »Die Belows sind überhaupt Plebejer. Aber eine gute Rasse.«

»Na, sein Se lustig, Wollenberg!« Kretschmar stieß mit dem Bankier an, der ganz in sich zusammengesunken saß.

»Ich werde den Zusammenbruch der U. B. nicht überleben, Melanie.« Er schluchzte auf.

»Aber Hugo! Hugo!« Sie lehnte sich an ihn. »Er ist den Krisen nicht mehr gewachsen, meine Herren! Das Wort Amerika macht ihm schon Zuckungen! Bei der kleinsten Kursschwankung legt er sich zu Bett!«

Kretschmar wurde nervös. »Aber meine Herrschaften! Sie können wohl keinen Sekt vertragen? Rappeln Se sich doch zusammen! Sehn Se sich doch 397 das blühende Leben an! Attention! Da kommt schon was! Wer is 'n das? Die kenn' ich nich! Das is was Exquisites!«

Die Dame, auf die Kretschmar mit ungenierter Emphase hinwies, war in dem Wirrwarr eine besondere Erscheinung. Sie hatte das Großzügige, Edelrassige, was den anderen Mädchen abging. Mit ruhiger Anmut schritt sie an einem schlanken Stab aus Ebenholz, der eine grüne Schleife an der Spitze trug, durch die Menge. Ihr Kostüm war nicht kostbar, aber von erlesenem Geschmack. Ein Kleid aus stumpfer, schwarzer Seide schmiegte sich bis zum Kinn dem wundervoll gebauten Körper an. Ein Schal aus lichtgrünem Flor hing lose über der rechten Schulter, und aus dem üppigen, schwarzen Federhut lugte auch etwas Grün hervor. Diese Kleidung schien mehr als persönlicher Geschmack, schien eine Idee zu bedeuten. Seltsam war, daß dieser Erscheinung, wenn sie noch entfernt war, erwartungsvolles Entzücken entgegengebracht wurde – alle Köpfe reckten sich nach ihr. Sobald sie aber vorüberkam, sah man erschrockene oder traurige Gesichter. Man flüsterte miteinander, oder man starrte vor sich hin, als wäre neben der Schönheit die Vergänglichkeit des Lebens sichtbar geworden.

So geschah es auch an Kretschmars Tisch. »Entzückend,« flüsterte Melanie Wollenberg, als die Fremde herankam. »Mein Gott,« folgte dann, als sie die Vorübergehende näher betrachtete.

398 »Was denn?« fragte ihr Gatte, der nichts mehr deutlich sah.

»Das arme Geschöpf ist ganz entstellt . . . hast Du das nicht gesehen? Sie hat eine tiefe Narbe über das ganze Gesicht. Und diese wunderbare Gestalt! Wer mag das sein, Herr Kretschmar?«

Kretschmar erhob sich mühsam. »Ach, entschuldigen Se, liebste Frau – meine Augen – ich muß se mir mal in der Nähe ankucken.« Er watschelte der Schwarzgrünen nach.

Herr von Wiesenlattich aber machte ein ergriffenes Gesicht. »Gnädige Frau – da haben Sie wirklich den Extrakt des Weltstadtlebens. Erinnern Sie sich an Erna Paulana?«

»Aber freilich! Die auf dem Bären! Die wunderbare Person im Wintergarten! Weißt Du noch, Hugo – wir haben sie ja zweimal gesehen. Das zweite Mal mit Marcuses.« Wollenberg schüttelte den Kopf, obwohl er eigentlich nicken wollte.

»Aber warum fragen Sie denn nach Erna Paulana? Die ist doch damals in Italien verunglückt? Schrecklich – das hat damals in allen Zeitungen gestanden.«

Wiesenlattich lächelte. »Die Zeitungen übertreiben immer ein bißchen. Der Bär hat noch einiges von ihr übrig gelassen. Sie haben eben den Rest gesehen.«

»Um des Himmels willen! Das ist Erna Paulana?! Solche berühmte Künstlerin? Die kann doch 399 nicht wie die anderen Mädchen – die kann doch nicht so heruntergekommen sein!«

Jetzt kam Kretschmar von seiner Rekognoszierung zurück. »Ich bin untröstlich . . . Ich bin ganz niedergeschmettert . . . Erna Paulana! . . . Das war Erna Paulana! . . . Verjöttert hab' ich das Weib!«

»Sie scheint zum erstenmal in ›Chik und Chek‹ zu sein,« näselte Baron Troll. »Sehen Sie nur, was sie für Sensation macht. Herr Raczag ist schon neben ihr und führt sie wie eine Königin durch den Saal. Uebrigens eine gefährliche Person – noch immer. Gerade ihre Entstellung hat einen Reiz. Wissen Sie nicht, wie man sie nennt? Madame Torso. Den Spitznamen hat ihr der junge Ascher gegeben – sie soll wütend darüber sein.«

»Ein Rätsel, daß ich das Mädel noch nicht gesehen habe,« klagte Kretschmar.

»Wir waren schon beim Maskenfest im Metropol mit ihr zusammen,« erzählte Wiesenlattich. »Da ist sie plötzlich wieder aufgetaucht. Sie war lange verschollen.«

»Aber hat se denn gar keinen Kies mehr? Daß sie solche Geschäfte machen muß?«

»Nein, sie ist von der Bühne abgegangen und soll gänzlich verarmt sein. Seit dem Unglück.«

»Und die Kollegen? Was tun denn die Kollegen für sie?«

400 »Sie will nichts annehmen. Ueberhaupt sehr schwierig, mit der Person zu verkehren. Sie hat einen wunderbar bissigen Stolz. Man kann es nicht einmal Verbitterung nennen. Interessant – nicht wahr, gnädige Frau?«

»Ich weiß nicht, ich kann mich so gut in sie hineinversetzen!« Melanie lehnte träumerisch den Puppenkopf zurück. »Madame Torso! . . . Ihr Männer, Ihr Männer! . . . Was liebt Ihr denn eigentlich an uns?«

»Aber Melanie!« Wollenberg erwachte.

»Unterschiedliches, gnädige Frau,« erwiderte Wiesenlattich mit spitzem Lächeln. »Uebrigens ist die Narbe Nebensache bei Erna Paulana. Ihr Körper ist einzig auf der Welt. Das ist die gute Rasse. Rudi Belows Schwester.«

Jetzt fuhr Wollenberg wie elektrisiert empor. »Schon wieder dieser Mensch!«

Melanie preßte die Hand an die Stirn. »Ja, mein Gott – das fällt mir ja jetzt erst ein – sie ist ja Rudi Belows Schwester! Bin ich denn dumm?«

Auf diese Frage antwortete niemand. Kretschmar aber sagte mit Grabesstimme: »Eine Tragödie! . . . Dieses Haus! . . . Die Alten an die Luft gesetzt! Den Sohn erwartet vielleicht der Staatsanwalt! Und die Tochter . . .«

In diesem Augenblick kam mit charakteristischen, schleichenden Schritten eine wohlbekannte Erscheinung an dem Tisch vorüber. Den fahlen Kopf gebückt, 401 die Augen starr geradeaus gerichtet, schien Berthold Ascher niemand sehen zu wollen. Melanie Wollenberg aber erkannte ihn. »Nein, jetzt wird mir schlecht! Was man hier alles erlebt! Hugo, hier geh' ich nie wieder hin!«

»Was ist Dir denn? Bist Du verrückt?«

»Trudchens Schwiegervater!« flüsterte Melanie hinter ihrem Fächer. »Und mit einem Gesicht!«

»Ist nicht möglich!? Ja, bei Gott! Der alte Ascher! Na, wenn der hier ist –! Da muß ich lachen!«

»Is Ihnen 'ne Säule ins Wackeln geraten?« fragte Kretschmar. »Den Kommerzienrat können Sie hier oft treffen. Der is Stammgast.«

»Es ist so grenzenlos peinlich für mich,« sagte Frau Wollenberg. »Seine Schwiegertochter ist nämlich meine intimste Freundin.«

»Ich kann mir auch denken, warum er hier ist,« meinte Wiesenlattich. »Er ist seinem liebsten Wild auf der Spur.«

»Was heißt das –?«

»Nun, mit Erlaubnis der gnädigen Frau – Berthold Ascher hat es auf Erna Paulana abgesehen. Schon im Metropol war er beständig hinter ihr her. Er scheint ganz verrückt nach ihr zu sein.«

»Na, hören Se mal,« schnauzte Kretschmar. »Das geht denn nu doch nich! Von Erna Below soll er die Pfoten lassen!«

402 »Erna Below? . . . Na ja . . . Von dem Gesichtspunkt hab' ich die Sache noch nicht betrachtet.«

»Muß man aber, lieber Herr! Muß man! Se is schließlich die Tochter seines ältesten Freundes – und zu allem Unglück –«

Kretschmars Ethos wurde von Koloman Raczag unterbrochen, der eben wieder herantrippelte. »Was saggen Sie? Vererrte Herrschaften? Was saggen Sie?! Neue Sensation! Erna Paulana! Widder in Berlin! Bei mir! Ich bin iberglicklich!«

»Sehn Se bloß, sehn Se bloß – Ascher is schon im Hinterjrunde. Jetzt macht sich der schäbige Mikosch als Kuppler 'ran.«

Melanie erhob sich. »Hugo, ich denke, wir gehen.«

»Aber nich doch! Hierjeblieben! Jetzt wird's ja intressant! Das müssen Sie beobachten, Frau Melanie!«

Koloman Raczag war zu Erna Paulana getreten. »Holde Firstin –«

Erna sah ihn mit harten Augen an. »Wen meinen Sie?«

»Angebettete Kinstlerin –«

»Weder dies noch jenes. Ich bin hier lediglich Gast. Ich will mich, ohne behelligt zu werden, amüsieren.«

»Gestrenge, Unerbihtliche – ich wißte nur gar zu gern, ob Sie jemmand suchen.«

403 »Wer sollte das sein? . . . Ach, der da! Der alte Herr im Hintergrunde . . . Nein. Der vertreibt mich eher.«

»Leise, leise! Vorsicht, Teierste! Wissen Sie, wer das ihst?!«

»Ich weiß es zur Genüge. Aber seine Millionen imponieren mir nicht. Bestellen Sie ihm das, Herr Raczag.«

Erna wandte ihm den Rücken und wollte die Treppe zum Tanzsaal hinuntersteigen – da war Berthold Ascher plötzlich neben ihr. Sie erschrak vor dem Ausdruck seines Gesichtes. Es war gedunsen, Röte trieb in den welken Zügen, und die kleinen Augen hatten etwas hilflos Verschwommenes. Er blieb erst eine Weile stumm an ihrer Seite; der breite, sinnliche Mund war ein wenig geöffnet und zeigte Zahnlücken. Hastig, jünglingshaft befangen fuhr Ascher sich über das dünne, graue Haar und begann: »Sie sind also gekommen. Ich habe mich so geängstigt, daß Sie nicht kommen würden. Ich bin schließlich kein junger Mann mehr. Nun weiß ich wenigstens – gleichgültig bin ich Ihnen nicht.«

»Herr Kommerzienrat – was soll ich denn sagen . . .«

»Gar nichts – nur anhören sollen Sie mich. Ich möchte Sie nämlich sicherstellen. In jeder Beziehung, Erna. Seh'n Sie mal, mein liebes Kind, wie ich Sie kenne, so kennt Sie kein Mensch auf der Welt. 404 Ich habe Sie schon in den Windeln gesehen. Ihr Vater –«

»Wenn Sie ein Wort davon erwähnen, lauf' ich davon! Hier will ich nichts hören!«

Er hatte die Zornige am Fuß der Treppe in einen Winkel gedrängt. So kam sie nicht an ihm vorüber.

»Also gut denn, wenn Sie das kränkt – ich will nichts davon sagen. Ich meine nur, ich kann Ihr ganzes Leben beurteilen. Warum sind Sie hierhergekommen? Das ist nichts für Sie. Sie sind tausendmal mehr als die Weiber . . .«

»Woher wissen Sie denn das? Die ›Weiber‹ werden ebensoviel sein wie ich – das Schlechte habt Ihr erst aus ihnen gemacht. Sie laufen doch jede Nacht hier 'rum und suchen sich was. Aber warum sind Sie gerade auf mich verfallen? Seh'n Sie doch hin, wie ich aussehe. Sie können viel Hübschere finden mit Ihrem Geld, und ich, ich pfeife offen gestanden auf Ihre Millionen.«

»Erna – sei'n Sie doch ruhig und vernünftig, Erna. Die Liebe auf den ersten Blick – ja, Sie lachen – ein alter Mann ist immer lächerlich – die Liebe auf den ersten Blick hat für Sie entschieden. Gerade, wie Sie sind, und wie ich Sie kenne. Ihr Fehler macht Sie tausendmal schöner als jedes kokette Mädel.«

»Wir können ja später weitersprechen, Herr Kommerzienrat. Jetzt lassen Sie mich bitte in den Saal.«

405 »Seh'n Sie, ich habe immer bloß Geld verdient. Aber ich hasse jetzt das Geld. Ich brauche jemanden, der es mich lieben lehrt, der mir sagt, es gibt noch was anderes auf der Welt als Geld.«

»Und Ihre Söhne?«

»Meine Söhne! . . . Die nutzen mich aus! . . . Was hab' ich von meinen Söhnen!«

»Die würden mich aber schön an die Luft setzen, wenn Sie mir ihre Rechte einräumten.«

»Nein! Ich bin jetzt fest entschlossen! Ich lasse mich nicht länger tyrannisieren! Mir gehört ja alles. Die Häuser, die Waren, die Kapitalien. Ich bin ein Mann von fünfzehn Millionen, Erna. Nur etwas gehört mir nicht – 'ne Kleinigkeit – das Glück. Das seh' ich in Ihnen, Erna. Können Sie sich denn nicht entschließen? Ich gebe Ihnen sehr viel, sehr viel, das hab' ich schon gesagt! Wollen Sie zu einem von den verschuldeten Laffen laufen? Zu dem parfümierten Gesindel, bloß weil es jung ist? Das wäre ja unverzeihlich töricht. Man wird Sie jagen von einem zum andern, allen werden Sie gefallen, bis Sie keinem mehr gefallen. Und dann?! Dann leb' ich vielleicht nicht mehr. Dann kann ich Sie nicht mehr retten, Erna.«

Das Mädchen stand abgewandt. Sie schüttelte den Kopf. Es schien ein heftiger Kampf in ihr zu toben. Ascher starrte sie in halber Hoffnung an. Plötzlich wandte sie sich zu ihm. »Ich möchte auch 406 jemand – retten! . . .« stieß sie hervor. »Bei dem es auch vielleicht – noch möglich ist! . . .«

»Wer ist das? . . . Das klingt ja beinahe – –«

»Als ob ich verliebt wär'?! Nein, Herr Kommerzienrat! Es ist nur mein Bruder! Meinen Bruder such' ich hier! Ja, ja, da schneiden Sie ein Gesicht! Der ist jetzt unten durch, nicht wahr, weil er zu viel Talent hatte! In mich sind Sie vergafft, aber den armen, unglücklichen Rudi lassen Sie untergehen, für den würden Sie keinen Pfennig geben! So sind Sie! Hab' ich nicht recht?!«

Ascher blickte mit harter Miene unruhig umher. »Was soll das alles? . . . Ihr Bruder – dem ist nicht mehr zu helfen. Das versteh'n Sie nicht. Er ist überhaupt nie zu mir gekommen.«

»Würden Sie ihm denn helfen, wenn er käme?«

»Darüber will ich mich nicht äußern . . . Ich kann auch nichts tun ohne meine Söhne.«

»Ja, ja, Sie nehmen sich alles, wie Sie's brauchen. Aber eine Frage, Herr Kommerzienrat – das werden Sie ja wissen – ist Rudi wirklich fertig? Kracht die U. B. zusammen?«

»Daran ist nicht zu zweifeln, mein Kind. Die wahnsinnige Wirtschaft. Er muß zugrunde gehen.«

»Muß er? So?! Rudi Below muß, und Sie, Sie werden in Watte gewickelt!« Sie wandte ihm den Rücken.

407 »Halt! Wohin?«

»O, ich bleibe! Ich bleibe! Ich warte hier auf meinen Bruder! Ich will ihm geben, was ich noch habe! Dazu bin ich auf der Welt! Nur dazu! Adieu!«

Wiesenlattich ging eben vorüber und lächelte Erna an. Da eilte sie zu ihm, hing sich an seinen Arm und verschwand mit ihm im Gedränge. Aschers Gesicht wurde grünlich. Er stampfte mit dem Fuß und wandte sich wütend wieder nach oben.

Auf der Galerie war man inzwischen aufgestanden und hatte die ganze Brüstung besetzt. Koloman Raczag stand unten im Saal und klatschte in die Hände. »Die Pamplonnas, meine vererrten Herrschaften! Lola und Mercedes aus Granada! Konkurrenzlos! Ich bihte!«

Man drängte sich im Kreis herum – der Mittelraum blieb frei. Nun zog eine spanische Musikbande in den Saal, und von wunderbarer Grazie beflügelt folgten ihr die Tänzerinnen. Wollenbergs waren begeistert. Sie klatschten und gafften, sie merkten gar nicht, daß Kretschmar, ihr ›Cicerone‹, sich gedrückt hatte und Kavalier einer Freundin war. Ascher saß an einem der verlassenen Tische ganz allein und goß ein Glas Champagner nach dem andern hinunter. Die spanischen Tänzerinnen würdigte er keines Blickes. –

408 Draußen in der Taubenstraße fegte der Schneesturm weiter. In der nahen Friedrichstraße war trotz dem schlechten Wetter viel Leben um zwei Uhr nachts. Hier aber sah man nur vereinzelte Passanten. Männer, die fröstelnd, vermummt und den Hut mit Schnee bedeckt, noch ein Vergnügen suchten – Mädchen, hoch aufgeschürzt, durch den Schmutz patschend. Nur die ›Glücklichen‹ konnten den elektrischen Locklichtern folgen und in ein warmes Lokal schlüpfen. Die Unbegehrten waren nicht besser daran als der Krüppel, der an Koloman Raczags Pforte saß, an sein Wägelchen gefesselt und immer wieder mit sanfter Stimme »Wachsstreichhölzer« murmelnd. Der Bettler war müde und sprach zuweilen auch, wenn niemand vorüberkam. Auf einigen Droschken hockten die Kutscher, regungslos, den Lackhut wie eine abwehrende Lanze gegen den Sturm gesenkt. Sie bildeten mit ihrem Gaul und ihrem Gefährt einen stehenden Schlummer.

Die einzige besondere Erscheinung vor »Chik und Chek« war um diese Zeit ein junger Mann, der unruhig bald vor dem Hause auf und ab schritt, bald sich im zugigen Flur postierte. In den Hof und zur strahlenden Pforte hatte er sich nur einmal gewagt, um Erkundigungen einzuziehen. Schon anderthalb Stunden harrte Hermann auf seinen Bruder. Er konnte trotz der abscheulichen Nacht sich nicht entschließen, im Lokal auf Rudolf zu warten. Er war noch nie an solcher Freudenstätte gewesen. Die 409 Möglichkeit, jetzt von Mädchen attackiert zu werden und so den Bruder wiederzusehen, war entsetzlich. Auch hätte sein Anzug unliebsames Aufsehen erregt.

Draußen hatte Hermann auch so manches Abenteuer zu bestehen. Er kaufte sofort dem Krüppel eine Schachtel Wachsstreichhölzer ab, aber jedesmal, wenn er an ihm vorüberkam, wurden ihm neue angeboten. Es fuhren viele Automobile vor, aber Rudolf entstieg ihnen nicht. Nur Kokotten mit schwankenden Federhüten, Herren mit der falschen Vornehmheit, die ihnen ein Pelzrock und ein schief gesetzter Zylinder gab. Hermann lehnte sich schließlich resigniert an den Pfeiler des Portals, dicht neben dem Wachshölzerverkäufer. Er schloß ein wenig die brennenden Augen. Er wußte kaum, wie durchnäßt er war. Seine Gedanken flogen zu Anna. Er sah sie bei seiner Mutter.

Jetzt fuhr in scharfem Bogen ein Automobil vorbei. Hermann riß die Augen auf – er hatte sich nicht getäuscht. In dem eleganten Wagen saß Rudolf. Er folgte ihm bebend und sah ihn in das Vestibül eilen. Dort entstand sofort eine Bewegung. Man lächelte, man verbeugte sich.

Rudolf warf der Garderobiere seinen Pelz hin, behielt den Zylinder auf und wollte nach einem Blick in den Spiegel das Lokal betreten. Jetzt erst bemerkte er, daß Hermann neben ihm stand. In sein zerwühltes Gesicht kam Zornesröte. »Du bist 410 hier? . . . Was heißt denn das! . . . Bist Du mir etwa nachgelaufen oder amüsierst Du Dich hier? . . . Der große Prophet in Zivil? . . . Jedenfalls laß mich zufrieden!«

Er bemerkte erst allmählich, wie abgehetzt und erregt der sonst so feste Hermann war. Das verleitete ihn, ihm nicht den Rücken zu kehren, sondern immer noch erstaunt die Augen auf ihn zu richten.

»Komm', Rudolf,« flüsterte der Bruder. »Komm' rasch mit mir . . . Ich führe Dich zu Martha . . . Martha braucht Dich . . .«

»Jetzt auf einmal? Ich brauche sie nicht! Ich habe mit allem Schluß gemacht! Aber entweder muß ich Dich hier stehen lassen, oder Du kommst mit mir hinein. Vor dem Gesindel sprech' ich nicht mit Dir.«

»Ich gehe, wohin Du willst. Wenn ich nur bei Dir bleibe!« Dieser Ton – ja, aus dem Herzen kam er. Hermanns Augen – Boten aus einer andern Welt. Aber was sollte er damit? – Die Salbader sprachen ja alle für sich selbst.

Sie traten in den Vorsaal, wo nur zwei Tische besetzt waren – verliebte Pärchen, die von den Brüdern keine Notiz nahmen. »Setz' Dich . . . Was soll ich denn mit Dir anfangen? Trink' was, Mensch! Das ist jedenfalls das Gescheiteste – sonst kriegst Du 'ne Lungenentzündung, und Anna hat das Nachsehen. Kellner!«

Der Kellner, der gegen den wunderlichen, durchnäßten Gast nur Rudi Belows wegen nicht 411 opponierte, verbeugte sich. Mochte die U. B. auch›pleite‹ sein – so lange Rudi zahlen konnte, sah er Untertänigkeit. »Was befehlen Herr Generaldirektor?«

»Bringen Sie –«

»Bestelle nichts, Rudolf . . . ich gehe sofort wieder . . . Und Du kommst doch mit, nicht wahr . . .«

»Also später, Leopold, später . . .« Die Zornesader schwoll auf Rudolfs Stirn. »Hör' mal, mein Junge – jetzt muß ich deutsch mit Dir reden. Laß mich ungeschoren! Du hältst mich hier fest, Du genierst mich hier. Du scheinst keine Ahnung zu haben, wie kostbar meine Zeit ist.«

»Ich habe Dich bis jetzt gesucht . . . Seit Du von den Eltern fort bist . . . Um elf Uhr war ich zum zweitenmal in der U. B.«

»Daher komm' ich eben.«

»So habe ich Dich verfehlt . . . Auch in der Wohnung . . . Ich war mit Martha dort . . . Aber die arme Frau mußte nach Hause . . . Sie ist Dir überallhin gefolgt – hierhin konnte sie Dir nicht folgen.«

»Ach so! Herr Prediger! Keine Predigt!«

»Ich bin kein Pfaffe – Dein Bruder bin ich!«

»Aber Ihr wollt mich weich machen! Das muß ich vermeiden wie die Pest! Ihr könnt mir nichts sein, und ich kann Euch nichts sein!«

»Du leidest –«

»Ja, ich leide! Donnerwetter!« Rudolf schlug mit der Faust auf den Tisch. »Um meine Sache! Um meine große, niederträchtig mißhandelte Sache! 412 Aber das verstehst Du nicht! Du Einsiedler! Du Professor! Du hast mich ja immer verachtet!«

»Ich habe niemals eine Lebenssache verachtet! Aber Du bist mehr als Deine Sache! Du hast Dich an einen Vampyr geklammert, der Dich erwürgen wird!«

»Meinst Du Berlin?!«

»Ich meine Dein Berlin!«

»Nein, Hermann! Ich werde von ganz andern Sachen erwürgt! Von meinem Vater, der mich preisgab, als ich ihn um mein Leben gebeten habe!«

»So strafe ihn jetzt, indem Du doch durchsetzt, was Du bist!«

»Das kann ich nicht mehr! Ich bin ein Dieb! Ein gemeiner Betrüger bin ich! Meine Helfershelfer haben mich im Stich gelassen! Ich soll den gewöhnlichen Weg gehen! Wie ein Defraudant, ein Kassenräuber! Aber das tu' ich nicht! Diese Nacht noch!«

»Was willst Du –?«

»Diese Nacht noch! Den Wahn will ich wenigstens haben! Hier bin ich König! Was weißt Du davon, Hermann! Die Sterne spiegeln sich in jeder Gosse! Geh' nach Hause, Hermann! Kommt hier kein Kellner? Man verdurstet!«

»Ich weiß ja, was Du zu fürchten hast. Aber zur Flucht kannst Du Dich nicht entschließen? Du willst hier bleiben, Dich stellen? Etwas anderes bleibt Dir doch nicht übrig –«

413 »Doch, mein Junge!«

»Das Dritte! Du! Ich weiß, daß es ein Drittes gibt!«

»Drüben tanzen die Pamplonas!«

»Du solltest Dich im Grunde Deiner Seele schämen, wenn Du an so etwas dächtest. Ich halt' es für ausgeschlossen –«

»Ausgeschlossen!« Rudolf erhob sich.

»Du wirst die Konsequenzen tragen! Und in dieser Zeit, Rudolf – da biete ich mich Dir an!«

»Ja, jetzt kommt Ihr! Die Raben!«

»Hast Du denn gar keinen Ernst für mich? . . .«

Da wandte sich Rudolf plötzlich zu ihm und gab ihm die Hand. »Doch, Hermann! . . . Ich danke Dir, mein Junge! . . . So! . . . Und nun laß es Dir gut gehen!«

»Du bleibst?«

»Ich bleibe!«

»Aber Du versprichst mir –«

»Mensch – was soll denn die lächerliche Angst?! 'ne Kugel vor den Kopf?! Das ist mir zu billig! Noch werde ich kämpfen! Mehr sag' ich Dir nicht!«

»Das genügt mir. Ich wünsche Dir jeden Ausweg – jeden. Nur nicht den, der Dich selbst verleugnen würde und uns allen ein namenloses Weh bereiten.«

»Wem? . . .«

»Denk' an Mutter!«

»Der kann ich nichts mehr sein . . .«

414 »Ich war dabei, wie sie sich um Dich geängstigt hat. Das soll Dich halten.«

Hermann drückte ihm nochmals die Hand und ging. Rudolf blieb in dem Vorsaal. Er setzte sich wieder an den Tisch und stützte den Kopf in die Hände. Diese Versucher! – Aber seltsam – für einige Minuten schwärmte sein Bewußtsein wirklich weit hinaus. Er sah die Tage der Kindheit, die frohen und friedlichen, bevor er das Leben so heiß umarmt hatte. Er sah Erna, Hermann, die Eltern – sich selbst. In der längst verschwundenen Ecke . . . Was war die Wahrheit? Was war sein Werk? . . . Der Wahn zerflog . . . Aber konnte er sich an Trümmer klammern? Seine Mutter! Ein Wort. Ein fernes Wort. Er schrie es wohl, aber man hörte ihn nicht. Die liebe Gestalt schritt in einem Silberschleier weit fort. Sie strebte in ein Land, das Rudolf nicht kannte. Es war ein nahes Land. –

So saß er eine Weile, abgewandt, vor sich hinträumend. Die Kellner beobachteten ihn und flüsterten miteinander. Wie war dieser Mann verändert! Ja – nun mußte es wohl wahr sein, was sich Berlin erzählte. –

Koloman Raczag kam aus dem Saal. Er sah sich suchend um und trippelte dann mit offenen Armen auf Rudi Below zu. »Ich höre, er ist da, es behielt ihn nicht! Aber wo ist er? Da ist er! Rudi Bellow!«

415 Mit verstörter Miene fuhr der Abgewandte zu ihm herum. »Vater Koloman! Guten Morgen!«

»Hier gibbt es kein Morgen! Gibbt es nur Abbend! Gutten, gutten Abbend, Rudi Bellow!«

»Kennen Sie mich noch?«

»Ihch? Ich weiß gahr nichts! Gahr nichts! Ich kimmere mich nicht um beese Leite! Aber wir habben uns so um Sie geängstigt!«

»So? Wer denn?«

»Abber die Medchen! Die armen, kleinen Medchen! Weil Sie nicht kamen! Hat man hin und her gereddet! Quahtsch! Quahtsch! Habb' ich sie redden lassen! Habb' ich gesagt: Rudi Bellow – den verstett Ihr alle nicht! Der ist der Mahn der Zukkunft!«

»Ja, wahrhaftig! Das kommt mir jetzt auch so vor!«

»Mir ist Rudi Bellow nichts schuldig! Mihch hat er immer pinktlich bezahlt!«

»Und solange das der Fall ist – – na ja!« Er klopfte Raczag auf die Schulter. »Wir verstehen uns! Ich bin also wieder hier!«

»O, ich bin froh, so froh! Darf ich jetzt die Medchen ruffen? Die kleinen, sißen Dinger? Werden sich freien! Werden außer sich sein!«

»Rufen Sie, wen Sie wollen, Vater Koloman! Aber Sekt will ich haben! Was sind das für Rosen?« Rudolf griff nach einem prächtigen Korb voll dunkelroter Rosen, der auf dem Nebentische stand.

416 »Um des Hihmels wihlen! Den hat ein russischer Stattsrat bestehlt!«

»Annektier' ich! Lassen Sie meine Sorge sein! Ich werde mich mit dem russischen Staatsrat auseinandersetzen! Und nun rufen Sie die Mädchen!«

Koloman Raczag hüpfte. »O, das gibbt widder eine Nahcht!«

Als der Wirt in den Saal zurückgelaufen war, stellte Rudolf sich in Positur. Jetzt war Hermann ganz vergessen. Er war wieder der Alte, mit dem bezaubernden Lächeln, siegreich, wenn auch in den Augen das Chaos brannte. Er hielt den Rosenkorb im linken Arm, die rechte Hand darauf und wartete. Jetzt kehrte Koloman Raczag mit einem ganzen Rudel lustiger Mädchen zurück. »Nihcht! Nihchts! Ich sagge nihchts!«

»Rudi Below!!!«

Ein Aufschrei des Entzückens und dann ein Sturm auf den Wiedergefundenen. Er aber ließ sie nicht herankommen, sondern bombardierte die Angreifer mit den Rosen, die er aus dem Korb riß. Ein Jubel entstand, ein Kreischen, Balgen und Haschen. Raczag war selig. »Rossen von Rudi Bellow! Ihst ihnen doch lieber als Huhndertmarkscheine!«

»Vielleicht!« rief Rudolf. »So weit sind wir schon! Was, Mädels?« Er setzte sich, die Mädchen umdrängten und küßten ihn. Die Hübscheste nahm er auf den Schoß.

417 »Ach, daß Du wieder da bist!« rief das blonde Geschöpf, das noch ganz frisch und jung war. Sie schlang die Arme um Rudis Hals. »Hast Du Sorgen und Kummer gehabt? Das geht in 'ner Stunde weg!«

»Ja, Kindchen! Ich bin wahrscheinlich wieder mal ein großer Narr gewesen!«

»Wir dachten schon, daß wir ohne Dich zum Rennen müßten!«

»So was!«

»Du wolltest mich doch mitnehmen zur Saison nach Paris?«

»Natürlich!«

»Bleibt es dabei?«

»Es bleibt dabei! Alles bleibt beim alten!«

»Nun bist Du doch wieder glücklich!«

»Ja, mein Schatz! Wie lange dauert eine Nacht?«

»Wie meinst Du das? Sehr lange! Wir haben eben den ersten Cake-Walk getanzt!«

Rudolf erhob sich. Jetzt hatte er wieder elastische Kraft. »Also dann gehn wir mal 'rüber!«

»Gehn wir mal 'rüber! Gehn wir mal 'rüber!« sang der jubelnde Chor.

»Zu den Pamplonnas!« rief Raczag begeistert.

»Ach, Koloman, das reizt mich nicht! Spanische Frauenzimmer? Die schnappen immer wie stählerne Messer zu! Die wollen nur ihren Schnitt machen, und dann kennen sie niemand! Erzähle mir jetzt noch was von Niggers! Nee, mein Lieber – heute 418 nacht hab' ich mich auf was Besondres gespitzt! Hast Du gar keine Sensation?«

Raczag sah erst beleidigt aus – dann aber schnalzte er plötzlich und rief: »Ich bihte! Ich bihte! Gnäddiger Herr braucht nur zu befellen, und Sensation ihst da!«

»Wer denn?« fragten die Mädchen. »Ach so! Ach so!« Sie schienen von der Idee des Wirtes nicht sehr entzückt zu sein.

»Pst! Pst! Nihchts verratten!«

»Nanu? Was habt Ihr denn?« rief Rudolf mit vergnügtem Staunen.

»Nihchts verratten! Setzen Sie sich hihn, Rudi Bellow, wie Sie vorhin gesessen habben! Nihcht umdrenn! Mahchen Sie die Augen zu! Ich frei' mich! Komt, Kihnder, komt!«

Er schlich sich mit den Mädchen kichernd in den Ballsaal zurück. Rudolf war es wunderlich zumut. Die Stimmung dieser Stunde konnte Ungeheuerliches bergen. Er setzte sich wirklich so, wie Raczag es wollte. »Da bin ich aber doch begierig,« flüsterte er und schloß seine Augen. Nach zwei Minuten wurde es wieder lebendig hinter ihm. Ein Trippeln, ein Kichern, ein Näherhuschen, Stimmen durcheinander, von denen sich eine abhob, die er nicht kannte, aber wie einen Schlag aufs Herz empfand.

»Was soll denn das, Herr Wirt! Es ist mir vollkommen gleichgültig, wer auf mich lauert!«

419 »Ich bihte Dich, Vererrteste – unser scheenster Kavalier wahrtet auf Dich!«

»Was lacht Ihr denn, Mädels? Na, so was! Da sitzt einer und schläft – –«

»Schläfft nihcht, schläfft nihcht! Geh' nur hin zu ihm, legge ihm die sißen Hähndchen auf's Gesicht!«

»Also – meinetwegen! . . .« Es zog die Sprechende zu dem Regungslosen hin – sie legte ihm ihre kühlen Hände aufs Gesicht, fuhr aber im nächsten Augenblick zurück. Auch Rudolf sprang auf. Er sah sich Erna gegenüber.

Alles schwankte vor seinen Augen. Die Mädchen, Raczag, der Saal . . . »Erna – Erna –,« flüsterte er, wie ein Ertrinkender. Sein brennender Blick glitt über ihre Erscheinung hin. Dies machte ihn fassungslos.

Raczag stand verblüfft. »Nun – habb' ich etwa nihcht rehcht gemahcht?«

Erna starrte ihren Bruder an. »Nicht ganz, Herr Wirt – –«

»Aber Du hast doch selbst gewinscht –«

»Still jetzt – bitte, bitte! . . . Kein Wort mehr! . . . Und Ihr auch nicht, Mädels! . . . Geht! . . . Tut mir die Liebe – – laßt mich mit dem Herrn allein!«

»Wahs! Wahs! Ihr sollt jetzt mit in den Sall komen!«

420 »Nein, Koloman,« flüsterte Rudolf abgewandt, sein Taschentuch an die Stirn pressend. »Die Dame hat recht. Laßt uns allein.«

»Ich will Euch doch beide im Triuhmph hineinfihren!«

»Nein, zum Donnerwetter! Versteht man mich hier nicht mehr? Auf Wiedersehen!«

Jetzt gehorchte Raczag. Unwillig flüsternd zogen sich die Mädchen mit ihm zurück. –

Erna schritt auf Rudolf zu und strich ihm das wirre Haar aus der Stirn. Bei ihrer Berührung zuckte er zusammen, aber er blieb bei ihr. Ein wehes, zärtliches Lächeln huschte über sein verstörtes Gesicht.

»Was hast Du denn, Rudi? Warum siehst Du mich so an? Ist es nicht prachtvoll, daß wir uns treffen?«

»Hier, Erna? . . .«

»Hier!«

»Was willst Du hier?«

»Du weißt doch, wie mir's ergangen ist.« Sie weinte plötzlich. Da riß er sie an sich. Er setzte sich mit ihr, wo er eben mit der Blonden gesessen hatte. Wie einen Herzensfreund hielt er die Schwester im Arm, und plötzlich küßte er ihre Entstellung. »Wie ist denn das geschehen? . . . Wie war das eigentlich? . . . Erna? . . . Du bist es doch? . . .«

421 »Ich bin's und ich war's. Erinnerst Du Dich nicht? Ich kam auf einem Bären auf die Bühne, aber zuletzt, da tanzte ich nicht mehr allein, sondern ließ ihn aufrecht stehen und tanzte mit Petz. Das war der größte Erfolg. Das soll so graziös und komisch gewesen sein. Ich und der Bär. Er ließ sich's auch immer gefallen. Aber in Mailand – da bin ich wohl zu übermütig geworden – da riß er mir plötzlich das ganze Gesicht auf . . .«

»Ja, das Wappentier,« flüsterte Rudolf. »Man soll mit ihm tanzen, Grazie mit dem plumpen Sack.. Und dann – zerreißt es einen.«

»Dich nicht – Dich nicht! . . .«

»Doch, doch, Erna. Es ist meine letzte Nacht.«

»Nur das nicht!«

»Ich bin fertig!«

»Du mußtest mich finden! Du armer, gehetzter Junge Du! Ich weiß ja alles! Ich versteh' ja alles! Ich habe Dich immer verstanden!«

»Deine Augen, Erna! Du hast sie noch und hast sie nicht mehr!«

»Ich habe sie noch! Und sie sollen Dir wieder helfen! Mir haben sie geholfen!«

»Wirklich?«

»Was soll denn Dein Vorwurf? Dieser Schmerz? Ich weiß nicht – mir ist, als graute Dir vor mir? . . .«

422 »Nein! Nein!«

»Hättest Du mich lieber in 'nem Krankenhaus gefunden? Abgezehrt, wie so'n schwindsüchtiges Frauenzimmer zuletzt?«

»Du warst eine Künstlerin – –«

»Ich war's! Begreifst Du nicht, daß darin alles liegt? Ich kann auf keine Bühne mehr! Aber ich lasse mich nicht unterkriegen! Ich habe noch mal das Weib in mir entdeckt, das, was mehr ist als aller Ruhm! Das will ich hochhalten, all den Bestien zum Trotz! Ich gebe noch immer, was ich habe! Du kennst mich! Ich bin nicht dumm, ich weiß zu leben, ich verstehe die Männer, wie sie keine versteht!«

Rudolf ließ die leidenschaftlich Erregte, die sich an seinem Körper hin und her warf, los. Wie zu Tode getroffen, lehnte er den Kopf zurück. »Mir wird doch alles genommen,« flüsterte er.

Da fuhr sie angstvoll zu ihm hin. »Was denn, Rudi? Was? Du bist doch auch hier!«

»Meine Schwester!«

»Denk' doch nicht daran! Deine Schwester – ja! Wir sind aus einem Holz! Du hast hier Feste gefeiert, von denen sich Berlin erzählt! Du mußt doch hier ein großes Glück empfunden haben! Wozu hast Du denn gearbeitet? Wozu hast Du Dich in unendliche Sorgen gestürzt? Um ein bißchen Lebensgenuß zu finden! Hier liebt man Dich –«

423 »Hast Du mich darum hier gesucht? . . . Nein, Erna . . . Jetzt ist das alles weggewischt für immer. Wie Schuppen von 'nem Schmetterling. Etwas Ekliges, furchtbar Fades bleibt.«

»Weil Du mich hier getroffen hast?«

»Schwester!« Er packte ihre bebenden Hände. »Du wolltest was Gutes! Ja! Aber wir sind verirrt! Wir sind beide grenzenlos verirrt! Aber Du bist ein Weib – Du kannst langsam zugrunde gehen! Mich laß jetzt fort! Ich muß! Das ist das Zeichen!«

»Wohin?«

»Ein Ende machen!«

»Nein, Rudi!«

»Es war ja beschlossene Sache. Ich hatte nur diese Nacht noch. Wie eine Narkose, ein Uebergang zum Nichts sollte sie sein. Aber nun seh' ich, das war auch eine Lüge. Mein Ende muß ernster sein, weil mein Leben ernster war, als die meisten Menschen gewußt haben.«

»Ich kenne Dein Leben! Ich will nicht, daß sie über Dich triumphieren! Pfui! Du hast was gewagt! Ich auch! Es kann nicht sein, daß Du den Mut verlierst! Woher soll ich dann Mut nehmen? Warum fliehst Du nicht? Nach Amerika? Da bist Du ein andrer Mensch, Rudi! Warum willst Du das Opfer von Berlin werden?«

»Weil Berlin mein Schicksal ist. Nicht Amerika. Hier wollte ich siegen. Man muß in Berlin für seine 424 Träume büßen. Dieses Nest und diese Weltstadt! Hermann sagt, ich habe mich an den Schein verschwendet! Ja, was ist es denn andres als Schein – solche Stadt! Solche Menschenmenge! Millionen Schicksale! Die zu bewirten! Die zu beherrschen! Als Ganzes sind sie ein Schein! Und weil mir das entwertet worden ist – darum bin ich gebrochen.«

»Nein! Versuch' es noch einmal! Es kann ja vertuscht werden! Trotz Wechsler! Willst Du die letzte Möglichkeit nicht ergreifen? Ich habe eine Möglichkeit!«

Er starrte sie an. Beide waren aufgestanden. »Worauf sinnst Du, Erna? . . . Kann das etwas sein, was ich annehme? . . .«

»Ja! Du geliebter Narr! Da muß ich Dir einen Kuß geben! Was Deine Schwester für Dich tut! Das kannst Du annehmen! Da drüben –,« sie deutete fiebernd zum Tanzsaal hinüber – »da wartet einer auf mich – – ein Mensch, dessen Leben ich in der Gewalt habe – – ein alter, häßlicher Mensch, der sich nach mir verzehrt –«

»Wer ist das?« rief Rudolf zornentbrannt. »Kenn' ich ihn?«

»Du kennst ihn! . . . Ascher! . . .«

»Der wagt es? Dies Gespenst? Darf er das? Weil er reich ist?«

425 »Ich hätte auch lieber was Junges gehabt – denn ich bin noch jung! Aber er kommt immer wieder! Er täte alles für mich!«

»Jetzt versteh' ich! . . .«

»Sei vernünftig, Rudi. Mein Schicksal wär' es ja schließlich doch. Und er ist nicht der Schlimmste. Er hat ein gutes Herz. Er würde mich pflegen, mich halten, wie etwas, was ihm teuer ist. Aber er muß Dir helfen. Wenn Ascher für Dich eintritt, ist alles gewonnen.«

»Erna!«

»Was liegt an mir?«

»Und davon soll ich mir Mut holen –«

»Nur darauf kommt es an! Daß Du Mut hast! Daß Du frei bleibst! Darauf kommt es an!«

»Nein! ––«

Sie standen sich wie Feinde gegenüber. Sie maßen sich aneinander, aber der flammende Blick ihrer Augen verschmolz sofort zur Freundschaft, zum tiefsten Einverständnis. Jetzt stürzte jeder Wahn. Aus dem Abgrund holten die beiden ihren letzten Stolz empor.

»Komm' mit mir,« sagte Rudolf dumpf.

»Du willst nicht,« flüsterte sie wie ein krankes Kind.

»Ich will nicht. Das will ich nicht. Aber ich kann mir etwas geben, Erna – wenn Du nicht hier 426 bleibst – – dann kann ich mir etwas geben – – mehr als der alte Mann.«

»Ja, Rudi!«

Sie umschlang ihn. Sie war jetzt völlig sein. Wie Verirrte standen sie in diesem Saal. Von fernher tönte die Tanzmusik. Sie hörten sie nicht, sie schritten Arm in Arm an der Lust vorbei. Rudolfs Chauffeur stand in der Garderobe. »Gib mir meine Sachen, John. Laß Dir die Sachen meiner Schwester geben.«

Der Chauffeur war ein hagerer Engländer mit langer Nase und schillernden, starr gebannten Augen. So glich er ganz einem Wolf in seinem graubraunen Pelz. Ein Diener großen Stils, ließ er sich nie die Wirkung eines Auftrags anmerken. Es zuckte kaum in seinem Gesicht, als er den Herrn so früh, so verstört den Ballsaal verlassen sah. Auch an der Schwester sah er vorüber. Er machte die beiden fahrtfertig.

Rudolf drückte dem Portier ein Goldstück in die Hand und half Erna in das Automobil steigen. Er fürchtete jeden Augenblick, daß die Sinne sie verließen. Der Chauffeur saß schon an seinem Platz und hielt die Hand an der Mütze. »Nach Wannsee. Zum Klubpalais. Wir übernachten draußen.« Der Schlag fiel zu, und das Automobil surrte davon.

»Wohin fahren wir?« fragte Erna leise und lehnte den Kopf an Rudolfs Brust.

427 »In's Goldgräberland.«

Lachte er? – Sie konnte den Kopf nicht heben, nicht zu ihm emporsehen. Sie trachtete nur, die letzte Zuflucht nicht zu verlieren.

»Mein armes Ernakind,« flüsterte er. »Wir haben gar nichts mehr.«

»Weder Vater noch Mutter.«

»Hermann war vorhin noch bei mir. Bei Raczag. Er ist mir nachgelaufen.«

»Mit Martha? . . .«

»Ja, mit Martha. Wie gut eine Frau die Frau errät. Aber ich kann nichts damit anfangen. Mir ist das alles fern. Es ist furchtbar, von dem ›Edelmut‹ gequält zu werden.«

»Mein armes Rudichen . . .«

»Mein Schwesterchen.«

»O, meine Hände darf ich Dir doch um den Kopf legen –«

»Deine Hände –«

»Sind immer noch rein –«

»Deine Hände!« Er preßte sie an den glühenden Mund.

Das Automobil hatte die Stadt schon hinter sich. Es fuhr über die Halenseeer Brücke dem Grunewald zu.

»Sieh' mal,« flüsterte Erna. »Es schneit nicht mehr. Es ist schön draußen.«

428 »Der Mond kommt 'raus. Ja, schön ist es, schön. Ich habe das lange nicht gesehen.«

»Wollen wir nicht im Grunewald halten lassen? Und laufen?«

»Das ist ein guter Gedanke. Ja, Erna. Der Kerl fährt wie verrückt. Sonst sind wir im Nu in Wannsee.«

Rudolf drückte auf die elektrische Klingel. John hielt sofort. Wie ein regungsloser Wolf hockte er oben und sah mit seinen schillernden Augen herab.

»Wir gehen ein Stückchen, John. Bleiben Sie auf der Wannseestraße. Wir kommen dann.«

Rudolf und Erna bogen in den Wald ab. Der Wagen fuhr langsam weiter.

»Winter,« flüsterte Erna. »Immer noch Winter.«

»Ist gut so . . . Nur kein Frühlingsschwindel mehr.«

»Aber schön ist es doch, wenn aus dem trockenen Laub die Blümchen kommen.«

»Ist das schön, Erna? Wirklich? Ach, Du geliebtes Kind!«

Er stand mit ihr zwischen dunklen Kieferstämmen. Es war ein kleiner, freier Platz im Walde, und sie konnten zum Himmel aufsehen.

»Wie warm es ist,« flüsterte Erna. »Sieh' nur den Mond, Rudi. Und die zerrissenen Wolken. Zerrissen, zerrissen! Was ist da oben?«

429 »Nur, was wir sehen können.«

»Ach, Rudi – gibt es denn gar keinen Trost?«

»Für uns sind wir's . . .«

»Ja, ja –«

»Der liebe Gott ist für andre reserviert.«

»Den mag ich schon lange nicht mehr. Den lieben Gott. Aber meinst Du eigentlich – glaubst Du, daß Bruder und Schwester alles füreinander tun dürfen?«

»Ich glaub' es.«

»Wann?«

»Wenn sie nicht mehr leben wollen. Greif' in meine Tasche.«

Sie fühlte den Revolver, und beide hasteten in's Dunkel fort. – – –

John, der Chauffeur, fuhr zum drittenmal die Wannseestraße entlang. Das Wartetempo war das einzige, was diesen stählernen Menschen erschlaffen konnte. Er murmelte zornig vor sich hin. Ihn fror in seinem Pelz, aber die Weisung des Brotherrn war geheiligt.

Da ihm nichts Sanftes oder Buntes zur Zerstreuung einfiel, begann er mechanisch die Minuten zu zählen. Es fesselte den Engländer immerhin, die Wahrscheinlichkeit zu berechnen, wann sein Herr wieder auftauchen würde. Er beschloß es mit einer halben Stunde zu versuchen und nickte befriedigt. 430 Das mußte stimmen. So zählte er mit harter Miene weiter. Er kam nicht ganz bis zur Dreißig – schon bei der Achtundzwanzig fiel ein Schuß. Dann noch einer.

John, der Chauffeur, sprang empor. Er riß seine grünlichen Augen weit auf, sofort war er vom Wagen herunter, mit großen Sprüngen ins Dickicht geeilt. Er kämpfte sich in gerader Linie zu der Stelle, wo sein scharfes Ohr den Schützen vermutete. Jetzt kam er hin. Hier lagen die beiden Belows auf einem gefällten Baumstamm. Das Blut aus ihren Köpfen rieselte über ein Schneekissen. Sie hatten zufriedene Kindergesichter.

Da beugte sich der hagere Engländer, zum erstenmal in seinem Leben hilflos. Da rang sich ein Wolfston heulend aus seiner harten Brust. 431

 


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