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XXII.

Erst nach fünf Uhr trat Irene in einem leichten Sommerkleide dem vor der Halle schon seit einer guten Weile ungeduldig Wartenden entgegen.

Ja, Eduard wartete wirklich ungeduldig auf das Mädchen.

Noch kannte er nichts von ihrem inneren Wesen, noch hatte er kaum einen zusammenhängenden Satz aus ihrem Munde vernommen!

Und trotzdem hatte sie – die alles mehr als graziös, alles andere als schön war – etwas ungemein Anziehendes für ihn!

Er, der nie von einer weichen Mutterhand gestreichelt worden war, der sich inbrünstig danach sehnte, einen Menschen zu finden, an den er sich lehnen durfte, der endlich ihm eine Heimat schaffen konnte, er ahnte in Irene die Mutter.

Eine Sehnsucht nach dem Kinde wurde in ihm lebendig.

Nach seinem Kinde sehnte er sich.

Und als Irene ihm jetzt ganz unbefangen entgegentrat, ihm ohne jede Scheu ihre Hand entgegenstreckte, da küßte Eduard diese Hand, und er fühlte blitzhaft, daß diese Frau sein Schicksal bedeutete.

Auch Irene wußte seit der ersten Begegnung mit ihm, daß er ihr nicht gleichgültig blieb, wohl weil sie etwas für ihn empfinden wollte.

Doch sie war sich darüber nicht ganz klar, ob da eine ernsthafte Neigung in ihr aufkeimte oder – – – ob es nur ein neuer Spielball, eine jener Liebeslaunen werden würde, wie sie ihr eine längst nach Befreiung schreiende Sinnlichkeit schon dann und wann als Zeitvertreib beschert hatte.

Sie gab sich darüber auch keinen tieferen Betrachtungen hin.

Flatterhaft veranlagt, wollte sie jedenfalls diesen stattlichen Menschen sich, zu Füßen zwingen, lüstern wollte sie ihn beherrschen, wie sie bisher von ihren Eltern tyrannisiert wurde.

»Ich möchte Ihnen einen Ausflug nach dem alten Schlosse Elbogen vorschlagen,« sagte er, nachdem er sie recht lange angeblickt hatte.

»Einverstanden,« lachte sie und zeigte ihm zwei prachtvolle Zahnreihen.

Ihr Heißblut hämmerte schon hitzig durch ihre Pulse, wenn sie ihn so von der Seite betrachtete und seinen schlanken, biegsamen Körper gierig witternd einschätzte.

Er, der von ihren Gedanken nichts ahnte, gesellte sich galant an ihre grüne Seite.

So gingen sie nebeneinander über die alte Wiese her, und die Leute reckten die Hälse.

Denn Irene schien hier sehr bekannt zu sein.

»Wir kommen, wenn ich recht unterrichtet bin, auf der Fahrt über die alte Egerbrücke an dem berühmten Hans-Heiling-Felsen vorbei,« erläuterte Eduard seine Vorschläge.

»Ach den aus der hübschen bekannten Oper! Das freut mich riesig! Da bin ich Ihnen ja wirklich recht dankbar! Denn meine Eltern hocken den ganzen lieben Tag beim Kartenspiel, soweit der ›Päppe‹ nicht durch die Kur in Anspruch genommen ist. Haben Sie denn eine Ahnung vom Pokerspiel, wissen Sie überhaupt, was das für ein Spiel ist?«

Sie sprach schnell und begleitete ihre Worte oft mit einem grundlosen Lachen.

»Na natürlich,« gab er munter zurück, »mein Bruder Mattin kann sich damit stundenlang, sogar ganze Nächte beschäftigen, ohne Langeweile zu empfinden.«

»So uninteressant ist es auch gar nicht einmal. Wir jungen Mädchen haben jetzt in WW recht oft unsern harmlosen Pokertee! Das ist immer, ganz gelungen!«

»Berlin WW,« stöhnte er auf.

»Aber, aber, wer wird denn das Leben so ernst nehmen! Wir müssen wenigstens in der Jugend es von der leichten Seite auffassen. Solange als möglich! Die Sorgen kommen schon von ganz allein, sagt der Päppe immer!«

»Also dann sind Sie eine Anhängerin Epikurs?«

»Mit vollem Rechte bin ich das!«

Eduard ließ einen besonders feschen Fiaker halten und bat sie:

»Wollen Sie bitte Platz nehmen!«

»Schickt sich das denn auch für eine gut erzogene junge Dame?« und kokett brachte sie den kleinen Finger an den Mundwinkel.

»Aber bitte, aus Berlin WW!« mahnte er scherzhaft, und schon saßen sie beide im Fond des Wagens.

Ein wonniges Glücksgefühl wurde in Eduard wach. So neben ihr hinzufahren! Das war wirklich schön, machte das Leben lohnend und licht! Ach wer doch seinen lieben langen Lebtag immer nur so durch die Welt rollen durfte. So im steten Genuß schnell durchs Leben zu sausen! War das alles nicht wie ein Rausch des Blutes! Ein Tändeln von Taumel zu Taumel! –

Da er schwieg, fragte sie unvermittelt:

»Warum sind Sie so ernst, Herr Weitbrecht?«

»Ich habe meinen Frohsinn verloren,« gab er schlicht zur Antwort. »Wissen Sie, was das heißt?«

»Nein, Epikurs Nachtreterin kann ich mir nicht gut auf der Suche nach Frohsinn vorstellen! Aber vielleicht kann ich Ihnen einmal suchen helfen?«

»Könnten Sie das? Und würden Sie das wollen?«

»Die Hauptsache bleibt, daß wir ihn irgendwo finden,« lachte sie. »Na, lassen Sie mich man machen! – – – Ich weiß schon, wo er auf Sie wartet!«

»Hoffentlich wissen Sie's auch wirklich!« Eduard lehnte sich wohlig in die weichen Kissen der Kutsche zurück. Eine echte Freude bemächtigte sich seiner. Vielleicht hatte er ihn eben schon wiedergefunden – – – den Frohsinn! Da fühlte er, wie sie sich kaum merklich näher an ihn heranschob, wie ihr Körper den seinen suchte. Und ein heißer Schauer erfaßte und schüttelte ihn.

Fein federnd fuhr der Wagen durch den grünen Laubwald, und aus den rauschenden Wipfeln schluchzte eine Nachtigall ihr sehnsüchtiges Liebeslied herab.

Eduard fühlte ihren Körper ermunternd noch näher rücken, und plötzlich hatte er ihre Hand erfaßt und preßte sie in der seinen.

Im nächsten Augenblick hielten sie sich umfangen.

Der erste Kuß glich einem Ineinanderstürzen.

»Ach Du! Wie bist Du lieb!« Irene war es, die sich zuerst gefaßt hatte. Und als Eduard aus reiner Scham über seine Keckheit nichts zu erwidern vermochte, lachte sie ihn lustig an:

»Nun, glaub ich, haben wir ihn! Den Frohsinn!«

»Ja, mein Mädel! Und nun wollen wir ihn auch festhalten!«

»Daß er nie mehr wieder fortlaufen kann, der gute Geselle!«

Und wieder küßten sie sich in wilder Umarmung.

»Wir sind am Platze,« störte der Kutscher sie da, und plötzlich aus ihrer Weltabgeschiedenheit erweckt, merkten sie, daß der Wagen vor dem alten böhmischen Königsschlosse hielt.


Als sie das in unseren Tagen zum Gefängnis umgewandelte alte Schloß betraten, das – wie der Fremdenführer ihnen nach jener bekannten, auswendig gelernten Manier berichtete – noch in der Hussitenzeit entstanden war, gedachte Eduard des ihm gänzlich entgangenen Hans-Heiling-Felsens und konnte nicht umhin, ihr das scherzend vorzuhalten:

»Den guten Hans Heiling hätten wir also leider ganz verküßt!«

Ihre banale Antwort: »Wieso leider? Ich für meinen Teil finde Küssen furchtbar nett!« riß ihn aus allen Himmeln, so daß er für kurze Zeit wortkarg wurde und ihre bald darauf in einer dunkelen Zelle ihm besonders lüstern zum Kusse dargebotenen Lippen unwillig ablehnte.

Da schmollte sie und drohte, sie würde sofort allein nach Hause fahren, ihn aber hier in den unterirdischen Verließen bei den »Schwerverbrechern« allein lassen.

»Mutterseelenallein! In diesen schrecklichen Katakomben!« setzte sie noch hinzu, und so beschwichtigte er – als der Führer mit vielem Verständnis für einen Augenblick in einen Seitengang verschwand – ihre Wünsche.

Diese Katakombe schien gerade für Liebende der geeignete Tummelplatz zu sein; denn als Eduard und Irene sich nach längerem Verweilen endlich zur Heimfahrt anschickten, wurden sie sofort von einem Pärchen abgelöst, das draußen schon längst auf das Freiwerden dieser Dunkelkammer gewartet zu haben schien.

Irene van Fleethen aber nahm aus dem Elbogener Schloß die sie sehr befriedigende Erfahrung mit, daß sich Herr Eduard Weitbrecht sozusagen um den kleinen Finger wickeln lasse – – und zwar um ihren eigenen kleinen Finger!

Und das war für sie eine neue köstliche Wahrheit.

Für ihn aber sollte es der Anfang vom Ende sein!


Auf dem Rückwege gab es zwischen den Liebenden eine schlüssige Aussprache. Irene erwies sich ihm als viel zu vernünftig, zu lebensklug. Man einigte sich auf ihre Bitten dahin, daß Irene ihren Eltern alles zwischen ihnen Vorgefallene vorläufig verschweigen müsse.

Erst zu Beginn des Winters sollte Eduard den alten Herrn in Berlin um die Hand seiner Tochter bitten dürfen.

Und Eduard, der lieber sofort gesprochen hätte, ergab sich drein. Er wollte vor allem Frieden!


Schon seit sechs Tagen rang Onkel Mettschieß mit dem Tode.

Ein schwerer Schlagfluß hatte sich seinem Leberleiden beigesellt. Doch die zähe Pferdenatur des grobkörnigen Ackerbürgers hielt allen Anstürmen des Sensenmannes mit jener ihm eigenen eisernen Energie stand, und die inzwischen eingetretene Krise hatte ihr recht gegeben und ihm etwas Linderung und wieder neue Hoffnung gebracht.

Eduard war nach Ablauf seines dreitägigen Urlaubs um eine Verlängerung »bis auf weiteres« eingekommen.

Diese wurde ihm mit der Maßgabe bewilligt, daß der Gesamturlaub acht Tage nicht mehr überschreiten dürfe.

Aber nach Ablauf dieser kurzen Frist standen die Dinge hier recht schlimm für Eduard. Der Arzt verlangte, daß der wieder etwas zu Kräften gekommene Patient das rauhe Klima Karlsbads verlasse und im Krankenwagen nach Hause gebracht werde.

Die selbstverständliche Pflicht, den Krankentransport getreulich zu beaufsichtigen, wies der Doktor Eduard als einzigem Verwandten zu, der natürlich dem alten Manne einen solchen Liebesdienst nicht verweigern durfte.

Ein neues an die vorgesetzte Behörde gerichtetes Urlaubsgesuch blieb unbeantwortet.

In Eduard, der in seiner freien Zeit nur mit Irene und deren Eltern verkehrte, wuchs nun ein törichter Trotz gegen seinen Vorgesetzten, den Geheimrat Tümpel, auf. Er mutmaßte, daß ihm dieser unleidliche alte Bureaukrat die Urlaubsverlängerung beim Präsidenten zu Wasser gemacht hatte.

Und so entschied er sich trotzdem dafür, den kranken Onkel in sein Haus nach Königsberg schaffen zu helfen. Irene sollte er deshalb erst nach zwei Wochen in Berlin wiedersehen und sich – ihr Vater hatte ihn dazu eingeladen – der Familie nach Ablauf ihrer Kurzeit zu einer Seereise nach Schweden anschließen.

Jacques van Fleethen hatte seine geräumige Lustjacht, die den Namen der Gattin trug, schon vor Wochen nach dem Stettiner Hafen dirigiert.

Der Abschied von Irene war innig und wurde Eduard sehr schwer.

Aber er mußte sich einmal dem Zwange der Geschehnisse beugen. Da gab es keine Widerrede. Es mußte eben sein!

Kaum aber hatte er den Onkel in der Heimat den bewährten Händen seiner treuen Haushüterin, einem alten braven Weibe, übergeben, so eilte er nach Berlin zurück, um seine Angelegenheit bei der Behörde zu regeln.

In der Hauptstadt angekommen, wurde seine Sehnsucht nach dem geliebten Mädchen immer ungestümer.

In jeder jungen Dame, die er auf der Straße sah, vermeinte er ihre Gestalt zu erkennen.

Täglich schrieb er ihr achtseitenlange verliebte Briefe, die sie sich postlagernd erbeten hatte.

Überall suchte er sie vergeblich. Obwohl er genau wußte, daß sie noch in Karlsbad weilte, weilen mußte, lief er mehrmals an diesen Tagen zum Kurfürstendamm vor das Haus, in dem sie wohnte.

Mit einem heißen Verlangen irrten seine sehnsüchtigen Blicke über die geschlossenen Jalousieen ihrer Fenster. Und seine Augen küßten im wilden Weh die Stufen vor dem Haustor, über das sie doch schon so oft gegangen sein mußte.

Zudem hatte er bis jetzt nur eine nichtssagende kurze Ansichtskarte von ihrer Hand erhalten, auf der außer dem Gruße ihrer Eltern auch noch zwei ihm ganz fremde Namen zu lesen waren.

Eine maßlose Eifersucht ergriff ihn.

Und diese Ohnmacht, gegen die er sich wehrlos fühlte, diese Ohnmacht, ein anderer Mann möchte sie auch in die Arme schließen dürfen, möchte sie, die sein Heiligtum, der höchste Hort seiner liebeskranken verwundeten Seele war, auch küssen können, wie nur er es dürfen wollte, raubte ihm den letzten Rest seiner reinen Denkweise!

Er setzte sich in ein Auto und eilte nach Haus, stopfte die von seiner Wirtschafterin bereits ausgepackten Kleider wieder in die noch in den Zimmern herumstehenden Koffer und fuhr zum Anhalter Bahnhof.

Da erst erfuhr er, daß der nächste Zug nach Karlsbad nicht vor drei Stunden abgelassen wurde.

Das war ihm gleich!

Stupide setzte er sich in den Wartesaal und döste vor sich hin.

Sein ganzes Trachten und Denken gehörte ihr!

Er gestand sich, daß seine Weltanschauung fortan von ihr bestimmt, nur von ihr und durch sie formuliert werden durfte, daß er nur noch für sie atme, daß auch seine kleinste, gleichgültigste Handlung nur für sie getan wurde.

»Einsteigen nach Karlsbad!« Eine Glocke des Bahnportiers weckte ihn aus seiner Weltflucht.

Dann erhob er sich elastisch und stieg eilig in den Zug, der kurz darauf in die schwarze Nacht hineinbrauste.

Am nächsten Morgen kam er in aller Frühe an, fuhr sofort nach dem großen Bäderhaus und ließ sich hier zunächst im Heißluftschwitzbad römisch-russisch traktieren.

Ein paar derbe Böhmenfäuste bearbeiteten ihn eine gute Stunde. Von der Massage fühlte er sich wie neugeboren und eilte in den Freundschaftssaal, wo – wie er wußte – die Familie van Fleethen zu frühstücken pflegte.

Alle drei lachten aus vollem Halse, als sie Eduard, den sie noch in Ostpreußen glaubten, so plötzlich an ihren Tisch treten sahen.

»Ich wollte Ihnen gerade wieder einen Kartengruß senden,« waren Irenes Begrüßungsworte.

Aber Eduard hörte nichts von all dem! Nichts von allem Angenehmen, das ihm Frau Paula, nichts von dem sicher wohl Unangenehmen, was ihm der »Päppe« zurief, indem er recht aufdringlich seinen Zeigefinger nach ihm ausstreckte.

Er sah nur sie. Und er sah sie immer wieder an. Und herzte und küßte sie mit seinen Gedanken voll süßester Seligkeit.

So blind war er in sie verliebt, daß er nichts Anderes schauen konnte, als eben nur sie, nur sie!


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