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IV.

Eduard Weitbrecht war nicht nur in seiner Klasse Primus, er war auch der erste, wenn es mit Rat und Tat zu helfen galt.

Martin war jetzt gerade ein halbes Jahr von Hause fort und sollte dieser Tage ins Examen gehen.

Überglücklich betrachtete Eduard die Depesche in der Meinung, der ältere Bruder habe die Seinen überraschen wollen und deshalb ein späteres Datum als Examenstermin angegeben.

Nun kam er ja wieder nach bestandenem Examen! – Denn nichts anderes konnte die Depesche enthalten, als diese vom Vater und ihm sehnlichst erwünschte Botschaft! Warum aber hatte er sie nicht an den Vater adressiert? Ein banger Zweifel schlich ihm da leise ums Herz. Wenn es doch nicht das war? Ganz unbewußt ängstigte er sich plötzlich davor, den kleinen blauen Markenverschluß zu zerreißen.

Morgen früh hatten sie Horaz in der Schule! – Eben hatte er noch ein wenig in den Römeroden gelesen, – Horaz war schon nach der ersten oberflächlichen Bekanntschaft sein ausgesprochener Liebling geworden. Beim Schließen des Buches fiel sein Blick gerade auf den Vers

»Post equitem sedet atra cura.«

Entschlossen riß er jetzt das Telegramm auf, – da war sie wirklich gekommen, die schwarze Sorge, und hatte sich hinter ihm aufs Pferd geschwungen!

Wie eine Lähmung überfiel es ihn … Nur zu schnell sah er seine eben noch für Martin gehegte Hoffnung in weite Fernen sinken …

Martin brauchte Geld – wozu dies während der schweren Examenstage notwendig war, wollte ihm nicht recht in den Sinn. Zudem hatte er – wie da zu lesen stand – das Ehrenwort verpfändet.

Eine mächtige Erregung brachte den siebzehnjährigen Jüngling ganz aus seiner Fassung. Bisher hatte er bei Martins häufigen Briefen, in welchen die Bitte um Geld stets die Hauptrolle spielte, immer die Herrschaft über sein Denken bewahrt. Aber nun war sein Spargut erschöpft, da er die letzten vierzig Mark vor drei Wochen an Martin zur Absendung gebracht hatte! Was nun? stöhnte es aus seiner Seele.

Ein lähmendes Ohnmachtsgefühl ließ ihn wild aufschreien! Bald aber sank er wieder ganz apathisch in sich zusammen. – Seine Füße wurden plötzlich müde, – – schwer wie Blei …

Er mußte unbedingt zu Bett –! Nur nichts mehr denken müssen …!

Aschfahl im Gesicht, stand er nach einer Stunde wieder auf, um sich die ihn stark schmerzenden Augen zu kühlen.

Einschlafen hatte er doch nicht können.

Unaufhörlich hatte er an Martin gedacht! Noch war er sich nicht schlüssig darüber geworden, was er beginnen sollte!

Dem Vater konnte er sich natürlich nicht offenbaren, denn das war ja unbedingt gleichbedeutend mit Verrat an dem geliebten Bruder.

Seine ganzen Ersparnisse – einige hundert Mark – hatte er Martin nach und nach auf dessen Drängen gesandt … Neue Geldquellen waren nicht mehr zu erschließen!

Bis morgen mußte er mit einem Schritte in der Angelegenheit selbstverständlich warten, und so schlief er, endlich von großer Müdigkeit übermannt, im Lehnstuhl ein.


Als er sich am nächsten Tage zur Schule zu gehen anschickte, kam ihm ein rettender Einfall: Walter Löwy, der Sohn eines reichen Getreidehändlers, hatte stets sehr viel Taschengeld und warf gleichsam immer damit herum.

Als der einzige Rivale Eduards in der Unterprima würde er ihm aber vielleicht nicht helfen wollen?!

Eduard hielt sich nämlich in der Schule stets zurück. – Zwar gab er sich gegen alle Mitschüler gleich freundlich und zuvorkommend, doch er lebte ein zu starkes Innenleben, um auch nur einem seiner Schulkameraden in den langen Jahren des gemeinsamen Schulbesuches seelisch etwas näher gerückt zu sein.

Und nun sollte er sich Walter Löwy offenbaren!! Ein für Eduard erst ganz widersinniger Gedanke! – – Oft schon war Walter Löwy nahe daran gewesen, ihm in der Klasse seinen Ehrenplatz streitig zu machen, aber Eduard behauptete sich mit einer zähen Seßhaftigkeit, welche dem sprunghaft veranlagten Rivalen vollkommen abging … Neben einer großen Intelligenz ließ der jeden geringsten häuslichen Fleiß vermissen, und so konnte von der jüdischen Intelligenz die deutsche Gründlichkeit nicht aus dem einmal bestiegenen Sattel gehoben werden.

Der reiche Kaufmannssohn legte großen Wert auf die neuesten Moden und zersplitterte sich geistig, indem er schon als Primaner die deutschen Philosophen studierte, die er – trotzdem er recht klug und frühreif war – noch nicht verdauen konnte.

So unangenehm es Eduard aus solchen Gründen auch sein mußte, sich Walter Löwy anzuvertrauen, er wußte sich keinen anderen Rat.

Es mußte sein! – Und Eduard biß die Zähne zusammen.

Walter machte zuerst ein langes Gesicht, als ihn Eduard vor dem Schulbeginn ein wenig beiseitenahm, um ihm langsam in abgehackten Sätzen sein Geständnis zu machen und um seine Hilfe anzugehn … Selbstverständlich sagte ihm Eduard, daß er das Geld zu nötigen Ausgaben für sich erbitte!

Den Ruf des großen Bruders konnte er doch nicht in Gefahr bringen!

Interessiert fragte Löwy erst, wieviel er zu haben wünsche, worauf Eduard gar nicht einmal antworten konnte – da er selbst noch nicht über die Höhe der Summe nachgedacht und Martin ja nichts bestimmt hatte.

Stockend antwortete er deshalb, daß sechzig Mark wohl genug sein dürften.

Der Andere meinte, die Sache wäre nicht so leicht, ihm selbst stünde eine so große Summe augenblicklich nicht zur Verfügung, doch – – da es sich bei Eduard wohl sicher um eine Dame handele, müsse er ihm »als Kavalier und aus Solidaritätsgefühl« helfen. Und er half ihm wirklich!

Nach Ausgang des Unterrichts führte er ihn zum Roßplatz, wo Getzel Dowal, ein ebenso gefährlicher wie gefürchteter Wucherer, sein »Bank- und Wechselgeschäft« betrieb.

Das ganze Geschäftslokal bestand aus einer niedrigen Mansarde, die außer einem runden Tisch und zwei Stühlen nur noch ein Bett und einen gußeisernen Waschständer enthielt. Für die wenigen, nicht im Gebrauch befindlichen Kleidungsstücke war ein mit Kattun behangener Rechen an der Wand angebracht.

Als russischer Emigrant war Dowal vor zehn Jahren mit russisch-polnischen Pferdehändlern zu den großen Pferdemärkten nach Finsterburg gekommen und hatte sich nach den ersten guten Geschäften bald dauernd hier niedergelassen.

Wie der junge Stadtratssohn mit dem Sohne des Majors Weitbrecht gegen ein viertel zwei Uhr das »Geldkontor« – so bezeichnete Getzel Dowal sein Geschäft durch ein an der Eingangstür befindliches Schild – betrat, fühlte sich Dowal zunächst aufs äußerste geehrt und wurde nicht müde, dies bei den jungen Herren fortwährend zum Ausdruck zu bringen.

Er erklärte sich auch sofort zur Hergabe des Darlehns bereit, überlegte sich die Sache aber bald wieder und forderte dann lieber doch eine Sicherheit.

Nach einem schmutzigen Hin und Her – Walters Bürgschaft genügte dem Wucherer nicht, weil der leider auch noch nicht großjährig war – kam man zum Abschluß des Geschäftes: Eduard brachte sein Zweirad und sein einziges Amulett, einen von der Mutter ererbten Siegelring, als Pfand und erhielt dafür ein Darlehn von fünfundsechzig Mark für sechs Monate unter der Bedingung, daß die verpfändeten Gegenstände in Dowals Besitz übergehen sollten, falls das Darlehn nicht rechtzeitig zurückgezahlt würde.


Um zwei Uhr speiste man im Hause des Majors … Mehrfach fragte der Vater seinen Sohn, dessen Antlitz noch die Spuren der kurz vorangegangenen Erregung trug, ob er in der Schule Ärger gehabt habe oder ob sonst etwas Beunruhigendes vorgefallen sei.

Eduard antwortete ausweichend, und gleich nach Tisch holte er Ring und Rad von ihren Plätzen, um sie auf schnellstem Wege nach dem Roßmarkt zu bringen.


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