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XV.

Nun kamen schmerzliche Wochen für Eduard.

Nachdem das Nest am Rankeplatz von der hohen Obrigkeit ausgehoben worden war, hatte Martin dem Kreise zur Fortsetzung der Spielabende bereitwilligst sein eigenes Heim geöffnet.

Aus dem Speisezimmer wurde bald eine kleine Spielhölle. Um für Abwechslung zu sorgen, hatte sich Martin eine Roulette aus Paris verschrieben, und von acht bis zehn Uhr abends ruhte die Klingel an der Wohnung der Brüder kaum einen Augenblick.

Auch ganz fremde Menschen fanden sich ein. Das ehedem so friedliche Heim glich nun einem Taubenschlag.

Martin schlief jetzt nur am Tage. Um sechs Uhr abends erhob er sich erst und machte bis acht Uhr Toilette. Durch das Eintreffen der ersten Spieler wurde er meist noch dabei überrascht, was ihn immer außerordentlich belustigte.

Wenn alle Herren versammelt waren, wurden auf Martins Anordnung zunächst etliche kalte Platten und Pilsener Bier in Krügen gereicht.

Erst dann begannen die verschiedenen Spiele.

Für Eduard wurden durch Martins selbstherrliche Maßnahmen die Verhältnisse immer unerträglicher.

Die Hauswirtschaft erhielt durch seine unregelmäßige Lebensführung ein vollständig neues Gesicht. Aus Scham vor der Dienerschaft benutzte Eduard nach kurzer Pause wenigstens allein den Wagen zu einer täglichen Spazierfahrt, da der Kutscher mehrfach vorstellig geworden war, daß die Pferde doch unbedingt wenigstens jeden zweiten Tag bewegt werden müßten!

Da Eduard tags viel arbeitete, ging er auch entsprechend früh zu Bett und schlief manchmal schon, wenn in den vorderen Räumen das Spiel begann.

Oft leistete Martin sich dann einen Scherz: Er führte einige Spaßmacher aus seinem Kreise um Mitternacht nach dem Schlafzimmer, drehte das Licht an und stellte seine Gäste in Reih und Glied auf. Dann mußten alle auf seinen Wink »Ede« brüllen, bis Eduard aus tiefem Schlafe erwachte und in die lachenden Gesichter der sich über ihren gelungenen Ulk noch schüttelnden Horde blicken mußte.

Martin stand tierisch brüllend dabei!

Eduard erwog, nachdem sich solche Übergriffe mehrfach ereignet hatten, schon ernstlich den Gedanken, diese Stätte des fortwährenden Verdrusses zu verlassen. Denn Martin war in seinem ganzen Gebaren auch sonst plötzlich gar nicht mehr wiederzuerkennen.

Als der Quartalserste jetzt herankam, weigerte er sich entschieden – was er selbst eingeführt hatte! – die Hälfte zu den Kosten für den Unterhalt der Pferde und des Kutschers beizutragen, weil Eduard das Fuhrwerk nur allein benutzt hatte und er – Martin – im letzten Vierteljahr keinen Genuß von dem Gespann gehabt habe.

Die peinliche Auseinandersetzung, die Eduard aus natürlichem Rechtsgefühl zum ersten Male mit Martin heraufbeschwor, wiederholte sich durch weitere kleinliche Züge des Älteren in diesen Tagen öfters, und endlich fiel Eduard die Binde von den Träumeraugen.

Er riß sich zusammen und wußte jetzt erst, daß er sich auf jeden Fall ermannen mußte.

Ja! Das fühlte er nach langen Seelenkämpfen!

Er mußte sich Rat schaffen.

Sein langsam aufkeimendes Selbstgefühl sagte es ihm:

Eine schnelle Trennung war hier geboten!

Nur, um wenigstens vorläufig etwas zu unternehmen, verließ er die Wohnung und ging den Kurfürstendamm entlang dem Tiergarten zu.

Am Neuen See setzte er sich in heilloser Erregung auf eine Bank und ergab sich ganz den wildjagenden Gedanken über Martin, über seine eigene Zukunft.

Er wurde sich sofort darüber klar, daß dies Lotterleben unmöglich weitergehen konnte.

In der kurzen Zeit hatte er genug gelitten! Von Martin fast gänzlich eingeschüchtert, wurde ihm ein Entschluß sehr schwer, und dazu kam noch die Sorge um das schwere Examen!

Bald aber brachten ihn Gefühlswallungen wieder ins Wanken: Er liebte doch in Martin den einzigen Freund, dem er schon seit den Tagen der Kindheit stets ein gewisses Vorrecht über sein Selbst eingeräumt hatte. Im Laufe der Jahre war dies zur vollendeten Selbstverständlichkeit geworden. Er bedurfte auch immer noch einer Stütze auf den oft kantigen Wegen durchs Leben, da er sich nicht sicher genug wähnte, seine Straße allein zu schreiten.

Dazu kamen Äußerlichkeiten, die ihn bedrückten. Wie sollte denn plötzlich die gemeinsame Wohnung auseinandergerissen werden? In Rechtssachen ungeschult, konnte er nur immer und immer wieder über die Frage stolpern, was nur mit dem Fuhrwerk geschehen sollte, das ihnen beiden doch nun einmal gehörte?

Er versuchte auf alle nur möglichen Weisen eine eigene, wenn auch nur vorläufige Entscheidung in dieser Sache herbeizuführen, als er plötzlich hinter sich eine helle Stimme den Namen »Weitbrecht« rufen hörte.

Er sprang auf und sah sich Walter Löwy gegenüber, den er freudig begrüßte. Walter Löwy hatte sich in den vier Jahren wenig verändert, so daß Eduard ihn auf der Stelle erkannte.

Beide freuten sich wirklich über das plötzliche Wiedersehen. Eduard erkundigte sich lebhaft nach Löwys Berufswahl und erfuhr, daß seine Eltern schon vor Jahren aus Finsterburg nach Berlin übersiedelt waren und daß er selbst nach Erledigung seiner neunmonatlichen Amtsgerichtsperiode als Referendar vor einigen Tagen aus Ostpreußen an ein Berliner Landgericht versetzt worden sei.

Jetzt kam die Reihe des Berichtens an Eduard, der – übervollen Herzens – seinem ehemaligen Mitschüler nun rückhaltlos ohne jede Beschönigung seine Not klagte. Eduard pries den Zufall, daß er ihm den rechtskundigen Jugendfreund im richtigen Augenblick gesandt hatte, und Walter wieder war ganz glücklich, so ohne jedes Verdienst das Vertrauen Eduards gewonnen zu haben und sich ihm jetzt gleich durch eine pflichtbewußte Beantwortung dieses Vertrauens würdig zeigen zu können.

»Sowohl die gemeinsam geführte Wohnung,« begann er seine rechtliche Klärung der Sachlage, »wie auch das gemeinschaftliche Halten einer Equipage qualifiziert sich als ein reines Gesellschaftsgeschäft. Du mußt – dies ist mein uneigennütziger Ratschlag für Dein Dilemma – sofort die gemeinsame Wohnung verlassen und Deinem Herrn Bruder die Gesellschaft kündigen! Nur dann kannst Du allmählich eine ruhige Auflösung der unerquicklichen Verhältnisse herbeiführen, die nach Deiner eben gehörten Schilderung ja jedem Moral- und Rechtsgefühl Hohn sprechen.«

Eduard dankte Walter für die Rechtsbelehrung und bat ihn um seine freundliche Unterstützung während des bevorstehenden Umzuges, die Löwy gern zusagte. In seiner Unselbständigkeit wäre es Eduard nicht möglich gewesen, ohne die tatkräftige Unterstützung eines Mitmenschen irgendwelche eigenen Handlungen vorzunehmen. Das wußte Eduard nur zu gut und versicherte sich deshalb gern der Beihilfe des ehemaligen Schulkameraden. Er fühlte sich aber doch schon durch die ihm bevorstehende Tat an sich innerlich wachsen und bemerkte in freudigem Schreck, daß eine in ihm schlummernde Persönlichkeit sich endlich zu regen schien.

Sie gingen wieder aus dem Park und kamen an eine Straße, wo Eduard eine Droschke nahm, um mit Walter nach seiner früheren Wohnung in Charlottenburg zu fahren.

Dort erfuhren sie von der Wirtin, daß Eduards Zimmer längst anderweitig vermietet war und daß auch leider kein anderes Zimmer frei sei.

Als Eduard dies beim Verlassen des Hauses ehrlich bedauerte, meinte Walter, es sei ganz gut, daß er in diesen kleinen Verhältnissen nichts für sich Passendes gefunden hätte.

»Ein so jäher Wechsel in der gewohnten und neuen Umgebung würde nur ungünstig auf Deinen seelischen Zustand wirken.«

Dann hieß Löwy die Droschke nach der Berliner Straße fahren, und dort fanden sie bald eine für Eduard passende Garçonwohnung von zwei Zimmern, die recht geschmackvoll und dabei auch ganz behaglich möbliert waren.


Martin schlief selbstverständlich noch, als Eduard mit seinem Begleiter gegen halb zwei Uhr mittags in die Wohnung kam, um seine Kleider, Wäsche und Bücher vom Diener einpacken zu lassen. Gleichzeitig ordnete Eduard an, daß nachher sämtliche drei Koffer nach der Berliner Straße hundertsechsundvierzig geschafft werden müßten, da er noch heute seinen Wohnsitz dorthin verlegen wollte.

Der Diener tat vorläufig, wie ihm befohlen wurde, machte sich aber seine eigenen Gedanken und eilte, nachdem die drei Koffer fertig gepackt und verschlossen waren, zu Martin, der als »eigentlicher Herr« von der Dienerschaft stets höher respektiert wurde, um ihm zu melden, daß der »junge Herr (wie Eduard genannt wurde) im Begriff stehe, zu rücken«!

Martin war erst um sechs Uhr früh zur Ruhe gegangen und wußte sich die Worte des Dieners zunächst nicht recht zu deuten, da sie ihn noch im Halbschlaf trafen. Als der aber seine Meldung nochmals laut wiederholte, gelangte ihr Sinn wenigstens über die Schwelle seines erst langsam erwachenden Bewußtseins. Mit einem Satz war er aus dem Bett gesprungen, zog die seidenen Unterhosen und Socken an, schlüpfte rasch in Pantoffel und Morgenjackett und stürzte ins Toilettenzimmer, dessen Mitte Eduards reisefertige Koffer ausfüllten.

Als er Walter Löwy in Eduards Gesellschaft gewahrte, schoß der uns schon bekannte glühende Funke der Wut in sein Augenpaar:

»Du willst fort von mir? – Schön! – Ich kann mir ja denken – welcher Judas Zwietracht zwischen uns Brüder gesät hat! Aber, daß sich der Judas nicht täuscht, Blut ist kein Wasser!«

»Es ist mein eigener Wille, zu gehen, um dieser unerträglichen Situation ein schnelles Ende zu machen. Ich werde trotzdem aber nicht dulden, daß mein Freund hier noch beschimpft wird,« gab Eduard ruhig zur Antwort.

Jetzt wandte sich Martins ganzer Zorn gegen Eduard.

»Du scheinst zu glauben, daß ich Dich hier so leicht aus den Fingern lasse. Spott, Schimpf, Schande und Schaden soll ich durch Deine Laune auf mich nehmen! – Gib mir erst Garantien, daß Du die Miete pünktlich zahlen willst, stelle mir eine für die Kontraktsdauer ausreichende Sicherheit! Eher gestatte ich nicht, daß auch nur ein Koffer aus der Wohnung entfernt wird.«

Jetzt glaubte Walter Löwy das Wort zu einer rechtlichen Zergliederung dieser Forderung ergreifen zu müssen.

»Soviel ich weiß, hat Eduard einen Kontrakt nicht unterschrieben.«

Aber Martin fiel ihm sofort in die Rede:

»Judas hat's Maul zu halten! – – Hat überhaupt hier nichts zu suchen! – – Juden raus!«

Das war Eduard doch zuviel, er nahm den Arm seines Begleiters und verließ augenblicklich die Wohnung.


Martin war durch Eduards an den Tag gelegte Energie, die er ihm niemals zugetraut hatte, wie vor den Kopf geschlagen.

Er legte sich zuerst wieder ins Bett, ohne aber Schlaf zu finden.

Stundenlang überlegte er hin und her und entschloß sich dann aus guten Gründen dazu, den Bruch mit Eduard nicht auf die Spitze zu treiben. Er klingelte und gab dem verschmitzt über den Zwist lächelnden Diener den Befehl, die Koffer mit einer Gepäckdroschke zu Eduards neuer Wohnung zu befördern, deren Adresse ihm der Diener sofort verraten hatte. Dann erhob er sich und entschädigte sich durch ein besonders heißes Bad für den erlittenen Verlust an Bettruhe.

Nachdem seine Toilette beendet war, ließ er telephonisch seinen Wagen kommen, um in einer Rundfahrt bei seinen Kumpanen das Spiel in seiner Wohnung für heute abzusagen und nach einer Weinhandlung in der Französischen Straße eine konstituierende Versammlung zur Gründung eines fashionablen Klubs einzuberufen.

Während der Fahrt verließ ihn der Gedanke an Eduard nicht. Weit gefehlt, zu denken, daß sich etwa ein Gefühl des Mitleids für den Bruder in ihm regte!

Er hätte auch nun und nimmer zugestanden oder eingesehen, daß Eduard von ihm irgendein Unrecht widerfahren sei. Nur eine dunkle Ahnung, er würde den Jüngeren in einer zukünftigen Lage noch nötig brauchen, gebot ihm, sich fortwährend mit den so bald als möglich einzuleitenden Versöhnungsverhandlungen zu beschäftigen.

In der vorletzten Woche hatte Martin nämlich wieder etwas Neues erlernt.

Das Pokerspiel begann gerade in diesen Tagen seinen Siegeszug durch Europa. Jener Kreis um Martin und Eduard war wohl der erste in der Reichshauptstadt, der für die gebührende Pflege und ausgedehnteste Verbreitung des neuen Hasards in feurigster Weise eintrat.

Mit allem Elan, der ihm eigen war, unterstützte Hans Pfetzner den Poker.

Auch Martin erfüllte die Bekanntschaft mit dem Poker mit großem Entzücken. »Mauschel«, »Back«, »Vingt-et-un«, »Meine-Deine«, »Gottes Segen«, ja auch die alles selig machende neue Pariser »Roulette«, alles, alles wurde über den Haufen geworfen; auch im Glücksspiel errang der hier im Poker verkörperte Amerikanismus stürmend seinen glänzenden Triumph.

Wie eine Revolution war das demokratische Pokerspiel bahnbrechend nur zu schnell in alle Klubs, in Vereine und Familien eingedrungen, selbst die Frauen fanden bald daran Gefallen, ja sogar alte deutsche Männer, die bis dahin nur Skat gespielt hatten, »lernten eben um«!

»Poker« war jetzt überall die Parole. Und seltsam – so gern Martin dem neuen Kartenspiel huldigte – es war, als hätte ihn das ihm bis dahin stets treue Spielerglück verlassen.

Hans Pfetzner aber, der dem neuen Spiele ein neues Glück, eine sogenannte »Mummsträhne«, verdanken durfte, gewann und gewann. Und als er sich eines Abends ein kleines Vermögen im Poker erspielt hatte, huldigte er dem »Gotte des Pokers« mit dieser Ode:

In dem Kaffeehause einst zwei Männer saßen,
Die zum Kaffee ihren Kuchen aßen.
Da sprach einer: Ach, ich pokere so gern,
Und mit Dir möcht ich so gern pokern!
Dieser andere läßt sich erst gar nicht bitten;
Denn der Poker war von ihm auch sehr gelitten.
Und noch ganz außerdem –: er war dabei Jurist,
Wo das Pokern (Ruhstrat) wichtig ist!
Und sie lassen das Kaffeegetrinke,
Weisen schnell dem Kellner ihre Winke. – –
Da – bevor sie sich es recht versahn,
Fängt der harmlos-kleine Poker an –!
Denn schon sitzen sie am Marmortische
In der kleinen trauten Kaffeenische.
Karten schleift der Pikkolo herbei:
Man schlägt einen Blauen schnell entzwei!
Beide Männer werden immer stummer.
Haben sie verloren ihre »Mummer«?
Nein! Sie bluffen beide blind drauflos!
Welch ein Ringen: »Asche« gegen »Moos«!
Stetig wird es stiller in der Nische
An dem kleinen grünbezognen Tische.
Lautlos bleiben sie, und ohne Grund
Setzen – scheint's – sie mit geschloßnem Mund.
Zehn Stunden sitzen sie und setzen,
Wollen immer höher sich verhetzen;
Doch da keiner von den Herrn erlahmt,
Ist der Tisch vom Golde bald umrahmt!
Nach drei Tagen spielen sie noch immer,
Und von Aufhörn immer noch kein Schimmer.
Beider Mienen werden merklich hart,
Schon umsäumt ihr Antlitz je ein Bart!
Nach drei Jahren sieht man sie noch sitzen
Bei dem »Pott«! Auch darf niemand kiebitzen;
Liegt ihr ganzes Geld längst auf dem Tisch,
Schreiben neues sie sich auf 'nem Wisch!
Eisesgrau sind beide nun geworden.
Dieses Spiel gleicht ja dem reinen Morden!
Ist es Zauber? Wer erklärt mir das?
Beide haben »Royal Flesh bis zum Aß«!

Diese Verse gab der siegreiche Hans Pfetzner in den Erholungspausen in Bänkelsängermanier zum besten, begleitete sich dabei durch Schlagen der Laute und erntete mit der starken Pointe (»Royal Flesh« ist die stärkste, sehr selten fallende Karte, die es im Poker gibt!) stets reiche Beifallskundgebungen.

Einer aber blieb dann ruhig und kargte mit seiner Anerkennung: Martin Weitbrecht! Ihn hatte der Poker seines althergebrachten Spielerglückes beraubt.

Martin verlor immer ohne Ausnahme in dem neuen Spiel, und je mehr er verlor, desto stärker wurde er durch den Verlust gereizt, weiter zu pokern.

Er verlor auch schließlich die Gewalt über sich selbst, und das war sein schlimmster Verlust.

In den letzten Monaten hatte er fast täglich mehrere hundert Mark gewonnen und dies Geld mit vollen Händen wieder vergeudet! Die damit für ihn zur Pflicht gewordenen großen Ausgaben konnte er sich nicht wieder abgewöhnen, – und da sehr hoch gepokert wurde, mußte er jetzt bei seiner Bank täglich neues Geld erheben, um stets zum Kampf gerüstet zu sein.

Aber das Pech blieb ihm treu, und je mehr er sich bemühte, durch immer waghalsigere Versuche die großen Geldverluste wieder einzubringen, es wollte ihm nicht gelingen.

Abergläubisch wie alle Spieler, erhoffte er von der Verlegung des Spieles in die neuen Klubräume eine Wendung seines Schicksals.

Nachdem er aber hier bereits acht Abende hintereinander es in ohnmächtiger Wut mitansehen mußte, wie ein Tausendmarkschein nach dem anderen ihn verließ, versuchte er im Klub wieder die alten Spiele aufzunehmen.

Trotzdem alle zuerst lebhaft dagegen protestierten, daß der so schnell beliebt gewordene Poker vernachlässigt werde, kamen die hauptsächlichen Gewinner nicht darum, Martin in den gewünschten anderen Spielen Gelegenheit zum Wiedergewinn der doch sehr beträchtlichen Verluste zu geben. Denn es gelang ihm, mit einem seiner finsteren Blicke die sich etwa noch sträubenden Mitspieler seine absolute Autorität fühlen zu lassen. Und diesen unheildrohenden, faszinierenden Augen konnte sich selten ein Mensch auf die Dauer entziehen.

Bald versuchte Martin die Bank im Bakkarat zu halten und verlor dabei seine ganze Barschaft nach sechs Schlägen.

Dann lieh ihm Larsen einige tausend Mark, die nun im »Mauschel« zu fünfen in einer guten Stunde wieder verspielt waren.

Jetzt stellte Martin »Visitenkarten« aus, auf die ihm bereitwilligst von allen Freunden geborgt wurde, und versuchte sein Glück im »Vingt-et-un«. Dies Spiel wurde ihm aber bald wieder zu langweilig, und deshalb entschloß er sich rasch, reumütig zu dem verhaßten, aber doch gemütlichen Poker zurückzukehren.

Von der ganzen Gruppe wurde die Bekehrung des Abtrünnigen mit beifälligem Hallo begrüßt, und als Martin fast zerschlagen gegen vier Uhr früh sich endlich anschickte, nach Hause zu gehen, hatte er außer seinem zum Spiel mitgebrachten Bargeld noch siebenunddreißigtausend Mark »unbar« verloren.


Inzwischen war Eduard in seiner Unabhängigkeit glücklicher geworden, als er es vorausgedacht hatte.

Vierzehn Tage waren nach seiner Sezession von den Höhen des Kurfürstendamms in die Niederung der bescheiden und doch angemessen möblierten Zimmer vergangen.

Langsam hatte er sich in die errungene friedliche Stille eingelebt. Er konnte jetzt wieder regelmäßig und ungestört arbeiten, was für ihn an sich schon eine Beruhigung bedeutete.

Walter Löwy kam oft, um ihn zu einem kurzen Spaziergang einzuladen, und diese erfrischenden Erholungspausen kamen Eduards überanstrengtem Geiste recht zugute.

So hoffte er auch in den vernachlässigten Fächern bald wieder ins alte rechte Gleis zu kommen.

Von Martin hatte er in den zwei Wochen nichts gehört.

Vorläufig hatte er sich auch nicht entschließen können, gegen den Bruder streitbar vorzugehen, da er ihm wegen der nachträglichen Herausgabe der Koffer wieder etwas freundlicher gesinnt war.

Eben saß Eduard um neun Uhr morgens beim Frühstück in seinem Wohnzimmer, dessen geöffnete Fenster einen Ausblick auf die Berliner Straße gewährten, als das bekannte Glockengeläute seiner jetzt verlorenen »Söhne« an sein Ohr schlug. Er trat verdutzt ans Fenster und sah den Wagen wirklich vor seiner Tür halten. Etwas wie Heimatklänge lösten die ihm doch eigentlich verhaßten Glöckchen mit ihrem fortwährenden, auf jede Bewegung der Hengste reagierenden Gebimmel aus. Noch immer nachdenklich stand Eduard am Fenster, als das Dienstmädchen ihm meldete, daß ihn ein Herr zu sprechen wünsche.

»Ich bin ja der Bruder!« hörte er Martins tiefe Stimme auf dem Korridor, und bald stand Martin selbst im Zimmer, ohne erst draußen die Antwort des Dienstmädchens abgewartet zu haben. Martin nahm Eduard in seine Arme und drückte ihm in einer plötzlichen Gefühlsaufwallung einen Kuß auf den Mund.

Eduard schickte das Dienstmädchen hinaus und bot dem Bruder einen Stuhl an.

Übernächtigt und angegriffen sah der aus.

Einzelne silberne Fäden zeigten sich da ja auch zu Eduards Schreck plötzlich an Martins Schläfen!

Ein hektisches Rot unterstrich seine unruhig flackernden Augen, die aus dem von fahler Blässe überzogenen Gesicht herauszutreten schienen.

Müde in jeder Bewegung ließ sich Martin auf einen Stuhl fallen, und Eduard, der innerlich von diesem veränderten Aussehen des Bruders erschüttert wurde, bewahrte nur mit großer Mühe seine ruhige Fassung, als er ganz gleichgültig fragte:

Was führt Dich her, Martin? Dein Besuch setzt mich nach allem zwischen uns Vorgefallenen in großes Erstaunen!«

Martin war schlau genug, zu wissen, wie er es hier anzufangen hatte. Nicht lange ließ er mit der Antwort warten, die er in einen pastoralen Ton kleidete.

»Zwei Brüder sollen zusammenhalten! Du fehlst mir auf Schritt und Tritt, wenn ich jetzt durch die leeren Räume unserer schönen Wohnung gehe, weil sie die Erinnerung an viele freudige Stunden wecken, bange ich mich nach Dir! Gestern nacht hat mich die Sehnsucht übermannt, und heute bin ich nun schon so früh zu Dir hergeeilt.«

Eduard kämpfte einen harten Kampf mit sich aus, beherrschte sich äußerlich aber und erwiderte dann entschlossen:

»Ich kann nicht mehr mit Dir zusammenwohnen. So gern ich es auch wollte, – ich darf es nicht! Meine Weiterentwicklung hast Du doch eingedämmt! Die plötzliche Änderung Deiner ganzen Lebensart hindert mich an der gebührenden Fortsetzung meiner Studien. Ich will aber kein Müßiggänger werden! – – – Etwas schaffen muß ich, um die Selbstachtung nicht zu verlieren. Ich will Dir aus Deiner Veranlagung nicht etwa einen Vorwurf machen. Es ist vielleicht auch gut, daß wir eine Spanne Zeit zusammenlebten; denn ich habe daraus viel gelernt! Ja! – – Heute weiß ich nämlich, wozu ich auf der Welt bin – und daß ich das wirklich jetzt weiß, dafür bin ich Dir unendlich dankbar.«

Martin war starr. Noch aber wollte er einen Rückzug nicht antreten. Wenn auch eine heiße Wutwelle ihn darob durchflutete, daß dieser Knabe, aus dem er erst einen vernünftigen Menschen geschaffen zu haben meinte, es voll krasser Undankbarkeit gewagt hatte, ihm indirekt einen Spiegel vorzuhalten.

Mit der ganzen Macht seiner Persönlichkeit versuchte er es daher noch einmal, den geflüchteten Vogel wieder einzufangen:

»Wenn Du Dich aber durch einen letzten Versuch überzeugen würdest,« begann er wieder ganz eindringlich, »daß ich mich in allem und jedem geändert habe?« – Er zitterte sichtbar vor innerlich tobender Wut über Eduard, und dies Zittern legte er dem Bruder klug als seelische Erregung, in die das Wiedersehen ihn versetzte, dar.

»Siehst Du denn nicht, wie ich leide? – Blut ist kein Wasser! Das mußt Du doch als mein Bruder auch fühlen, und ich bin ja gern bereit, etliche Deiner Wünsche in vollem Maße zu berücksichtigen. Aber komm nur wieder zu mir. Es ist mir nicht möglich, allein so weiter zu vegetieren!«

Jetzt hatte er Eduard bald so weit, wie es in seiner Absicht lag. Martin fühlte, wie der Jüngere schwankend wurde, als Eduard seine Bedingungen stellte. Und heimlich triumphierte er schon, daß er – wenn auch unter demütigenden Begleitumständen – den Sieg für sich hatte.

»Ich müßte das Wiederbetreten der Wohnung davon abhängig machen, daß Pferde und Wagen sofort verkauft werden. Sodann kann ich mich nicht damit einverstanden erklären, daß allnächtlich in der Wohnung Karten gespielt werden – – –«

»Ich spiele, seit Du weggezogen bist, nicht mehr in der Wohnung, sondern nur im ›Klub‹,« unterbrach ihn Martin. »Keine Karte rühre ich mehr zu Haus an,« versicherte er dann weiter.

»Nun gut,« sagte Eduard hierauf. »So will ich die Mahlzeiten wieder bei Dir einnehmen, wenn Du mir noch versprichst, tagsüber Dein Studium der Zahnheilkunde, das Du so schnell unterbrachst, wieder aufzunehmen. Völlig zu Dir ziehen kann ich jedoch erst wieder, wenn Du einen ganzen Monat hindurch diese neue Lebensweise durchgeführt hast!«

Martin empfand den Peitschenhieb. Er zuckte kaum merklich mit der rechten Hand. Er hätte den seiner Überzeugung nach unverschämten Buben für diese Zumutungen am liebsten geohrfeigt. Aber ohnmächtig ließ er diesen wüsten Wunsch wieder fahren. Denn er durfte und wollte auf keinen Fall unverrichteter Sache abziehen!

So beteuerte und gelobte er nochmals die ehrliche Erfüllung von Eduards Forderungen.

Beim Scheiden bot er dem Jüngeren an, mit ihm wenigstens noch eine gemeinsame Spazierfahrt in den Tiergarten zu unternehmen.

Eduard blieb stark und lehnte ab.

Zum Mittagessen wollte er heute wohl erscheinen, bis dahin aber habe er zu arbeiten.

Wie er gekommen, abermals mit einem Kusse, ging der Bruder aus dem Zimmer.

Eduard setzte sich gleich ans Reißbrett und vertiefte sich in seine Arbeit.

Wie ein letzter Gruß tönten die langsam leiser werdenden Schellengeläute des abfahrenden Gespanns in seinen Frieden.


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