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V.

Als tags darauf Martin bis zwei Uhr von Eduard ohne jede Antwort geblieben war, begann er im stillen auf den Bruder zu schimpfen, und sein Groll wuchs noch mehr, als er ohne einen Pfennig Geld in der Tasche um halb drei den Weg zum Potsdamer Platz zu Fuß antreten mußte.

Mißmutig schritt er die zur Mittagszeit gar nicht stark belebte Potsdamer Straße entlang, sein mürrisches Gesicht zauberte bei keiner der gerade jetzt von der Mahlzeit nach dem Geschäft zurückeilenden Ladenmädchen das sonst bei seinem Anblick selbstverständliche Lächeln hervor. So kam er recht griesgrämig schon um drei Uhr an den verabredeten Treffpunkt und mußte noch eine geschlagene Viertelstunde auf sein Mädel warten.

Der Gedanke an Hanni stimmte ihn wieder besser.

Daß sie etwa überhaupt nicht kommen könne, erwog er erst gar nicht. Die Nichteinhaltung einer Verabredung mit ihm schien ihm von vornherein ausgeschlossen.

Die Septembersonne stand mild und wärmespendend über dem Potsdamer Platz und verdrängte nach und nach ganz die am Vormittag aprilwetterartig vorübergehuschten Regenschauer.

Martins Blick fiel auf die in blendender Frische daliegende Leipziger Straße.

Von den kurzen Regenfällen recht reingewaschen, blitzte und blinkte ihn die Straßenzeile versonnen mit einer eigenen Vertraulichkeit an. Er liebte Berlin, und gerade diese stärkste Verkehrsader der Reichshauptstadt hatte es ihm am meisten angetan.

Es bereitete ihm besonderes Vergnügen, stundenlang zu verschiedenen Zeiten im Vorgarten der Jostyschen Konditorei zu sitzen, um das oft stärker, oft schwächer pulsierende Leben der »Leipziger« zu betrachten, und er empfand dabei ein rechtes Verständnis für den Lokalpatriotismus der Berliner.

Auch jetzt wieder kokettierte er mit dieser seiner heimlichen Liebe, der großen Stadt, und vergaß im Anblick des schmucken Bildes alle Menschen um sich herum. Er hörte nichts von dem Verkehr der Weltstadt, der ihn hier umwogte, nichts von den Rufen der aufdringlichen Zeitungsverkäufer, nichts von den fliegenden Blumenhändlern, die ihre billigen Blumenmassen immer wieder im Urberliner Jargon anpriesen. Er sah nur sein geliebtes Berlin und weidete seinen Blick an der Gesamtwirkung der sich ihm öffnenden Perspektive.

Da fühlte er sich plötzlich von einer weichen Hand an die Schulter getippt und erwachte aus jenem Traumzustand, der ihn überfallen hatte.

Hanni stand vor ihm … Reizend sah sie in der einfachen weißen Bluse aus, die ihre schon recht entwickelten Formen ganz gut zur Geltung kommen ließ. – Das volle Blondhaar in einem einfachen Knoten ums Köpfchen geschlungen, den ein kleines englisches Hütchen nicht im geringsten beeinträchtigte, stand sie wie eine Verkörperung Jung-Berlins vor ihm und lächelte ihn mit ihren klaren blauen Augen gewinnend an.

Sie schlug ihm eine Fahrt nach Wannsee vor und vergaß sich, dabei zu bemerken, daß ihr Albert Sonntags mit ihr ständig da hinausfahre!

Martin erfaßte die Unbesonnenheit der Kleinen, die nur zu schnell einsah, daß sie eine Dummheit gemacht habe, und benutzte sie zur Verdeckung seiner augenblicklich so ungünstigen Finanzlage, indem er erwiderte: »Wannsee ist mir zu ordinär. Ich meine, wir machen einen Spaziergang durch den herrlichen Tiergarten. Als zukünftiger Infanterist muß ich mich schon heute für längere Märsche trainieren!«

Nur ungern willigte die Kleine ein, aber bald fühlte sie wieder diese eigentümliche Machtausstrahlung, die Martins Gegenwart und der Tonfall seiner Stimme auf sie ausübten, und folgte ihm über den Potsdamer Platz in der Richtung nach der Bellevuestraße.

Auf der Höhe des Platzes versuchte Martin, um seine Begleiterin besser aus der Unmenge von Omnibussen, Pferdebahnen und anderen Gefährten nach dem Bürgersteig zu bringen, leise seinen Arm in den ihren zu legen. Hanni erschrak und bat ihn, dies vorläufig noch zu unterlassen. »Vorläufig« und »noch« gaben bei Martin den Ausschlag dafür, nun erst recht auf seinem Willen zu beharren, und dabei blieb es! Fest hing Hanni an seinem Arm, als er sie sicher ans andere Ufer geleitet hatte.

Aber nun ereilte ihn sein Verhängnis … Gerade vor Jostys Garten hatte ihn ein Blumenhändler erspäht, und flugs war er an seiner Seite: »Herr Jraf, paar scheene Rosen for Freilein Braut, janze sechs Stück forn Jroschen!!! Spottbillig bei Zillich, so heeß ick, Herr Jraf!«

Martin wußte vor Schreck zuerst nicht, was ihm geschah … Eine heiße Blutwelle schoß in sein Gesicht, und ein furchtbarer Blick traf Zillich aus seinen rollenden Augen. Er hätte diesen Kerl zehn Klafter tief unter die Erde verwünscht.

Nachdem Hanni seinen Unwillen bemerkt hatte, machte sie selbst dem peinlichen Zwischenfall ein Ende und dankte bestimmt und abweisend dem ihnen immer noch folgenden Blumenverkäufer, der dann endlich mit einigen schnoddrigen Witzen von den beiden abließ.

Martin war nach dieser Niederlage zunächst unfähig, auch nur ein Wort zu sprechen.

»So etwas muß mir passieren!« dachte er vor sich hin. »Aber dieser Lümmel, der Eduard, ist an allem schuld! Warum hat er die Asche nicht rechtzeitig abgesandt!« gingen seine Gedanken weiter.

Und damit beruhigte er sein empörtes Blut.

Endlich faßte er sich ein Herz und versuchte das Gespräch wieder in Gang zu bringen. Er tadelte zunächst Hannis Gürtel, der ihm zu weit und nicht elegant genug erschien. Dann stellte er ihr als Geschenk einen Offiziersgürtel für das nächste Zusammentreffen in Aussicht.

Sie wieder bat ihn, sich nur »keine Unkosten ihretwegen zu machen« – sie sprach ein wenig Kaufmannsdeutsch – erklärte sich aber schließlich doch einverstanden, falls der Gürtel wirklich – wie er ihr versicherte – schon lange in seinem Besitz vorhanden sei.

An der Siegesallee bat er sie, einen Augenblick mit ihm zu rasten, und bald saßen beide auf einer der zahlreichen dort zu kurzer Ruh einladenden Holzbänke.

Jetzt »gestand« Martin, daß er sein Portemonnaie vergessen habe, und klärte damit auch sein barsches Verhalten dem Blumenhändler gegenüber auf.

Er entschuldigte diese unverantwortliche Vergeßlichkeit mit der starken Verliebtheit in eine gewisse kleine Blondine und wollte, als er sah, daß dieser Zusatz seinen Eindruck nicht verfehlte, schon jetzt den ersten Kuß auf Hannis herziges Mündchen drücken.

Da kam er aber an die falsche Adresse: »Mein Herr, was denken Sie von mir!«

Hanni war aufgesprungen und wollte ihn auf schnellstem Wege verlassen.

Sie wollte! Sie tat es jedoch nicht.

Martin wieder fühlte, daß er doch wohl etwas zu hitzig vorgegangen war, und lenkte schnell wieder ein.

Zudem kamen einige Spaziergänger vorbei, die den beiden schon etwas neugierig ihre Aufmerksamkeit zuwandten. Dadurch beeinflußt, ließ auch Hanni sich leichter von Martin beruhigen.

Er drang in sie, die gemütliche Stimmung des angebrochenen Nachmittags doch nicht durch ihre prüde Sittsamkeit zu verscheuchen, wobei er wieder recht geschickt einen bitteren Fluch auf seine Vergeßlichkeit mit einfließen ließ.

Hanni machte ihm nun das Anerbieten, ihre Barschaft zu seiner Verfügung zu stellen, was er zunächst entrüstet von der Hand wies, dann aber ganz gern fünf Mark »bis morgen mittag leihweise von seiner reizenden Nachbarin« anzunehmen geruhte.

Sobald er das Geld in der Tasche hatte, fühlte er sich wieder etwas sicherer und winkte eine Droschke heran. Hanni stieg ein, und dem Kutscher als Reiseziel »Zelt II« zurufend, nahm er neben ihr Platz.

Ein kühler Luftzug erhob sich – ein herbstlicher Wind … Es sah aus, als versuche er den Bäumen einen Teil ihrer Blätter zu rauben; doch noch wehrten sich die grünen Baumkronen und trotzten in ihrem Spätsommerschmuck dem drohenden Herbst, der in diesem Jahr etwas zu früh seine Herrschaft in der Natur antreten zu wollen schien.

Die Droschke bog in die Kronprinzenallee ein. – Ein starker Südwestwind trug hin und wieder leise verirrte Klänge aus dem Nachmittagskonzert in den Zelten herüber, die hier inmitten der sich dem Absterben nahenden Natur wie Manen aus einer anderen Welt anmuteten.

Martin hatte sich im Wagen zurückgelehnt, und plötzlich faßte Hanni seinen Arm und lächelte ihn glückselig an:

»Wissen Sie, was ich jetzt gern möchte?«

»Na was denn, Fräulein Maaß?«

»Tanzen möchte ich mit Ihnen – nur einen Walzer!«

»Aber gerne! Nur jetzt nicht! Dienstag und Freitag ist C. G.!«

»C. G.? Was ist denn das nur?«

Dann erzählte er ihr, daß C. G. die Abkürzung für Café Gärtner, ein Tanzlokal am Bahnhof Bellevue, bedeute, und versprach, sie am nächsten Freitag auf diesen Tanzboden zu führen und dort den erbetenen Walzer mit ihr zu tanzen.

Jubelnd jauchzte die Kleine auf: »Au, das wird fein! Wenn bloß Albert nichts herausbekommt!«

Martin bat sie, ihm doch nicht immer seine Laune zu verderben! – Albert sei für ihn Luft, er, ein Königlicher Fahnenjunker, wolle mit so einem Ladenschwengel nicht ewig auf eine Stufe gestellt werden … Basta!

In einer ohrenzerreißenden Musik gingen seine letzten Worte unter … Die Droschke fuhr an den Zelten entlang; aus den verschiedenen nebeneinanderliegenden Kaffeegärten hörte man bizarr, bald lauter, bald schwächer, zahllose Kapellen miteinander wetteifern.

Vereint wirkte dieses Potpourri für die außen vorbeifahrenden Passanten als trommelfellerschütterndes Durcheinander, und befreit atmeten sie auf, als sie endlich nach diesem unfreiwilligen Ohrenschmause vor Zelt II, dem sogenannten Kaiserzelt, angekommen waren.

Martin lohnte den Kutscher ab und betrat mit Hanni den Garten … Die Kleine machte große Augen.

Tisch an Tisch saß dichtgedrängt eine vielköpfige Menschenmenge – meist junge Leute, die nichts zu tun hatten und hier den Tag ermordeten.

Das Publikum des »Kaiserzeltes« setzte sich hauptsächlich aus den Studierenden der drei Hochschulen und der Pepinière, Offizieren in Zivil und gerade dienstfreien jungen Staatsbeamten zusammen, die gemütlich mit holder Begleitung ihr Schälchen Kaffee unter fidelen Konzertklängen in frischer Luft zu schlürfen gewohnt waren.

Während in den anderen Zelten der vorherrschende Umgangston nicht der beste zu nennen war – weil viel unsaubere Elemente dort ein und aus gingen, – hatte gerade Zelt II den guten Ruf eines weit besseren Besucherstammes.

Aller Anwesenden Augen richteten sich auf das hübsche Paar, das eben – wie man hatte beobachten können – »per Droschke« vorgefahren war, und sich mühselig, einen freien Platz suchend, durch die Tischreihen arbeitete.

Bald hatte Hanni der Kapelle gerade gegenüber einen gänzlich freien Tisch entdeckt, und behenden Fußes war sie schnell hin zugeeilt, um davon Besitz zu ergreifen.

Martin, der ihr nur langsam durch die enge, von Stühlen beschränkte Gasse folgen konnte, sah stolzen Herzens, wie aller Augen seiner Begleiterin nachschauten und fühlte sich als glücklicher Besitzer der Dame besonders geschmeichelt, als selbst die zerhauenen Gesichter von einem benachbarten Verbindungstisch – eine Couleurfahne stand darauf – sich nicht von Hannis Anblick loszureißen vermochten und noch immer wieder nach ihr die Hälse reckten, auch nachdem er sich schon lange siegreich neben sie gesetzt hatte.

Der Kellner eilte dienernd herbei und brachte schnell zwei Tassen dampfenden Kaffees heran. Bald darauf erschien ein in blendendes Weiß gehüllter Konditorlehrling auf der Bildfläche und bot die hier als Spezialität bekannten Kaiserwaffeln auf einem großen Kuchenblech feil.

Martin suchte die knusprigsten für sein Mädel aus. Und wie vortrefflich mundete es beiden!! Der Kleinen hatten es die Waffeln besonders angetan – und rasch mußte der Konditorjunge wieder eine neue Auflage seiner vielbegehrten frischen Backware servieren.

Zwei Kapellen sorgten im Kaiserzelt für eine ununterbrochene Belustigung der Stammgäste. Das blasende Orchester hatte in einem Pavillon zu ebener Erde an der Gartenmauer seinen Platz, während die Streichmusik auf einer runden, ein Stockwerk über dem Erdboden in einem Eisengerüst ruhenden Plattform untergebracht war.

Leise und einschmeichelnd spielten die Zimbeln ihre ungarischen Feuerweisen, denen hin und wieder als Zugaben die gerade volkstümlichen Walzertakte aus der neuesten Operette oder Posse folgten. Dazwischen dröhnten die Blechmusiker ihre Armeemärsche und Opernarien.

So fanden alle Musikfreunde in dem wechselseitigen Programm etwas für ihren Geschmack … Hanni interessierten die melancholischen Geigenmelodien der Pußta besonders, während Martin an den wirklich gut instrumentierten Armeemärschen eitel Freude hatte.

So saßen sie und sahen bei jedem Musikstück, das ihnen gefiel, einander froh in die glänzenden Augen, und schließlich konnte Martin noch etwas gutmachen, indem er ein vorübergehendes Blumenmädchen heranrief und für Hanni von dem hier im Kaiserzelte stets feilgehaltenen Lieblingsblumen seines Schutzpatrons, des alten Kaisers, einen Strauß erstand.

Dann gingen sie – es begann langsam zu dunkeln – durch den Tiergarten bis zum Brandenburger Tor, wo sie die Pferdebahn nach dem Westen bestiegen.

Eine kurze Strecke vor ihrem Ziele trennten sie sich, damit auch niemand etwas von ihrer gemeinschaftlichen Heimlichkeit bemerke.

»Auf Wiedersehen am Freitag.«

Martin drückte zum Abschied einen heißen Kuß auf Hannis Händchen, welches die Kleine ihm rasch entzog.

Eilig verschwand sie in der Dunkelheit.


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