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14

Die blutige Kunde der Waldbauernschlacht flog auf Sturmvogelschwingen den Rhein hinauf und hinab, und wo ein brennender Tropfen niederfiel, fachten die Menschenhirne ihn zu Flammen an, taten aus erhitzter Einbildung noch hinzu, vermehrten die Zahl der furchtbaren Heimatkämpfer, die Zahl der mit dem Beil erschlagenen Heimatverräter und ließen das Grausen wachsen von Meile zu Meile. Und die Kunde flog durch Deutschland und rüttelte die Gemüter auf, die nach dem neuen demütigenden Zusammenbruch im Ruhrgebiet widerstandslos dem Verfall des Reiches entgegensahen und der letzten Kaufkraft deutschen Geldes. Und die Kunde flog durch die ganze Welt, und wenn schon das Blut der immer wieder sich opfernden Glaubenshelden sie stutzig und scharfsinniger gemacht hatte, so wirkte das Blut des erschlagenen Haufens von Verrätern wie ein unheimliches Halt auf dem Weg zu Deutschlands Versklavung.

Nur eine blutige Abrechnung unter ein paar Hunderten war in den Waldbergen vor sich gegangen, und doch waren die Waldbauern unter Friedrich Thorsbergs Führung das Werkzeug geworden, das dem deutschen Schicksale dienen sollte.

In der angelsächsischen Welt begann das Staunen der klaren Einsicht zuerst zu weichen. England und Amerika richteten freundschaftliche Mahnungen an die am Rhein stehenden Bundesgenossen, den Bogen nicht weiter zu überspannen. Und die Gewalthaber am Rhein zogen, verärgert über das Versagen ihrer deutschen Landsknechte, ihre Hand von dem Treiben der rheinischen Sonderbündler zurück und überließen sie dem Glück der eigenen Faust.

Aber da war nicht Glück und nicht eigene Faust. Da war nur das unheilkündende Rauschen der Sturmvogelschwingen über ihnen und hinter ihnen drein. Von Tag zu Tag gaben sie die Städte und Dörfer am Nieder- und Mittelrhein preis, und was sich nicht, von Grauen gepackt, auf den hastenden Abmärschen heimlich in den Wäldern verlor, um nicht wiederzukehren, das schlug sich südwärts, um in der kleineren Pfalz eine ungefährlichere Schreckensherrschaft zu versuchen.

Doch die eigene Faust reichte auch auf dem enger gezogenen Gebiet nicht lange, so bedrohlich und roh zufahrend sie sich gebürdete. Friedrich Thorsbergs Aufgabe löste sich am hellen Mittag. Sie löste sich in der heiligen Kaiserstadt Speyer, an der Gasthoftafel, an der die Sonderbündlerführer der Pfalz ihr gesegnetes Mittagsmahl zu halten pflegten. Nur ein halbes Dutzend junger Männer war es, das den Saal betrat und die tafelnden Führer unter seinen Kugeln jäh verenden ließ. Und keiner der kühnen Täter konnte ergriffen werden. Das pfälzische Volk hielt wie eine fugenlose Mauer.

Und es geschah zum erstenmal, daß auf den Druck der angelsächsischen Welt einem hohen englischen Beamten gestattet wurde, in die Rheinpfalz einzureisen und der sonderbündlerischen Willkürherrschaft finster den Puls zu fühlen.

Der Arzt erstattete sein Gutachten. Der Seuchenherd mußte geräumt werden. Die Landesverräter verkrochen sich in den dunklen Winkeln, aus denen sie die Beutegier vordem hervorgetrieben hatte, oder suchten Unterschlupf in den alles verschlingenden Fremdenlegionen.

Die Pest am Rhein erlosch. Die Waldbauernschlacht war Anstoß und Werkzeug gewesen.

Ein erster Freiheitshauch wehte durch die deutschen Lande und drang den Menschen ins abgemattete Blut.

Gert und Gertrude Thorsberg lasen im großelterlichen Hause die kurzen Briefe des Vaters. Sie lasen nicht weniger die langen, dichterisch ausgeschmückten Berichte in den Zeitungsblättern.

»Seltsam,« meinte der Bruder ernst, »so üppig der Dichtergeist auch wuchern mag, für den Beteiligten bleibt die einfachere Linienführung der Geschehnisse das Stärkere.«

»Glaubst du, Gert, daß mein Bombenwurf vielen ans Leben gegangen ist?«

»Mach dir keine Gedanken darüber, Gertrude.«

Und mit einem Male ging ein Lächeln über seinen ernsten Mund.

»Eigentlich, Gertrude, war es gar nicht die Bauernschlacht in den Waldbergen, die als Anstoß und Werkzeug zu gelten hat, wie die Blätter schreiben. Eigentlich war es meine Schwester Gertrude, als sie in den alten Beinlingen über die Brüstung kroch und wir sie an den Fußgelenken hielten.«

»Aber der Befehl kam vom Vater. Also war er es. Wie in den Waldbergen.«

»Du sollst recht haben, Schwester. Der Vater bleibt's.«

Einmal gaben sie einen Brief dem Großvater zu lesen. Der Alte überflog ihn und gab ihn kopfschüttelnd zurück.

»Wem nicht zu raten ist, dem ist auch nicht zu helfen. Die Völker werden sich auch ohne meines Herrn Sohnes Zutun weiterraufen, nach meinem und nach seinem seligen Hinscheiden, wie wir es nach dem Hinscheiden unserer hochseligen Herren Vorfahren weiterbesorgt haben. Der Friedrich soll nur erst in die Jahre kommen, obwohl ihm sein ergrautes Haar genügen könnte.«

»Großvater,« verteidigte der Enkel, »wenn wir alles gehen lassen wollten, würde es nur noch Herrenvölker und Bedientenvölker geben.«

»Wird schon wahr sein, Gertlein. Aber jede Rauferei wendet das Bild ja auf die andere Seite. Und weitergerauft wird, solange es noch drei Menschen auf der Welt gibt.«

»Drei?« warf der Enkel überrascht ein.

»Drei,« bestätigte der Alte. »Zwei raufen sich noch um eine Frau.«

»Großvater,« meinte der Enkel belustigt, »so bleiben zum Schluß doch nur zwei, wenn einer den andern erledigt hat.«

»Die beiden Übrigbleibenden,« belehrte der Alte kühl, »das Männlein und das Weiblein, werden nichts Eiligeres zu tun haben, als Kinder in die Welt zu setzen, damit die Rauferei gleich wieder von vorn beginnen kann. Genau wie bei den lieben Kindlein des ersten Menschenpaares. Woraus du ersehen magst, mein kluger Enkelsohn, daß es gar nicht in erster Linie die Völker zu sein brauchen, die mit dem Schwerte nach der Macht trachten, sondern daß für den Beginn einer jeden Holzerei ein paar Lausbuben genügen.«

»Großvater,« sagte Gert nach kurzem Besinnen, »du bist stolz auf dein altes deutsches Soldatentum. Also spaßest du.«

»Also spaße ich,« schloß der Alte. »Und spaßen ist besser, als in die Knie knicken und heulen.«

An diesem Tage glaubte der Enkel den Ahn verstanden zu haben.

Ferdinand Waldheim war inzwischen von einem kurzen Abstecher nach Italien wieder in München eingetroffen. Er hatte es nach der abenteuerlichen Leipziger Fahrt doch für richtiger gehalten, ein paar Wochen auf Reisen zu gehen, und seine Kinder hatten sich ihm auf seine Bitte angeschlossen. Es war ihnen leichter geworden, weil sie Gert und Gertrude Thorsberg auf einer Reise mit unbekanntem Ziele wußten.

Gertrude Thorsberg trat mit blassem Gesicht bei dem Bruder ein.

»Sie sind wieder da, Gert.«

Der Bruder blickte sie lange an, klappte ein Buch zu und erhob sich.

»Gertrude, wir wollen es nicht hinausschieben. Ich werde den Anfang machen. Halt dich nur ruhig im Hause auf.«

Er ging. Vom Fenster aus sah sie ihm zu, wie er das Boot flott machte und mit gleichmäßigen Schlägen über den See ruderte. Und seine ernste Sicherheit gab ihr die Fassung zurück.

Wie die Mutter sorgt er, dachte sie, und ihre Liebe war mit Ungestüm bei ihm.

Gert Thorsberg ruderte über den See. Es waren in diesen windigen Herbsttagen nur wenige Boote draußen. Die Sommergäste hatten längst heimgefunden.

Und so gleichmäßig seine Ruderschläge waren, so gleichmäßig schlug sein Herz.

Vor seinen Augen standen die Worte, die der Vater über Frauenliebe und Mannesliebe gesprochen hatte, und wiesen ihm den Weg. Nein, Gertrude, ich lasse dein armes, tapferes Mädchenherz nicht im Stich. Die Glocke soll klingen.

Er fand die Geschwister gelangweilt auf der Gasthofdiele. Der Deutschamerikaner erledigte auf seinem Zimmer Briefe und gekabelte Nachrichten und blieb unsichtbar.

»Ah, Herr Gert ...« sagte das Mädchen, ohne sich zu regen. »Es ist Zeit, daß Sie sich einmal wieder sehen lassen.«

»Ich hoffe Sie gesund, Fräulein Ellen, und auch Sie Herr William. Sie waren inzwischen an den italienischen Seen, die blauer sind und sonniger als unser Starnberger. Darf ich Sie trotzdem zu einer Bootsfahrt holen, Fräulein Ellen?«

»Gut,« sagte William Waldheim, »fahren wir.«

Gert Thorsberg sah mit seinen ernsten Augen das Mädchen an, und Ellen Waldheim stutzte und tat die Langeweile von sich. »Du hörtest doch wohl, William, daß Herr Gert nicht dich, sondern mich zu einer Bootsfahrt aufforderte.«

»Habe nichts dagegen.«

»Wenn es Ihnen recht ist, Herr William, hole ich Sie gegen Mittag ab.«

»Wird mir recht sein.«

Gert Thorsberg half dem amerikanischen Fräulein in das Boot. Ihm gegenüber hockte sie sich auf die Bank und sah ihm ins Gesicht. Mit kräftigen Schlagen trieb er der Mitte des Sees zu.

»Was haben Sie auf dem Herzen, Herr Gert? Denn ich habe es Ihnen auf der Stelle angemerkt, daß Sie mich allein zu sprechen wünschen.«

Ein paar weitausholende Schläge tat der Ruderer noch. Dann ließ er das Schifflein treiben.

»Fräulein Ellen, Sie haben einen sicheren Blick. Und ich hoffe, Sie billigen mir, wenn Sie mich angehört haben, die Offenheit des Ehrenmannes zu. Ich will mich so kurz wie möglich fassen. Ja, ich habe etwas auf dem Herzen, aber zu tragen hat es eigentlich meine Schwester Gertrude. Darf ich Ihnen von ihr sprechen?«

Das Mädchen hatte den Blick nicht von seinem Gesichte abgewandt. Sie gewährte mit einem kurzen Nicken.

»Meine Schwester besitzt seit Jahren, seit sie die Mutter verlor, einen Freund wie auch ich. Walter Lenbach. Ihr blankes Mädchengemüt hat in ihm nichts anderes als den Jugendfreund gesehen, bis Walter Lenbachs Freiheit in Gefahr geraten war und mit jahrelanger Festungshaft bedroht war. Sie wissen, daß Ihr Herr Vater mit Gertrude nach Leipzig fuhr und William den Wagen steuerte. Ihr Herr Vater hatte seine Mitwirkung zur Befreiung unseres Freundes von der Erfüllung eines Wunsches abhängig gemacht. Gertrude, in der Bedrängnis ihrer Empfindungen, hatte zugesagt.«

»Der Wunsch des Vaters ist mir bekannt. Fahren Sie fort.«

»So ist Ihnen bekannt, daß Ihr Herr Vater aus tiefen Gefühlsgründen eine Verbindung zwischen unseren Familien erstrebt?«

»Aus Bluterhaltungsgründen. Fahren Sie fort.«

Und in unveränderter Haltung hockte sie ihm gegenüber auf dem Bänkchen und sah ihm mitten ins Gesicht.

»Sie erleichtern mir die Schwere meines Anliegens,« sagte der junge Thorsberg ernst. »Denn so sachlich, wie Sie die Angelegenheit besprechen, möchte ich sie auch besprechen. Meine Schwester hängt mit ihrem ganzen Herzen Walter Lenbach an. Ihr ganzes Wesen besteht aus der großen Frauenhingabe. Aus wilder Hingabe an den Vater hat sie Heldentaten vollbracht, vor denen andere Mädchen zurückgeschaudert wären. Aus wild erwachter Hingabe an den Freund hat sie Ihrem Herrn Vater ein Versprechen gegeben. Ein Wort aber muß gehalten werden.«

»Das ist auch die Sitte in Amerika.«

»Ich glaube es,« sagte Gert Thorsberg ruhig, aber das Weitersprechen wurde ihm schwer. Und wieder traten ihm die Worte des Vaters über Frauenliebe und Mannesliebe vor die Seele, und er wiederholte sie ihr alle und redete sich warm.

»Das sagt Ihr Herr Vater. Und was sagen Sie?«

»Ich sage, daß auch ich Thorsbergsches Blut bin und kein schlechteres als die Gertrude. Jedenfalls will ich es immer im Leben zu beweisen versuchen. Sie tragen eine Frauennatur in sich und werden meine Beweggründe verstehen. Ich bitte um Ihre Genehmigung, Ihrem Herrn Vater eine Übertragung des gegebenen Wortes vorschlagen zu dürfen. Ich weiß sehr wohl, daß ich bei meiner Jugend noch ein paar Jahre abzuwarten habe, bevor ich es einlösen kann.«

Jetzt erst spürte er ihren unverwandten Blick, und langsam stieg ihm unter diesem Blick das Blut in die Wangen.

»Lieben Sie mich denn, Herr Gert?«

Das Blut überströmte ihn heftiger, aber er hielt ihren Blick aus.

»Ich habe bis heute, Fräulein Ellen, kein anderes Mädchen geliebt als meine Schwester. Wir Thorsbergs Kinder sind durch eine zu ernste Lebensschule gegangen, Fräulein Ellen, um zu tändeln. Wir mußten schon in den Kampf, als andere junge Menschen noch spielten. Und wir sind stolz darauf. Aber darum hängen wir auch so aneinander.«

»Ich verstehe das, Herr Gert. Aber Sie sind meiner Frage ausgewichen.«

Und der junge Thorsberg erwiderte mit einer stillen Kraft:

»Fräulein Ellen, verhelfen Sie mir zu dieser Liebe.«

Sie saß unbeweglich ihm gegenüber. Ihre Augen hatten sich ganz weit geöffnet. Und dann wandte sie die großgewordenen Augen langsam von ihm ab und ließ sie in die Weite schweifen.

Er aber wartete geduldig auf ihren Spruch.

»Und wenn ich ›nein‹ sagte, Herr Gert ...? Denn eine Liebeswerbung hatte ich mir ein wenig anders gedacht.«

»Ja, ich glaube es wohl.«

»Das ist wieder keine Beantwortung. Ich fragte: Und wenn ich ›nein‹ sagte? Was dann Herr Gert?«

»Ich bitte Sie, ›ja‹ zu sagen, Fräulein Ellen.«

»Wenn ich ›nein‹ sagte,« wiederholte sie zornig, »wenn ich ›nein‹ sagte. Ich bin zuletzt doch nicht dazu da, um mich von dem ersten besten jungen Mann seiner Schwester wegen heiraten zu lassen und nicht meinetwegen?«

»Fräulein Ellen! Ich bin nicht der Erstbeste! Ich weiß, was ich wert bin. Und das biete ich Ihnen als Gegenwert an.«

»Sieh da! Jetzt gerät mein Bewerber in die Hitze! Und nun sage ich gerade ›nein‹!«

Er strich sich mit der Hand über die heißgewordene Stirn. »Ich bitte um Entschuldigung,« sagte er ruhig und griff nach den Ruderstangen.

»Habe ich den Wunsch geäußert, weiterzufahren? Man beantwortet einer Dame alle ihre Fragen. Und ich habe gefragt: Was dann, Herr Gert?«

Und Gert Thorsbergs Augen wurden zu Knabenaugen, in denen der Zorn mit der Siegesgewißheit lachte.

»Was dann? Mein Vater wird an meine Stelle treten und Sie um Ihre Hand bitten. Und der, Fräulein Ellen, der läßt sich nicht so leicht abschütteln wie ich unbeholfener und unerfahrener Mensch. Der packt zu und hält mit seinem gewaltigen Willen fest, was er packt. Ah, der Vater!«

Sie saß vor ihm mit geöffnetem Munde. Ihre Kühle war weggeweht. Sie staunte ihren Bewerber an, wie nur ein Mädchen staunt.

»Gert, sind Sie – verrückt geworden?«

»Ich bin so klar wie nur je. Ich habe Sie in aller Ehrlichkeit um Ihre Liebe gebeten, und in derselben Ehrlichkeit beantwortete ich Ihre letzte Frage.«

»Sie haben mich um meine Liebe gebeten. Soll ich Sie vielleicht um Ihre bitten? Und nun drohen Sie mir gar mit der Liebe Ihres Vaters. Seid Ihr denn Ritter, oder seid Ihr Raubritter, Ihr Thorsbergs?«

Da senkte Gert Thorsberg den Kopf und fühlte eine tiefe Beschämung.

»Ja, da sitzen Sie nun, und ich sitze hier. Und wenn wir nun nicht weiterrudern, kommen wir wie die Toren nicht vom Fleck.«

»Verzeihen Sie mein heißes Blut,« murmelte er, »ich habe mich sonst besser am Zügel.« Und er ließ die Ruder ausschwingen.

»Es wäre besser gewesen,« erwiderte sie lachend, »Sie hätten schon zu Anfang mehr davon gezeigt und nicht erst zum zornigen Schluß. Aber bevor ich mich von Ihrem wilden Vater packen und in die Tasche stecken lasse, will ich mir doch lieber den heißblütigen Sohn zum Beschützer nehmen und ihn dafür die Liebe lehren. Soll das ein Wort sein, Gert?«

Die Ruder wurden eingezogen. Eine Weile blieb es still zwischen den jungen Menschen. Eine große Klarheit kam über Gert Thorsbergs Seele und ließ ihn seinen Lebensweg weithin erkennen. So stark und klar hatte er noch nie zu sehen und zu empfinden vermocht.

Seine stärkste Empfindung aber drängte in tiefer Dankbarkeit zu dem jungen Mädchen, das in früherwachtem Frauengefühl ihm Helferin werden wollte und im Glauben an seinen wachsenden Wert und das Vermögen ihres eigenen Liebeswillens Helferin und Gefährtin zugleich.

»Jetzt erst«, sagte er, ohne ihre ausgestreckte Hand zu fassen, »sehe ich die Ungeheuerlichkeit meiner Forderung ein.«

»Das ist gut,« entgegnete sie. »Und da Sie noch so jung sind, liegt ein langes Leben vor Ihnen, um die Ungeheuerlichkeit vergessen zu machen. Soll ich Ihnen übrigens noch lange die Hand hinhalten?«

Da beugte er sich über ihre Mädchenhand und drückte seine Lippen darauf. So ehrfürchtig, als wäre es die Hand einer reifen und gütigen Frau.

Sie ließ sie ihm und sprach über den strenggeschnittenen Jünglingskopf hinweg:

»Wir wollen uns für gebunden halten, Gert. Bis wir uns in drei Jahren vor aller Welt binden können. Und jeder wird seine Ehre darein setzen, des andern würdig zu sein. Erzählen Sie mir von Ihren Plänen.«

Und Gert Thorsberg antwortete und hielt ihre Hand auf seinen Knieen fest.

»Ich möchte in die Fußtapfen des Vaters treten. Als Arzt und als Forscher. Und als Deutscher, der sich für die Arbeit am Vaterland seine Ziele weit zu stecken hat. Darum möchte auch ich meine Wanderjahre in das ehemals deutsche afrikanische Gebiet verlegen und von dort aus die Hebel zu einer neuen Blütezeit Deutschlands mitanzusetzen suchen.«

»Ich wandere mit, Gert.«

»Meine Mutter hat es auch getan, Ellen. Und Vater und Mutter sind sehr glücklich miteinander geworden. Noch in ihren letzten Lebenstagen sprach es meine Mutter aus. ›Man muß lange miteinander in der Wildnis gelebt haben, um das Beste im Leben zu verstehen.‹«

Und sinnend sagte das Mädchen: »Ihre Mutter, Gert, war eine kluge, kluge Frau.«

»Sie war wohl nichts anderes als Frau, Ellen. Und das war ihr großer Reichtum, von dem wir alle noch leben.«

Sie atmete ganz tief und wohlig die frische Luft von See und Bergen ein.

»Nun wollen wir heimfahren, Gert. Es war eine schöne Morgenfahrt, und ich danke Ihnen dafür.«

»Beschämen Sie mich nicht noch mehr. Oder doch, tun Sie es. In der Beschämung liegt schon das unverdiente Glück.«

»Wir werden es uns beide verdienen, Gert. Und nun lassen Sie die Schwester nicht mehr länger auf Erlösung warten.«

Er führte noch einmal ehrfürchtig ihre Mädchenhand an seine Lippen und griff zu den Rudern.

»Erst muß ich mit William eine Aussprache haben. Dann mit Ihrem Herrn Vater. Dann erst kommt Gertrude.«

»Mit William brauchen Sie nicht Kahn zu fahren, Gert. Die Kahnfahrt dieses Morgens hat ganz allein meine Erinnerung zu sein, und ich bin eifersüchtig genug, auch William keinen Anteil daran zu gönnen. Wir werden ihm zwei Worte sagen, und er hat sich als ritterlicher Bruder damit abzufinden.«

»Das wäre wenig schmeichelhaft für Gertrude.«

Sie schüttelte lachend den Kopf.

»Nun ist dieser seltsame Mensch schon eifersüchtig auf die Schwester bedacht. Aber es paßt mir zu Ihrem Bilde, Gert. Seien Sie ohne Sorge. William hat sich Ihrer Schwester gegenüber noch mit keinem Worte, ja ich glaube, noch mir keinem Zeichen erklärt. So unermüdlich seine Arbeitskraft und außer ihr seine Sportlust ist, so wenig wünscht er einen Aufwand seelischer Regungen. Legen Sie sich in die Riemen, Gert.«

»Also dann Ihr Herr Vater.«

»Die Unterrichtung des Vaters ist nach amerikanischem Gebrauch meine Angelegenheit. Ihre Stunde schlägt erst, wenn Sie in aller Form um meine Hand anhalten. Und in Jahr und Tag werden Sie Ihre heutige Form verbessert haben. Sagen Sie nur Getrude, sie möchte sich heute nachmittag bereit halten. Sie kommt natürlich um die Aussprache mit meinem Vater nicht herum. Aber ich werde sie selber mit dem Boot abholen und zu ihm bringen.«

»Ich danke Ihnen, Ellen.«

Und dann näherten sie sich dem Lande, und William Waldheim stand am Steg und half ihnen anzulegen.

»Ein Wort, William, und das allervertrauteste dazu, das eine Schwester dem Bruder sagen kann. Gert Thorsberg und ich haben uns in aller Heimlichkeit verlobt. Nur der Vater soll es wissen, da ja nun mal die Verbindung zwischen den Häusern Waldheim und Thorsberg sein Herzenswunsch ist. Ich habe dir damit den Wind aus den Segeln genommen, alter Junge. Aber du wirst als ein wohlerzogener Mann einer Dame immer den Vorrang lassen.«

»Hör einmal, Ellen,« sagte William Waldheim, ehrlich verblüfft, »das scheint mir denn doch ein Überfall.«

»William, Fräulein Thorsbergs Herz ist nicht frei. Und es bliebe unfrei, auch wenn sie deine Frau würde. Frauenliebe ist anders geartet als Mannesliebe. Frage nur den Herrn Professor Thorsberg. Nein, ehrlicher Junge, frage dich selbst. Und wenn du dir Antwort erteilt hast, so wirst du zu mir kommen und mir in großer Dankbarkeit die Hand schütteln.«

William Waldheim aber schien diese Dankbarkeit noch weitab zu liegen. Er zog die Stirn in Falten und wandte sich ab.

»William,« bat Gert Thorsberg und streckte ihm die Hand hin.

»Schon gut, schon gut, ich bin kein altes Weib. Und nun ist es Zeit, daß wir losfahren.«

Die Schwester streichelte ihm mit weicher Hand den Rockärmel.

»Ein andermal, William. Jetzt muß der Gert eilig zu seiner Schwester und sie aus ihrer Herzensnot erlösen. Nicht ungehalten sein. Du darfst dafür am Nachmittag mit mir gemeinsam über den See rudern und Fräulein Thorsberg zum Vater holen.«

Da lachte der Bruder ein ungebändigtes Lachen.

»Das wird ja immer hübscher für mich. Also in Gottes Namen! Vor eurem verzwickten Frauenwillen streicht der beste Mannesverstand die Segel. Grüß den Vater, Ellen.«

»Du bist ein Ungetüm, William,« erwiderte sie und hob kühl den Kopf.

Gert Thorsberg war ins Boot gesprungen, und William Waldheim warf die Kette hinein.

»Haben Sie es gehört, Gert? Bevor sie ihren Willen hatte, war ich der gute Junge und ehrliche Kerl, und nachher bin ich schon wieder das Ungetüm. Im übrigen: Gut Fahrt allzeit!«

»Danke Ihnen, William. Nun sind wir Freunde.«

Mit voller Kraft trieb er das Boot über den See. Und jetzt waren seine Gedanken wieder bei der Schwester.

Die Wartezeit wird ihr endlos erschienen sein, dachte er. Nun wird sie für alle Tapferkeit belohnt.

Das Boot schmiegte sich an den Steg. Er befestigte es, eilte ins Haus und horchte an der Tür der Schwester.

Noch niemals hatte er sie anderes singen hören als ein frisches Marschlied oder eine fröhliche Jägerweise. Und die Gertrude, die da drinnen bangte, sang Eichendorffs traurigen Vers vor sich hin:

»Sie hat einen andern genommen,
Ich war draußen in Schlacht und Sieg.
Nun ist alles anders gekommen –
Ich wollte, es wär' wieder Krieg.« – –

Da war er bei ihr drinnen und hatte beide Arme um sie geschlungen.

»Ist das ein Brautlied, Gertrude? Krieg? Ach, es kommt ja auch der Friede wieder, und deinem Herzchen bring' ich ihn heute schon.«

Sie starrte ihn an. »Gert – –?« fragte sie. Und dann preßte sie sich, an allen Gliedern zitternd, in seine Arme.

»So lieb haft du ihn, Mädchen?«

Sie nickte nur. Die Erregung lieh nach. Mit blassem Gesicht lächelte sie den Bruder an. »Und Ellen?«

»Beunruhige dich nicht. Ich weiß es jetzt. Sie hat Seele. Und viel, viel Frauenempfinden.«

Und einer hielt den anderen im Arm und jeder dachte an ein Drittes.

»Ellen Waldheim«, sagte Gert Thorsberg, »hat es übernommen, ihren Vater zu verständigen. William hat sich einverstanden erklären müssen. Müssen, Gertrude. Ellen setzte ihm die Pistole auf die Brust. Er wird uns ein ehrlicher Freund sein.«

»Aber ich kann mich doch nicht so feige in den Hintergrund drücken, Gert! Wenn ich den Mut hatte, für Walter die Hilfe der Waldheims anzurufen, muß ich auch den Mut haben, sie um Verzeihung zu bitten.«

»Geduld, Gertrude. Gar so viel ist da nicht zu verzeihen. William scheidet ganz für dich aus. Er hat sich überhaupt noch nicht zu dir geäußert. Und zum Vater Waldheim bringt dich die Ellen selber. Sie holt dich am Nachmittag mit dem Boot.«

Um die vierte Nachmittagsstunde lag das Boot der Waldheims am Thorsbergschen Steg. Gertrude ging allein durch den Garten, und Gert stand wie ein Schuljunge hinter dem Fenstervorhang. Mutig stieg Gertrude ins Boot und reichte zuerst William Waldheim die Hand.

»Guten Tag, Fräulein Thorsberg,« sagte der junge Amerikaner. »Ich hoffe, Sie werden mit dem Tag zufrieden sein.« Da lächelte sie ihn an. Und dieses Lächeln machte dem langen Menschen zum erstenmal das Herz schwer.

»Guten Tag, Ellen. Ich habe Ihnen so viel zu danken.«

»Wollen abwarten, Gertrude, wer dem andern einmal mehr zu verdanken hat,« meinte das kühle amerikanische Fräulein.

Nach dem Späher am Fenstervorhang schweifte kein Blick. Das Geschwisterpaar langte nach den Rudern. Gertrude nahm das Steuer. So ging es über den See, daß die Wasser zischten.

Der Deutschamerikaner war auf seinem Zimmer geblieben. Die Unterredung mit seiner Tochter hatte ihm stark zugesetzt.

»Es ist gegen die Abmachung,« beharrte er. »Wenn ich eine Tochter haben will, will ich keinen Sohn. Darüber ist wohl nicht zu streiten.«

»Lieber Papa, wer streitet denn? Unerzogene Menschen höchstens. Dazu zählen wir nicht. Und wenn du Gertrude Thorsberg unbedingt zur Tochter haben willst, so wirft du sie wohl an Kindes Statt annehmen müssen.«

»Das ist meine eigene Angelegenheit, die du schon so gütig sein mußt mir allein zu überlassen.«

»Nicht ärgerlich werden, Papa. Schau, die Wahl deines zukünftigen Schwiegersohnes oder deiner zukünftigen Schwiegertochter ist dafür meine und Williams eigene Angelegenheit, denn wir sollen doch zuletzt diese Menschenkinder heiraten und nicht du.«

»Und wenn ich es täte? Wenn ich die Gertrude Thorsberg vom Fleck weg heiratete?«

»Papa,« sagte das Mädchen und streichelte begütigend seinen Arm, »tu's nicht, Papa. Die Familienbeziehungen zwischen den Waldheims und den Thorsbergs würden zu verwickelt. Der Professor Friedrich Thorsberg hat geschworen, mich zu heiraten, wenn ich seinen Gert nicht nähme. Dann säßet ihr beiden Papas doch wieder mit uns Töchtern da.«

Ferdinand Waldheim riß die Augen auf. Er nahm die Brille ab und putzte sie umständlich. Er wischte sich mit dem Taschentuch die Augen. Aber die Tränen kamen unaufhörlich. Die Lachtränen über sein schlagfertiges Mädchen.

»Ich verbiete dir, weiterzureden. Ich befehle dir, in der Wahl deiner Bilder etwas vorsichtiger, etwas – etwas zartfühlender vorzugehen. Jawohl, du läßt es an schicklichem Zartgefühl fehlen. Und außerdem ist mir der Gert Thorsberg noch viel zu jung.«

Das Mädchen schmeichelte sich dicht an den Vater heran.

»Er wird in den nächsten Jahren älter werden. Ich verspreche es dir. Und es ist hübsch von dir, daß du es einsiehst.«

»Was sehe ich ein?«

»Ich will dir statt der Antwort lieber einen Kuß geben. Der Gert muß darauf warten, bis er uns zur Verlobung alt genug erscheint.«

»Eine Tochter zu haben,« seufzte der Deutschamerikaner, »ist eine rechte Gnade Gottes. Man weiß nie, womit man die Gnade verdient hat.«

»Gertrude Thorsberg möchte dich sprechen, Papa. Ich hole sie mit William über den See.«

Als die Tochter von dannen war, kehrte die ärgerliche Stimmung zurück. Nein, der William hätte vor einem Walter Lenbach nicht kampflos das Feld räumen dürfen. Auf solch ein Gottesgeschöpf verzichten! Und nun holte er sie sogar seelenruhig über den See.

Aber als Gertrude Thorsberg vor ihm stand, mit den freudeschimmernden Augen im blassen Gesicht und doch mit dem noch zuckenden Kindermund, da spürte der Mann es heiß in seinem Innern aufsteigen, und das Mitgefühl für das geliebte Kind, für die tapfere Weggenossin in den Schwarzwaldbergen und auf der Leipzigfahrt überwältigte ihn so stark, daß er das Mädchen ohne Frage und ohne Antwort in die Arme schloß.

»Sie können nur den rechten Weg gehen, Gertrude. Gehen Sie ihn mit Gott!«

»Ich habe nicht ganz ehrlich gehandelt, Herr Waldheim.«

»Das steht nicht mehr zu Verhandlung. Sie haben den Waldheims einen Bürgen gestellt, und der Bürge haftet.«

Und plötzlich schlang sie die Arme um seinen Hals, hob das tränenfeuchte Gesicht und küßte ihn auf den Mund.

Der schwergefügte Mann hielt sie lächelnd fest.

»Das ist nun der zweite Brautkuß an diesem Nachmittag. Und vielleicht wurden auch diese Lippen noch nicht von dem Auserwählten berührt.«

»Nein, Herr Waldheim –«

»Dann habe ich das Geschäft immer noch mit einem Gewinn abgeschlossen.«

Am Abend ruderten die Geschwister Gertrude Thorsberg wieder über den See zurück. Gesprochen wurde kein Wort. Aber es herrschte Friede in den jungen Seelen.

Der Steg war erreicht. William Waldheim hob das schlanke Mädchen im Schwunge aus dem Kahn.

»Sagen Sie Gert, Gertrude,« rief Ellen Waldheim der im Dunkel Schwindenden nach, »er solle bald älter werden.« Und dann legte sie sich mit dem Bruder fest in die Riemen.

An diesem Abend hatte auch die Älteste der Thorsbergs ein Erlebnis. Die zarte, weißhaarige Dame kehrte von einem Besuch in der Nachbarschaft zurück, als vor ihr ein alter Herr ausglitt und mit einem leisen Schmerzensschrei zu Boden sank. Vergebens suchte ihn seine Begleiterin wieder hochzurichten. Er mußte sich den Fuß verstaucht haben.

Voller Mitgefühl trat Frau Charlotte Thorsberg näher und bot ihre schwache Hilfe an.

»Wir sind gerade vor unserem Hause, gnädige Frau,« erwiderte dankbar die fremde Dame. »Wenn Sie ihn vielleicht unter den linken Arm fassen möchten. Ich werde ihn rechts nehmen. So, jetzt werden wir gleich drinnen sein, Waldemar. Das hast du dieser lieben gnädigen Frau zu danken.«

Und der alte Herr streckte sich und lächelte die liebe gnädige Frau mit einem schmerzverzogenen Gesicht an.

Die beiden Samariterinnen brachten ihn fürsorglich ins Haus, und da die Dame des Hauses bedauernd erklärte, in der Not dieser Zeit kein Mädchen zu besitzen, so brachten sie den alten Herrn fürsorglich in sein Schlafgemach.

»Waldemar Heß, gnädige Frau,« dienerte der alte Herr. »Ehemaliger Hoftheaterleiter. Ja, das war noch eine große Zeit.«

»Setzen Sie sich vor allen Dingen nieder, Herr Heß,« bat Frau Charlotte und nannte auch ihren Namen. »Das Stehen wird Ihnen sauer, und auch die Höflichkeit hat ihre Grenzen.«

»Frau Thorsberg?« wiederholte der alte Herr. »Doch nicht gar Ihre Exzellenz, die Mutter meines sehr verehrten Freundes Professor Friedrich Thorsberg? Oh, wirklich, das ist eine hohe Ehre für unser schlichtes Dach. Franziska, einen Sessel für unsere gütige Exzellenz.«

»Ich werde«, sagte Frau Charlotte, »mich so lange im vorderen Zimmer aufhalten, bis Sie sich niedergelegt haben. Vielleicht kann ich Ihrer lieben Frau noch irgendwie zur Hand gehen oder einen Auftrag für sie übernehmen. Ich wünsche Ihnen eine recht schnelle und gute Genesung, Herr Heß.«

Und sie entzog sich allem Danke mit einer reizenden Verneigung.

Ein Viertelstündchen hatte sie gewartet, als Fräulein Franziska Großmann das Gemach betrat.

»Ich bitte Euer Exzellenz vielmals um Verzeihung. Aber ich mußte erst den Fuß untersuchen, und dann wollte der Verband seine Zeit. Es ist gottlob nur eine Verstauchung.«

»Oh, Sie verstehen sich auf dergleichen? Das kommt Ihrem lieben Gatten sehr zunutze.«

»Für uns von der Bühne, gnädige Frau, gehört ein verstauchter Fuß zu den Tagesereignissen. Man stolpert in der Erregung über einen hölzernen Keil im Bodenbelag oder über sonst einen heimtückischen Gegenstand, und knacks, ist es geschehen. Da hilft nur ein flottes Zugreifen. Denn ein verstauchter Fuß darf nicht auch noch den Wochenspielplan umwerfen wollen.«

»Sie waren demnach auch Künstlerin? Unter der Obhut Ihres lieben Gatten? Ja, dann wird wohl das aufregende Leben an der Bühne erträglicher sein.«

Franziska Großmann hob den Kopf. Ihr klarer Blick ruhte auf dem freundlichen Gesicht der Greisin.

»Ich war die Schülerin des einst vielgefeierten Waldemar Heß, gnädige Frau, und wurde bald seine Gegenspielerin in allen großen Dichterwerken. Und aus den gleichen heißen Bestrebungen wuchs die Freundschaft und die anhängliche Liebe. Ja, auch die Liebe, gnädige Frau, solange uns das Schicksal beisammenhielt.«

Frau Charlotte war tief erschrocken über die unvermutete Eröffnung, mehr aber noch über die tiefe und schlichte Natürlichkeit, mit der sie geäußert wurde.

»So sind Sie – also – gar nicht – ordentlich verheiratet?« fragte sie in peinlicher Verlegenheit.

»Ich habe meinen alten und lieben Freund Heß aufgesucht, als er sich in seinen weißen Haaren auf das Gewerbe des Fremdenführers verlegt hatte, um nach der furchtbaren Kriegszeit und in der noch viel furchtbareren Friedenszeit überhaupt noch leben zu können. Einen Ruhegehalt empfing er nicht, weil er die größte Zeit seines Künstlerlebens mit mir auf Gastspielreisen zugebracht hat und die Leitung des Hoftheaters zu kurze Jahre in seinen Händen lag. Künstler sparen nicht. Künstlerinnen schon eher. Ich selbst bin jünger als Waldemar Heß und bei noch unverbrauchten Kräften. Ich besitze mein Häuschen in Starnberg und bilde begabte junge Leute, an denen nie Mangel ist, für die Bühne oder das Rednerpult aus. Sollte ich, als ich Waldemar Heß in seiner Verschollenheit auffand, den Altgewordenen nur deshalb im Stiche lassen, weil er – alt geworden war?«

Frau Charlotte Thorsberg wußte keine Antwort.

»Gnädige Frau,« sagte Franziska Großmann, »Sie hätten ja doch morgen schon erfahren, daß hier ein Fräulein Franziska Großmann wohnt und nicht eine ordentlich verheiratete Frau Waldemar Heß. Kommt es in unserem Frauenleben auf das ordentlich Verheiratetsein an oder auf die außerordentliche Treue? Ich will die Beantwortung dieser Frage mit ruhigem Herzen dem Schöpfer aller Menschen überlassen.«

Frau Charlotte erhob sich. Und dann empfand sie innerlich einen Stoß, und sie reichte dem gealterten Fräulein, das in der Frauentreue bei noch unverbrauchten Kräften war, herzlich die Hand.

»Es hat mich aufrichtig gefreut, Fräulein Großmann. Empfehlen Sie mich Herrn Waldemar Heß, dem ich nochmals eine gute Genesung wünsche.«

Dies war das Erlebnis der Ältesten der Thorsbergs, und sie wiegte auf dem Heimweg lange ihr weißes Köpfchen hin und her. Ich möchte nur wissen, grübelte sie, ich möchte nur wissen, ob im Gegenfalle ein Mann für eine altgewordene Frau wohl dasselbe getan hätte. Ja, das möchte ich wohl wissen, weil ich es kaum zu glauben wage. – –

Und die Not der Zeit stieg jählings von Stunde zu Stunde, bis sie einen Höhepunkt erreicht hatte, über den es kein Hinaus mehr gab. Es war, als ob alle Spieler und Ausbeuter, alle Börsenwettläufer und wild aus dem Dunkel der Nacht emporgestiegenen Bankleute die nahende Wendung witterten und noch einmal mit Schnabel und Fängen in dem ohnmächtigen Leibe Deutschlands zerrten und wühlten, noch einmal die letzten Wuchergewinne erpreßten und beiseite schafften. Nicht Milliarden von Papiermark, Billionen von Papiermark, Zahlen, die kein Hirn mehr auszudenken wußte, mußten von den deutschen Familienvätern herbeigeschafft werden, um eine Handvoll Nahrungsmittel, einen Meter Zeug für den Wert eines einzigen Dollars einzuhandeln. Jede Maßnahme der Regierung wurde von der ausländischen und einheimischen Wucherwelt überholt und Zur Spottgeburt gestempelt, die machtlos und kopflos gewordene Regierung verhöhnt und ihres Ansehens entkleidet. Das Fieber im Volkskörper stieg bis zur obersten Grenze. Der Verzweiflungsschrei nach den rücksichtslos zugreifenden Ärzten, nach den Männern der Tat rang sich wie ein atemloses Gebet aus Tausenden von Kehlen. Lebenswende! Lebenswende! Heute eher denn morgen!

Friedrich Thorsberg war auf der Reise von der Pfalz, nach München. Oberst Lenbachs Ruf, der Ruf vieler Führer der Vaterlandsfreunde hatte ihn erreicht und zur Eile angespornt. Er las die Fiebergrade von der Volksseele ab, wie sie der Arzt von dem gläsernen Fiebermesser abliest. Aber der Höhepunkt war eher erreicht, als Friedrich Thorsberg München erreicht hatte.

Als er die Stadt betrat, befand er sich in einem summenden und brodelnden Kessel. Hunderttausende waren auf den Straßen, Tausende von Meinungen, von erregten Reden und erregteren Gegenreden durchschwirrten die Luft.

»Was hat sich hier zugetragen?« fragte Friedrich Thorsberg in der Menge. »Was ist geschehen?«

»Die Berliner Regierung wird zum Teufel gejagt! In voriger Nacht hat Bayern die Sache in die Hand genommen! Die Kampfverbände marschieren! Bayern entrollt die deutsche Fahne! Unsinn! Nur um die bayerische Fahne geht's!. Nein, nicht mal um die bayerische! Es ist Verrat im Spiel! Verrat! Ein paar Ehrgeizige betreiben ihre dunklen Geschäfte! Parteiführer schüren und kochen ihre schwarzen Suppen auf der Glut! Der neue Regierungskraftmeier, der Karl Thorsberg, hat die Vaterlandsfreunde in die Falle gelockt! Er will ihre Führer mit einem Griff packen und abwürgen, um der Alleinherrscher zu sein und der Königsmacher! Die Reichswehr geht mit den Vaterlandsfreunden! Nein, die Reichswehr steht Gewehr bei Fuß! Nein! Die Landespolizei ist fest in der Hand des verdammten Karl Thorsberg und seiner eidbrüchigen Helfershelfer! Die Vaterlandsfreunde marschieren im feierlichen Zuge durch die Stadt! Sie wollen zeigen, daß es nicht gegen Bayern, daß es für das Reich geht! Heil! Heil! Sie kommen!«

Friedrich Thorsberg stand eingekeilt in der Menge. Er versuchte einen Durchbruch und kam nur wenige Schritte weit. Immer noch standen dichtgefügte Reihen zwischen ihm und dem freigehaltenen Platze. Und jetzt griff er nach seinem Hut und zog ihn ab. Und mit ihm entblößte die ganze Riesenmenge wie auf einen inneren Befehl ehrfurchtsvoll das Haupt.

Dort marschierten sie an. Die Glaubenshelden. Die Befreier von Ohnmacht und Würdelosigkeit. Die Austreiber des Wuchertums und des politischen Schmarotzertums. Dort marschierten sie an. Feierlich wie auf einem Kirchgang.

Und bewundernd und inneren Jubels voll zählte Friedrich Thorsberg, zählte mit ihm das harrende und starrende Volk, daß es Tausende waren, Tausende von Furchtlosen, Tausende von Selbstlosen und Allzeitbereiten in dieser einen Stadt.

Vaterland, Vaterland, das du erniedrigt bist unter allen Ländern der Welt – schon ist die Saat aufgegangen, schon besitzest du an Männern tausendmal mehr, als du es ahntest in deinem blinden Jammer.

Des alten Reiches Fahne zog dem Zuge voran. Schwarzweißrot flatterte das Fahnentuch. Ihm nach die weißblauen Bayernfarben. Ihm nach die Banner und Wimpel aller Bünde und Verbände.

Die Hauptführer marschierten an der Spitze. In der Mitte der Reihe hob sich die hohe und breitschultrige Gestalt des Obersten Lenbach. In musterhafter Ordnung folgten die Gruppen, die Führer drei Schritte vor. Zum Himmel auf brauste der Marschierenden Gesang wie erschütterndes Orgelgebraus. »Deutschland, Deutschland über alles.«

Die Strophen verhallten. Nur die taktfesten Schritte der Marschierenden waren in der atemlosen Stille hörbar. Eine neue Gruppe zog auf. Studenten. Walter Lenbach und Gert Thorsberg drei Schritte voran. Ein paar Worte riefen sie über die Schulter. Und aus den jungen Kehlen brauste ein neues Lied.

Deutschlands Lied

Die Fahne, unsrer Väter Stolz,
Zerriß im sturmgeraufe,
Im Feuerbrand der Blitze schmolz
Der Adler auf dem Knaufe.
Es blieb der kahle Fahnenschaft
Vom Holz der heiligen Esche –
Wir pflanzten ihn der deutschen Kraft
Zum Zeichen in die Bresche.

Wir klagen nicht, wir zagen nicht,
Und ob der Sturm die Wipfel biegt.
Wir harren auf das Morgenlicht,
Die deutsche Sonne siegt!

Laßt sausen und Iaht brausen drum
Die todesschwangren Wetter,
Der Tag geht um, die Nacht geht um.
Es rückt heran der Retter –
Und jählings jagt vom Glockenturm
Ein Ruf, ein deutschgesinnter,
Es fährt der deutsche Frühlingssturm
Hoch über Herbst und Winter!

Drum klaget nicht, drum zaget nicht.
Und ob der Sturm die Wipfel biegt.
Wir harren auf das Morgenlicht,
Die deutsche Sonne siegt!

Seht hin, seht hin, der Fahnenschaft,
Er blieb im Sturme stehen,
Schlug Wurzel aus und trieb in Saft,
Und seine Wimpel wehen!

Sie wehen von der Etsch zum Belt,
Vom Rhein zum Weichselstrande,
Sie wehen, wenn es Gott gefällt,
Wie einst im deutschen Lande.
Drum klaget nicht, drum zaget nicht,
Und ob der Sturm die Wipfel biegt,
Wir harren auf das Morgenlicht,
Die deutsche Sonne siegt!

Halt!

Weshalb Halt?

Vorne stockt's!

Nachsehen, weshalb es vorn stockt! Halt! Hiergeblieben! Herr im Himmel – was war das?

Feuerüberfall! Feuerüberfall! Werft euch nieder! Maschinengewehre feuern auf uns! Niederwerfen!

Verrat! Hundegemeiner Verrat! Das ist Mord – Mord!

Friedrich Thorsberg hob sich in der Menge hoch. Er packte die Schultern des Vordermannes, um ihn zur Seite zu reißen. Das Knattern der Maschinengewehre war in seinen Ohren. Das krachende Massenfeuer aus Büchsenläufen. Er sah – er sah –

Und mit einem Male war er allein und alles Volk auf der Flucht in die Straßen und Gassen hinein.

Aber schon hatte er mehr gesehen.

Wo war die Spitze des Zuges, die Hauptführerschaft?

Sie rang im Straßenstaub in ihrem Blute oder lag still und steif.

Wo war der Freund? Der Oberst Lenbach?

Dort marschierte er allein noch vor. Hochaufgerichtet. Furchtlos. Verachtungsvoll. Und griff mit beiden Händen nach der Brust und sank zusammen.

Und Berittene brausten aus dem Hinterhalt und fegten mit der Klinge den Platz.

Friedrich Thorsberg rannte blindlings nach vorn. Durch die aufgelösten Gruppen der Zurückweichenden hindurch. Über Vermundete und Sterbende hinweg. Zwischen die Berittenen und wieder hinaus. Einen Huftritt spürte er am Schenkel. Nein, er spürte ihn nicht. Jetzt hatte er die Spitze, hatte er die toten und sterbenden Führer erreicht. Jetzt – jetzt den Freund.

Er kniete neben ihm auf dem Pflaster. Er öffnete ihm den Rock, zerriß das Hemd, das ihm in die Hände geriet, fertigte aus dem Streifen einen Wickelverband, stopfte zerzupftes Leinen in die Wunde.

Er versuchte, den schweren Oberkörper des Mannes aufzurichten. Wo waren Helfer, die den Körper hielten, während er den Notverband wickelte? Die Augen des Obersten starrten ihn an.

»Lassen Sie es gut sein, Thorsberg. Was liegt an den paar Rippen. Man hat mir hier den Glauben zerschossen.«

Dort irrten zwei Jünglingsgestalten über den Platz.

»Gert!« rief Friedrich Thorsberg heiser. »Gert! Walter! Hierher!«

Sie waren neben ihm, legten Hand an. Von Gert Thorsbergs Stirn rann das Blut. Ein Säbelhieb hatte sie zerquert. Friedrich Thorsberg arbeitete, als befände er sich am friedlichen Verbandstisch des Krankenhauses. Jetzt war er mit dem Notverband fertig geworden. Er blickte auf, sah des Sohnes blutüberströmte Stirn, winkte ihn näher heran und wickelte ihm sein Taschentuch um den flammend gezeichneten Jünglingskopf.

»Eine Bitte, Thorsberg,« murmelte der Oberst. »Schafft mich nach Starnberg hinaus, in meine Wohnung. Ich will nicht in die Pflege der Meineidigen.«

»Wir tragen ihn in die Nebengasse,« befahl Friedrich Thorsberg. »Faßt an. Dann einen Kraftwagen herbei.«

Die Truppen waren in ihre Ausgangsstellungen zurückgekehrt. Sie standen Gewehr bei Fuß und schielten betreten auf ihre grausige Tat. Krankenträger eilten mit Bahren über den totenstillen Platz.

Friedrich Thorsberg trug mit seinen jungen Helfern den verwundeten Oberst unbehelligt hinweg. Man mochte ihn für einen der herbeigerufenen Ärzte halten. Dann holte Walter Lenbach auf Umwegen den Kraftwagen, und sie fuhren auf Starnberg zu.

»Man hat mir meinen Glauben zerschossen ...« murmelte der Verwundete und schloß die Augen, als ekelten ihn die Bilder.

*

 


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