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7

Wenn Friedrich Thorsberg mit gesammelten Gesichtszügen die Straßen Münchens durchschritt, schien er in tiefem Sinnen. Aber seine Augen lagen auf ruhiger Wacht. Seine Augen sahen jeden Menschen und in den Menschen die Bilder der Zeit. Und sie sahen, daß die Bilder der Zeit mehr und mehr zu Zerrbildern wurden.

Schnellfertige Jungen nannten dies Zeitalter das Zeitalter der Jugend.

Friedrich Thorsbergs Mundwinkel zogen sich steil nach unten, als habe er einen eklen Geschmack auf der Zunge. Noch schärfer lugten seine Augen aus. Und in dem Gehandele auf allen Gassen, dem Geschiebe und Geschachere auf allen Straßen, in dem unruhvollen Gewoge der unruhvollen Menschheit sah er deutlicher denn je die Trennung der Jungen von den Alten in ihrer Mehrheit.

Diese Mehrheit war unverkennbar. Ein einziger umfassender Blick vermochte sie festzustellen. Da gingen sie, die jungen Stutzer, die Modepüppchen am Arm. Kein Mensch hätte den jungen Männern und Mädchen die Notkämpfer Deutschlands angesehen. Es führten die Herrchen die Dämchen zum Nachmittagstee, irgendwohin, wo es eine peitschende Zigeunermusik auf engbesetzter Diele gab, und die Dämchen trugen ihre Frühlingspelze leichthin über dem bloßen Nacken, den halbnackten Schultern und Brüsten, die sie wie kleine Dirnchen in den weitherzig ausgeschnittenen Blusen und Kleidermiedern kühl zur Schau stellten. Was die jungen Stutzer an den Vormittagen in gewagten Geldunternehmungen überhastig verdient hatten, das zerfloß nach den kurzen Arbeitstagen zwischen den Fingern der jugendlichen Verschwender. Und hier, dort, überall schlichen die Alten über die Straßen, in fadenscheinig gewordenen Leibröcken, in hängenden, unmodisch gewordenen Kleidern aus der Vorkriegszeit, mit faltig eingefallenen Wangen, seltsam hageren Hälsen und dem freundlich-verlegenen Blick der Absterbenden, die ihres unnützen Daseins wegen allenthalben um Entschuldigung bitten.

Diese Jungen, stellte Friedrich Thorsberg fest, erscheinen äußerlich so vornehm, wie sie innerlich lumpig sind. Diese Alten, stellte er weiter fest, sind innerlich so vornehm, wie sie äußerlich lumpig erscheinen. Mutet das nicht an wie ein unüberbrückbarer Gegensatz? Und ist doch nichts anderes als unterbrochene Erziehung bei den Jungen. Oder, was schon schlimmer ist, die zu früh abgebrochene Erziehung. Das verbindende Zwischenglied fehlt: Dienstjahre der jungen Männer, Anleitungsjahre der jungen Mädchen. Nun picken sie schon die Eier auf, von denen sie nicht einmal mit Sicherheit wissen, wie sie gelegt werden.

Seine Augen leuchteten auf.

Drüben, auf dem jenseitigen Bürgersteig, kamen trotz des Gedränges mit langen, ruhig ausholenden Schritten drei junge Menschen daher. Gert Thorsberg und der junge Walter Lenbach, Gertrude Thorsberg in der Mitte. Der Sohn des Obersten schuf zuweilen mit einer kurzen Handbewegung Platz für die Gefährtin. Sie schritten dahin, als wären die Zerrbilder der Zeit und der Straße für sie nicht zugegen.

Friedrich Thorsberg ließ sie vorüber, ohne sie anzurufen. Er nahm die Erscheinung wie einen inneren Zuruf: »Diese Jugend ist auch noch da. Und ist es die Minderheit, so ist sie doch mehr.«

»Ich habe keine Sorge,« sprach er zu sich selbst, »daß die Gewöhnlichkeit Trumpf bleibt. Einem Menschen der Gewöhnlichkeit kann man eine Krone ins Haar drücken. Seht ihm in die Augen und ihr seht doch den gewöhnlichen Menschen. Einen Menschen der Vornehmheit kann man durch den Kot ziehen. Seht ihm in die Augen: er blieb ein Vornehmer.«

Er überlegte weiter.

»Der Gert ist zwar erst Oberprimaner. Aber der junge Lenbach war schon ein Kriegsleutnant und steht mitten im Studentenleben. Ich könnte ihnen ein Wort zuwerfen, daß sie einen ritterlichen Bund der Jugend ins Leben riefen. Einen Frauenlob-Bund, der wieder die reine Freude an die Stelle der Lüsternheit setzt. Wer sein Körperliches allen Blicken aussetzt, statt es einst nur dem einen zu schenken, soll als Dirnchen gelten und ausgeschlossen bleiben aus dem Erneuerungsring deutscher Edelmenschen.«

Ein Herr grüßte ihn, der neben einer Dame schritt. Ein schlichter Mensch mit tiefen Grübleraugen, der ein wenig linkisch den Hut zog und nicht wußte, wie er vorüberkommen sollte.

Friedrich Thorsberg blieb stehen.

»Herr Studiosus Wilde? Ah, Herr Doktor Wilde heißt es ja jetzt. Meinen Glückwunsch. Staatsprüfung und Doktorprüfung mit Note eins bestanden. Wollen Sie mich vorstellen?«

»Meine Schwester Martha, Herr Professor.«

»Da haben Sie den Gelehrten, mein Fräulein. Mich soll er vorstellen. Professor Thorsberg, mein Fräulein. Ich hatte mit anderen Universitätslehrern das Vergnügen, Ihren Herrn Bruder prüfen zu dürfen. Darf ich auch Ihnen meine Glückwünsche zu dem feierlich festgestellten großen Wissen Ihres Herrn Bruders aussprechen?«

Martha Wilde reichte ihm die Hand. Eine ausgeprägte, feste Mädchenhand. Das Fräulein war von großem, gesundem Wuchs und frischen Gesichtsfarben. Das schwere, rote Haar hing in einem leuchtenden Knoten im Nacken. Sie trug eine Strickjacke mit andersfarbigem Kragen und eine Strickmütze mit andersfarbigem Rand. Mehr als das Halsgrübchen war nicht von ihr zu sehen, und doch atmete alles an ihr schwellende Frische.

»Schönen Dank, Herr Professor,« sagte sie mit einer Stimme, in der hell die Freude schwang. »Wir hatten gerade in der Universität Ihre Wohnung erfragt. Wir haben Glück.«

»Wollte mir der Herr Doktor als neuer Amtsgenosse seinen Besuch abstatten?«

»Nun spotten Sie, Herr Professor. Aber danach will ich gar nicht fragen, wenn Sie uns nur anhören.«

»Uns?« fragte Friedrich Thorsberg Zurück. »Kommen denn auch Sie mit einem Wunsch zu mir?«

»Wir sind Bruder und Schwester,« sagte Martha Wilde, »Zwillinge noch dazu, Herr Professor. Da quält's den einen, wenn der andere leidet, und der frohere möchte dem anderen von seinem Überfluß abgeben.«

Friedrich Thorsberg ließ seine Blicke auf den hellen Augen des Mädchens und den Grübleraugen des Mannes ruhen. Eine starke Anteilnahme sprang in ihm auf. Hier suchten ein paar Ringende Rat in ebenso viel Offenheit wie Zutraulichkeit. Der Glaube an ihn führte sie zu ihm, nicht der gleiche Weg. Das spürte er auf den ersten Blick.

»Ich wohne gleich hier in der Nähe,« sagte er nachdenkend, »gleich hier am Englischen Garten. Aber dieser Frühlingsnachmittag ist so wunderschön und erholungbringend, daß ich Sie nicht in mein Zimmer einsperren möchte. Würde Ihnen ein Spaziergang im Englischen Garten angenehm sein? Viele Störer werden wir nicht treffen. Die Menschen haben heute kein allzugroßes Naturbedürfnis mehr.«

Das Mädchen sah auf den Bruder. Arnold Wilde nickte lebhaft.

»Daß Sie das große Naturbedürfnis empfinden, hätte ich gar nicht zu glauben gewagt, Herr Professor.«

Sie bogen aus der Straße ab und schritten dem stilleren Stadtteil am Englischen Garten zu.

»Dem Menschenkenner müßten diese Worte schon sagen, welcher Zwiespalt Sie zu ihm führt, Herr Wilde. Sie dürfen sich also die Einführung ersparen.«

»Herr Professor,« begann Arnold Wilde hastig, »unsere Eltern sind in der Nachkriegszeit zugrunde gegangen. Sie haben sich in unserer Heimatstadt totgehungert, um mir die Freude und die Kraft am Studium zu lassen und meiner Schwester Martha meine Pflege. Ich war nämlich ein wenig zusammengeschossen worden im Krieg. Und verbittert war ich obendrein über all das ergebnislose Blutvergießen und das Hingeopfertwerden der Besten zugunsten der überlebenden Drohnen, und ich wurde es noch mehr, als ich hinter die Todesursache der Eltern kam. Gebt uns die Waffen des Geistes, damit wir uns, damit Volk gegen Volk sich mit ihnen bekämpfen und danach Rang und Geltung feststellen kann. Aber gebt uns nicht die Waffen des Wahns, die das Blut und das Leben entströmen lassen und uns das bißchen Sonne verdunkeln, auf das der ärmste und elendste Mensch ein Anrecht hat.«

Eine Weile ging Friedrich Thorsberg schweigend. Dann fragte er, ohne den Kopf nach dem Begleiter zu wenden:

»Und weshalb kommen Sie mit diesem Bekenntnis zu mir?«

Arnold Wilde würgte an einer Antwort. Seine Schwester sah es und nahm sie ihm ab.

»Wir haben Ihre Vorlesungen besucht, Herr Professor. Ja, ich auch. Arnold sprach mir daheim davon, und ich ging mit, um später mit Arnold alles untersuchen und erörtern zu können. Seien Sie nicht böse, daß ich Sie um das Vorlesungsgeld betrogen habe. Es waren mehr Freischärler wie ich zugegen, als eingeschriebene Truppen.«

»Es macht mich stolz, daß meine Vorlesungen über Seuchen und Seuchenbekämpfung auch auf Damen einen so starken Anreiz ausüben.«

Sie errötete und zog die Stirn zusammen, um die rechte Antwort zu suchen.

»Sie wissen wohl, Herr Professor, daß ich Ihre Gleichnisse vom Feind und vom Vaterland meine.«

»Wenn Sie es ein Gleichnis nennen, mein Fräulein, so muß es wohl das gleiche wie Seuche und Seuchenbekämpfung sein.«

Sie stand mit einem Ruck still. Tiefatmend. Die Augen groß auf den Sprechenden gerichtet.

»Dagegen komme ich nicht an. Sie sind soviel stärker als ich. Auch im Spott.«

»Ich spotte durchaus nicht,« sagte Friedrich Thorsberg ruhig. »Wie dürfte ich spotten, wenn ein Mensch nach Wahrheit sucht und die Wahrheit in der Liebe liegt. Es gibt nur ein einziges, das stärker ist als wir. Das ist die Liebe. Und nur gegen die Liebe komme ich nicht an. Sagen Sie mir, was mehr Liebe fordert als das Land, das mich gebar? Als dies Land im Unglück? Sagen Sie es.«

Sie hatten den Englischen Garten betreten und wanderten die weiten Parkwege, auf denen in warmem Gold die Frühlingssonne spielte. Hin und wieder sahen sie in der grünen Weite ein paar lustwandelnde Menschlein wie schwarze Striche. Kaum, daß ihr Weg gekreuzt wurde.

Friedrich Thorsberg heftete seine Augen auf seine Begleiterin. Klar und blank traf sie sein Blick, vor dem es kein Ausweichen gab.

»Sagen Sie es,« befahl er.

Ihr Atem hob ihre feste Brust. Ein paarmal zuckte sie mit den Wimpern, als ob die Sonne in ihren Augen flirrte.

»Frauen«, brachte sie stockend hervor, »haben wohl mehr Empfindungen als Urteile. Oh, verstehen Sie mich recht, Herr Professor, ich will nicht ausbiegen. Ich bin ganz wahrhaftig kein Feigling und habe doch mutig meinen Bruder zu Ihnen hingeleitet.«

»Also sprechen Sie es aus, was Sie bedrückt.«

»Bedrückt – ja, das ist das rechte Wort.« Sie atmete auf, und dann sagte sie rasch: »Es bedrückt mich, daß ich zum ersten Male mit meinem Bruder nicht einer Meinung bin. Daß ich mit meinen Gefühlen und Empfindungen dort stehe, wo Sie in Ihren Gleichnissen stehen. Vielleicht – weil eine Frau im Mann – die Mannheit sucht.«

Klar und blank lag Friedrich Thorsbergs Blick in ihrem.

»Nein, weil in einer reinen Frau noch die stärkeren Naturtriebe liegen.«

»Und was wollen diese Naturtriebe?« rief Arnold Wilde. »Was wollen sie?«

»Naturtriebe wollen sich zur Geltung bringen. Je stärker und gesunder sie sind, desto mehr wollen sie Sieger sein über die schwächeren und kranken. Und würden sie von der Masse der schwächeren und kranken überrumpelt und zu Boden getreten werden, so würden sie am Ekel eingehen und nicht an der Verwundung. Fragen Sie Ihre Schwester und glauben Sie ihr. Frauen stehen der Natur am nächsten.«

»Herr Professor,« stieß der blasse Mensch hervor, und in seinen Grübleraugen wetterleuchtete es, »Ihre Güte hat mir selber diese Zwiesprache angeboten. Es ist deshalb nicht Mangel an Hochachtung oder gar Mangel an Bescheidenheit, wenn ich widerspreche. Ich hätte ja sonst aus Ihren Vorlesungen fortbleiben können, die mich oft bis aufs Blut quälten. Gut. Ihr Satz über die Natur soll fest und unumstößlich sein. Aber sind wir denn nicht aus der Natur zur Kultur vorgedrungen? Haben wir denn nicht im Laufe der Jahrtausende das Rohe mit dem Gesitteten vertauscht? Müssen wir uns in den Schlußfolgerungen immer wieder selber beschämen?«

»Mein stolzer Junge,« sagte Friedrich Thorsberg und lächelte den Erregten an. »Nein, nein, Sie grüblerischer Mensch, es ist auch jetzt kein Spott. Es ist die Freude am Menschengeist, der gegen die Ketten knirscht. Ein junger Wissenschaftler sind Sie geworden, der sich seine Grade mit der Note eins erworben hat. Und daß Sie ein Mann sind, davon zeugt der Mut, der Sie lieber auf das glühende Rost der Aussprache treibt als auf die glatten Wege der Selbstgefälligkeit. Und deshalb will ich Ihnen auch zweifach antworten: als der ältere Forscher und als der reifere Mann.«

Arnold Wilde bändigte seinen Atem. Auf seinem blassen Gesicht erschienen rote Flecke.

»Sie sprechen zu keinem Undankbaren.«

»Das würde für mich nicht ausschlaggebend sein, Herr Doktor Wilde. Ausschlaggebend für mich ist: ich spreche zu keinem Durchschnittskopf. Der Forscher also wendet sich an den Jünger, an den Nachstrebenden. Und er fragt ihn: Was bedeuten Jahrtausende vor dem Gang der Erkenntnis? Was haben wir in den Jahrtausenden von den Geheimnissen des Werdens, des Seins und des Vergehens ergründet? Was von den Rätseln, die unser Dasein und das Dasein aller Dinge bewegen, schrecken oder verschönern? Der Forscher fragt den Forscher auf sein Gewissen: wie weit hat es die Menschheit in Jahrtausenden gebracht, daß sie die vorangegangenen Jahrbillionen über ihrem bißchen Tasten vergessen dürfte und die eignen Ergebnisse anders messen dürfte als mit der Handspanne? So groß, so unermeßlich und so ungeheuerlich ist das Schöpferwerk der Natur, daß das, was wir die Errungenschaften der Kultur zu nennen belieben, nur an ihr hängt wie ein Fädchen Flittergold.«

Zwischen den beiden Geschwistern schritt er über die frühlingswarmen Wege, und seine Augen blickten fröhlich.

»Sie schweigen, mein lieber, junger Amtsbruder. Also wollen wir den Forscher zurückstellen und den Mann zum Manne sprechen lassen. Als deutschen Mann. Denn ich bin weder ein Eskimo noch ein Feuerländer.«

»Herr Professor Thorsberg – Sie sind ein furchtbarer Waffenmeister.«

»Ist es furchtbar, seine Waffe zu meistern? Ist es nicht vielmehr lebensnotwendig und darum fruchtbringend? Sie haben vorhin aus dem tiefen Schmerz des Vielfachverwundeten, des um sein Sonnenlicht Vielfachbetrogenen aufgeschrien. Wer sind Sie, daß Sie ein Recht dazu haben? Wäre ich der Geist des Vaterlandes, so würde ich zu Ihnen sprechen: Du bist nur eine winzige Krume unserer heiligen Muttererde, und du Krümlein und Stäublein willst abwehrend schreien, während sich der heilige Leib der Mutter in Schmerzen, Scham und Schande windet und den Riesenjammer nur erträgt, weil sie auf ihre eingeborenen Söhne als Befreier harrt? Du willst vor sie hintreten und der Beraubten und Entehrten raten: Vertrage dich mit deinen Peinigern und werde ihre Magd? Du willst die Mißhandelte glauben machen, die sattgefressenen Räuber hätten nunmehr das Rohe mit dem Gesitteten vertauscht, und es wäre an uns, daß wir stille hielten und das Goldene Zeitalter hereinbrechen ließen? Jawohl, Herr Arnold Wilde, das Goldene Zeitalter ohne Deutschland! Sie fahren auf? Sie schütteln den Kopf? So haben Sie sich das Goldene Zeitalter nicht erträumt? Mit Deutschland also. Wohlan, so treten Sie vor die Feinde und Würger Deutschlands und bieten Sie ihnen den Frieden aller Friedenssehnsüchtigen. Sagen Sie Ihnen: Gebt der Mutter die Ehre wieder und die Kleider, um ihre Blöße zu decken, und wir wollen nicht mehr haß-, neid- und angsterfüllte Völker, wir wollen Menschheitsbrüder sein. Aber nehmen Sie Ihr Schwert mit, damit Sie den Gröhlenden die Gurgel durchstoßen können, wenn sie Ihre Mutter eine alte feile Hure nennen, mit der sich handeln läßt.«

»Herr Professor!«

»Herr Wilde?«

Eine Hand klammerte sich um seinen Arm. Aus einem todblassen Mädchengesicht starrten ihn die blauen Augen an. Rote Haarflechten gewahrte er unter ihrer Mütze.

»Mein liebes Germanenmädchen,« sagte er mit einem harten Lächeln, »ich hoffe, Ihre Ohren vertragen meine Worte.«

»Ich bin kein Kind. Ich könnte seit zehn Jahren verheiratet sein. Ich bin bei Arnold geblieben.«

»Das ist das wahre Frauen- und Muttertum. Es dem zu schenken, der es am bedürftigsten braucht.«

»Herr Professor Thorsberg,« sagte Arnold Wilde mit leiser Stimme, »ich kann mich noch nicht besiegt geben. Von Ihren Schwerthieben blute ich aus hundert Wunden. Diese Wunden müssen erst heilen. Jetzt ist mein Gehirn durch das Wundfieber beeinträchtigt. Gewiß, ich bin nur ein armseliges Krümlein der deutschen Muttererde. Aber ich sehe, wohin ich blicke, Krümlein und Krumen aller Größen sich lösen, die dichter am Herzen der Mutter lagen als ich. Aus Angst oder Eigennutz. Und ich sehe unter tausend Volksgenossen nur einen wie Sie.«

Friedrich Thorsberg legte ihm im Weitergehen den Arm um die Schulter.

»Das wäre schon, wenn Sie zu rechnen vermögen und sich hinzustellen, eine stattliche Zahl. Nun aber wollen wir für heute enden und auf das Wundfieber Rücksicht nehmen. Herrgott, dieser Frühling!«

»Möge er uns und die Völker zur Menschenliebe führen.«

»Mit unserer Hilfe, Herr Wilde. Mit unserer Hilfe wird es gelingen.«

Martha Wilde hatte auf den einsamen Parkwegen die Mütze vom Kopf gezogen. Es war ihr glühheiß geworden bei der Unterredung der Männer. Sie fürchtete die Niederlage für den Bruder und freute sich dennoch wie eine Erlöste, daß Professor Thorsberg das Steuer in der Hand behielt. In ihren roten Haarflechten sprühte die Sonne in Funken und Flammen.

»Wollen Sie Ihr Krankenhausjahr in München abdienen?« fragte Friedrich Thorsberg den jüngeren Gefährten.

»Es wäre sicher mein Wunsch. Aber es wird nicht leicht sein, anzukommen.«

»Sie haben viel Schweres durchgemacht. Daher darf ich Ihnen helfen. Wenden Sie sich an mich, wenn Sie nicht durchdringen. Übrigens soll es mich freuen, wenn Sie mir mit Ihrer Schwester Ihren Besuch doch noch einmal schenken.«

Er blieb stehen und reichte den Geschwistern seine Hände.

»Ich will noch nach Starnberg hinaus. Meine alten Eltern leben noch dort. Die Thorsberg sind ein zähes Geschlecht,« meinte er schmunzelnd, als er Martha Wildes Augen überrascht auf seinem ergrauten Haar ruhen sah, »und mein Vater führt noch das Regiment ohne Widerspruch. Bleiben Sie weiter ein so offener und gesunder Mensch, Fräulein Wilde, und die beste Hilfe Ihres Bruders.«

Er schritt dahin. Ruhig, sicher, einsam. Die Geschwister schauten ihm nach.

»Es ist eine gleich große Ehre, ihn zum Gegner zu haben wie zum Gönner,« murmelte der Grübler, »denn er ist wahr. Aber Gott gnade, wen er als Feind des Vaterlands bekämpft.«

Die Schwester spann einem frauenhafteren Gedanken nach.

»Er ist ein Mann von stählerner Gesundheit. Dazu, wie du selber anerkennst, ein überragender Geist. Ich kam mir wie ein ganz unbedeutendes Frauenzimmer neben ihm vor, Arnold. Weltsicher ist er auch. Ich glaube, er ist der Erste in jeder Gesellschaft. Und doch: sieh ihn dahinschreiten. So geht ein Einsamer.«

»Er geht in Gesellschaft seiner Gedanken,« sagte der scharfsichtige Grübler. »Er geht wie ein ganz Reicher.«

»Er soll seine Frau über alles geliebt haben. Vielleicht geht er immer noch an ihrer Seite – –.«

Friedrich Thorsberg fuhr nach Starnberg hinaus. Der Gedanke war ihm plötzlich gekommen. In regelmäßigen Abschnitten hatte er die Eltern besucht, während die Kinder öfter hinausfuhren und mit dem jungen Lenbach Abende lang auf dem Wasser lagen. Aber diesmal hatte er weniger an den eigenbrödlerischen Vater und die nachgiebige Mutter gedacht. Während der Unterhaltung mit Bruder und Schwester Wilde war ihm plötzlich das Bild des Obersten Lenbach aufgetaucht, hatte er der kurzen Aussprache mit dem hartgehämmerten Manne gedacht, war der jähe Trieb zu einer längeren und grundlegenden Aussprache mit dem Gleichgesinnten in ihm erwacht.

Er schritt die Straße am See entlang, ließ den eigentlichen Ort hinter sich und hörte seinen Namen rufen.

Im Gärtchen eines kleinen Landhauses gewahrte er ein älteres Paar bei der Frühjahrsarbeit. Ein weißhaariger Herr von sorgfältiger Haltung ließ den Spaten ruhen und stieß in freudiger Überraschung des Professors Namen aus.

»Ah – Herr Waldemar Heß.«

»Hoftheaterleiter a. D. Waldemar Heß. Ich bin glücklich, beim ersten Anblick wiedererkannt zu werden. Sie sehen mich als treuen Helfer meiner Freundin und Kunstgefährtin Fräulein Franziska Großmann. Künstler in der Sommerfrische. Oder wohl besser: Künstler im stillen Feierabend eines reichen Lebens.«

Friedrich Thorsberg hatte herzlich die hingestreckte Hand ergriffen. Welch ein Lebenskünstler war dieser alte Held der Bretter. Als treuer Helfer der Freundin und Kunstgefährtin stellte er sich vor. Und doch war er selber in Frankfurt Zeuge gewesen, wie das lebensmutige Weiblein sich den einstigen Lehrer und Liebhaber aus dem Alterselend herausgegriffen hatte.

Die klugen Augen der ehemaligen Schauspielerin lasen ihm die Gedanken von der Stirn. Sie reichte Friedrich Thorsberg vergnügt die Hand über den Gartenzaun.

»Grüß Gott, Herr Professor. Gut geht's uns, seit der Herr Hoftheaterleiter das große Opfer gebracht hat und zu meiner Stütze mit hinausgezogen ist. Ein Mann ohne Frau ist nur ein halber Mensch, aber eine Frau ohne Mann ist gar kein Mensch, und wenn's nur in der Einbildung ist. Das Theater ist ja auch Einbildung, und doch das Spiegelbild des Lebens. Und wissen Sie noch, wie der Herr Hoftheaterleiter durch Ihren Freund den großen Dollarschatz seines Sohnes zugestellt erhielt? Der ist rein unerschöpflich.«

Der alte Herr wehrte bescheiden seine großen Verdienste ab. »Nun, nun, Franziska, deine Unterrichtsstunden tragen ja auch ihr Geld.« Und Friedrich Thorsberg zog verehrungsvoll die Fingerspitzen der gealterten Schauspielerin, deren letzte Rolle die eines klugen und tapferen Menschenkindes war, an seine Lippen.

»Ich darf wohl wieder einmal vorsprechen. Ich bin auf dem Wege zu meinen Eltern.«

»Doch nicht zu den alten Exzellenzen Thorsberg?« fragte der Hoftheaterleiter aufhorchend. »In der Tat? Ah, dann ist mir die Bekanntschaft mit dem Herrn Professor eine besondere Ehre. Die alten Exzellenzen – ja, bei Gott – das ist noch die alte große Schule, das ist noch die alte große Überlieferung. Auch die großen Künstler waren heimliche Exzellenzen, innerlich Geadelte. Und jede wahrhaft große Kunst kann nur eine adlige, kann nur für Adelsmenschen sein.«

»Habe ich nicht recht?« sagte Fräulein Franziska Großmann, »daß es mir gut geht mit Herrn Waldemar Heß? Ein Zauberer ist er und verwandelt unser Brunnenwasser in Champagner.«

Und Friedrich Thorsberg schwenkte seinen Hut, und das alte Künstler- und Liebespaar griff nach dem Spaten im Feierabend seines Lebens.

Die Mutter empfing den Sohn allein.

»Da bist du ja, Friedrich. Aber weshalb hast du dich nicht angemeldet? Der Vater hat soeben seinen Spaziergang angetreten und kommt vor der Abendmahlzeit nicht heim. Er wird ärgerlich sein, daß er für einen Gast nichts vorherbestimmt hat.«

»Ach, Mutter,« sagte der Sohn, »ich bin doch kein Gast. Und wär' ich's, so bist du doch die Frau des Hauses und kannst auch ohne den Hausherrn über die Abendmahlzeit bestimmen.«

Eine Verlegenheit huschte über das Gesicht der alten Dame, und der Sohn sah es und kam der Mutter zur Hilfe.

»Mein Besuch sollte diesmal auch nicht euch gelten, Mutter, sondern dem Oberst Lenbach in eurem Hause.«

Die alte Dame kämpfte eine Weile mit sich selbst. Dann nahm sie die Hand des Sohnes und streichelte sie.

»Lieber Friedrich, hör mich einmal freundlich an. Du bist früh ausgeflogen aus dem Nest und hast selten nur heimgefunden, weil du selber ein Nest besaßest. Auch dein Bruder Karl ist von früh an seine eigenen Wege gegangen, und wenn wir ihn auch näher bei uns hatten, so war er uns doch oft ferner als du in Afrika. Und nun hältst du mich, deine Mutter, wohl für ein verängstigtes und unterdrücktes Frauenzimmerlein, weil es mit beiden Augen nur nach den Augen des Gatten schaut, und wohl auch für ein Spatzenhirnlein, das zu jedem Wort des Gatten Ja und Amen sagt. Ach, mein lieber Junge, wie irrst du dich! Ich sehe die Eigentümlichkeiten des Vaters so genau wie du, aber ich bin mehr als fünfzig Jahre in seiner ritterlichen Hut gewesen und sein liebster Schatz obendrein, und das vergilt ihm meine Liebe, daß sie über die schärfer gewordenen Ecken und Kanten hinwegsieht und dem immer getreuen Lebenskameraden den späten Abend so gestaltet, wie er es um mich verdient hat. Und wenn ich zu seiner Freude das Käthchen von Heilbronn schauspielern sollte.«

Was war das? Friedrich Thorsberg horchte hinter den Worten her, als habe er sie soeben schon einmal vernommen. Und ein wenig von der Schauspielkunst der Frauen war auch vorhin darin gewesen. Wo doch nur? Wann doch nur? Richtig. Über den Gartenzaun hinweg. Aus dem Munde der gealterten Schauspielerin, die niemals im Sinne der Mutter eine Frau gewesen war und doch so frauenhaft froh für die Selbstzufriedenheit ihres besten Kameraden sorgte wie die untadelhafte Gattin Seiner Exzellenz für die Selbstzufriedenheit ihres geliebten Gebieters.

Und wie bei der altgewordenen Künstlerin Fräulein Franziska Großmann zog Friedrich Thorsberg die Fingerspitzen der weißgewordenen Mutter an seine Lippen, so innig, als küßte er die schönsten und jüngsten Frauenhände.

»Grüß den Vater. Ich sprech' zum Abschied noch eine Minute bei ihm vor.«

Droben in der eingeräumten Wohnung fand er den Oberst Lenbach über einer kriegswissenschaftlichen Arbeit. Schreibtisch und Stühle waren mit Zeichnungsblättern und Bogen voller Zahlen und Ausrechnungen bedeckt.

Der stattliche Mann hatte sich erhoben und vor seine Arbeiten gestellt. Als er in dem Besucher Friedrich Thorsberg gewahrte, gab er augenblicklich die Einsicht frei und ging dem Gast mit ausgestreckter Hand entgegen.

»Den ganzen Nachmittag dachte ich an Sie, Herr Professor.«

»Und ich an Sie, Herr Oberst. Beweis: daß ich hier bin.«

»Es kann ja auch nicht anders sein,« sagte der Oberst ernst. »Da ich dasselbe denke, was Sie Tag und Nacht denken, so wäre es verwunderlich, wenn sich unsere Gedanken nicht auf Schritt und Tritt begegneten.«

»Gott gebe, daß unsere Gedanken dieselben sind. Wir haben sie noch nicht bis auf den letzten Rest durchgesprochen.«

Der starke Bauernschädel des Obersten streckte sich hoch. Sein Auge faßte das Auge des Besuchers.

»Ich habe einmal in einem Kriegsgedicht eine Strophe gelesen, die mir in ihrer Kürze erschöpfend schien. Sie lautete: 'Zwei Worte – Feind und Vaterland – und alles ist gesprochen.'«

»Ich danke Ihnen,« sagte Friedlich Thorsberg. »Wir bauen auf derselben Grundmauer.«

»Nehmen Sie Platz, verehrter Freund. Hier stehen die Zigarren. Ich darf Ihnen Feuer geben. So. Und nun wollen wir unsere Gedanken vergleichen, wie die Zahlenreihen da in meinen kriegswissenschaftlichen Ausrechnungen. Eine jede muß stimmen. Eine jede muß mit tödlicher Sicherheit in die andern eingreifen. Mit tödlicher, sage ich. Denn ihre Summe, in die Tat übersetzt, soll eine Todeswaffe werden.«

Friedrich Thorsberg sah nicht auf die Figuren und Zahlenreihen. Er sah auf den Mann.

»Wir bauen auf derselben Grundmauer,« wiederholte er.

»Ich wollte,« fuhr der Oberst fort, »wir hätten schon unser ganzes Volk als Maurer und Zimmerleute am Bau. Und statt einer Millionenzahl, die sich drängte, sind es vorerst ein paar Tausend, auf die Verlaß ist. Ich hasse den Feind. Ich hasse ihn, wie ich die Hölle hasse. Aber knirschend sag' ich: Hut ab vor den Franzosen, die noch ein jedesmal nach der Vernichtung ihres stehenden Heeres das Volk zu den Waffen riefen. Und das französische Volk stand auf von den Pyrenäen bis zum Wasgenwald, von der Normandie bis zum Gestade des Mittelmeers, und warf sich, Heere gebärend, auf den Feind. Jetzt erst begann der Krieg, jetzt erst war er Ehrensache eines jeden Einzelnen und nicht irgendeiner Regierungsform. Heere gebärend, sagte ich. Und in Deutschland? Die Hebammen allein könnten verhungern. Waffen hin! Auf die Bäuche!«

»Ich habe es schon seit Jahr und Tag meine Kinder gelehrt, Oberst, daß, wenn das Volk versagt, der Einzelmensch in die Bresche muß. So weit sind wir heute. Mit oder ohne die Regierung.«

»Regierung,« wiederholte der Oberst in ingrimmiger Verachtung. »Eine Regierung kann immer nur eine Persönlichkeit sein, die in voller Gestalt zum Volke spricht. Bismarck, das war eine solche Regierung. Sonst aber ist es eine Maskerade, die das Volk glauben machen will, es sei eine wirkliche Macht, die zu ihm spräche, und hinter den Larven verbärgen sich lauter Riesen-Goliaths. Es ist nebenbei dasselbe Verfahren, mit dem manche Zeitungen ihre geheimnisvolle Macht auf die Bürgergemüter ausüben, indem sie im pluralis majestatis ›wir‹ schreiben und ohne Namensunterschrift. Wären die Schreiber gezwungen, ihre Ansicht jedesmal mit ihrem vollen Namen Schmitz oder Müller zu zeichnen, so würde der Leser die Angst vor dem großen Unbekannten verlieren, selbstsicherer hinschauen und entweder: ´Richtig, Herr Schmitz` sagen oder nur: ´Dieser blöde Kerl, der Müller!«

»Die Regierung ist das Ziehkind des Reichstags, Oberst. Das ist eine einfache Rechnung.«

»Und der Reichstag ist im Bett der deutschen Novemberrevolution geboren. Seitdem aber sind schon ein paar Jahre vergangen. Seitdem haben wir uns doch an den Anblick der Zerrgeburt gewöhnt und das Lachen wiedergefunden! Sonst pflegt Lächerlichkeit zu töten. Dort aber dringt sie nicht einmal durch die Haut.«

»Wir müssen sorgen«, sagte Friedrich Thorsberg, »daß das Volk nur noch zwei Parteien zu sehen wünscht. Die Partei der Deutschen und der Nichtdeutschen. Als Nichtdeutscher hat zu gelten, wer die Schande des Vaterlandes auch nur einen Tag länger zu ertragen geneigt ist, als es unbedingt notwendig erscheint. Gewiß heißt es abwarten und die rechte Stunde finden. Aber doch nicht abwarten mit gefalteten Händen bis zur Selbstzermürbung, bis wir so viel Ohrfeigen erhalten und eingesteckt haben, daß uns für jede weitere der Ehrbegriff abhanden gekommen ist. Wir müssen aus den Halbheiten heraus und Mann für Mann das Gefühl eingehämmert erhalten, daß wir heute ärger noch als im Kriege im Kriegszustand leben, daß es eine Meuterei und Fahnenflucht vor dem Feind bedeutet, wenn eine Partei sich von anderen Erwägungen bestimmen läßt als denen der Abwehr der vaterländischen Schmach, der Abwehr um jeden Preis.«

Der Oberst hatte den mächtigen Schädel in die Hand gestützt. In seinen Augen brannte ein scharfes Licht.

»Wir zerbrechen uns den Kopf des Volkes. Das Volk wählt sich Volksboten aus, ohne sie zu kennen. Ich wette, die Mehrheit der Wähler weiß nicht einmal Name und Stand der Abgeordneten, die ihm seine politischen Einpeitscher zur Wahl aufgeben, und denkt nicht eine Minute über Eignung und Berechtigung seiner Boten zum Reichstag und den Landtagen nach. Was haben – und ich frage mich es nicht erst seit heute in schwerstem Ernste, was haben die Geistlichen, und zwar aller Glaubensbekenntnisse, im Reichstag und in den Landtagen zu suchen? Heißt das nicht, ihre Berufung auf den Kopf stellen? Ich weiß, viele echt christliche Geistliche denken wie ich und möchten ein Verbot der politischen Betätigung. Sie möchten wie ich, daß der Geistliche ausersehen bleibt, die Wogen zu glätten, statt Öl ins Feuer zu gießen. Daß er sein Seelenamt ausübt, wie der Herr und Heiland es ihm vorgeschrieben hat, in christlicher Liebe ohne Ansehen der Person.« Er lachte kurz auf. »Wenn in früheren rauheren Jahren ein Geistlicher unter den Schiffsgästen war, so sagte der Aberglaube der Matrosen dem Schiffe Unheil voraus. Und auch heute noch gehören keine Pfaffenhände oder ihre böseste Abart, die pfäffischen Hände, an die Planken des Staatsschiffes oder gar an sein Steuerruder. Ein Staat regiert sich anders als eine Kirche.«

»Es muß ein neues Volk heranwachsen, ein Volk mit hellen, harten Augen,« sagte Friedrich Thorsberg.

»Und neue Waffen müssen geschmiedet werden, Waffen mit hellen, harten Wirkungen.«

Friedrich Thorsberg saß mit dem Kopf auf der Brust. Eine Weile war es still zwischen ihnen.

»Kennen Sie«, fragte Friedrich Thorsberg aus der Dämmerung heraus, »die Sage von Wieland dem Schmied?«

»Ich glaube sie zu kennen,« entgegnete der andere. »Aber vielleicht gibt es eine Auslegung für die reifere Jugend und eine für das reifere Mannesalter.«

Friedrich Thorsberg nickte.

»Ich habe sie in schweren Tagen meinen Kindern oft erzählt und erzähle sie jetzt des öfteren meinen Studenten. Wie Wieland der Schmied dreimal sein Schwert zerbrach und zu Pulver zerrieb und dreimal aus den Resten ein neues schmiedete, bis das dreimal gekürzte endlich die fürchterliche Schärfe hatte, so müssen wir dreimal durch die Heimsuchungen hindurch, bis wir gesiebt sind. Dann aber wiegt das Häuflein der dreimal gesiebten Männer mehr in des Führers Hand als ein Millionenvolk von Glücksjägern und Schmarotzern.«

Der Oberst atmete schwer.

»Ich fühle, wir sind in dieser Stunde Brüder geworden, Thorsberg. Sieben Sie die Männer. Ich siebe den Staub des zerbrochenen Schwertes für die neue furchtbare Waffe.« Und er legte die Hand auf die Blätter mit den geometrischen Figuren und Berechnungen.

»Ich weiß,« erwiderte Friedrich Thorsberg, »daß die Anregungen zu den letzten furchtbaren Waffen des Weltkrieges Ihrem Hirn entsprungen sind und daß heute in der ungewollten Ruhe Ihr Hirn erst zu arbeiten begonnen hat. Aber Sie haben mich erst die Sage vom Wieland erzählen lassen, wie ich sie der Jugend erzähle.«

»Ich höre. Als das reifere Alter.«

»Dem reiferen Alter genügen wenige Worte. Als die Feinde Wieland die Sehnen an den Fesseln durchschnitten hatten, damit er als ungefährlicher Krüppel ihnen fronen sollte, da begann Wieland die Vorbereitung des Endkampfes, den er mangels seiner körperlichen Kräfte mit den geistigen Waffen zu führen gedachte. Er baute sich in der Stille der Nächte Vogelschwingen. Und er schändete die Königstochter, mordete den Königsknaben und hob sich auf seinem Flügelpaar als fürchterlichster Rächer hoch über die feindlichen Lande und ihre giergeblendeten Menschen.«

Er schwieg. Und der Oberst fragte dumpf:

»Weshalb erzählen Sie der Jugend nur den ersten Teil vom Schwert und nicht den zweiten Teil vom Geist?«

»Wissen Sie nicht selber die Lösung. Oberst?«

Der Oberst stand auf. Er legte Friedrich Thorsberg schwer die Hände auf die Schultern. Auge in Auge.

»Ich ahne sie. Aber ich will sie von Ihnen selber hören.«

»Ich erzähle der Jugend nur den ersten Teil, um sie würdig zu machen für den zweiten. Nur einem Volke, das in Not und Tod seine Würde zu wahren weiß, gebühren die Heilsmittel des Geistes. Wollen wir an die Stelle unserer Würger ein Volk von deutschen Schmarotzern setzen? Ein dreimal gesiebtes Volk von Männern und Frauen soll auf deutschem Boden sitzen, das durch seine Taten jedes Sieges wert geworden ist.«

»Zeigen Sie mir den Sieg. Und wenn Sie ihn mir nur aus der Ferne zeigen können.«

»Wielands Federkleid, Oberst. Noch arbeiten wir in der Stille der Nächte daran. Ihren Eid, Oberst. Die Hand genügt. Ich arbeite an der Seuchenbekämpfung. Sie – ich nehme es an – an einem neuen ins Grenzenlose gesteigerten Geschütz. Es wäre möglich, daß uns die Weiterarbeit neue, ungeahnte, oder doch bisher ungedachte Möglichkeiten erschlösse. Daß wir unsere Arbeit statt auf den eigenen Angriff auf die Unmöglichmachung eines jeden feindlichen Angriffs richteten. Dann würde selbst die Roheit der Sage von der Schändung der Königstochter und der Ermordung des Königsknaben zu einem leuchtenden Gleichnis.«

Der Oberst schritt auf und ab. Er nahm seine Zeichnungen und Zahlenreihen auf und legte sie wieder nieder. Dann blieb er vor Friedrich Thorsberg stehen und zog ihn in mächtiger Bewegung an seine Brust.

»Seien Sie der Kopf, ich will der Arm sein, Thorsberg.«

Wie Männer tun, die sich von einer starken Gemütswallung fortreißen ließen, saßen sie eine Weile schweigend und bewegungslos. Ein jeder suchte nach dem Übergang.

»Ich sah heute unsere Kinder, Oberst. In München auf der Straße. Man sieht sie nur noch zu dritt.«

»Unsere Kinder,« wiederholte Lenbach. »Wie schön das klingt, wo die Väter Freunde wurden.«

»Die Kinder sind uns zuvorgekommen. Kinder! Bald werden es Menschen sein mit eigenen Lebenswegen.«

»Ich habe den Walter bis zum Kriege ganz allein erzogen. Im letzten Kriegsjahr rückte er nach als Siebzehnjähriger ins Feld, wurde Leutnant, holte sich während des Zusammenbruchs das Eiserne Kreuz erster Klasse. Nun studiert er schon zwei Jahre Physik und Chemie und mein eigenes Hauptfach Physik mit besonderer Leidenschaft.«

»Er gleicht Ihnen in jedem Zuge.«

Der Oberst lachte hohnvoll auf: »Das wolle Gott.«

Und Friedrich Thorsberg fuhr ruhig fort: »Auch meine Kinder gleichen mir in Wuchs und Wort. Aber ich liebe sie am meisten, weil ich in ihrer Wesensart, wohin ich greife, die Mutter finde.«

»Gibt es glückliche Ehen, Thorsberg?«

»Wer kann das für die Allgemeinheit bejahen, Oberst. Die meine war so glücklich, daß die Götter neidisch wurden und meinen Marschkameraden zurückriefen. Ich denke auch da oft an die Wielandsage. Da belauschte der junge Wieland die badende Schwanenjungfrau in ihrer unangetasteten Reinheit und sprang zu und raubte ihr von der Böschung das Walkürenfederkleid. Nun mußte sie die Seine werden und trug auf viele, viele Jahre ihre göttlich klare Art in sein irdisch wildes Leben. Bis der Götter Neid ihr das Himmelsgewand wieder zustellte. Das rief sie heim nach Walhall.«

»Und sie wußte auf Erden nichts als die Liebe zu dem Einen?«

Friedrich Thorsberg sprach in die Dämmerung hinein. Kaum erkannte er noch die Gestalt des Obersten im Schreibtischstuhl.

»Liebe? Meinen Sie damit den Überschwang bei Tag und Nacht, der am liebsten in Dichterzungen redet? Nein, diese Liebe blieb nicht. Sie wurde mehr. Sie wurde eine Gemeinsamkeit, wie die Gemeinsamkeit zweier Augen, die dasselbe sehen, weil keins das andere in der Hut zu halten braucht. Sie wurde das Vertrauen, das den Mann zum Allesvollbringer macht wie das Mißtrauen ihn zum Krüppel macht. Ein jeder Sinn stellt sich mit der starken und stolzen Selbstverständlichkeit des Einsseins auf den Sinn des andern ein. Und der Überlebende erst spürt es ganz: Über die Liebe hinaus haben wir uns geliebt.«

Auch der Oberst erkannte den Sprechenden nicht mehr in der Dämmerung des Gemaches.

»Sie war die Gesellschafterin meiner Mutter, Thorsberg. Jahre hindurch. Mich hielt die Arbeit Tag und Nacht im Bann, und ich kam früh in den Generalstab. Beim Tode meiner Mutter bot ich der Heimatlosen meine Hand, die Hand eines Ehrenmannes. Sie nahm sie ohne Besinnen. Und beging einen Vertrauensbruch. An meiner Mannesehre. Durch ihr Schweigen. Durch ihr Verschweigen. Schon war der Sohn, der Walter geboren, als sich mir Verschwiegenes enthüllte, denn in Liebesvergangenheiten gibt es keine ewige Verschwiegenheit. Diese und jene Hände hatten sie in der Vergangenheit schon angetastet, Thorsberg. Diesem und dann jenem hatte sie mehr geschenkt. Und wo ich, um mir Ihre Worte zu eigen zu machen, im Überschwang in Dichterzungen redete, da hatte schon ein anderer die Alltagssprache gesprochen. Ekel, Ekel über alles. Wie der alte König Philipp im Don Carlos sah ich mit dem Kind auf dem Schoß vor dem Spiegel und musterte und verglich Zug um Zug. In Tagen und Wochen, während die Scheidung spielte. So wenig traute ich der Unreinen die Reinheit des einen Ehejahres. Sie ist verdorben, gestorben. Und ich bin zum Weiberverächter geworden, dem sich die Grenzlinien verwischen, die Grenzlinien der Frau, in der der Same zur Dame und Dirne dicht nebeneinanderliegt, die der Dirne oft das stille Empfinden der Dame und der Dame die Gier der Dirne geben. ›Das ist die Sphinx Weib!‹ rufen die Schwachköpfe. Es ist eine Lüge. Nur verlogene Weiber sind eine Sphinx.«

Und wieder tropfte das Schweigen in die Dunkelheit, und die Männer, die sich mit ihrem Geheimsten einander ergeben hatten, saßen bewegungslos.

»Lenbach,« sagte Thorsberg, und schüttelte den Bann von sich, »ich habe ein ganz reines und stolzes Mädchen, in dem Körper und Seele nur in ein und demselben Klange sich findet. Meine Gertrude, Lenbach. Ich will sie, so oft Sie sie haben wollen, zu Ihnen schicken, damit Sie den Glauben wiederfinden.«

Die breite Gestalt des Obersten erhob sich aus der Tiefe des Schreibtischstuhls. Er streckte die Hand nach der Tapete und drehte das Licht an. Auch Friedrich Thorsberg hatte sich erhoben.

Die beiden Männer betrachteten sich in der Helle mit ruhig musternden Augen.

Der Oberst nickte dem Freunde zu.

»Es muß wohl so sein, Thorsberg, daß Männer, die ihrem Volke Führer werden wollen, kein anderes Heiligtum besitzen dürfen als ihr Vaterland. Damit sie alle ihre Liebe nur auf dieses eine richten können. Wir beide haben unsere Heiligtümer verloren, wenn auch Sie durch den Himmel und ich durch die Hölle. Und wir gehören dem Vaterland mit Leib und Seele. Ah – – ist das schön.«

»Gute Nacht, Lenbach. Wir beide sind eins.«

»Allzeit und allwege. Gute Nacht, Thorsberg.«

Friedrich Thorsberg schritt die Treppe hinab, horchte im Flur, ob er den Vater noch gewahre, und klopfte an.

»Komm nur herein, du ungeratener Sohn.«

»Guten Abend, Vater. Was ist dir denn an mir nicht geraten, Vater?«

»Spotten willst du gar auch noch? Soll ich dich vielleicht einmal unter die Lupe nehmen und deine Fehler herunterzählen wie an einem Anatomiegaul? Solange du dich in meiner Gesellschaft befunden hast, warst du wohlgeraten. Aber seit du dich in deiner eigenen Gesellschaft herumtreibst, lässest du mehr und mehr zu wünschen übrig.«

»Also werde ich mich noch heute abend in deiner Gesellschaft bessern.«

»Ich habe vor dem Zubettgehen nur noch eine Stunde zu vergeben,« grollte der Alte. »Aber wir wollen sehen, was sich tun läßt. Charlotte! Jawohl, dein Geliebter ruft. Bring dem heruntergekommenen Menschen sein Abendbrot.«

Friedrich Thorsberg lachte.

»Hältst du das für ein Besserungsmittel, Vater? Weiß Gott, der Oberst und ich, mir haben über unseren Besprechungen die Stunde des Abendessens vergessen.«

»Verschwörer haben niemals zu Abend gegessen. Sonst ließen sie die Unruhe den Dümmeren.«

»Verschwörer? Mir ist, als hätte sich die Allgemeinheit verschworen, sang- und klanglos zugrunde zu gehen.«

»Da trägt die Mutter selbst die Mahlzeit auf. Greif zu und iß, bedächtig, aber viel. Das bringt den Überschuß an Geist zur Ruhe und bessert das vielberufene sanfte Ruhekissen des guten Gewissens. Eine lange Lebenserfahrung spricht zu dir.«

»Vater,« sagte Friedrich Thorsberg und griff kräftig zu, »ich hoffe, ich steige mit diesem Brathuhn in deiner Achtung.«

Der Alte holte einen Band aus seiner Bücherei, erblätterte eine Stelle und las vor.

»Laßt wohlbeleibte Männer um mich sein, mit glatten Köpfen, und die nachts gut schlafen. Der Cassius dort hat einen hohlen Blick; er denkt zuviel; die Leute sind gefährlich.«

Siegesstolz blickte er den Sohn an.

»Siehst du wohl? So dachte bereits der argwöhnische Julius Cäsar.«

»Weil er argwöhnisch war, Vater.«

»Du willst mich doch nicht glauben machen, ihr hättet dort oben beim Oberst Lenbach mit weißen Bohnen gespielt?«

»Und wenn es blaue gewesen wären, Vater –?«

»Blaue Bohnen sind ein heißes Gericht. Unbekömmlich für Freund und Feind. Ich habe eine größere Erfahrung als du.«

»Ich möchte die meine vergrößern, Vater.«

»Wozu? Du kannst sie bei mir billiger haben. Wenn du erst so alt geworden bist wie ich, wirst du mein Geschenk verstehen. Von hoch droben betrachtet, ist dieses Leben nämlich gar nicht wert, daß man sich seinetwegen katzbalgt. Bis man gründlich beim Raufen ist, ist es schon halb dahin. Und was nachfolgt, ist immer dasselbe. Je höher dein Standpunkt wird, desto mehr verlieren sich die feinen Unterschiede. Jahr für Jahr beginnt und vollendet die Sonne ihren Kreislauf und die Jahreszeiten wechseln, um dich aufs neue zu überraschen. Ganz ohne dein Zutun, mein Sohn. Darum nütze den Tag als deinen Lebenstag, und du wirst ein Weiser werden.«

»Schönen Dank, lieber Vater. Schönen Dank, liebe Mutter.« Friedrich Thorsberg legte das Mundtuch zusammen und erhob sich, um Abschied zu nehmen. »Ja, lieber Vater, was du lehrst, ist zutreffend und selbst wissenschaftlich verbürgt. Nur – es handelt sich ja gar nicht um das Leben von Menschen, sondern um das Leben des Landes. Um dies einzig wichtige Leben in der Welt. Das dem unseren allein den Schein einer Notwendigkeit gibt. Gute Nacht und schlaft wohl.«

Und er ging mit seinen ruhigen, sicheren Schritten in die Dunkelheit. –

*

 


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