Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

6

Ruhigen Schrittes ging Friedrich Thorsberg seinen Weg. Er hatte seine Münchener Lehrtätigkeit aufgenommen, und der Kreis seiner Hörer, erst klein wegen des Stoffgebietes seiner Vorlesungen, wuchs von Mal zu Mal, und es war ein verwundertes Raunen in der Studentenschaft. Nicht als ob der sehnige Mann mit dem klaren blanken Blick die Rätselfragen der Forschung in knappen Vorlesungsstunden gelöst hätte. Es war ein anderes. Es war die Seltsamkeit, das dieser Mann von der Menschen- und Rinderpest lehren und mit seinen Hörern in den unwirtlichsten Wüsten Inner-Afrikas schweifen konnte und dennoch kaum einen Satz prägte, der nicht in irgendwelcher Beziehung zur Not und Bedrängnis im deutschen Vaterlande gestanden hätte. Und es geschah bald, daß die Hörer, verstärkt durch Studierende aller Lehrfächer, nicht so sehr mehr den tiefgründigen wissenschaftlichen Erklärungen lauschten, als spannungsvoll den Augenblicken entgegensahen, da die Blitzlichter aufsprangen und in furchtbarer Bedeutsamkeit den Nachthimmel in Flammen setzten.

Der Gelehrte in Friedrich Thorsberg hätte diese Umwandlung der Nebenwirkung zur Hauptwirkung schmerzlich bedauern müssen. Entweder aber stand der Forscher so hoch und erhaben über den Brocken und Brosamen, die er von seinem Wissenstisch fallen ließ, oder sein fachmännischer Ehrgeiz war ein zu geringer, um ihn die allmähliche, aber sichtbarliche Verrückung seines Lehrzieles erkennen zu lassen. Ohne eine Miene im Gesicht zu ändern, sprach Friedrich Thorsberg über die Bekämpfung der Seuchen in Afrika und erntete einen leidenschaftsheißen Beifall, als habe er über die Austilgung des letzten Schandfleckes in Deutschland gesprochen.

Auch Gert und Gertrude hatten ihre Studien wieder aufgenommen. Gert besuchte die Prima eines Gymnasiums, Gertrude eine ausgezeichnet geleitete Privatschule. Nach Schulschluß sah man die Geschwister stets Seite an Seite durch die Münchener Straßen schreiten.

Eine kleine, aber ausreichende Wohnung hatte Friedrich Thorsberg nahe dem Englischen Garten gefunden. Ein freundlicher Zufall war ihm zu Hilfe gekommen.

Beim Durchschreiten der Universitätskrankenanstalten war es gewesen, als ihm der klinische Fachgenosse die rührsame Geschichte eines merkwürdigen Zeitgenossen erzählt hatte. Eine schwer an der Grippe erkrankte Frau war eingeliefert, vom Professor untersucht und späterhin den Studierenden des klinischen Lehrganges in ihren Krankheitserscheinungen vorgestellt worden. Bevor aber die Studierenden sich nunmehr selber an das Beklopfen und Behorchen der kostenlos zu behandelnden Frau heranmachen konnten, war der an Jahren jüngere Ehemann erschienen und hatte sich an Stelle der Frau als Versuchsgegenstand angeboten, zumal an ihm die Folgen der afrikanischen Malaria zu studieren seien, also eine bedeutend seltenere Krankheitsform als die landläufige Grippe. Auch hatte er eine Mappe, voll von vorzüglichen Tierstudien in Öl und Wasserfarben, mitgebracht und sie als Zahlung für die Beförderung seiner Frau in eine höhere Klasse und ein besonderes Zimmer angeboten. Da die Krankenanstalt eine Bezahlung in Bildern aber nirgendwo vorgesehen habe, so sei der ritterliche Malersmann zunächst nur als Stellvertreter angenommen und in seinen Malaria-Merkmalen den Bildungsbeflissenen vorgeführt worden, bis ein paar Professoren eine Anzahl der Tierstücke gekauft und dem befreiten Maler dadurch die Gelegenheit geboten hätten, seine Frau der Wohltat eines Einzelzimmers und einer Einzelbehandlung teilhaftig werden zu lassen.

»Sprechen Sie von dem Tiermaler Gustav Adolf Brandt?« fragte Friedrich Thorsberg aufhorchend.

»Sie kennen ihn?« fragte der Kollege zurück. »So kannten Sie wohl auch schon die Geschichte?«

»Die köstliche Geschichte, die mich viel mehr als eine Liebesgeschichte dünkt, verdanke ich Ihnen. Aber Männer, die im Körperlichen einer Frau gleich wie im Seelischen ein solches Heiligtum sehen wie Ihr ›Stellvertreter‹, verliert man nicht mehr aus dem Gedächtnis, wenn sie einmal unseren Weg gequert haben. Ich traf auf meiner letzten afrikanischen Forschungsfahrt einen jungen Tiermaler Gustav Adolf Brandt, ein liebenswürdiges, reines und darum großes Gemüt, das selbst in der unmanierlichsten Negerin das Weib sah und ihr mit freundlicher Hochachtung begegnete. Ihre Geschichte kann nur auf diesen Mann passen.«

Der Kliniker überlegte eine kleine Weile. Ein feines, spöttisches Lächeln erschien um seine Mundwinkel.

»Ob Negerin oder Europäerin – Männer wie der unsere werden immer gezwungen werden, den unteren Weg zu gehen. Vornehmheit wird von den Frauen leicht und gern als blinde und blöde Vertrauensseligkeit angesehen. Die ältere Frau des jüngeren Malers lag noch keine zwei Tage in ihrem Sonderzimmer und spürte kaum das Herannahen der Genesung, als sie auch schon dem behandelnden Arzte

sehnsuchtsvolle und verliebte Augen machte. Schade darum um die Vornehmheit.«

»Vielleicht ist es gerade das Merkmal der wahren Vornehmheit, dass sie nicht wägt und fragt.«

Friedlich Thorsberg ließ sich die Wohnung des Tiermalers nennen, die in der Königinstraße mit dem Ausblick über den Englischen Garten gelegen war. Und da es ihn gerade nach einem Spaziergang gelüstete, so schlug er den Weg nach dem Englischen Garten ein, umschritt die riesigen Rasenflächen und traf am Parkrand auf ein rückwärtig gelegenes Haus der Königinstraße, das die gesuchte Nummer trug. An der Flurtür des zweiten Stockes fand er das Namensschild des Tiermalers, läutete und sah sich einer schlanken Frau gegenüber, die er im Dunkel des Flurs nur in schmiegsamen Umrissen erblickte. Zwei scharfe Augen spähten über sein Gesicht.

»Treffe ich Herrn Maler Brandt zu Hause?«

»Ich werde nachsehen. Wen darf ich melden?«

»Professor Thorsberg.«

Einen Augenblick stand er allein im Flur. Dann wurde eine Zimmertür aufgerissen, und vor dem Besucher wuchs eine lange, hagere Gestalt empor, schüttelte ihm die Hände, drückte ihm jeden einzelnen Finger, stammelte vor Freude »Gott, mein Gott« und schob ihn endlich mit ausgebreiteten Armen, als wollte er ihn tragen, ins Zimmer. »Professor Thorsberg. Herr Professor. Ich komme um vor Freude.«

»Brandt, Gustav Adolf. Hofmaler Seiner Majestät des Berberlöwen.«

»Es war einmal. Es war einmal. Als ich noch in einer Märchenwelt wandelte, mit allem wilden Getier auf du und du stand und zum Löwen sagen konnte: ›Bitte, das Köpferl etwas höher, sonst kriegst du ein schiefes Maul gemalt‹. In der Letztzeit muß ich mich mit einer Hauskatze getrösten, dem Angorakater des Herrn Rentners Schmerbrust oder der Seidenkatze der Frau Hausbesitzerin Müllermeyer. Die Kunst geht heuer nach Brot, und ich male mit demselben Borstenpinsel die entarteten zahmen Bestien, mit dem ich einst ihre reißenden und hinreißenden Urbilder malte.«

Friedrich Thorsberg legte ihm die Hand auf die Schulter. Sein Auge versenkte sich lächelnd in das des Jüngeren. »Also immer noch der stets zufriedene Geist? Wie ehedem?«

»Ich müßte ein Narr sein, Herr Professor, wenn ich's nicht wäre. Das Leben stellt mir meine Rechenaufgaben, nicht umgekehrt. Also finde ich mich recht und schlecht damit ab, und wenn's arg dick aufeinander kommt, lach' ich mir eins, als wäre das Ganze nur ein Spaß, den man halt nur träumt.«

Friedrich Thorsberg nickte ihm zu.

»So kann man's im eigenen Leben. Aber im Leben des Vaterlandes gibt's keine Träumereien und darf's keine geben.«

»Im Leben des Vaterlandes, Herr Professor? Das ist ein besonderes Kapitel. Dort in der Ecke, dort steht noch meine beste afrikanische Jagdbüchse. Wenn Sie mich auch einen Kunstschützen hießen, ich bin ein friedlicher Mensch und lauf' mit den anderen im Trott und nie ander Spitze. Aber seit das Vaterland nach Atem schnauft, und die eigenen Landsleute stehen dabei und schauen zu und sorgen nicht für Aderlaß – Herrgott, mein Gott, die Buchs' möcht' ich mir aus der Eck' herausgreifen und losmarschieren mutterseelenallein gegen unsere Erwürger. Nur damit die Welt sieht: da ist noch ein Sohn übriggeblieben, der noch Ehr' im Leib hat für sein Vaterland.«

»Sehen Sie, Gustav Adolf Brandt, jetzt ist das Freuen an mir.«

»Ich hoff', Sie haben mich nicht für einen Ehrlosen gehalten seit Afrika, Herr Professor. Wenn ich auch viel im Lazarett hab' liegen müssen wegen meiner Malariaanfälle – im Krieg, mein' ich – die Zwischenzeit hat doch gelangt, dass ich mir das Eiserne Kreuz erster Klasse hereingeholt hab'. Ich sag' das nicht, um mich zu rühmen. Ich sag's nur, damit der Zerr Professor wissen, woran Sie sind mit dem langen Brandt. Und nun bitt' ich, endlich nach dem Befinden der schönsten und tapfersten Frau fragen zu dürfen.«

»Die tapferste und deutscheste, die je gelebt hat, war die meine, Herr Brandt. Also muß sie auch die schönste gewesen sein.«

»Eine schönere sah ich nie,« sagte der Maler ernst, »weil ich nie ein offeneres und wahrhaftigeres Antlitz sah. Ich danke ihr viel Güte in der Fremde.«

»Sie lebt in ihrem Sohn und in ihrer Tochter. In jedem Zug. Und in mir lebt sie in so heißen Liebesgedanken, das; glührote Rachegedanken daraus wurden. Können Sie mich verstehen?«

»Herr Professor Thorsberg! Tot?«

Friedrich Thorsberg nickte mit abwesenden Augen.

»Am Feind gestorben. Im Frieden! Nicht etwa im Krieg. An der Behandlung durch den Feind. Eine Frau. Eine der edelsten. Meldete sich Ihre alte afrikanische Jagdbüchse nicht in der Ecke? Lassen wir das. Ein andermal mehr. Setzen darf ich mich und rauchen auch? Unter der Bedingung, daß Sie beichten und berichten, Brandt. Sie sind ein junger Ehemann geworden, wie man mir erzählt hat, und dazu gehört Mut in dieser Zeit der gestürzten Götterbilder.«

»Sie wollen es,« antwortete der Tiermaler. »Sie wollen eine andere Stimme als die Ihre hören, und ich verstehe das. Sonst ist mein Leben ein bißchen klein für einen homerischen Sänger geraten.« Er kratzte sich hinter dem Ohr. »Ja, da ist schwer beginnen. Ich hatte halt immer so eine uneingestandene Sehnsucht nach einem ehelichen Herd und Hafen. Eingestanden hab' ich's mir nicht, weil ich mich bei meinen heiklen geldlichen Verhältnissen hätt' vor mir selber schämen müssen, so ein lieb gläubig Schäfchen mit mir am selben Strohhalm knabbern zu lassen.«

»Sie müssen doch gut verkauft haben in den Jahren der Geldentwertung? Alle Menschen verwandelten ihr Geld in feste Werte, und die neue Oberschicht, die trotz ihrer Kriegsgewinne nach schlechter Herkunft roch, setzte sich bis an die Nasenspitze in Kunst, Kunst, Kunst, in der Hoffnung, sie färbt ab.«

Der Tiermaler rieb sich herzlich vergnügt die Hände.

»Sehr gut beobachtet. Sehr gut. Jeder Stümper verkaufte seine buntbemalte Leinwand, weshalb also Gustav Adolf Brandt nicht? Der doch immerhin ein Stück Maler ist. Und er verkaufte. Er verkaufte ausgezeichnet. Ich habe so manchem Wohlgeborenen, der heut ein Hochwohlgeborener zu sein verlangt, ein Jagdzimmer gemalt, so manchem, der nicht auf zehn Schritt an eine abgeschossene Schrotflinte heranzubringen gewesen war', mein anschleichendes Löwenpaar, meinen reißenden Leoparden unter Antilopen und andere Nervenproben in Lebensgröße an die Wand gehängt und ihn nach der Zweiten Flasche zu den Besuchern sagen hören: ›Ja, ja, da sehen Sie noch die Spuren meines Jugendleichtsinns‹, so daß es in der Schwebe blieb, ob der Jugendleichtsinn des Gastgebers in solchen oder ähnlichen Jagden anzusprechen sei oder halt nur im Kauf solcher und ähnlicher Bildertafeln.«

Friedrich Thorsberg lachte mit ihm: »Erzählen Sie weiter. Es tut mir gut.«

»Mir hat's weniger gut getan,« gestand gutmütig bekümmert der hagere Maler. »Da lebt und webt nämlich – oder vielmehr: er webt nicht, er lebt nur – ein hochbegabter Greis, der sich mein Erzeuger nennt. Sie schauen mich fast erschrocken an, als ob's mir an der kindlichen Ehrfurcht gebräche. Aber es gibt Dinge, Herr Professor, die lassen sich nur mit Laune erzählen oder überhaupt nicht. Daß ich die Laune dazu aufbring', gewahren Sie daraus, daß ich mich sehenden Auges über den Kamm scheren und über den Löffel balbieren lasse, sowie der hochbegabte Greis mir mit dem Kamm oder dem Seifennapfe naht. Er tut es nicht oft. Er tut es nur, wann ich Geld hab'. Aber dann auch mit einer unbedingten Sicherheit. Und ich pfleg' schon, wann der Geldbote aufzählt, heimlich aus dem Fenster zu lugen, ob der Vater nicht um die Ecke biegt. Richtig, da biegt er.«

»Sie haben eine mutterlose Jugend verlebt, Brandt ...«

»Ja, und eine mutterlose Kindheit dazu. Ich vermag mir nicht einmal das Gesicht meiner Mutter vorzustellen, so früh ist sie mir gestorben, und ein Bild von ihr hab' ich bei meinem immer unruhvollen Vater nie zu sehen gekriegt. Er wird wohl selber keins von ihr besessen haben. Darum hab' ich mir schon als Kind eins zurechtgeträumt, so ein Bild in ganz seinem Schmelz auf ganz goldenem Grund, und alles, was mir auch nur in Gedanken das Herz warm gemacht hat, hab' ich in das Bild hineingetragen, von Sonne, Mond und Sternen angefangen bis zu einem fernen Liebeslied oder gar einem nahen Wiegenliedlein. Daß ich das Bild nachher auf alle Frauen übertragen hab', hat mich viel Spott kosten lassen. Aber es ist wie die Nabelschnur, die mich mit dem Leben verbindet. Ein Riß, und das Leben, das mir trotz aller erhaltenen Knüffe und Püffe so wohlig eingeht, würde mir schal sein und keinen Atemzug mehr wert.«

»Hat's denn gar so viel Knüffe und Püffe gesetzt. Freund?« Der lange hagere Tiermaler kratzte sich aufs neue hinter dem Ohr. Es war, als belustige er sich über sich selbst.

»Soll ich bis aufs letzte ehrlich sein, so muß ich schon sagen: eigentlich hat's überhaupt nichts anderes gesetzt. Und darum häng' ich ja allsosehr an meinem zurechtgeträumten Mutter- und Frauenbildnis, weil ich mir sag': die Mutter- und Frauenhand hat halt gefehlt in deinem Leben. Aber ich will der Reih' nach erzählen und die Laune nicht vergessen, ohne die es platterdings nicht geht, weil doch mein Erzeuger eine Hauptrolle spielt. Also mein Vater zählte zur Zunft der Menschen ohne Sitzfleisch, der Menschen, die vor tausend täglich neuen Plänen nicht dazu kommen, auch nur einen einzigen auszuführen. Das aber verbraucht viel Zeit und Geld und verlangt noch viel mehr Zeit und Geld. Und das einzige, was zum Schluß dabei gewonnen wird, ist ein überwältigendes weltmännisches Gebaren.«

»Gottlob, Brandt, das hat nicht abgefärbt.«

Wieder rieb sich der Tiermaler die Hände, als wäre er herzlich vergnügt.

»Nein, Herr Professor, das konnte auch nicht abfärben, weil er uns nicht vor sein Angesicht ließ.«

»Nicht vor sein Angesicht? Und uns? Hatten Sie Geschwister?«

»Ich hatte eine Schwester. Sie war ein armes, ängstliches Hascherl, obschon sie ein paar Jahre älter war als ich. Aber ihr fehlte der Sinn für die Spaßhaftigkeit des Daseins und die Einbildungskraft, als tät sie's nur träumen. Aus lauter Lebensangst hat sie schon mit achtzehn Jahren den erstbesten Tunichtgut geheiratet und ist, selber noch ein Kind, im ersten Kindbett elendig zugrunde gegangen.«

Friedlich Thorsberg zog schweigend an seiner Zigarre. Er dachte an die eigenen Kinder und all das Ineinandergleiten von Vaterliebe und Mutterliebe in jedem seiner Gedanken.

»Ich werde weitschweifig, Herr Professor. Es kann Sie kaum unterhalten.«

»Lieber Brandt, ich ruhe mich hier bei Ihnen aus, wenn Sie es mir verstatten. Während Sie erzählen, schau' ich Ihnen ins Gesicht, und wenn ich Ihnen, meinem letzten afrikanischen Jagdgesellen, ins Gesicht sehe, sehe ich den afrikanischen Boden und über den Boden eine Frau schreiten und ihn zum Heimatboden machen.«

Der Tiermaler verstand. Ohne nach einem Übergang zu suchen, nahm er den Faden wieder auf.

»Nein, vor das väterliche Angesicht kamen wir vorerst nicht mehr. Wir kleines Gekrabbele wirkten störend. Wir lenkten den Geist des Erfinders in die täglichen Niederungen, wir zwangen die gewaltigen Berechnungen des kaufmännischen Überfliegers, um den täglichen Brotkorb zu kreisen, wir hielten den rastlosen Erdengänger an den Rockschößen. Und eines Tages saß ich als fünfjähriges Pflegekind bei einem rauhledrigen Schuster und mein Schwesterlein bei einem aufgeregten Schneiderlein ganz draußen in der Vorstadt, und mein Vater zahlte für ein jedes von uns einen blanken Taler die Woche an Pflegegeld. Gepflegt wurden wir zwar nicht sonderlich, aber wir bekamen doch endlich regelmäßig zu essen und fühlten uns darum im Schusterkeller und auf dem Schneidersöller wie im Himmel. Solange der Vater den blanken Taler bezahlte. Aber das vergaß der vielbeschäftigte Mann häufiger und häufiger, und da der Schuster meinem unsichtbar gewordenen Vater nicht ans Rindsleder konnte, so ging er mir ans Kalbsleder, langte mich Samstags abends, wenn der Kosttaler wieder nicht eingetroffen war, im Nachtkittel aus meiner Bettkiste, legte mich über den Schustertisch und haute mir das Hinterleder weich. Bis er mich eines Abends – ich war sieben Jahre alt und als Schwächling noch nicht in die Schule gekommen – im Trunke auf die Straße jagte. Mein Gott, war das eine Freud'!«

»Eine Freud'?«

»Die ganze Vorstadt gehörte mir und darüber hinaus der Volkspark, in dem ich sonst nur Sonntags mit dem Lehrling spazieren gehen durfte, und der ganze Abend gehörte mir und die Nacht bis in den hellen Morgen und hunderttausend Abenteuer, die es in der Bettkiste nur im Traume gab. Und allsogleich kreuzte mir das erste den Weg. Ich lief in der Dunkelheit gegen ein Mädchen, und wir schrien beide furchtbar vor Schrecken, und dann war es mein eigenes Schwesterchen, das gerade am selbigen Abend von seinem Schneider auch hinausgeworfen worden war und nun zu meinem Schuster wollte. Ach, und dann spielten wir Nachlaufen und Blindekuh im Finstern und Prinz und Prinzessin, und als wir müde wurden, legten wir uns eng aneinander auf eine Parkbank im Gebüsch, und hier hob uns im Morgendämmer eine Schutzmannsstreife auf und brachte uns auf die Polizeiwache.«

Ein heiteres Lachen huschte über das Gesicht des Erzählers.

»Der Polizeiwache verdanke ich das Wunderbare. Ihr verdanke ich, daß ich das Antlitz meines Erzeugers wiedersah. Gegen Mittag hatte man ihn ausfindig gemacht und ihn freundlichst aus dem Bett genötigt. Er kam, und sein überwiegend weltmännisches Gebaren machte selbst auf der Polizeiwache Eindruck. Er erklärte das Ganze für ein ungeheuerliches Mißverständnis, für einen Gedächtnisfehler der biederen Handwerker, mit denen er statt des gemeinen Wochenpflegegeldes ein vornehmes Vierteljahrsgeld vereinbart habe, bat, ein Zeichen seiner herzlichen Dankbarkeit für die Hilfeleistung an seinen Kindern in die Sparbüchse der Polizeiwache stecken zu dürfen, und führte uns hochaufgerichtet links und rechts an der Hand auf die Straße.«

Nun breitete sich das heitere Lachen des Erzählers strahlenförmig über das ganze Gesicht.

»Links und rechts an der Hand des Vaters marschierten wir stolz durch die Stadt und endlich auch durch die Vorstadt. ›Es wird alles anders‹, sagte der Vater, und er hielt Wort. Denn diesmal kam das Schwesterlein zu einem Schuster in Pflege und ich zu einem Schneider. Immerhin. Aus Sorge vor der Polizei, bezahlte der Vater pünktlich das geringe Kostgeld, vergaß nun aber, für den Schulpflichtigen das Schulgeld zu entrichten, so daß ich mehrere Male genötigt wurde, die Schule zu wechseln und auf diese Weise in immer vornehmere Anstalten aufrückte, in denen das Ankreiden sich auch bei Grafensöhnen ereignete. Mein Vater erschien beim Anstaltsleiter, überwältigte ihn, wie er den Polizeiwachtmeister und den Schuster überwältigt hatte, durch sein weltmännisches Gebaren, und ich hatte wieder ein Klassenjahr vor mir. Bis ich mit Ach und Krach mein Einjährigen-Zeugnis erworben hatte. Das bedeutete den Abschluß meiner großzügigen Bildung. Ich bezog die Hochschule für Kunst, indem ich mich als Lehrling bei einem Anstreichermeister verdingte und abends in die Zeichensäle lief. Mein Vater ließ mich laufen. Er ließ mich immer laufen, wenn er nichts zu bezahlen brauchte. Aber als ich mir endlich einen Freiplatz auf der Malerschule errungen und nach Jahren mein erstes lustiges Affenbild aus dem Tierpark verkauft hatte, erwartete mich selbigen Tages der liebende Vater vor der Pforte der Hochschule und knöpfte mir mein erstes Geld bis auf den letzten Pfennig für ein glänzendes Geschäftsunternehmen ab, das einschlagen würde wie der Teufel. Eingeschlagen hat's. Und wie der Teufel. Asche und Stank blieben zurück. Immer wieder. Immer wenn ich ein Geld einbekam, und der Alte mich väterlich an einem seiner glänzenden Geschäfte beteiligte, die einschlugen wie der Teufel. Bis ich nach Hamburg entfloh. Bis ich mir durch Handwerksarbeiten so viel in der Geschwindigkeit erübrigte, daß ich des Tiermalers Traum zur Erfüllung bringen und nach Ostafrika gelangen konnte. Dort fand ich Ihre Hilfe, fand ich mehr, fand ich das Urbild zu meinem Mutter- und Frauenbildnis, fand ich Ihre Gattin in ihrer großen Güte.«

Friedrich Thorsberg schüttelte den Kopf.

»Nicht davon heute. Ich ruh' mich aus in Ihrer Erzählung. Ich erlerne von neuem am Beispiel, was alles zu den Lebensmöglichkeiten gehört. Es muß doch ein heiliger Klang im Leben stecken, daß wir nicht von ihm loskönnen.«

»Afrika hat mich zu dem bekannten Tiermaler Gustav Adolf Brandt gemacht,« fuhr der Maler fort. »Als ich knapp vor Ausbruch des Weltkrieges in Hamburg landete, wer stand am Hafen und winkte mir in seinem überlegenen Wohlwollen zu? Vater Brandt. Er nahm mir wie einem unmündigen Kinde alle Sorgen um mein umfangreiches Gepäck aus der Hand. Er überwachte die Verladung meiner Bilderkisten und meiner afrikanischen Errungenschaften mit peinlicherer Sorgfalt als die Verladung des eigenen Sohnes. Und ich muß zu seinem Ruhme sagen: er hat, während ich vor dem Feinde lag oder im Lazarett, Preise für meine Jagd- und Wüstenbilder erzielt, die ans Unsinnige grenzten. Denn er kannte seine Geschäftsfreunde und sprach ihr Kriegsgewinnler-Rotwelsch wie seine Muttersprache. Für das Geld aber hat er mir ein Gut gekauft – auf seinen Namen.«

Da lachte Friedrich Thorsberg zum erstenmal aus vollem Herzen.

»Und nun verwaltet er es gegen eine angemessene Entschädigung?«

»Verwaltet? Das würde er sich ernstlich verbitten. Er fühlt sich als alleiniger Eigentümer, wie er als Eigentümer im Grundbuch steht. Er fährt einen Viererzug und trinkt alte gelackte Burgunderweine. Nur hierfür, für die Lebendigerhaltung des berühmten Namens Brandt, verlangt er eine kleine Aufwandsentschädigung. Dann verkauft er ein Bild von mir. Vor kurzem war ich gänzlich ausverkauft. Und dabei gehört ihm trotz der glänzenden landwirtschaftlichen Geschäftslage kaum noch ein Ziegel auf dem Gut. Er aber fährt im schwarzen Gehrock seinen Viererzug, trinkt alten gelackten Burgunder und verkauft im Notfall ein neues Jagd- und Wüstenbild seines dankbaren Sohnes Gustav Adolf Brandt.«

Friedrich Thorsberg strich sich über die Augen, als wollte er das Lachen hinausstreichen.

»Entschuldigen Sie meine Heiterkeit. Werde ich diesen begabten Vater kennen lernen?«

»Sie werden, Herr Professor. Sie werden unter allen Umständen. Morgen bereits wird er wissen, daß wir uns kennen, und übermorgen schon wird er sich mit Ihnen bekannt gemacht haben. Auf der Straße. In der Universität. Beim Barbier. Irgendwo. Kommen Sie ihm zuvor. Versprechen Sie es seinem dankbaren Sohne in die Hand. Unterbrechen Sie ihn, sobald er sich als Vater Ihres Freundes vorgestellt hat, mit der dringenden Bitte. Ihnen auf acht Tage hundert Dollar zu leihen. Sagen Sie ›Dollar‹, das geht den Herrschaften schärfer an die Nerven. Er wird Sie von Stund an unsäglich verachten und Ihnen aus dem Wege gehen wie einem Pestkranken.«

»Gut. Hier meine Hand. Aber –« und Friedlich Thorsberg hielt des Tiermalers Hand – »sind wir nur zufällig vom Gegenstand abgeglitten, oder haben Sie mich langsam abgleiten lassen? Ich hatte nach Ihrer jungen Ehe gefragt.«

Der Maler ergab sich mit dem Seufzer eines ertappten Sünders.

»Also dann. Als Sie sagten, Sie hätten von der Universität hierhergefunden, wußte ich, daß Sie meine Philemon- und Baucis-Geschichte kennen. Und dann hab' ich versucht, Luft zu gewinnen, weil ich Sie nicht betrügen wollte wie den lehrenden Herrn Professor und seine Schülerlein mit den Hörrohren und den Tastfingern. Denn ich war damals noch gar nicht verheiratet und trat nur als besorgter Ehemann auf, um der alleinstehenden Dame eine größere Achtung zu erzwingen. Da haben Sie den Lug.«

»Sie nahmen großen Anteil an der Dame?«

»Sie war meine Wirtin. Einige Jahre älter als ich, was ihr kein Mensch ansah. Auch eine von den Allzufrühverheirateten, die mit achtzehn Jahren einen Jungen hatte und mit zwanzig Jahren Witwe war. Heute zählt sie noch keine vierzig und besitzt einen Sohn von einundzwanzig Jahren, der mehr vom Leben weiß als die Mutter. Arme Frau. Und gerade hatte mir der rührige Vater Brandt mein letztes Bild von der Staffelei geholt, als sie an der Grippe erkrankte und in die Armenklasse der Krankenanstalt gebracht zu werden wünschte, um dem kaufmännisch stark aufstrebenden Sohne, dem Hallodri, keine Kosten zu verursachen, was mich ehrlich ergriff. Ganz still lag sie mit den großen Fieberaugen in den Kissen und erzählte von der einzigen Schattenseite der Armenklasse, den vielen Studenten, die alle untersuchen, beklopfen und behorchen durften, um die Krankheiten zu erlernen, bis es mir zornrot vor den Augen wurde. Und nun war das Trösten an ihr: es wären doch vielleicht nur Zwölf am Tag, und sie würde sie alle um recht große Zartheit in der Behandlung bitten. Und plötzlich sah ich, was für ein wunderhübsches Menschenkind da vor mir in den Kissen lag, und als der Krankenwagen kam, beschwor ich sie, die Untersuchung hinauszuziehen, denn ich würde irgend etwas zu Geld machen, um sie in eine bessere Klasse zu bringen und in die Behandlung eines ernsten Arztes statt eines Dutzend neugieriger Schülerlein. Sie aber fürchtete, die Ärzte und das Pflegepersonal würden sie als meine Geliebte ansehen, und so schlug ich vor, sie solle sich als Frau Gustav Adolf Brandt aufnehmen lassen. So geschah's.«

»Und dann rückte es sich zur Wahrheit zurecht, Sie sonderbarer Schwärmer?«

»Herr Professor, aus einer Lüge werden zwanzig, wird ein Knäuel. Es war Sonntag mittag und kein Kunsthändler anzutreffen. Auch vermochte ich nur mit einer Skizzenmappe aufzuwarten. So kam ich mit leeren Händen ins Krankenhaus und bot mich in der Aufregung an, mich statt meiner Frau, die gar nicht meine Frau war, dem Professor und seiner Studentenschar zu jeder beliebigen Untersuchung zu stellen. Auch bat ich um Versetzung meiner Frau, die gar nicht meine Frau war, in eine höhere Klasse gegen Verpfändung meiner Skizzenmappe, was selbst die verhärteten Medizinerherzen so sehr rührte, daß auf des Professors Geheiß für den hingebungsvollen Ehemann sofort ein zweites Bett im neuen Krankenzimmer aufgeschlagen wurde, damit der eine die Nähe des anderen genösse. Da lag ich nun, im Hochsommer, vollkommen angezogen und bis an das Kinn zugedeckt und schämte mich.«

Friedrich Thorsberg zog die Augen bis zu einem Spalt zusammen.

»Sie haben natürlich als Ehrenmann gehandelt und anderen Tages der beleidigten Dame die Ehe angeboten?«

Der Tiermaler blickte scharf hin.

»Herr Professor Thorsberg – nicht wahr, dieser Gegenstand verträgt keinen Spaß?«

»Eine Angelegenheit, die sich mit einer Frau beschäftigt, verträgt nie einen Spaß.«

Die Schärfe in des Malers Augen schwand auf der Stelle. Das große, reine Gemüt drang leuchtend hindurch. »Wir sind seit Monatsfrist verheiratet. Darf ich Sie mit meiner Frau bekannt machen, Herr Professor?«

»Ich bitte recht sehr darum.«

Mit seinem langen Schritt eilte der Maler hinaus. Durch die angelehnte Tür drang ein freudig überraschter Mannesruf und hastig gleitende Frauenworte. Und Gustav Adolf Brandt stieß die Tür weit auf und ließ mit stolzen Augen seine Frau eintreten.

Friedrich Thorsberg hatte sich erhoben. Das Bild der Frau stand für alle Zeiten unverrückbar vor ihm. Eine schlanke, volle Gestalt, schmiegsam aus Gefallsucht. Graue, klugbeobachtende Augen, hinter einem Schleier nachdenklich zarter Verehrung. Tiefe Schatten unter den Augen, die von krankhafter Reizbarkeit des Gefühlslebens sprachen. Ein Samtkleid für kleine Abendgesellschaften, nicht für den Nachmittag. Dieselbe Frau, die ihm vor einer Stunde die Tür geöffnet hatte, jedoch nach raschem Kleiderwechsel. Daher auch Gustav Adolf Brandts freudig überraschter Ausruf.

Er verbeugte sich und führte die Hand, die sie ihm reichte, an die Lippen.

Sie errötete und bat ihn mit wohllautender, etwas hochgestellter Stimme, Platz zu behalten. »Ich kenne Sie längst, Herr Professor. Nicht nur aus den Erzählungen meines Mannes, der Sie als Vorbild des ritterlichsten und furchtlosesten Forschers – ach bitte, winken Sie nicht ab. Ich freue mich ja so sehr, Ihnen mit ein paar armen Worten

auch meine Bewunderung ausdrücken zu dürfen. Ich kenne Sie auch schon von Ansehen, Herr Professor. Neulich ging ich hinter einigen Studenten her, die auf einen großen, sehnigen Mann wiesen und Ihren Namen flüsterten. Jawohl, flüsterten, Herr Professor. Wie man einen angebeteten Namen flüstert. Und einer sagte: ›Das ist einer der Stärksten. Der könnte einen Lindwurm spalten.‹«

Und Friedrich Thorsberg dachte, während sie sprach: Sie möchte mehr scheinen, als sie ist. Sie möchte eine Dame darstellen und steckt fest im Kleinbürgertum. Aber sie hat einen unbezähmbaren Drang nach Erlebnissen und kann nützen oder schaden.

Und er sagte lachend:

»Es ist für mich sehr schmeichelhaft, gnädige Frau, daß Sie mich nach den Äußerungen eines schwärmerischen Knaben im Gedächtnis behalten haben.«

»Ach, Herr Professor, Sie wollen nur eine neue Anerkennung aus mir herauslocken. Ihre kraftvolle Gestalt und Ihr kühnes Auge vergißt sich nicht wieder. Und eine Frau hat dafür einen besonderen Sinn.«

»Mein Gott, gnädige Frau, was haben Sie mit mir vor?«

»Nun sieh mir einer meine stille Frau an!« rief der Tiermaler, und seine Blicke strahlten stolz. »Kein Sterbenswort hat mir die Heimliche gebeichtet.«

»Wie hätt' das ausgeschaut, Gustav Adolf. Noch dazu« – und eine Verschämung glitt um ihren Mund – »nach vierwöchiger Ehe. Aber insgeheim hab' ich's mir hergesagt, wie man ein hastig Stoßgebet hersagt: diesen einen Freund Gustav Adolfs möchtest du auch als den deinen haben. Und nun lachen Sie mich aus wegen meiner Anmaßung.«

»Ich spreche dich los,« kam ihr der Tiermaler zu Hilfe, »denn du hast einen guten Geschmack.«

»Meine gnädige Frau,« sagte Friedrich Thorsberg ernst.

»Sie tun mir nach so kurzer Frist eine um so größere Ehre an. Ich habe nur dankbar zu sein.«

Der Maler rieb sich nach seiner Gewohnheit heftig die Hände.

»Trinken wir ein Glas Wein? Feiern wir in der Geschwindigkeit ein kleines Fest? Die Stunde ist danach. Friedrich Thorsberg unter meinem Zelt. Hoher Gast, es ist dein mit allem, was es birgt.«

»Nun verschenkt er mich bereits. So sehr liebt er Sie.«

»Der Freund verschenkt Sie an meine Freundschaft, gnädige Frau. Was unter einem Zelttuch lebt, ist einander heilig.«

»An heilige Empfindungen bei Männern ist schwer glauben. Obwohl der meine gleichsam wie ein Dichter davon redet.«

»Meine gnädige Frau: heilige Empfindungen hat man nur Heiligtümern gegenüber, keinen Alltagsgewöhnlichkeiten. Daß Gustav Adolf mit Dichterzungen zu Ihnen spricht, weiht Sie zu einem göttlichen Tempel.«

Sie stutzte ein wenig. Als müsse sie noch einen zweiten Sinn heraushören. Dann errötete sie tief.

»Sie sprechen so gütig zu mir, Herr Professor, daß es mich verlegen macht. Ich bin so viel Güte vom Leben nicht gewöhnt. Erst Gustav Adolf hat mir den Glauben daran gebracht. Und nun unterstützen Sie ihn noch.«

»Trinken wir ein Glas Wein,« wiederholte der Tiermaler glückselig, »feiern wir ein kleines Fest. Die Stunde ist danach.«

Frau Amely Brandt beugte sich in ihrem Sessel vor. Mit verehrungsvollen Blicken.

»Gestatten Sie es, Herr Professor? Ich bitte herzlich darum.«

Friedrich Thorsberg erhob sich.

»Verzeihung, gnädige Frau, wenn ich bitte, mich zu beurlauben. Ich habe mich hier von der Wiedersehensfreude so einspinnen lassen, daß ich Zeit und Geschäfte darüber vergaß. Hoffentlich darf ich Sie bald in meinem eigenen Heim begrüßen.«

»Wo haben Sie Wohnung bezogen?« fragte der Tiermaler und griff nach dem Anschreibestift.

»Wenn ich noch weiter meine Zeit und meine Geschäfte vergesse, werde ich demnächst mit Sohn und Tochter im Freien nächtigen müssen.«

»Sie haben also überhaupt noch keine Wohnung?« fragte der Tiermaler aufhorchend.

»Ich wohne mit den Kindern in Starnberg bei den Eltern. Aber meine Zimmer sind schon einem anderen zugesagt.«

Gustav Adolf Brandt starrte seine Frau an. Sie nickte schnell und zog hastig den Atem durch die Nüstern.

»Nie gefällt's Ihnen denn hier am Englischen Garten?« kundschaftete der Maler. »Gut? Sehr gut sogar? Ja warum ziehen Sie alsdann nicht her? Ob ich eine vernünftige Wohnung für Sie weiß? Ja, ob sie gerade so sehr vernünftig für Sie ist, möchte ich nicht von vornherein behaupten, aber drin stehen tun Sie mit beiden Füßen.«

Friedrich Thorsbergs Augen blitzten auf.

»Bei Ihnen? Die Lage ist prachtvoll in ihrer Stille. Aber Sie wollen doch nicht auf und davon?«

»Oh, nein,« lachte Frau Amely wie ein strahlendes Kind, »jetzt, wo Sie kommen, überhaupt nicht. Nur einen Teil der Wohnung möcht' ich abgeben, den größeren Teil. Die Küche müßt' zwar halbpart bleiben, falls Sie nicht vorziehen sollten, meiner Kochkunst zu vertrauen. Vier Zimmer könnt' ich Ihnen lassen. Ein Arbeitszimmer und ein Schlafzimmer für den Herrn Professor und je ein Zimmer für den Herrn Sohn und das Fräulein Tochter.« Ihr Eifer gab ihr die Beredsamkeit der Münchener Zimmervermieterin. »Im großen Arbeitszimmer könnt' sehr wohl der Eßtisch aufgestellt werden. Ein Badezimmer liegt auf dem Gang. Gustav Adolf und ich behalten Atelierraum und Schlafzimmer. Außer den Wirtschaftsräumen. Es reicht ausgezeichnet.«

Friedrich Thorsberg wehrte ab.

»Es geht nicht, gnädige Frau. Das käme einem Verdrängen gleich.«

»So müssen wir uns von einem anderen, einem Fremden von irgendwoher, verdrängen lassen.«

»Ich verstehe das nicht, gnädige Frau. Sie haben doch einen großen Sohn, der trotz der Wohnungsnot seine Zimmer beanspruchen darf. Und Sie haben einen Künstler zum Mann, der Anspruch auf seine Kunstwerkstätten hat.«

»Um den Sohn ist es ja,« gestand Frau Amely so leise, als liefe ihr eine Träne durch die Kehle. »Ich bin eine schwache Mutter, ich weiß es, und ich weiß auch, daß sich der Franzi sehr gut selber helfen könnt'. Aber er geht halt in immer größere Unternehmungen hinein, um sein Geld nicht wegtauen zu sehen, wie er sagt, und dazu braucht er zuweilen neue Betriebssummen. Darum, Herr Professor.«

»Was für Geschäfte betreibt Ihr Herr Sohn?« fragte Friedrich Thorsberg.

»Ja – was für Geschäfte? Ich weiß das wirklich nicht. Vielleicht werden es nicht jeden Tag die gleichen sein in dieser ungleichen Zeit. Aber der Franzi muß im Gasthaus wohnen um seiner Kunden willen und der vielen Besprechungen.«

»Und was sagt Gustav Adolf zu dem Plan, die Wohnung zum Besten des Sohnes zu vermieten?« Bevor der Tiermaler eine gutmütige Antwort geben konnte, fiel ihm Frau Amely ins Wort.

»Ach – Gustav Adolf! Er hat eine so schwere Kinderzeit durchlebt, daß er meinem, daß er unserem Kind lieber die Hände unter die Füße legen würd' als leiden, daß der Franzi auch nur einmal stolperte.«

Gustav Adolf nickte mit fernsichtigen Augen vor sich hin.

»Darf ich die Wohnung sehen?« fragte Friedrich Thorsberg schnell entschlossen. Und während er von Raum zu Raum schritt, dachte er: da hast du das Bild einer neuzeitlichen Familie. Da ist der Vater, der den eigenen Sohn ausplündert, um seinen Unternehmungen nachjagen zu können. Da ist eine Ehefrau, die sich als Witwe dem neuen Gatten ergibt, um mit ihrem Sohn an seinem Marke zu zehren. Da ist der Sohn, dessen waghalsige Geschäfte zwar die Eltern nicht zu benennen wissen, für deren Ausgleich sie aber das Geld herbeisorgen dürfen, während das Bürschlein eine vornehme Gasthauswohnung unterhält. Und da ist endlich der Mann selbst, der Sohn, Gatte und Vater, der echte und rechte deutsche Michel, der alle Wunden des Körpers und der Seele mit gutmütiger Laune verklebt, wenn man ihm ein wenig das Bärenfell krault.

Und Friedrich Thorsbergs Augen wurden dunkel und scharf und schauten durch die Dinge und die Zeiten, und ein tiefes Mitleiden überkam ihn mit seinem jüngsten Gefährten aus den afrikanischen Jagdgründen.

»Er marschiert in den Schlamm hinein. Und er hat noch die Frau Minne gesehen in ihrer schneeweißen Schönheit.«

»Wenn Sie mir die Wohnung überlassen wollen – ich bin bereit, sie zu nehmen.«

»Morgen am Tag dürfen Sie einziehen, Herr Professor. Und wenn ich die Küche für Sie führen soll –«

»Dafür wäre ich Ihnen ganz besonders dankbar. Meine Kinder haben noch auf Jahre hinaus ihr Studium, und ich selbst werde von Monat zu Monat mehr Arbeit auf meinen Schultern spüren.«

»Sie sollen um nichts zu sorgen haben, Herr Professor, aber auch um gar nichts. Nicht um Frühstück, Mittag- und Abendessen, nicht um Wäsche und Kleiderbesorgung, und wenn Sie gar einmal eine Schreiberin brauchen, ich schreib' eine recht flüssige Hand und hab' eine leichte Auffassungsgab'.«

»Wird mein Professorengehalt reichen, um all das entgelten zu können?« fragte Friedrich Thorsberg lachend.

»Ach, Gustav Adolf, ich hab' mein Täschchen im Schlafzimmer liegen gelassen. Wärst du so freundlich? Ich dank' dir schön. Ich schick' ihn nur weg, Herr Professor, weil ihm die Geldangelegenheiten so gräßlich peinlich sind.« Und dann nannte sie eine Monatssumme von einer Höhe, daß sich selbst Friedrich Thorsberg sagen mußte, daß sie zu rechnen verstehe.

Er verbeugte sich schweigend.

»So wär' also alles in der Ordnung abgemacht,« sagte Frau Amely tief aufatmend, und dann griff sie plötzlich nach Friedrich Thorsbergs Hand, beugte sich über sie und berührte sie mit ihren Lippen.

Er tat, als gewahre er es nicht.

»Wir werden gleich morgen einziehen. Und nun möchte ich mich von Ihrem Gatten verabschieden.«

Gustav Adolf kam kopfschüttelnd. Er hatte das Täschchen trotz eifrigsten Suchens nicht zu finden vermocht.

»Der neue Mieter möchte sich von seinem gnädigen Mietsherrn verabschieden,« sagte Friedrich Thorsberg.

Da hob er die langen Arme und fiel ihm stumm um den Hals. – Und Friedrich Thorsberg war eingezogen und Gert und Gertrude mit ihm. Einen Freudenschrei hatte der Tiermaler ausgestoßen, als er die ernsten jungen Menschen erblickte, die er als wilde Küstenkinder verlassen hatte. Und auch Gert und Gertrude entsannen sich des langen, hageren Malers, der sie oft im Urwald auf den Schultern getragen hatte, und schlossen sich ihm aufs neue an. Frau Amely aber wußte nicht, wie sie von den ernsten, jungen Menschen Besitz ergreifen sollte. Den Vertraulichkeiten einer mütterlichen Freundin begegnete das Mädchen mit so verwunderten Augen, daß Frau Amely bald davon Abstand nahm, und für die Künste der Eroberungssucht erschien selbst ihr der Jüngling noch zu jung. Sie sah, daß alle Liebe nur dem einen zuströmte, dem scheinbar immer ruhigen, immer gleichgestimmten starken Manne mit der kurzgeschnittenen grauen Mähne und dem klaren, blanken Blick. Und hier mühte sie sich, teilzunehmen und teilhaftig zu werden.

Sie sorgte für Friedrich Thorsberg und seine Kinder, daß auch nicht das kleinste zu wünschen übrig blieb. Sie trug die Sorge bis in Friedrich Thorsbergs Zimmer, der sie oft hinter sich rascheln und hantieren hörte, wenn er am Schreibtisch saß. Sie überspannte ihre Sorge so weit, daß sie sich nicht zu Bett legte, bevor sie wußte, daß Friedrich Thorsberg heimgekehrt sei, und sie öffnete ihm oft im Nachtkleid mit leisem Vorwurf die Flurtür, wenn er sich zu lange der räucherigen Luft der Versammlungssäle ausgesetzt hatte, um des Bayerlandes politisches Leben zu erforschen.

»Sie sind kalt wie ein Eiszapfen, Herr Professor,« oder »Sie sind naß wie eine Regentraufe,« klagte sie ihn an und nahm seine Hände wärmend in die ihren.

»Meine gnädige Frau, Gustav Adolf wird mich noch zum Krüppel schießen.« Gustav Adolf aber lag hinter der Schlafzimmertür und lachte.

Der Versuch, den Sohn an die Thorsbergschen Kinder heranzubringen, war fehlgeschlagen. Der einundzwanzigjährige Franzl Haßlinger – so hieß der Sohn nach Frau Amelys erstem, verstorbenem Ehegatten – war ein hundertjähriger Greis gegenüber den jungen Thorsbergmenschen. Er sprach von allen Geldsorten der Welt, und wenn sie nach ihrer Gewohnheit vom deutschen Weh und deutscher Wiedervergeltung sprachen, meinte er, das sei ›gefehlt‹! »Wenn er hockt und seine Strümpfe beschaut, schaut er aus wie ein Weib,« sagte Gertrude, und damit hatte sie auch für Gert den Stab gebrochen.

Auch der begabte Vater des Hauses war pünktlich nach der neuen Mieter Einzug erschienen. Im faltenlos sitzenden Gehrock, mit sorgsam gestutzten schlohweißen Backenbärten hatte er sich selber vorgestellt: ›Rittergutsbesitzer Brandt auf Seefelden‹. Und Thorsberg hatte um Entschuldigung gebeten, daß er beim ersten Kennenlernen geradezu als Wegelagerer auftreten müsse. Aber man habe ihm eine Liste mit der Bitte übergeben, begüterte Volksgenossen sich eintragen zu lassen zugunsten der zusammenbrechenden alten Leute, die einst bessere Tage gesehen hätten, und es würde um amerikanische Dollars gebeten, weil die deutsche Mark sich täglich mehr entwerte. Ob der Herr Rittergutsbesitzer Brandt auf Seefelden sich wohl mit hundert Dollars an die Spitze stellen würde. Worauf der Herr Rittergutsbesitzer Brandt auf Seefelden erwiderte, daß er es als eine ganz besondere Ehre ansähe, dem weltberühmten Forscher eine Gefälligkeit erweisen zu dürfen, und er würde eben seine Bank aufsuchen, um das Geld einzuwechseln. Von welchem Gange er nicht wiederkam. –

Ruhigen Schrittes ging Friedrich Thorsberg seinen Weg. Ruhig tastete er sich vorwärts unter gleichaltrigen Männern seines Grades und unter Studenten und Volk. Seine Vorlesungen gewannen immer mehr an Ruf, und sein Hörerkreis schwoll im Laufe des Winterhalbjahres dermaßen an, daß der größte Vorlesungssaal genommen werden muhte. Alle die Hundertschaften, die den verschiedensten Lehrfächern angehörten, warteten in atemloser Spannung auf die Augenblicke, in denen der stählerne Forscher seine wissenschaftlichen Formeln und Ergebnisse in Gleichnisse kleidete, die blitzartig den nachtdunklen Himmel Deutschlands in Flammen setzten. Man ließ ihn wie einen Großen der Welt auf der Straße einsam gehen und drängte sich nicht an ihn. Aber vor ihm und hinter ihm schritten bald studentische Trupps gleich einer Freiwilligenwache.

Zwei Monate lang hatte Friedrich Thorsberg allwöchentlich das Hauptpostamt aufgesucht und nach einem postlagernden Briefe gefragt. Vergeblich.

Im neuen Jahre fragte er nicht mehr.

*

 


 << zurück weiter >>