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5

Durch das Bayerland rollte der Zug.

Das Maintal brauste er hinan, und links und rechts boten sich im Wechsel Fluß und Fluren, die Berghänge des Frankenweins und ihre Hüter, die Bischofssitze, wunderlich geschweifte Dorfkirchtürme und die edlen Dome der altertümlichen Städte. Friedrich Thorsberg sah mit entspannter Seele bei Gert und Gertrude, die die Fensterplätze inne hatten und Fragen über Fragen an den land- und leutekundigen Vater stellten.

Als der Zug hinter Hanau ins Aschaffenburgische eingetreten war, war es über Friedrich Thorsbergs Gemüt wie eine Befreiung gekommen. Die Luft schien ihm stärker und kräftiger geworden, die Sonne klarer, der Ausblick weiter. Sein Auge beobachtete die Menschen. Ihre Bewegungen erschienen ihm ausholender, ihre Worte klangvoller, ihr Wesen aufgerichteter. Vielleicht war es nur der Widerschein seiner eigenen freier atmenden Seele, der den Dingen ringsum Licht und Fülle gab. Aber wäre es nichts anderes – die Landschaft hätte es bewirkt. Bayern.

»Dort, Vater, dort! Was strömt dort von Westen nach Osten ins Weite?«

»Die Donau, Kinder, die alte Nibelungenstraße.«

»Dort, Vater, dort! Was geistert dort hinten aus den Nebeln hervor?«

»Das Stromgebiet des Lechs. Auf dem Lechfeld war's vor tausend Jahren, daß der deutsche Kaiser die räuberischen Ungarn zerschlug.«

»Dort, Vater, dort! Was blinkt und winkt dort in ungezählten Spiegeln in der Abendsonne?«

»Das Isartal,« sagte Friedrich Thorsberg, und er erhob sich und lehnte lange die Stirn gegen die Scheibe. »Erhoffen wir von ihm für unsere Gegenwart einen neuen deutschen Ruhmestitel. An der Isar liegt München.«

Sie fuhren in Bayerns Hauptstadt ein und trugen ihr geringes Gepäck zum Starnberger Zug.

»Die Großeltern werden uns schon in ihrem Hause erwarten.«

»Werden sie nicht auf dem Bahnhof sein?«

»Der Großvater liebt keine öffentlichen Gefühlsäußerungen. Keine Sorge darum. Wir kommen ihm schon gelegen. Ja, er freut sich auf uns, als ob hoher und höchster Besuch zu ihm käme. Aber heimlich freut er sich. Und heimlich ist er heute mittag, als er meine Drahtung erhalten hat, in die Räucherkammer gegangen und hat den saftigsten Schinken herausgesucht, und heimlich ist er die Treppe hinauf zum Taubenschlag und hat die fettesten Tauben für uns bestimmt. Gebt einmal acht, wie ich ihn kenne, den alten, hünenhaften Herrn.«

Sie fuhren schon durch den Abend gen Starnberg.

»Gibt es etwas, was wir uns besonders merken müssen? Worauf der Großvater besonderen Wert legt?«

Friedrich Thorsberg lachte in der Erinnerung vor sich hin. Und plötzlich war ihm, als wäre es doch nicht die Landschaft, als wäre es doch nicht Bayern gewesen, was ihm das freiere und freudigere Atmen geschenkt hätte, als wäre es uneingestanden die Freude auf den Vater, die Freude auf die Mutter. Ja, doch. Es war so. Jetzt wußte er es. Das Blut drängte wieder einmal nach dem Blute.

»Ob es etwas gibt, Kinder? Ihr meint natürlich eine Schwäche? Ach, ach, streitet's nicht ab. Auf was anderes soll denn der Mensch einen besonderen Wert legen als auf eine Schwäche? Ja, der Großvater hat eine Schwäche, aber eine, die zugleich seine Stärke ist. Er führt bei den Mahlzeiten eine gewaltige Klinge und benutzt den Wert eines jeden Gastes nach seinem rechtschaffenen Einhauen. Wer sich vor seinem Teller fürchtet oder nur darauf herumstochert, ist für ihn ein Weichling und Feigling, vielleicht noch seiner ärztlichen Behandlung wert, aber nimmermehr seiner Mannesfreundschaft.«

»Das ist eine Schwäche, die ich mir lobe,« sagte Gert und zeigte seine Zähne, und Gertrude raunte ihm zu, daß sie nun erst recht einen Hunger spüre wie ein leibhaftiger Wolf.

Der Zug fuhr in den Starnberger Bahnhof ein.

Sie wandelten das stillgewordene Seeufer entlang bis zu dem alleingelegenen Landhaus des alten Generalstabsarztes Dr. Thorsberg. Eine hohe schmiedeeiserne Gitterpforte fiel hinter ihnen ins Schloß. Sie tasteten sich, ihr Gepäck in Händen, durch den dunklen Garten zu dem Licht über der Landhaustür.

»Friedrich! Friedrich!«

»Mutter!«

Die Tür war aufgeflogen, der breite Flur hell erleuchtet. Und in dem Lichtschein stand eine feingliedrige, weißhaarige Dame mit einem Mädchengesicht, über das die Freude flutete, und öffnete die Arme und schloß sie fest um den heimgekehrten Sohn an ihrem Heizen.

»Friedrich – Friedrich –«

»Mutter – – « »Still, Friedrich, oder ich fang' das Heulen an.«

»Ach, Mutter, nur diesen einen Augenblick. Nur diesen einen Augenblick Junge sein.«

Da drückte sie das zuckende Gesicht ihres Jungen noch fester an ihre Brust.

»Kommt herein!« dröhnte aus dem Hausinnern eine Stimme. »Wollt ihr euch einen Schnupfen holen? Schließt endlich die Tür zu und tretet ein!«

Die Mutter gab den Sohn frei. Sie streckte beide Hände nach den Kindern aus und zog Gert und Gertrude in ihre Umarmung.

»Ihr lieben, lieben Kinder. Was seid ihr für große, stolze Menschen geworden.«

»Alte Frauen und ewige Unvernunft!« dröhnte aus dem Hause die Stimme. »Soll ich Taschentücher bringen, Charlotte?«

»Er kann's ja selber nicht mehr abwarten,« flüsterte die alte Dame und wischte sich die Augen. »Tretet ein. Seid willkommen. Ja, hier zieht es wirklich arg. So, nun seid ihr drinnen und geborgen. Nun lauft zum Großvater hin.«

In der offenen Zimmertür wuchtete die hünenhafte Gestalt des Greises. Schneeweiß sein dichtes Haupthaar, seine buschigen Brauen, sein kurzgehaltener Schnurrbart. Aber unter dem Schnee der Brauen funkelten zwei Augen in heißem Lebensspott.

Der Sohn stand vor dem Vater. Hochgewachsen wie er, breitschultrig wie der Alte und mit heißen Freudenaugen. Mit einem eisernen Druck hielt er des Vaters Rechte. Sie sahen sich an.

»Grau bist du geworden,« murmelte der Alte. Und dann zog er ihn mit einem kurzen Ruck an seine Brust.

»Ach, Charlotte, mach nicht ein so törichtes Gesicht. Ich hab' ihn wahrhaftig in den Arm genommen. Hab' ich dich nicht auch schon in den Arm genommen? Gott, wie sie errötet. Nun bring mir endlich die Kinder.«

»Guten Abend, Großvater Exzellenz,« sagte Gert, nahm die Hacken zusammen und verbeugte sich.

»Guten Abend, Großvater Exzellenz,« sagte Gertrude und knickste tief.

Der Alte schmunzelte. Seine Augen funkelten über die beiden jungen Reiser seines Stammes hin.

»Eine feine Erziehung habt ihr. Alle Wetter. Das exzellenzt sich ja bei euch wie bei den Negerhäuptlingen. Wenn ihr mir einen Kuß gebt, soll euch die Exzellenz ein für allemal geschenkt sein.«

Die Enkel stellten sich vor ihm auf die Zehenspitzen. Der Alte beugte sich zu ihnen nieder, rollte die Augen und küßte sie. »Nun seht mir die verwunderten Augen der Großmutter. Guckt sie nicht zu, als wäre das der erste Kuß, den sie bei mir zu sehen kriegte? Bring die drei in ihre Zimmer, Charlotte, und sorg, daß wir pünktlich in einer Viertelstunde zu Tisch gehen können.«

Er drehte sich kurz um und klappte die Tür hinter sich ins Schloß.

»Kommt,« sagte die alte Dame diensteifrig voransteigend und hob die Arme, als wollte sie Sohn und Enkelkinder unter mütterliche Flügel nehmen. »Wascht euch schnell den Reisestaub ab. Hier du hinein, Friedrich. Hier du hinein, lieber Gert. Und hier wohnt meine liebe Gertrude. Franz! Franz! Das Gepäck!«

Ein alter schlohweißer Diener löste sich von der Wand und lächelte zu Friedrich Thorsberg hinüber.

»Franz, alter treuer Kerl, immer noch gut bei Wege?«

»Ich danke schön, Herr Professor. Herr Professor schaun so drahtig aus wie nur je. Das bißchen Grau hebt, mein' ich.«

»Na, darin soll's mich freuen. Das sind die Kinder, Franz. Aber nun müssen wir uns sputen.«

»Ja, das müssen wir, Herr Professor. So, und hier wär' auch das Gepäck.«

Pünktlich, nach einer Viertelstunde rief der Ton eines Gongs durch das Haus. Friedrich Thorsberg schritt mit den Kindern dem Speisezimmer zu, und Franz öffnete weit die Tür. An ihren Stühlen standen der Hausherr und die Hausfrau und noch ein zweites Paar, das den Eintretenden freundlich zunickte.

»Ich habe dir deinen Bruder Karl und seine Frau Bella gleich mit hinzugeladen,« sagte der Hausherr. »Da brauchst du deine Geschichten nicht zweimal hintereinander zu erzählen. Gesegnete Mahlzeit.«

»Gestatte, Vater, daß ich die Geschwister begrüße ...«

»Mach's kurz. Die Wärme kommt mit der Mahlzeit.«

Einen Augenblick standen die Brüder Hand in Hand. Auch Karl Thorsberg hochgewachsen, doch mit der lässigen Haltung angestrengter Kopfarbeiter. Seine klugen Augen forschten in des Bruders Gesicht. Dann reichte Bella Thorsberg dem Schwager die Hand, eine kühle, wohlgepflegte Hand, die Friedrich Thorsberg an die Lippen zog. Auch die Kinder erhielten einen Händedruck.

»Franz, die Suppe. Ich für meinen Teil beginne.«

Und die verhaltene Stimmung löste sich in einem kurzen Lachen.

»Der Papa ist immer noch kein Freund von Gefühlsergüssen,« sagte Frau Bella, und man vermochte in ihren dunklen Augen nicht zu lesen, ob sie spotte oder sich langweile.

»Meine schöne Tochter unterschätzt mich. Warte den gekochten Schinken ab. Ich habe mich bei meines Sohnes Friedrich drahtlicher Anmeldung höchst eigenfüßig in die Räucherkammer begeben und höchst eigenhändig den saftigsten herausgesucht. Das allein sind schon beachtenswerte Gefühlsergüsse.«

Die Kinder hoben die Häupter und sahen sich blitzschnell an.

Der alte Diener trug den dampfenden Schinken auf. Er ruhte in seiner ganzen Fülle auf dem Schneidebrett mit der tiefen Randkerbe für den ausfließenden Saft. Der Hausherr wetzte das große Messer am Stahl.

»Stolpere nicht, Franz. Sieh dir meine Hände an. Kein Zuck. Und da willst du Jüngling mit den Beinen um dich werfen?«

Er stach die Gabel in den dampfenden Schinken und zog mit dem haarscharfen Messer die mächtigen Scheiben herunter, rund um den Knochen herum.

»Da schaut her. Wenn einer seine Anatomie binnen hat. Bitte um die Teller.«

»Nicht mehr als die Hälfte, Papa,« bat Frau Bella. »Wir sind in der deutschen Notzeit solchen Überfluß nicht mehr gewöhnt.«

»Seid ihr nicht?« fragte der Alte verwundert. »Aber schöne Diamanten trägt meine Tochter um den noch viel schöneren Hals.«

»Zu Ehren des heimgekehrten Schwagers, Papa.«

»Und zu Ehren des heimgekehrten Sohnes habe ich diesen Schinken gekocht. Nun? Und ihr wohlerzogenen Kinder? Soll ich euch auch so ein Scheibchen teilen?«

»Dann müßte ich den Herrn Großvater zu oft belästigen,« erwiderte Gert gerade aufgerichtet.

»Donnerwetter nochmal! Und du, Kleine?«

»Ich habe bloß Hunger, Großpapa. Wenn das nicht unverschämt ist.«

»Unverschämt? Ich hätte euch beinahe durch den Franz einen Kuß geben lassen. Kinder, heute schmeckt's mir.« Während des stummen Schmausens wischte er sich den Mund, nahm das Weinglas vom Tafeltuch und erhob es.

»Mein lieber Sohn Friedrich, dir und deinen hungrigen Kindern dies Glas zum Willkomm. Auf daß sie immer hungrig bleiben und nie übersättigt werden mögen. Dann ist die Art gut. Euer Wohlsein.«

»Ich danke dir, Vater. Sie haben ihre Zähne zum Beißen, meine jungen Jagdhunde.«

Frau Bella Thorsberg strich sich eine dunkle Locke hinter das Ohr. Ihre Augen musterten den Schwager und seine Wildlinge.

»Hast du die Erziehung der Kinder ganz allein geleitet, Schwager?« fragte sie.

»O nein. Das Beste, was sie mitbekommen haben, haben sie von ihrer verstorbenen Mutter bekommen. Die Wahrhaftigkeit ihres Wesens. Auf diese Grundlage habe ich nur den unbeirrbaren Willen ihres Handelns gesetzt.«

»Das nenne ich Persönlichkeitserziehung,« sagte Frau Bella Thorsberg. »Vielleicht ein wenig gefährlich für das Entwicklungsalter.«

»Franz, bring die Tauben. Ja, ja, ich war persönlich auf dem Dachboden und habe sie abgetastet,« beantwortete er den blitzschnellen Blick der Kinder.

Frau Bella Thorsberg zuckte mit den weißen Schultern.

»Es ist in Gegenwart des Papas bei Tisch nicht möglich, eine anders geartete Unterhaltung zu führen,« meinte sie kühl.

Der Alte wetzte das Messer am Stahl.

»Ich wage meine schöne Tochter nicht zu fragen, wie alt sie ist. Aber in zwanzig Jahren wird meine schöne Tochter eine gefüllte Taube jedem leeren Gespräche vorziehen.«

»Aber Vater,« lachte der Bankherr und schlug die schweren Augendeckel hoch. »Du wirst meine Bella doch nicht inhaltloser Reden verdächtigen?«

»Deine Bella nicht, aber die gesamte Menschheit. Aus einer ganzen Garbe Stroh drischest du höchstens ein Pfund Getreide. Und der Psalmist sagt: ›Das Leben ist ein Geschwätz!‹ Ja, Kinder, da sind die gefüllten Tauben. Eine ganze oder eine halbe? Heraus mit der Sprache.«

»Eine ganze!« riefen Gert und Gertrude, und der Großvater reichte sie ihnen mit dem Spieß.

»Wie alt bist du, mein Enkelsohn Gert?«

»Gerade siebzehn geworden, Großvater.«

»Und meine Enkeltochter Gertrude zählt fünfzehn Jahre? Also so alt wie eure Ruth, Karl. Aber die Gertrude ist eine Handbreit höher gewachsen.«

»Du meinst, die Ruth müßte besser essen, Vater.«

»Besser?« wiederholte der Alte. »Ich glaube nicht, daß in einem Bankhause schlecht gegessen wird. Vielleicht etwas unregelmäßig. Man soll mit Verstand essen. Wünscht noch jemand die Schüssel? Nein? Nun, dann wünsche ich allerseits eine gesegnete Mahlzeit.«

»Kommt, Kinder,« sagte die alte Dame mit einem Seufzer der Erleichterung und ließ sich lächelnd von Gert und Gertrude die Hand küssen, »kommt, wir machen droben vor dem Zubettgehen noch ein Spielchen miteinander.«

Auch dem Großvater küßten sie die Hand und der schönen Frau Bella. Bei dem Vater und dem Oheim galt ein Händedruck.

Im Nebenzimmer saß der Alte mit seinen Söhnen und seiner Schwiegertochter nieder. Die Herren rauchten eine Zigarre, und Frau Bella sog an ihrer Zigarette. Franz fragte, ob ein Branntwein gefällig sei. Frau Bella schauerte schweigend in den Schultern. »Mir einen doppelten,« sagte der Hausherr. Dann tauchte der weiße Scheitel der Hausfrau im Licht der Lampe wieder auf.

»Sie schliefen mir im Stehen ein,« berichtete sie. »Da hab' ich sie ins Bett gepackt.«

Eine Weile blieb es still im Kreis. Der Alte hob den Kopf, als horchte er in die Ferne.

»Nun erzähl uns von deiner geliebten Frau, Friedrich. Es ist besser, wir nehmen den Verband gleich herunter und sehen nach der Wunde.«

Friedrich Thorsberg zog die Luft durch die Nase. Er starrte in die Ferne, in die der Alte hineingehorcht hatte. Und plötzlich begann er zu erzählen. Halblaut. Ohne Überschwang. Von Afrika erzählte er, und in allen dunklen Mühsalen stand die helle Gestalt der Frau Minne. Von dem Angebot und der Annahme der ersten Professur. Frau Minnes in den Tropen erkranktes Herz sollte in Deutschland gesunden. Vom jähen Ausbruch des Weltkrieges, der ihn von der Landung weg zu den Fahnen rief. Und Frau Minne zog zu ihrem alten Vater in die Rentnerstadt am Rhein und ließ die Kinder den geregelten Unterricht in den höheren Schulen aufnehmen. Von den vier Jahren Feldzug vom Grenzwall in Frankreich bis zu den wilden Kämpfen in der Krim. Und auf viermaligem Urlaub sah er seine tapfere Minne, die ihren Vater beerdigt hatte und mit den Kindern die Aufgaben lernte. Von der Einsamkeit ihres Hausens im abseits gelegenen Landhaus am Rhein, um Frau Minnes Genesung willen. Und die Bilder drängten sich, die Bilder von der dunklen, windgepeitschten Rheinbrücke, von der Flucht, von der Wiedervereinigung mit der gelähmt Dahinsiechenden, vom seligen Tod auf der Thorsburg, dem Thorsbergschen Erbe.

Er hatte geendet. Mitten im Zimmer sah er Frau Minne stehen, mit dankesgroßen Augen, und er lächelte das Bildnis an, daß es der Mutter durchs Herz schnitt. Sie stand auf und drückte schluchzend seinen Kopf an ihre Brust.

»Ruhig. Charlotte, ruhig. Daß ihr Weiber immer rührselig werden müßt.«

Aber der Grollende erhob sich selber, tat, als oh er seine fassungslose Gefährtin zum Sitz zurückgeleiten wollte, und ließ seine Hand für Sekunden auf des Sohnes Haupt ruhen.

»So stolz du auf dein Weib bist, Fritz, so stolz bin ich auf meine Schwiegertochter.«

Der Sohn griff nach des Vaters Hand. Eine Weile ließ sie ihm der Alte. Dann führte er die still weinende Hausfrau zu ihrem Sessel zurück, ließ sich selber nieder und zog auffällig die Uhr.

»Der Wagen ist schon vorgefahren, Vater. Du brauchst nur zu winken und wir verschwinden.«

»Habe ich etwa gewinkt? Wenn du übrigens noch eine Zigarre auf dem Nachhauseweg wünschest –«

»Das nennt nun der Vater nicht winken. Willst du dich verabschieden, Bella?«

Frau Bella Thorsberg verabschiedete sich. Vor dem Schwager verweilte sie.

»Merkwürdig, wie rasch du den Ausdruck wechselst. Soeben fürchtete ich mich vor deinen Augen. Und jetzt blicken sie so blank und klar, daß man – geradezu – Zutrauen – gewinnen könnte.«

»Gewinn es nur, verehrte Schwägerin.«

»Ich weiß doch nicht. Aber ein Kennenlernen dürfte lohnend für uns sein. Willst du morgen mittag um drei Uhr bei uns speisen? Ich schicke dir den Wagen um halb drei Uhr heraus. Er macht an hundert Kilometer die Stunde.«

»Die Kinder bleiben hier,« bestimmte der alte Befehlshaber. »Ich bitte mir aus, daß man mir ohne Befragen die Gäste nicht aus dem Hause holt.« Frau Bella faßte kühl ihre Kleidersäume und tauchte in einem Hofknicks unter.

»Gestatten Euer Exzellenz gnädigst die Einladung?«

»Aber mit dem größten Vergnügen,« erwiderte der Alte obenhin und reichte ihr die Sand zum Abschied.

Aber die Seestraße fuhr geräuschlos der schwere Kraftwagen nach München.

Der alte Generalstabsarzt wandte sich vom Fenster ab und schritt auf den Sohn zu.

»Tu mir einen Gefallen, Friedrich, und trink noch einen Schnaps mit mir.«

»Wenn ich dir einen Gefallen damit erweise: gern, Vater. Sonst trinke ich mäßig, um das Auge klar zu behalten.«

»Das innere Auge, wolltest du sagen. Laß nur, mein Junge. Ich war meiner Zeit berühmt als sicherster Krankheitsbestimmer.«

»Es ist leine Krankheit bei mir, Vater. Es ist der Weg zur Gesundung.«

»Darüber ein anderes Mal. Du willst jederzeit deine Gedanken beaufsichtigen können. Ich verstehe. Aber diese Nacht sollst du schlafen. Und darum verordne ich als der ältere Amtsgenosse dir diesen Schnaps.«

»Dein Wohlsein, Vater.«

»Das deine. So, nun ist auch der Nachgeschmack von meiner schönen Tochter Bella hinuntergespült. Sieh, und da kommt wie gerufen die Mutter und möchte dir zur Gutenacht um den Hals fallen.«

»Gute Nacht, Friedrich. Ich wollte dir noch so etwas Schönes zur Gutenacht sagen, aber der Mann da zerknickt's einem im Munde.«

»Sag es mir, Charlotte. Sag es mir, wenn wir nachher allein sind –.«

Friedrich Thorsberg vernahm noch das Rauschen des Sees in seinen Ohren. Er wollte nach einem Bilde haschen, das über den Wassern winkte, und war entschlummert. Unter dem Dache von Vater und Mutter schlief er seinen festesten Kinderschlaf. Und wieder vernahm er das Rauschen des Sees in seinen Ohren und lag ganz still, um sich auf den Namen des Gewässers zu besinnen. War es die Nordsee an der flandrischen Küste? War es das Schwarze Meer, das die Krim umspülte? War es der Indische Ozean, der die ostafrikanischen Ufer umwogte? Nein, dies seine luftige Geflüster war nur ein Wiegenliedlein, ein Streicheln von Mutterhand: Schlafe, mein Söhnchen ...

Er warf sich wohlig herum und erwachte von seiner Bewegung. Ging da nicht die Tür? Lugten da nicht die Gesichter von Gert und Gertrude durch den Spalt? »Halt! Hiergeblieben!« rief er. »Wollt ihr wohl herein!«

»Guten Morgen, Vater! Guten Morgen, Väterchen! Das ist die Vergeltung für Frankfurt! Diesmal hast du den Morgen verschlafen! Hei, wie sich der Großvater die Hände gerieben hat.«

»Kinder, zieht mir den Vorhang zur Seite. Ist das der Starnberger See da draußen? Ist das bei Exzellenz Thorsberg hier drinnen? Neun Uhr? Alle guten Geister! Hinaus mit euch Verrätern!«

Eine halbe Stunde darauf stand er vor Vater und Mutter.

»Frisch, wie aus dem Ei geschlüpft,« lobte der sorgsam gekleidete Generalstabsarzt. »Der rechte Soldat muß schon in der Morgenfrühe so tadellos hergerichtet sein, daß er tagsüber ins Brautlaken oder ins Sterbelaken kann, ohne sich erst schämen zu müssen. Nun, Söhnchen, wie war's mit dem Schnaps? Ist es nicht wohltuend, wenn man einmal für eine Nacht die Aufsicht über sich verliert?«

»Nur unter deiner Obhut, Vater,« lachte der Sohn.

»Guten Morgen, Mutter. Hab' ich dir die Hausordnung gestört?«

Sie strich ihm mit der Hand durch die kurze, ergraute Mähne. Einen Herzschlag lang schloß er die Augen unter der liebkosenden Frauenhand.

»Die Hausordnung, Fritz? Hier vollzieht sich alles mit soldatischer Pünktlichkeit. Der Vater nimmt jetzt nur das zweite Frühstück, Während du das erste nimmst. Dürfen die Kinder den Kahn losmachen und auf den See? Es windet kalt.«

»Die Kinder pflegen um diese Jahreszeit noch ihr Bad im Freien zu nehmen.«

»Bis es friert, Großmama.«

»Das ist doch wohl Scherz,« entrüstete sich die alte Dame. »Und es schickt sich wohl auch kaum.«

»Wenn die Mutter vor irgend etwas Angst hat, so schickt es sich nicht,« sagte der alte Herr trocken.

»Mutter, es sind Wasserratten,« vermittelte der Sohn. »Aber deine Fürsorge wird ihnen gut tun.«

»Lehr du mich die Fürsorge kennen,« wehrte die alte Dame mit einem ärgerlichen Lächeln. »Habt ihr Männer das kleinste Weh-Wehchen, so laßt ihr sie euch von uns Frauen hingebend gefallen. Habt ihr den ersten Genesungstag, so donnert ihr über Weiberwirtschaft und unerträgliche Übergriffe. Lache nicht so hinterhältisch, Mann. An der Gertrude werde ich schon mein Meisterstück tun. Und nun rudert hinaus, Kinder, und fallt nicht ins Wasser.«

Der weißhaarige Hüne hielt sich die Seiten.

»Weibliche Fürsorge! Predigt den Wasserratten, nicht ins Wasser zu fallen. Ach, alte, liebe Seele, eines Tages muß ich dir doch noch mal einen Kuß geben.«

Die alte Dame klappte die Tür hinter sich ins Schloß. Der Vater wandte sich strahlend an den Sohn.

»So ein Prachtmenschenskind. Stutzig wie eine alte, feine Dame, die ängstlich den Teufel wittert, und holdselig verschämt wie ein junges Mädchen, das nun mal mit diesem Teufel auf du und du geraten ist. Es ist eine wahre Lust, sie zu ärgern.«

»Vater ...« mahnte lachend der Sohn und schüttelte den Kopf.

»Schüttele du nur. In einer alten Ehe gibt es nur einen Leitsatz: Nicht einschlafen. Das ist gleichfalls ein Gesundheitslehrsatz. Bei dem einen erlöst ein Donnerwetter, bei dem anderen ein Tränchen. Eins geht im andern auf. Bleibt Null.«

In der Tür erschien die Mutter mit dem alten Franz. Der Diener stellte Teller und Tassen ab und die Hausfrau eine verdeckte Schüssel. Als der alte Franz das Zimmer wieder verlassen hatte, hob die Hausfrau mit der einen Hand den Deckel, wandte sich und fuhr mit der anderen dem Hünen in das dichte, weihe Haar.

»Hier, du undankbare Kreatur, die ersten Muscheln.«

»Charlotte – hör mich an – wir leben doch wie – wie – die Turteltauben.«

»Glaub nur nicht, Fritz,« rief die alte Dame, »daß das seine Liebe aus ihm spricht. Das spricht seine nackte Selbstsucht. Dabei kommt es seiner überlegenen männlichen Vernunft auf eine Handvoll Unsinn gar nicht an. Hast du schon einmal Turteltauben Muscheln verzehren sehen? Das Bild hätte ich einmal bringen sollen!«

Aber sie setzte sich mit an den Frühstückstisch, sorgte für den Sohn und lieh sich von ihrem alten Eheherrn ab und zu eine besonders schön gelöste Muschel an die Lippen halten. –

Die Herren sahen im Arbeitszimmer. Der Generalstabsarzt blätterte in einigen ärztlichen Flugschriften, schichtete sie auf einen Haufen und faltete die Hände darüber. Friedrich Thorsberg schaute zu ihm auf.

»Darf ich von deinem neuen Lebensfahrplan hören, Friedrich?«

»Ich habe die Münchener Professur übernommen, Vater. Es ist ein großes Gebiet für den Forscher.«

»Für den Forscher. Und für den Menschen? Wird das Gebiet für Friedrich Thorsbergs Leben – reichen?«

»Ich pflege meine Pläne nicht durcheinanderzuwerfen, Vater. Erst heißt es, einen Stützpunkt gewinnen.«

»Und dann?«

»Und dann von diesem Stützpunkt aus alles sammeln, sichten, zusammenfassen.«

»Was? Deine Forschungsergebnisse? Das wäre eine solche Selbstverständlichkeit, daß wir hier nicht Silben zu stechen brauchten.«

»Gut also. Die Ergebnisse meiner wissenschaftlichen und meiner völkischen Forschungen. Ohne an die Abwehr der deutschen Schmach zu denken, wäre mir auch die deutsche Wissenschaft Fron und Seiltänzerei vor fremdem Zuschauerpöbel.«

Der greise Generalstabsarzt strich sich über die herausgearbeitete Altersstirn.

»Du hast dir deine Ziele recht weit gesteckt, Friedrich. Nicht ein wenig zu weit für das Leben einer Eintagsfliege?«

»Vater,« sagte der Sohn und seine Brauen rückten zusammen, »für die Eintagsfliege bedeutet der Lebenstag das Lebensall, Menschen denken in Jahrzehnten, Götter in Ewigkeiten. Es ist immer das gleiche und bei Licht kein Unterschied.«

»Stolz wie ein Forscher,« nickte der Alte. »So möchte ich mit deiner Erlaubnis meine Frage anders stellen. Hältst du das kurze Menschenleben wirklich für wichtig genug, um in ihm Aufgaben nachzujagen, die es dir noch mehr verkürzen?«

»Es gibt dreierlei Leben, Vater. Es gibt das Leben des Einzelnen, es gibt das Leben des Volkes und das Leben des Landes. Ist das Leben des Landes gefährdet, so muß das Volk mit seinem Leben einspringen. Liegt das Volk am Boden, so muh der Einzelne in die Bresche, bis es sich wieder aufgerichtet hat. Die Zeit für den Einzelnen ist längst gekommen, aber noch fragt sich fast ein jeder: warum soll gerade ich das Vorbild sein? Und damit ist wohl deine Frage beantwortet, Vater.«

Der Alte spielte mit einem breiten Papiermesser. Jetzt stich er die Klinge in den Tisch, daß der Griff noch lange nachzitterte.

»Noch nicht ganz, Friedlich. Ich seh' noch eine Lücke. Dieses Volk ist so gemein geworden in seiner Unterwürfigkeit und Hundedemut. Und ein ritterliches Leben setzt man nur ein um einen blutroten Kranz, nicht um einen Hundekuchen. Wo ist dieser Kranz?«

»Dort,« sagte Friedrich Thorsberg und wies auf das nachzitternde Messer. »Dort, Vater. Mann gegen Mann. Und mitten ins Herz des Feindes. Persönliche Angelegenheit. Jawohl. Aber die Masse der persönlichen Angelegenheiten wird wachsen, bis sie das erwachende Volk erfaßt und das gesammelte Volk wiederum das Land, das deutsche Land, zu seiner allerpersönlichsten Angelegenheit macht. Bist du zufrieden?«

»Zufrieden? Nach einigen siebzig Lebensjahren, in diesem Tollhaus verbracht?« Der Alte lachte kurz auf. »Laß dir daran genügen, daß ich mit meinem Sohn Friedrich nicht geradezu unzufrieden bin.«

Friedrich Thorsberg erhob sich. Er reckte sich in den Gliedern.

»Heute ist noch Urlaubstag. Morgen erst sieht mich die Universität. Wie wohl das tut, die Schule schwänzen.«

»Merkst du was?«

»Zunächst werde ich uns eine Wohnung suchen müssen. Wirst du uns so lange noch als Gast behalten können? Ich meine, Vater, ob wir dir nicht zu sehr deine Gewohnheiten stören?«

»Ich lasse mir meine Gewohnheiten von keinem Menschen stören,« sagte verwundert der Alte. »Nicht mal von deiner Mutter. Aber es tut nicht gut, daß alt und jung auf die Dauer beieinander Hausen. Das ist eine Lebensregel, von der unter keinen Umständen abgewichen werden sollte, und im Gefühlsdrang mal gar nicht. Ich will auf meine alten Tage an dir und deinen Kindern Freude haben, und Feiertagsfreude pfropfest du nicht auf den Alltagsärger wie den Sonntag auf die sechs Werkeltage. Ich habe Platz genug im Haus. Aber ich vermiete die leerstehenden Räume lieber an ein paar Ausgewiesene, den Oberst Lenbach mit seinem Sohn.«

»Lenbach? War er nicht Generalstabschef einer Armee?«

»Du meinst den rechten. Hartes Holz, der Oberst. Heute abend kommt er zu Tisch.«

»Er stand im Rufe eines festen Mannes, von überragender Begabung.«

»Da hast du das Tollhaus. Er bezieht bei mir die schrägen Dachstuben.«

»Kommst du mit an den See, Vater? Ich möchte den Kindern noch zusehen.«

»Es ist jetzt nicht meine Zeit. Hol dir die Mutter. Die lebt wild in den Tag.«

Frau Charlotte Thorsberg war mit Freuden bereit. Aber bevor sie sich aus dem warmen Haus in den kühlen Herbsttag begab, hatte sie vor ihrem Ehemann anzutreten und sich mustern zu lassen.

»Hast du ein Jäckchen unter? Zieh mal den Schleier ein wenig fester, damit du keine rote Nase kriegst. Frauen mit einem Schnupfen sind das Widersinnigste auf der Welt. Kehrt. Marsch.«

Am Arm des hochgewachsenen Sohnes trippelte die zierliche alte Dame das Seeufer entlang, die Wangen mädchenhaft rot, in den Augen ein verschämtes Licht.

»Wie soll ich dich den Hiesigen nur vorstellen, Friedrich? Das ich armes Wurm dich graumähnigen Hünen geboren haben soll, glaubt mir ja doch kein Mensch.«

»Überschlag mich, Mutter. Geh gleich auf die Enkel über.«

»Das wäre gescheit.« Die alte Dame ging mit sinnendem Lächeln. »Was ich dir noch sagen wollte, Fritz. Ohne daß es der Vater gleich auf den Kopf stülpt. Ich habe in meinem ganzen Leben um dich eigentlich nur Angst ausgestanden. Als Junge warst du kein Zahmer. Dann die Beschäftigung mit den scheußlichen Pestbazillen, die du auch noch gezüchtet hast, als wenn's nicht schon genug davon gäbe. Dann dein jahrelanges Verschwinden im dunkelsten Afrika, wohin weder Post noch Telegraphendraht führt. Und endlich der Krieg und immer wieder der Krieg und du an allen Ecken und Enden. Nun aber habe ich eine tiefe, tiefe Freude an dir erlebt, und das sind die Kinder, zu deren Großmama du mich gemacht hast. Das war's, was ich dir sagen wollte, um gerecht gegen dich zu sein.«

»Liebe, arme Mutter,« sagte Friedrich Thorsberg, hob ihre Hand aus seinem Arm und führte sie an seine Lippen. »Hab' ich dich so lange warten lassen mit meiner Liebe? Bis du sie aus zweiter Hand durch die Enkelkinder erhältst?«

»Wenn man sie nur irgendwann einmal erhält. Warten wollen wir Frauen dann schon gerne.«

Draußen auf dem See glitt das Boot der Kinder unter doppeltem Ruderschlag. In einsamer Größe thronten die fernen Alpengipfel. Jetzt gellte ein Raubvogelschrei über das Wasser hin. Friedrich Thorsberg gab ihn zurück, daß die alte Dame an seinem Arm fast in die Knie sank.

»Mein Gott, unterhaltet ihr euch in der Urwaldsprache? Nun ängstige ich mich auch schon um die Enkel.«

Friedrich Thorsberg führte die Mutter auf sonnigen Herbstpfaden nach Hause zurück. »Um den Gert und die Gertrude brauchst du dich niemals zu ängstigen, Mutter. Was sie tun, das können sie. Und wenn ihnen trotzdem etwas zustößt, so ist es Schicksalswille und außer unserer Macht.«

»Das hört sich alles sehr schön an,« bestätigte die alte Dame. »Nur gehören Nerven wie Stricke dazu, um sich hineinzufinden.« – –

Vor dem Landhaus Seiner Exzellenz des Generalstabsarztes rollte der Kraftwagen des Bankherrn an. Friedrich Thorsberg stieg hinein, wickelte sich die flauschigen Decken um die Knie und gab das Zeichen zur Abfahrt. Bald löste sich der Wagen vom Seeufer und glitt pfeilgeschwind zwischen Wiesen und stillen, herbstlich entblätterten Baumschlägen dahin. Scharf sang und sauste bei der schnellen Fahrt der Wind. Es ist November, dachte Friedrich Thorsberg und zog die Decken höher. Aber er merkte bald, daß es nicht an der Kälte der Luft lag, daß es an der inneren Wärme mangelte. Er fuhr ohne sonderliche Freude zu Bruder und Schwägerin. Darüber grübelte er und reckte sich plötzlich und atmete tief.

Dort ragten zwei Türme auf. Noch sah man nichts von einem Häusermeer. Nur diese zwei Türme. Riesenhaft wie deutsche Kraft und doch begütigend und anheimelnd wie ein Volkslied. Die Türme der Liebfrauenkirche.

Dies Bild gab ihm die vermißte Wärme. Mit heiteren Augen fuhr er ihnen entgegen und in die Münchener Stadt hinein, über die rauschende grüne Isar und die Höhe hinauf in das Viertel der Herrenhäuser. Durch ein steingehauenes Einfahrtstor bog der Wagen und hielt vor einem langgestreckten, edelgebauten Gartensitz.

Friedrich Thorsberg trat ins Haus. Wandteppiche hüben und drüben. Kein Ton spann zwischen ihnen.

Vom Diener geführt, betrat er das im Stile des sechzehnten französischen Ludwig gehaltene Empfangszimmer. Ein Wandteppich rauschte. Mit ausgestreckten Händen kam ihm Frau Bella entgegen: »Herzlich willkommen!«

»Du mußt mich nehmen, wie ich bin, Schwägerin. Wir leben vor der Hand noch aus dem Koffer.«

»So wie du bist, möchte ich dich ja gerade bei mir haben. Wir speisen im allerengsten Kreise. Außer uns beiden Karl und Ruth. Der Wagen holt Karl nur schnell aus dem Bankhaus.«

»Ihr wohnt hier sehr schön. Ich finde überhaupt, daß ich eine sehr schöne Schwägerin besitze.«

»Hat denn ein Mann wie du Sinn für so etwas?«

»Ich hatte die schönste Frau der Welt. Das darfst du nicht vergessen.«

Überrascht sah sie zu ihm auf. Das war ein seltsamer Hofmacher. Hatte sie soeben eine Bewunderung oder eine Beleidigung von ihm entgegengenommen? Ihre Hand glitt leise über den tiefen Einschnitt ihres Kleides.

»Wie unähnlich ihr Brüder euch seht. Du frisch und herb wie ein Bergquell. Karl der geborene Geheime Rat.«

»Auch Geheime Räte können frisch und herb wie ein Bergquell sein. Würde es dir passen?«

»Dort kommt der Wagen mit Karl zurück. Ich glaube, du bist kein bequemer Gegner, Friedrich.«

»Wollen wir denn Gegner sein, Bella? Ich wüßte mir keinen Grund und ziehe deine Freundschaft vor.« Sie ließ ihre dunklen Augen über ihn hingleiten. Prüfend, wie es Friedrich Thorsberg deuchte, eingliedernd. »Also auf gute Freundschaft,« sagte sie rasch und streckte ihm beide Hände hin.

Karl Thorsberg trat ein und führte seine Tochter Ruth mit sich.

»Ah, mein lieber Friedrich, das ist sehr dankenswert von dir. Hier unser Töchterchen Ruth möchte dir vorgestellt werden. Dies ist der starke Oheim, der die Löwen zu Dutzenden umgebracht hat.«

»Es sind zwar nur vierzehn Stück gewesen, meine liebe Ruth,« sagte Friedrich Thorsberg. »Aber du mußt bedenken, daß ich erst auf der Schwelle zum wirklichen Leben stehe und noch vieles nachholen kann.«

»Ich habe gehört, du bliebest jetzt in München und übernähmst die Professur?«

»Auch in München wird es Raubtiere geben.«

Sie tat, als ob sie ihn verstanden hätte, und lächelte überlegen. Fünfzehn Jahre zählte sie, so viele wie seine Gertrude, und seine Gertrude erschien wie ein unmündig Kindlein neben ihr. Sie saßen bei Tisch und plauderten, aßen wenige erlesene Gerichte und neigten sich die feinwandigen Weingläser zu. Ruth wie die anderen. Dunkel und von leichtschwellenden Formen war sie wie die Mutter, und der Einschnitt ihres schmiegsamen Kleides reichte so tief, daß sich ihre Jungmädchenbrüste darboten wie die jungen Rehzwillinge des Hohen Liedes, die unter Rosen weiden. Sie wußte es, wenn sie sich in Lebhaftigkeit vorbeugte, und die Mutter wußte es und übersah es.

Ich hatte mit der Jugend gerechnet, dachte Friedrich Thorsberg.

Da war es, als ob Frau Bella Thorsberg einen Teil seiner Gedanken erraten hätte.

»Du wirst außerordentlichen Einfluß unter der studierenden Jugend gewinnen, Schwager. Du bringst alles für sie mit, in Gestalt und Wesensart. Und daß dich der Ruf der afrikanischen Abenteuer umwittert, wird dir nicht weniger helfen als die Höhe deiner Wissenschaft. ›Herr,‹ sagte der Schächer am Kreuz, ›Herr, gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst.‹«

»Willst du Vorlesungen über Pestbazillen bei mir belegen, Bella?«

»Ach, Pfui! Vielleicht kann es Karl verständlicher ausdrücken.«

Karl Thorsberg hob die schweren Augenlider.

»Soll ich als Leiter der Bank sprechen oder als Leiter der politischen Partei? Ah, du weißt nicht, daß man mir die Führung übertragen hat. Gleichviel, es kommt auf dasselbe hinaus. Bella wünschte, um mit einem anderen Bibelwort zu sprechen, dies auszudrücken: ›Du hast ein großes Pfund empfangen. Wuchere damit!‹«

»Wenn es nach mir geht, werde ich der größte Wucherei in deutschen Landen werden.«

»Vielleicht wuchern wir einmal zusammen, Friedrich. Halbpart, wie bei einer erstklassigen Banksache. Im übertragenen Sinne natürlich. Ich möchte mich nicht deutlicher aussprechen, bevor der eine weiß, wie der andere marschiert.«

Frau Bella saß still beobachtend. Jetzt gewahrte sie den prüfenden Blick des Schwagers.

»Ist es nicht schade um ihn, Friedrich, daß er seine großen staatsmännischen Fähigkeiten auf der Bank und der Börse in Kleingeld wechseln muß?«

»Weil ich Karls staatsmännische Fähigkeiten noch nicht zu kennen die Ehre habe, vermag ich auch kein Bedauern auszudrücken. Aber schade ist, daß wir nicht eine so kluge, allmächtige Ministerin haben, wie du es bist.« Sie hielt seinem Blicke ruhig stand und neigte nur den Kopf zum Dank, mit einer spottlüsternen Maske.

»Ich werde treue Dienste zu belohnen wissen.«

»Ich auch,« sagte Friedrich Thorsberg. Und dann begann er nach den Prinzen und Prinzessinnen zu fragen.

Aber jeden und jede wußte die kleine Ruth Auskunft zu geben. Dem einen war sie auf dem Wintereis der Seen begegnet, dem anderen im Tanzsaale eines Kurhauses, dem dritten in den Berchtesgadener Bergen. So hatte sich dieser getragen, und so hatte jener geredet. Und den Papa hatten sie alle gelobt als eine Größe im Lande und den festesten Stützpunkt des Königsgedankens ...

»Ruth!«

»Sollte ich das nicht sagen? Nicht vor dem Oheim Friedrich? Gibt's etwas, das über unser Fürstenhaus geht?«

Karl und Bella Thorsberg hielten den Atem an. Sie warteten auf Friedrich Thorsbergs Antwort.

Und Friedrich Thorsberg erwiderte, als erwiderte er dem fünfzehnjährigen Kinde und keinem ernsthaft gewerteten Menschen:

»Erst schwarzweißrot. Und dann weißblau aus Herzenslust. So werden wir uns schon in schönster Ordnung zusammenfinden.«

Der Bruder hatte die Unterhaltung auf die afrikanische Forschertätigkeit abgeleitet und wollte Ergebnisse wissen.

»In Jahr und Tag hoffe ich sie vorlegen zu können. Natürlich nur mir selber.«

»Nur dir selber? Das ist eine Rätselsprache. Oder brauchst du Betriebsgelder?«

»Diese Ergebnisse sind wie das schärfste Schwert und wie das reichste Königreich. Sie töten und erwecken zum Leben.«

»Schwager, du wirst zum Dichter.«

»Ich war ein Dichter, als ich mit der schönsten Frau der Welt die afrikanische Einsamkeit nach Wundern erforschte. Heute bin ich nichts als ein Wirklichkeitsmensch, der jedes lebendige und tote Ding auf seinen Gebrauchswert prüft.«

Als Friedrich Thorsberg sich am Abend verabschiedete, war ihm, als ob ihn sein Bruder Karl mit einer weitaus größeren Hochachtung behandelte. Er hat Gold gerochen, dachte er, Gold in meinen Pestbazillen. Und als Frau Bella ihn mit dem Kraftwagen hinaus nach Starnberg fahren ließ, sein Versprechen, im Hause aus- und einzugehen, fest in der kühlen Hand, dachte er den Goldgedanken zu Ende, sah er das ganze Volk, hoch und nieder, arm und reich, im Unrat nach Gold wühlen und die Pestbazillen weitergeben. – –

Der alte Generalstabsarzt hatte gerade die Abendtafel aufgehoben, als Friedrich Thorsberg eintraf.

»Er weiß, daß es Schnaps gibt, da beeilt er sich.«

Der Gast, ein starkgliedriger Mann mit mächtigem Bauernschädel, warf einen Blick auf den Eintretenden.

»Entschuldigung, Exzellenz. Sollten Euer Exzellenz da nicht irren?«

»Wahrhaftig, Oberst, Sie sind ein Menschenkenner trotz einem Arzte. Mein Sohn – ›Professor Dr. Friedrich Thorsberg‹, stellte er vor – kann sogar auf die halbe Flasche Sekt verzichten, die der alte Bismarck jedem Deutschen in den Leib gewünscht hat.«

»Sie zählen zu den Ausgewiesenen?« fragte Friedrich Thorsberg. »Mit Ihrem ganzen Hause?«

»Mein Haus ist nur klein. Es besteht aus Vater und Sohn.«

Das klang fast wie eine Abweisung, und der Oberst empfand es selbst. »Ich bin geschieden,« sagte er kurz.

»Auch ich bin mit meinen Kindern auf der Wanderung. Bis zur Ausweisung ist es gar nicht erst gekommen. Die Hetzjagd setzte ein, und wir brachen durch.«

Das große Auge des Obersten las ruhig in Friedrich Thorsbergs Gesicht. Die Augen der beiden Männer begegneten sich. Sie verharrten ineinander.

»Es scheint, daß wir Schicksalsgenossen sind, Herr Professor Thorsberg.«

»Wo zwei Männer auf der Welt deutsch reden und sich die Hand geben, sind sie es, Herr Oberst.«

»Ich suche Menschen, die deutsch reden. Reinstes Deutsch.«

»Ich bin zu demselben Zweck ausgezogen. Und wo es nottut, will ich sogar Unterricht erteilen.«

Der Oberst zog verächtlich die Lippe hoch. Seine breiten Zähne schimmerten.

»Ich fürchte, Sie werden keinen Saal in München finden, der für die Unterrichtsbedürftigen reichte.«

»So nehmen wir zwei und teilen uns in den Unterricht. Der Gewinn ist der doppelte. Nur begonnen muß werden.«

»Exzellenz,« sagte der Oberst und nahm mit höflicher Verneigung einen Branntwein aus des Generalstabsarztes Hand, »ich danke Ihnen, daß Sie mir die Bekanntschaft Ihres Herrn Sohnes vermittelt haben.«

»Danken Sie mir lieber für den Branntwein. Wie der wirkt, weiß ich. Wie mein Sohn wirkt, ist bis auf weiteres nicht vorherzusagen.«

»Unter welcher Anklage haben Sie vor dem Kriegsgericht gestanden?« fragte Friedrich Thorsberg. »Ich entsinne mich keiner Verhandlung.«

»Unter welcher Anklage? Man hat mich überhaupt keiner Anklage gewürdigt. Nur weil mein Name im Weltkrieg zu einer Volkstümlichkeit gelangt war, wünschte man das Volk zu demütigen, indem man mich schamlos behandelte. In der Nacht wurde ich aus dem Bett geholt, ins Gefängnis gebracht, in eine Zelle eingesperrt, die zwei Meter breit und vier Meter lang war, als einzige Ausstattung ein Bund Stroh aufwies und als einziges Verbindungsmittel eine Türklappe dicht über dem Boden, durch die mir dreimal täglich der Eßnapf hineingeschoben wurde. Ein Holznapf mit einem breiigen Gemengsel, das ich mit den Händen hätte herausschöpfen, das ich aus den Händen hätte herunterschlingen müssen – wenn ich nicht verzichtet hätte. Fünf Tage und fünf Nächte hielt man mich wie ein Tier. In der sechsten Nacht schaffte man mich ohne Gericht über die Grenze, ins unbesetzte Gebiet.«

Friedrich Thorsbergs Augen zogen sich zusammen. Als wollten sie die Bilder in ihrer ganzen Schärfe erfassen. Der Oberst sah es. Er lachte kurz und schneidend.

»Rache! denken Sie, und dreimal Rache! Rache? An den übermütigen Siegern? Oder an den dreimal mehr verdammten deutschen Volksgenossen, die den Fremden Bütteldienste tun oder sich am Unglück ihrer Brüder mästen? Ich führe Ihnen aus meinem kurzen Abenteuer nur zwei Persönlichkeiten vor. Den deutschen Gefängnisvorsteher, der mir aus feigster Liebedienerei die Matratze weigerte, die mir der schwarze Wachsoldat in tiefer Beschämung jede Nacht durch die Luke schob. Und den deutschen Fuhrunternehmer, der unter Aufsicht meines ebenfalls mit der Ausweisung bedachten Sohnes innerhalb vierundzwanzig Stunden unsere Wohnungseinrichtung zu verpacken hatte, die schönsten und größten der alten Schränke, den Konzertflügel und, was weiß ich, in der Eile nicht mehr in den Wagen brachte und nachher für den Holzwert gegen den Frachtlohn verrechnete. Ich habe an den Stellen geweilt, an denen sich die Ausgewiesenen sammelten. Und ich weiß, daß ich meine beiden Vorbilder nicht geträumt habe.« Noch immer starrte Friedrich Thorsberg mit zusammengezogenen Augen in eine unsichtbare Weite.

»Nur durch die Jugend, nur durch die reingebliebene Jugend wird Deutschland zu retten sein.«

Und er sah das Bild der fünfzehnjährigen Ruth Thorsberg und ihr Girren mit Augen, Lippen und Brüsten ...

Der Oberst war an seine Seite getreten und wies stumm in das Nebenzimmer.

Da saßen unter der großen Lampe, über zwei Schachbretter gebeugt, Gertrude Thorsberg mit ihrem Gegenspieler, dem zwanzigjährigen Studenten Walter Lenbach, und neben der jugendlich heiteren Großmama Gert Thorsberg.

Über den Augen der Jungen aber lag ein vorzeitig tiefer Ernst.

*

 


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