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4

Als Gert sich schlaftrunken die Augen rieb, stand der Vater im Licht der vollen Morgensonne an seinem Bett. Erst mußte der Sohn sich besinnen, sich in der neuen Umgebung zurechtfinden. Das hier war ein freundlicheres Zimmer, ein besseres Bett als in den Dorfwirtshäusern. Er reckte und dehnte sich wohlig, kam zu sich und setzte sich aufrecht.

»Bist du schon auf, Vater, oder bist du gar nicht zu Bett gegangen?«

»Guten Morgen, Gert. Ich habe so prachtvoll geschlafen wie seit Wochen und Monaten nicht.«

»Mir war doch so,« überlegte der Sohn, »als hätte ich dich in der Nacht aufstehen hören?«

»Ich hatte noch einige gute Gedanken zum Abschluß zu bringen, Gert. Ein abgeschlossener Gedanke wirkt immer wie eine Befreiung.«

Der Sohn ließ seine Augen immer wieder über des Vaters helle Züge wandern.

»Wie anders du aussiehst. Wie – wie – ja wirklich: wie ein Jüngling.«

Friedrich Thorsberg lachte ihn an.

»Schön, daß du es gleich bemerkst. So fühle ich mich auch. Es wäre ein Jammer, Gert, wenn es unter den Angegrauten keine Jünglinge mehr gäbe. Das ganze Volk in Deutschland muß zu Jünglingen werden, wenn es mit dem Wust von Arbeit zu Rande kommen will, und darum darfst du dich jetzt erheben.«

Der Junge sprang mit beiden Füßen aus dem Bett.

»Mein Gott, neun Uhr. Entschuldige, Vater. Ich bin doch von klein auf andere Anstrengungen gewöhnt als das bißchen Fußmarsch.«

»Das tut: wir sind in Frankfurt. Und Frankfurt bedeutet: wir sind in der Freiheit. So weit man bei uns überhaupt noch von Freiheit sprechen kann.«

Nackt stand der sehnige Junge im Licht der Morgensonne. Vom Kopf bis zu den Füßen rieb er den Körper mit kaltem Wasser ab, rieb er ihn mit den Tüchern, bis er flammte.

»Frankfurt, Vater. In dem Wort liegt viel Klang. Marschieren wir gleich weiter, Vater?«

»Wir wollen uns hier erst ein wenig einkleiden, mein Junge. Damit wir nicht wie die Strauchdiebe in München anlangen. Das ist nun einmal so. Die Menschen sagen nach Jahren noch: Ach, das ist der Kerl, der wie ein Landstreicher hier eingezogen kam. Wie haben wir ihn herausgefüttert.«

Gert lachte und fuhr in die Beinlinge.

»Das mußt du der Gertrude sagen, Vater. Eher zieht das wilde Mädel Schnürbrust und Schleppkleid an, bevor sie das auf dir sitzen läßt.«

Aber Friedrich Thorsbergs Gesicht huschte ein Leuchten. Er sah sein Mädchen in seiner hastigen Opferbereitschaft.

»Gar so schlimm wird's nicht werden. Unsere Damenwelt trägt sich sehr luftig und die Kleiderröcke kaum bis zum Knie. Sie stellt mir fast ein wenig zu viel zur Schau. Nun, ich will einmal sehen, was für Augen die Gertrude macht.«

»Gar keine, Vater. Sie wird schlafen wie ein Murmeltier, sonst wäre sie schon hier herein und hätt' uns wachgerüttelt.«

Friedrich Thorsberg ging ins Nebenzimmer. Er zog die Tür hinter sich ins Schloß. Vorsichtig teilte er die Fenstervorhänge auseinander, wandte sich um und blickte lange in das hellgewordene Gemach.

Da lag sein Mädchen in den Kissen, den Kopf auf den weitausgestreckten Arm gedrückt, die blonden Zöpfe links und rechts der Wangen. Die junge Brust hob und senkte sich so gleichmäßig, als hätte ihr Mädchenherz noch nie von Kampf und Not der Zeit erfahren, als wäre sein Schlag nie jagend dahingestürmt, dem Vater zu Hilfe, furchtlos gegen den Feind. Da lag sein Mädchen mit rotgeschlafenen Kinderwangen und wußte nicht, daß das Kind längst auf dem Wege zum Weibe war.

Friedrich Thorsberg wurde das Herz warm, als er sie in der Kindersicherheit ihres Schlafes sah. Wie er sie liebte. Wie sie mit ihrer ungestümen Mädchenliebe seine Liebe zehnfach erwiderte. Sein war sie mit Leib und Seele, wie der Junge sein war, und doch so anders. So viel rührender, weil so viel bedenkenloser. Er suchte in der Zukunft zu lesen und brach mitten in der Gedankenreihe ab. ›Nicht die Selbstsucht Herr werden lassen‹, sagte er sich. ›Es müssen nicht nur deutsche Männer, es müssen auch deutsche Mütter sein!‹ Und er rief sie leise beim Namen.

Ihr Kopf fuhr hoch. Die Decke flog vom Bett. Aufrecht hockte sie in ihrem weißen Nachtgewand und lachte ihn an.

»Gertrude – he, kleine große Langschläferin!«

»Guten Morgen, Vater. So ein Gewecktwerden lass' ich mir gefallen.«

Er hockte neben ihr auf dem Bettrand, nahm sie in beide Arme und wiegte sie hin und her.

»Mein Liebchen, mein Schätzchen, mein getreuer Helfershelfer.«

»Bin ich das alles, Vater?« Und sie kuschelte sich wie ein Kindchen in seine Arme.

»Du bist noch viel, viel mehr.«

»Was denn, Vater ...?«

»Du bist das Beste, was in Friedrich und Minne Thorsbergs Blut war.«

»Und der Gert? Wo bleibt denn das Brüderlein?«

»Der Gert ist ein Mann. Denke dir: ein siebzehnjähriger. Den kann ich nicht wie ein Mädchen am Herzen wiegen und ihm schön tun und ihm schmeicheln, bis er vor Freude schnurrt.«

»Und wenn du es könntest? Würdest du ihm dann nicht dasselbe sagen?«

»Dann würde ich ihm dasselbe sagen.«

Da lachten sie beide miteinander, bis der Vater fortfuhr:

»Dasselbe, ja – dasselbe. Und ich wäre doch kein Lügner. Denn ihr seid ein und dasselbe Blut. Wie die Stunden die gleichen heiligen waren, die euch ans Licht gebaren. Dich aber hat die Mutter aus der Wildnis heimgetragen als den höchsten Lohn ihrer Tapferkeit. Versteht das meine kleine große Gertrude schon, die aus der Tapferkeit stammt?«

Da schmiegte sich das Mädchen noch dichter an ihn und lag ganz still.

Und Friedrich Thorsberg stellte das Wiegen ein, hielt sie ganz sacht in seinem Arm und horchte in sich und sein Kind hinein. Und er hörte ihre Herzen in einem festen Gleichklang schlagen.

An die Tür klopfte der Gert. »He, Schwesterlein, bist du bei Wege?«

Und sie erwiderte: »He, Brüderlein, komm und überzeug dich.«

Gert steckte den Kopf ins Zimmer. »Sieh mal, das Brustkind. Und ist schon bald heiratsfähig.«

»Ach, Gert, sei ehrlich. Du tätest ja am liebsten gleich mitmachen.«

Da hockte auch der große Junge auf dem Bettrand und kuschelte den Kopf für ein paar Sekunden mit in die Kissen.

»Ach, Gertrude, lange werden wir das nicht mehr können. Denn du kriegst Schleppkleider.«

»Niemals!« fuhr sie hoch.

»Weil sie den Vater sonst auslachen mit seinen anderthalb Jungen.«

»Auslachen? Den Vater? Das glaubst du wohl selber nicht.«

»Ihm nicht in die Augen. Da würde er ihnen schon das Gesicht richten. Aber hinter seinem Rücken, Gertrude.«

Das Mädchen seufzte – und tat schnell, als wäre es nur ein Gähnen gewesen.

»Es hat überhaupt kein recht Geschick mit dem Berggewand in der Stadt,« sagte sie und drückte die Augen zu bis zu einem Spalt. »Es hat so was Unstimmiges, als wollt' ich in der Stadt auf die Dächer klettern. Der Vater wird mir schon heraushelfen und in das rechte Gewand hinein.«

»Aber die Beinlinge bewahren wir auf für das bayrische Gebirge,« kam ihr der Vater zu Hilfe. »Das bitt' ich mir aus.«

Sie wollte stürmisch über ihn her, gewahrte ihr Nachtkleid und stutzte.

»Das darf ich nun wohl auch nicht mehr?«

»Das darfst du bis an unser aller Lebensende. Das darfst du, solange du dir in der Brust das reine Herz erhalten hast. Wer sich vor dem leiblichen Vater und Bruder glaubt schämen zu müssen, weiß nichts von der wahren Scham.«

Da überrumpelte sie mit den Armen Vater und Bruder zugleich.

»Ich schäme mich doch gar nicht vor euch. Ach was, keine Spur. Ich wüßt' ja gar nicht, wie ich dazu kommen sollt'.«

»Nun aber heraus aus den Federn,« rief Gert. »Mich hat der Vater kurzerhand hinausgebracht. Dich hält er drinnen. Ist das Verzug, Vater, oder Gerechtigkeit?«

»Es ist Verzug,« sagte Friedrich Thorsberg. »Aber wir beiden Männer wollen uns unseren Verzug nicht nehmen lassen.«

»Ist das ein schöner Morgen ...« gab Gert zur Antwort.

Und dann erhoben sich die beiden langsam vom Bettrand und schritten zur Tür.

»Mach flink,« rief der Bruder über die Schulter zurück.

Im Nebenzimmer vernahmen sie ihr emsiges Wasserplanschen.

»Auch darin sind wir drei uns gleich,« sagte der Vater, »daß wir das Wasser lieben wie die Luft.«

Die Herbstsonne vergoldete die alten Straßenseiten, durch die sie schritten. Friedrich Thorsberg kannte jedes Haus aus seinen jungen Frankfurter Tagen. »Hier hat die Mutter gekauft, als sie noch ein Mädchen war. Hier hat die Mutter ihren Brautstaat erstanden. Hier hat die Mutter sich ausgerüstet, als es nach Afrika ging.« Immer schritt die Mutter in ihrer Reihe und blickte mit ihnen in die Auslagen der Läden.

In einem knappsitzenden dunklen Straßenkleid trat Gertrude mit Vater und Bruder wieder in den Tag. Ein dunkler Reisehut saß ihr auf den hellen Flechten. Gert betrachtete die Schwester von der Seite.

»Du kannst dich beruhigen, Gertrude. Du siehst immer noch aus wie ein verkleideter Junge.«

»Das ist keine Beruhigung, Gert. Wenn ich Röcke trage, will ich auch wie eine Dame aussehen.«

Friedrich Thorsberg sagte kein Wort. Aber der Stolz seines schlanken Mädchens freute ihn über die Maßen.

Wenn doch die Minne sie sehen könnte, dachte er. Wie würde sie strahlen, daß sie soviel Schönheit zu schaffen vermochte.

Und wieder traten sie in ein Geschäft, und als sie es verließen, schritten Friedrich und Gert Thorsberg in dunklen Anzügen und Mänteln, den weichen, schwarzen Filzhut auf dem Haupt, neben Gertrude.

»Ihr seht stattlich aus,« lobte Gertrude. »So recht wie ein ernster Professor und ein noch ernsterer Primaner.«

»Irgend etwas stimmt nicht,« sagte Friedrich Thorsberg. »Es ist immer noch etwas Halbwildes an uns.«

»Vielleicht sind es die Stiefel,« meinte das Mädchen und hielt den Kopf steif aufrecht.

»Großer Gott. Natürlich sind es die Stiefel. Wir tragen uns wie die Kleiderpuppen und laufen in Nagelschuhen.«

Gertrude lachte in den Tag, ohne den Kopf zu bewegen.

Und sie schritten in das nächstgelegene Schuhhaus und vervollständigten ihre Umwandlung.

»Wollen wir auf alten Spuren gehen?« fragte Friedrich Thorsberg. »Auch die Mutter und ich haben unsere Fußtapfen oft genug darin gelassen.«

»Ja. Vater, ja!«

Sie suchten in den winkligen Gassen der Altstadt den Großen Hirschgraben auf und verhielten vor Goethes väterlichem Haus.

»Prägt es euch ein, Kinder. Dort kam der größte Dichter Deutschlands zur Welt.«

»Sagen Sie ruhig: der größte Schöpfergeist der Welt, mein Herr.« Friedrich Thorsberg wandte sich um. Da stand ein freundlich lächelnder alter Herr in silbrigem Haar und lüftete verbindlich den Hut. Unter dein freundlichen Lächeln aber lag die Spannung der Verlegenheit.

»Entschuldigen Sie gütigst die Einmischung,« bat der alte Herr, und in seinem peinlich glattgeschorenen Gesicht zuckten die Mundwinkel. »Ich will mich nicht rühmen, aber ich glaube ein Goethekenner zu sein, wie überhaupt ein Kenner der Sehenswürdigkeiten dieser schönen Stadt Frankfurt. Ich habe meine ganze Kindheit und Jugend hier verlebt, bevor ich in die Welt wanderte.«

»Sie sind Fremdenführer?« fragte Friedrich Thorsberg höflich.

»Nicht aus Beruf, mein Herr. Wenn Sie mir erlauben, mich vorzustellen: Heß ist mein Name. Waldemar Heß. Mein Beruf war die Schauspielkunst, und ich leitete bis zur großen deutschen Umwertung aller Werte ein großherzogliches Theater.«

Friedrich Thorsberg stutzte. Jetzt wußte er, was die Spannung der Verlegenheit in dem Gesicht des alten Herrn zu bedeuten hatte. Dort stand einer aus der Kaste vor ihm, die bei der großen deutschen Umwertung aller Werte, in der deutschen Staatsumwälzung zur Republik, bis zum körperlichen Erliegen zu Schaden gekommen war. Einer aus der Kaste der geistig Gebildeten, die vor der rauhen Faust in den Hintergrund mußten. Einer aus der Kaste der Greise, die zu zermürbt waren, um einspringen zu können in den Marsch der Marschierenden, rücksichtslos drein hinter dem entweichenden Geld. Dort stand einer von den vielen, die sich einen würdevollen Feierabend erträumt hatten mit ihren lebenslangen Ersparnissen, und deren Alterssold nach dem neuen Geldwert nicht mehr für ein Bettlaken reichte, um darauf sterben zu können.

»Heß? Waldemar Heß?« wiederholte Friedlich Thorsberg. »Ich habe in jüngeren Jahren einen Waldemar Heß bewundert, der im Zusammenspiel mit einer jungen Schauspielerin – ah, Fränzchen Großmann hieß sie – unübertrefflich war. Er spielte den Faust und sie das Gretchen. Es war an einem mitteldeutschen Hoftheater.«

Über die Züge des alten Herrn ging eine Röte der Freude.

»Sie haben ein vorzügliches Gedächtnis, mein Herr. Ein ganz vorzügliches Gedächtnis. Verzeihung: Ihr werter Name? Professor Thorsberg? Große Ehre, Herr Professor. Ja, das war eine glückliche Zeit. Wo war der Pelion, den wir in unserer Kunst nicht auf den Ossa gestülpt hätten? Und die kleine Großmann, das Fränzchen – das heißt: klein war sie durchaus nicht, weder in ihrer wildverlangenden Begabung, noch in ihrem Wuchs – ja, diese große, herrliche Künstlerin war meine ureigenste Entdeckung, meine junge Schülerin und innige Freundin später. Oh, entschuldigen Sie meine Gesprächigkeit. Man trifft heutzutage so selten einen Menschen, der sich erinnert, den alten Waldemar Heß einmal bewundert zu haben. Ja, ich hätte Ihnen gern meine bescheidenen Führerdienste angeboten.«

Und wieder trat in seine Augen die Spannung, unter der sich seine Verlegenheit wand.

»Ich würde Ihnen für Ihr Opfer an Zeit sehr dankbar sein,« sagte Friedrich Thorsberg.

»Sehen Sie, mein verehrter Herr Professor – oder soll ich mich lieber an die jungen Herrschaften wenden? – sehen Sie, meine jungen Herrschaften, dies hier ist der geweihteste Boden der Welt. ›Die Stätte, die ein guter Mensch betrat, ist eingeweiht; nach hundert Jahren klingt sein Wort und seine Tat dem Enkel wieder!‹ Der das in seinem Tasso sagte, hat es in seiner hellsichtigen Göttergabe von sich selbst und seiner Stätte vorausgesagt. In diesem alten und vornehmen Bürgerhause gebar die Frau Rat Goethe den Liebling der Götter, Johann Wolfgang Goethe.«

Er sprach den großen Namen, als zöge er bei seinem bloßen Klange ehrerbietig tief den Hut.

»Wir wollen eintreten. Halt. Eine kleine Lustigkeit noch für die jungen Herrschaften. Bitte, bemerken Sie im zweiten Stockwerk das kleine Eckfenster. Das ließ der Kaiserliche Rat, der Herr Vater, eigenst in seinem Arbeitszimmer brechen, um von hier aus besser die geheimen Ausflüge des Herrn Sohnes auf die Gassen beobachten zu können. Denn es war ein so wilder Bub, wie ein wilder Bub nur sein kann, und das bringt ihn den jungen Herrschaften gleich menschlich näher.«

Sie traten über die Schwelle. Der Schauer der Ehrfurcht empfing sie und überrieselte ihre Seelen. Mit einem befangenen Einsamkeitsgefühl durchschritten sie das Erdgeschoß und das Treppenhaus.

Was der Führer vorbrachte, waren die durch Alter und Aberlieferung geheiligten Erklärungen. Der greise Bühnenleiter sorgte für einige Ausschmückungen. Ein paar Dichterstellen klangen an, ein paar Gleichnisse aus des Altmeisters ›Dichtung und Wahrheit‹ bevölkerten die toten Räume mit lebendigen Gesichtern.

»Diese drei schönsten Gemächer im ersten Stockwerk«, belehrte er freundlich, »bewohnte in Goethes Kindheitstagen der französische Königsleutnant Graf Thoranc. Der Altmeister schreibt in ›Dichtung und Wahrheit‹ den Namen ›Thorane‹. Das darf als ein Schreibfehler angesprochen werden. Es war François de Théas Comte de Thoranc.«

»Warum wohnte dieser Thoranc oder Thorane in Goethes Elternhaus?« fragte Gert aufmerksam.

»Weil der Herr Kaiserliche Rat dazu gezwungen wurde, ihm Wohnung zu geben. Es zog viel Streit und Hader mit dem Franzosen ins Haus.«

»War denn Frankfurt dazumal französisch?«

»Es war zur Zeit des Siebenjährigen Krieges, Gert,« sagte Friedrich Thorsberg, da des alten Bühnenleiters geschichtliche Kenntnisse nicht so schnell zur Stelle waren wie seine dichterischen. »Die Franzosen hatten durch deutsche Verräterei die Stadt im Jahre 1759 überrumpelt und belegten sie auf Jahre und Jahre mit ihren Besatzungstruppen. Es war, wie es heute wieder ist. Seit Menschengedenken hat es der immer unruhige, immer beutegierige Nachbar alle fünfzig Jahre so gemacht. Ein knappes halbes Jahrhundert darauf wiederum in der Revolutionszeit und unter dem ersten Napoleon. Und wiederum ein halbes Jahrhundert darauf versuchte es der dritte Napoleon, wenn auch vergebens. Kaum näherte sich das nächste halbe Jahrhundert seinem Ende, als 1914 durch die Einkreisung seitens der Russen, Engländer und Franzosen der Weltkrieg ausbrach, der so jammervoll mit der Besetzung der rheinischen Lande schloß. Aber immer wurden die fremden Herren wieder hinausgefegt, immer wieder, wenn der übertölpelte Michel sich auf sich selbst und seine Muskelkraft besann. Und die Grafen Thoranc und Genossen mußten schneller die schönen deutschen Wohnungen räumen, als sie sie vordem unter tausend Nörgeleien beschlagnahmt hatten.«

»Unter Ludwig dem Vierzehnten, Vater, die Überrumpelung Straßburgs mitten im Frieden und die Verwüstung der Rheinpfalz.«

»Ja, das ging vorher und vieles andere. Rund alle fünfzig Jahre dasselbe blutige Spiel und die Herausforderung der Vergeltung.«

»Wollen wir uns,« fragte Waldemar Heß ängstlich horchend, »wollen wir uns nunmehr wieder der goethischen Welt zuwenden? Es herrscht die Heiterkeit Gottes darin, der den Mephistopheles nur zur Prüfung auftreten läßt.«

»Diesmal hat der Herrgott dem Mephisto die Leine etwas länger gelassen. Und dem Mephisto ist eine Seele so lieb wie die andere. So sitzt er schon heute in tausend deutschen Bürgerseelen und liebäugelt.«

»Goethe«, begann Waldemar Heß hastig –

»Ja, Goethe,« sagte Friedrich Thorsberg lächelnd. »Kehren wir zu dem abgeklärten Geiste zurück.«

Wieder spürten die Jungen die Schauer der Ehrfurcht, als sie hinaufstiegen zu dem Arbeitszimmer des Dichterfürsten und ihnen Götz die Tür öffnete. Götz von Berlichingen mit der eisernen Faust. – – –

Aufatmend waren sie in den hellen Herbsttag zurückgetreten, der die Gassen der Altstadt mit goldenen Kränzen überzog. Auf dem Paulsplatz machte der alte Herr halt. Er entsann sich seiner Fremdenführerpflichten.

»Dieses, meine jungen Herrschaften, ist die Paulskirche. Sie diente in den Jahren der deutschen Volksbewegung 1848 und 49 der Nationalversammlung zum Sitz. ›Den Vorkämpfern deutscher Einheit‹, wie die Inschrift auf diesem Denkmal hier besagt.«

Friedrich Thorsberg sprach nicht mehr. Er gedachte der frohen und herrlichen Reden der geistigen Führer, der Reden, Reden, Reden ...

»Ah!« riefen die Kinder wie aus einem Munde. Vor ihnen lag der Römerberg.

Vor ihnen lag, von der Herbstsonne mit goldenen Kränzen überflutet, der Römer, das Rathaus.

Der silberhaarige Führer weidete sich an dem Entzücken der jungen Menschen.

»Goethe,« sagte er bedeutungsvoll. »Lesen Sie es nach in ›Dichtung und Wahrheit‹. Die Kaiserkrönung. Ja, ja, auf diesem Platze und in diesen hohen Hallen ist Geschichte und Dichtkunst zusammengeflossen, sind geschichtliche Begebenheiten erst durch die Hand des Dichters zur Unsterblichkeit erhoben worden. Ich sage Ihnen, meine jungen Herrschaften, Geschichte ist eine große Macht, und ihrem Urteil stände keine Berufungsmöglichkeit mehr entgegen, wäre nicht die größere Macht, die Dichtkunst. Volk oder Fürsten – wer den Dichter für sich hat, hat die Zukunft gewonnen.«

Begeisterungsvoll glühten die Augen in dem von der Not gezeichneten, altgewordenen Künstlergesicht. Der junge Glaube seiner besten Jahre sprang neu aus ihnen hervor.

»Ein Dichterwort ist Herr über die Herzen. Ein Dichterwort vermag zu binden und zu lösen, zu töten und aufzuwecken von den Toten. Gott wählte die Dichter, wie er die Propheten wählte.«

Aufgeregt schritt er den Zuhörern voran und die Kaisertreppe hinauf zum Kaisersaal. Sein Geist aber war nicht bei den Kaisern, die in ihrer neuerwählten Würde hier mit den Kurfürsten getafelt, von jenem Balkon aus sich den wonne- und weinberauschten Volk gezeigt hatten. Sein Geist war bei den klingenden Worten der Dichter, die erst die Purpurträger dem Volke erb- und eigentümlich gemacht hatten, seiner Liebe oder seinem Haß.

»Tasso, Tasso,« murmelte er vor sich hin. »Was läßt Goethe im Tasso den Herzog von Ferrara verkünden?

›Ein Feldherr ohne Heer scheint mir ein Fürst,
Der die Talente nicht um sich versammelt:
Und wer der Dichtkunst Stimme nicht vernimmt,
Ist ein Barbar, er sei auch, wer er sei!‹«

Friedrich Thorsberg schaute auf seine Kinder. Sie hatten mit schnellem Blick das Bild der Halle in sich aufgenommen und hingen an den Lippen des wellenverschlagenen alten Mannes. Da nickte er vor sich hin und ließ sie gewähren.

»Die Mittagsstunde ist schon überschritten,« sagte er auf der Straße, »und Sie sind durch unsere Wißbegier sicherlich um die gewohnte Mahlzeit gekommen. Würden Sie uns die Freude machen, mit uns zu speisen?«

Der alte Herr nahm ohne Widerstreben an.

»Ich bin mutterseelenallein, mein Herr Professor. Mein einziger Sohn – er ist nicht wie ich – sucht seit langen Jahren seine Geschäfte im Ausland, überall, wo der goldene Golfstrom nahe an die Ufer rauscht, und meine Freundin, deren Sie sich so gütig aus jüngeren Jahren entsannen, ist nun wohl auch eine ältere Dame geworden, die irgendwo ihren heimlichen Kampf mit dem Leben kämpft und über den Sorgen die Erinnerung vergaß. Ich nehme Ihre Einladung mit großem Vergnügen an.«

Friedrich Thorsberg wählte einen Gasthof, der von alters her einen der besten Namen trug. Er wünschte mit dieser Wahl dem Herabgestiegenen eine besondere Genugtuung zu bereiten. Und der alte Herr freute sich bei dem bloßen Klange des Namens wie ein Kind.

»Ja, dort haben wir gethront wie die Fürsten, wenn ich in der guten Stadt Frankfurt mit meinem Fränzchen ein Gastspiel gab und den Einheimischen ihren Goethe spielte. Der Speisesaal angefüllt mit dem Adel des Geistes, der Geburt, des großen Handels und Wandels. Kein Kopf, an dem nicht die Geschichte einer Persönlichkeit, eines Hauses, einer Familie hing. Und zusammen haben wir hier nach des Tages glorreicher Besiegung gebechert und geschmaust.«

Sie traten ein. Der Blick des Oberkellners glitt prüfend über sie hin. Mit einer herablassenden Handbewegung wies er ihnen ein Tischlein im Hintergrunde an.

»Wir wünschen bequeme Fensterplätze,« sagte der alte Herr mit vornehm ablehnender Geste.

»Bedaure ganz außerordentlich. Die Fensterplätze sind während des Mittagsmahls vergeben. Die Herrschaften nehmen vielleicht fürlieb.«

Fürlieb aber gedachte der alte Herr nicht zu nehmen. Er legte den Kopf in den Nacken, um dem Bediener eine tiefere Hochachtung einzuflößen. Der aber war schon hinweg, anderen Gästen entgegen.

»Lassen Sie sich nicht verstimmen,« beruhigte Friedrich Thorsberg den Niedergeschlagenen. »Die Erde dreht sich. Augenblicklich stehen wir auf dem Kopf. So, hier sitzen wir ganz gemütlich, um alle die ausgeprägten Persönlichkeiten des Geistesadels bewundern zu können.«

Der alte Herr kauerte am Tisch. Er hatte alle Reihen der Tafelnden durchspäht und lauter fremde Gesichter gefunden. Und keine Geschichte der Persönlichkeit, des Hauses, der Familie hing daran. Menschen, die der Tag geboren hatte, sahen überlaut redend mit überreich gekleideten Frauen an den Tischen, ließen sich vom Speisenkellner mit der Miene von Kennern unbekannte Gerichte empfehlen und überließen die Wahl der Getränke der lächelnden Freundschaft des Weinkellners.

»Wissen Sie bestimmt, Herr Professor, daß wir uns nicht im Eingang geirrt haben? Ich sitze wie Robinson Crusoe unter Lamas statt unter Europäern.«

Friedrich Thorsberg gab dem Aufwärter seine Anweisungen. Es wurde ein gutes Mahl gereicht und ein Glas Wein eingeschenkt. »Ich hatte«, erwiderte er, »schon gestern abend, als ich die Stadt nach längeren Jahren wiedersah, den Eindruck eines gänzlich veränderten Stadtgesichtes. Dieser Eindruck hat sich bei Tageslicht nur noch verstärkt. Beweglich war sie ja immer, aber es war die Beweglichkeit eines Geblüts. Das Geblüt verspür' ich nicht mehr, nur noch die Betriebsamkeit.«

»Ja,« seufzte der alte Herr, »es ist mein Frankfurt nicht mehr. O nein, nein ...«

Das Mahl war verzehrt. Das Glas Wein hatte den alten Herrn müde gemacht. Friedrich Thorsberg zahlte am Nebentisch den Kellner und ließ einen Geldschein in einen Briefumschlag gleiten.

Sie gingen. Vor dem Hause verabschiedete sich der Führer mit der Bitte, sich für vorkommende Fälle gütigst seine Wohnung zu merken. Wieder trat in seine Augen die Spannung, unter der sich die Verlegenheit wand.

»Ich habe hier ein Brieflein für Sie,« sagte Friedrich Thorsberg. »Darf ich Sie bitten, es daheim zu lesen?«

Der alte Herr zog tief den Hut, schüttelte den Kindern mit Wärme die Hand und verschwand im Menschenstrom.

»Haft du ihm etwas geschenkt?« fragte Gertrude erstaunt.

»Geschenkt?« berichtigte Gert die Schwester. »Der alte Herr hat ein schönes Stück Arbeit an uns geleistet, und jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert. Jeder ehrliche Arbeiter, Trude.«

»Es ist wahr,« sagte die Schwester. »Ich habe nur nicht gleich daran gedacht, weil er mir so alt und ehrwürdig erschien.«

Friedrich Thorsberg schritt schweigend weiter. Seine Augen waren zusammengezogen und dunkel.

Ein breitschultriger, bebrillter Mann in schlichter, bürgerlicher Kleidung kam ihnen entgegen. Er stutzte, als er Thorsberg gewahrte.

»Friedrich Thorsberg?« fragte er ein wenig unsicher und blieb stehen.

»Und du bist Ferdinand Waldheim,« erwiderte der Angeredete lächelnd und streckte ihm die Hand hin.

Der andere ergriff sie und schüttelte sie herzhaft.

»Friedrich! Das ist eine Überraschung, die ich mir lobe. Seitdem wir zusammen die Schule verlassen haben, ist dies das erste Wiedersehen.«

»Nun, immerhin haben wir uns zuweilen geschrieben. Es ist dir gut gegangen in Amerika.«

»Ich bin der Arbeit wegen hinübergegangen, Friedrich. Je mehr du davon bewältigst, desto mehr wächst sie dir von allen Seiten zu. Nun ja, auch der Segen. Und du hast in Afrika Löwen gejagt?«

»Löwen? Die gingen wohl mit ins Garn. Ich habe in Afrika Fliegen gefangen.«

Der Kindheitsfreund machte runde Augen. Dreißig amerikanische Arbeitsjahre hatten ihn für leichten Scherz zu ernst gemacht. Wollte ihn der heißblütigere Schulgefährte verspotten?

»Alter Ferdinand, wir versperren hier den Weg. Hast du Lust und Zeit, das Wiedersehen ein wenig auszudehnen und uns in meinen Gasthof zu begleiten? Dies hier sind nämlich meine Kinder, Gert und Gertrude. Das mit der afrikanischen Fliege werden sie dir übrigens bestätigen, du ungläubiger Thomas.«

Ferdinand Waldheim begrüßte die jungen Leute mit kräftigem Händedruck.

»Nichts für ungut. Ich bin ein wenig schwerfällig geworden unter meinen Maschinen. Dafür sind meine Kinder um so lebhafteren Geistes. Ich hab' auch ihrer zwei. Einen zwanzigjährigen Sohn und eine Tochter im Alter dieses Fräuleins. Fünfzehn, wenn ich raten darf?«

Er schloß sich an und plauderte ruhig und rückhaltlos, als hätte er sich von dem Schulfreund erst vor Wochen getrennt.

»Natürlich weiß ich, was du meinst. Die Tsetsefliege. Ich habe mancherlei darüber gelesen, wenn ich auch das Wort selbst nur mit Holpern habe aussprechen können. Du warst auf dem Wege, ein großer Wohltäter der Menschheit zu werden, Friedrich.«

»Es ist meine größte Freude, Mann, daß ich es damals nicht geworden bin.«

»Wohltäter der Menschheit zu sein, ist eine Religion,« sagte der Deutschamerikaner ernst.

»Wohltäter am eigenen Volke zu werden, ist eine noch reinere Religion,« erwiderte Friedrich Thorsberg.

Der Deutschamerikaner blickte auf. Sein kluges Auge gewahrte den Schatten im Auge des anderen. Mit nachdenklicher Stirn schritt er neben dem Freunde her.

»Lassen wir das,« brach Friedrich Thorsberg ab. »Ihr im sicheren Amerika habt euch eine andere Anschauungswelt zurechtgelegt.«

»Wird ein knorriges Eichenholz«, fragte Ferdinand Waldheim gelassen, »durch die Verpflanzung in andere Breitengrade eine Federpalme?«

Friedrich Thorsberg horchte auf. Das war der Ton, den er liebte.

»Mein alter Bankgefährte, du sprichst ja noch deutsch? Reiner als auf der Schulbank, will mich dünken.«

Ferdinand Waldheim lachte tief.

»Auf der Schulbank haben wir heimatliches Platt gesprochen. Das war das allerreinste Deutsch.«

»Hier sind wir an meinem Gasthof,« sagte Friedrich Thorsberg. »Gestatte ein paar Worte an die Kinder. Wollt ihr weiter Spuren suchen? Wollt ihr die Gesangsschule sehen und die Wege, die die Mutter als Mädchen ging? Seht und grüßt mir jeden Stein. Und seid mir vor Abend zurück, Kinder.«

Mit einem freundlichen Ernst sah er den Davonschreitenden nach, wandte er sich zurück an den Wartenden.

»Tritt ein. Ich bin augenblicklich heimatlos und kann dir nur ein Gasthofzimmer bieten.« Sie saßen sich in Friedrich Thorsbergs Zimmer gegenüber und rauchten schweigend ein paar Züge.

»Ich will mich nicht aufdrängen,« sprach der Deutschamerikaner in das Schweigen hinein. »Ich möchte nur eine ganz stille Frage tun. Es schwang in deinen Worten an die Kinder wie Trauer. Habe ich recht gehört?«

»Du hast recht gehört. Vor einer Woche mußte meine Frau dahin.«

»Mußte ...? Sagt das der Arzt in dir?«

»Du hast in Wahrheit ein feines Gehör. Sie mußte trotz des Arztes. Sie starb an Deutschlands Feinden.«

Ferdinand Waldheim legte dem Freunde die kantigen Arbeitshände auf die Knie.

»Du hast ein schweres Vermächtnis, Friedrich. Und nun verstehe ich auch dein Wort von der reineren Religion.«

Friedrich Thorsberg tat einen tiefen Atemzug.

»Verstehst du es wirklich? Da muß der eine aus Amerika und der andere aus Afrika heimgekehrt sein, um besser Deutsch zu verstehen als die seßhaften Volksgenossen.«

Der andere sog wieder schweigend an seiner Zigarre.

»Ich will mich nicht in dein Vertrauen einschleichen,« begann er nach einer Weile. »Du kannst ja nicht wissen, wer ich in dem Menschenalter da drüben geworden bin. Ein Geschäftsmann, Friedrich. Und ein Geldmacher wohl auch. Aber einer, der bei allem gesorgt hat, daß das Herz nicht zu kurz kam. Ganz altmodisch, Friedrich. So wie es in unserer Heimatstadt da unten am Rhein Gebrauch war. So habe ich auch meine Ehe geführt. Wie ein Feiertagsgeschenk. Und das Hab' ich auch hergeben müssen, wie du. Vor zweieinhalb Jahren, als mein Sohn gegen Deutschland kämpfen mußte, da ist sie gestorben. Aber ich bin darum nicht zum Hasser geworden.«

Friedrich Thorsberg nickte. »Der Tod ist eine Notwendigkeit. Wer wüßte das besser als der ernsthafte Arzt. Auf die Art des Sterbenmüssens kommt es an. Das Sterben meiner Frau ist nur eine Note in dem großen deutschen Sterbechor. Aber – eine Note. Horch einmal hinein in das gequälte deutsche Sterbegestöhn. Ob dich diese Musik nicht schaudern macht. Ob dir auch noch das Hinsterben von deutscher Ehre und Würde Liebesgedanken läßt oder – Mannesgedanken.«

»Du denkst an Vergeltung, Friedrich?«

»An Vergeltung? Die steht in des Herrgotts Hand. Wie willst du mit einem Volk von Halbverhungerten und Ganzgedemütigten Vergeltung üben? Aber helfen möchte ich, dies Volk wieder zu einem gewürdigten, geachteten, gleichberechtigten zu machen. Dazu gehören eiserne Nerven und, wo es not tut, Eisen schlechthin.«

Wieder rauchte Ferdinand Waldheim schweigend ein paar Züge. Sein kräftiges Gesicht lag in Falten.

»Der Hunger ist so schlimm wie deine Tsetsefliege,« sagte er aus seinem Grübeln heraus.

»Der Tsetsefliege gehe ich zu Leibe, Ferdinand.«

»Du meinst, da könnte ich dem Hunger auf die Lederhaut rücken. Laß dir sagen, weshalb ich hier bin. Ganz im geheimen. Und das Geheimnis lautet: Es wird auch bei uns da drüben mit Wasser gekocht. Wir haben auch da drüben unsere Kämpfe, und das Deutschtum als Volksteil geht unter. Schau her. Ich bin ein einfacher Mann geblieben, aber die Form, die Form dieses Unterganges hätt' ich mir schöner gedacht?«

»Wie hättest du sie dir gedacht?«

»Sagen wir: würdevoller. Sagen wir: selbstbewußter. Gut, es soll wahr sein, daß der amerikanische Bürger deutschen Blutes amerikanisch und nicht deutsch zu denken hat. Politisch wie wirtschaftlich. Ein stolzes Volk vergibt keine Bürgerbriefe, wie ein Gesangverein seine Ehrenmitgliedschaften an nichtmitsingende Gönner verteilt. Aber wir hätten die Pflicht vor Gott und unserer Herkunft, daß auch wir dem neuen Ganzen ein Gepräge gäben und uns nicht demütig und hochachtungsvoll verschlucken ließen bis auf die letzte Spur. Von den Würdelosen und Geschmeidigen haben wir drüben ein so stattlich Fähnlein wie nur unter den Seßhaften hierzulande, aber im alten deutschen Mutterlande gibt es doch wenigstens noch Keimzellen, die auf die neue Saat, auf neue Blüte hoffen lassen, und so ein Stücklein Land aus gesunden Keimzellen möchte ich mir für die Zeit, in der mein Abend kommt, suchen und sichern.«

»Und deine Kinder, Ferdinand?«

»Meine Kinder sind in Amerika geboren. Wir Alten sollen nicht immer versuchen, ihnen eine Anschauungswelt aufzupfropfen, die nur auf uns paßt. Es ist genug, wenn wir ihnen unmerklich ein paar Richtlinien stecken, den getreuen Eckart spielen.«

Friedrich Thorsberg sann vor sich hin.

»Du bringst gesunde Ansichten ins Land. Eine reinigende Scheidung muß sein. Und es paßt ganz dazu, daß du dir mit klarer Einsicht deinen Feierabendplatz dort suchst, wo du seelisch hingehörst und nicht körperlich. Das ist deutsche Sammlung.«

»Ich möchte«, sagte der breitschultrige Mann, »das Wort Feierabend nicht so ganz wörtlich aufgefaßt wissen. Ich habe der Arbeit durch Tag- und Nachtwachen den Segen abgewonnen, und in den Staaten hören ein halbes Dutzend Fabriken auf meinen Namen. Da kann ich schon, ohne die Kinder zu beeinträchtigen, mit den überschießenden Kräften an die Not der Landsleute herangehen, und ich dachte mir eine planmäßige Zusammenfassung der deutschamerikanischen Hilfskräfte.«

»Laß es nicht dabei bewenden, Ferdinand. Geh darüber hinaus.«

»Über das stille Wohltun hinaus?«

»Über das stille nicht. Aber das planmäßige. Das planmäßige ist Massenarbeit für die Massen. Du aber bist gottlob ein Persönlichkeitsmensch und kannst die ans Licht ziehen, die sich aus lauter Scham vor ihrem eigenen Elend nicht ans Licht wagen. Das sind die Überalterten und die überflüssig gewordenen Kulturträger, für die es in unserer wirrsinnigen Übergangszeit keine Lebensmöglichleiten mehr gibt. Gerade heute traf ich einen früher sehr bekannten Bühnenkünstler und Theaterleiter an, einen Siebzigjährigen, Waldemar Heß, der als Fremdenführer heißhungrig vor dem Goethehause lauerte. Er ist nur ein Beispiel.«

»Waldemar Heß?« fragte Waldheim. »Hat er nicht einen Sohn Robert Heß in den Vereinigten Staaten?«

»Richtig. Er erwähnte ihn kurz. Als einen, der überall weilte, wo der goldene Golfstrom nahe an die Ufer rauscht.«

»Dann ist es der Mann. Ein blanker Geldmacher. Heute unten, morgen oben. Immer den Mantel nach dem Winde. Einer von denen, die den deutschen Namen in Amerika nicht besser machen.«

»Und der Erzeuger verhungert hier allmählich.«

Ferdinand Waldheim überlegte. Eine knabenhafte Verlegenheit spann sich über sein starkes Gesicht.

»Da könnte ja der Persönlichkeitsmensch mal den Anfang machen mit der Fürsorgepflege.«

»Das wäre. Seine Wohnung hat er mir mitgeteilt. Wenn du frei bist – ich habe eine Stunde Zeit.«

»Gut, ich habe erst über den Abend verfügt. Wann reisest du weiter?«

»Morgen wohl. Ich bin, genau betrachtet, auf der Flucht und gehe einstweilen als Universitätsprofessor nach München. Wenn du willst, erzähle ich dir mein – mein Erleben auf dem Wege.«

Der Deutschamerikaner hatte auf dem Wege in schweigender Aufmerksamkeit zugehört. Er blies den Atem durch die Nase. Sein Gesicht rötete sich. Dann standen sie in einer abgelegenen Straße vor der Wohnung des alten Schauspielers.

»Ein Wort nur, Friedrich. Du bist doch der reichere. Du hast Kinder, die Teile von dir und dein eigen sind. Du hast ein Vaterland, dessen Boden du mit deinen Kindern teilen kannst. And du hast für deine Liebe und deinen Haß eine Lebensaufgabe, die nicht altern macht. Du im armen Deutschland bist doch der reichere.«

»Das bin ich,« sagte Friedlich Thorsberg kalt. »Sonst lebte ich nicht.«

Ihr Besuch bei dem greisen Bühnenkünstler sollte nur ein kurzer sein. Ein Kärtchen mit der handschriftlichen Angabe: ›Waldemar Heß, ehem. großherzogl. Hoftheaterleiter‹ bezeichnete die Tür, an der sie zu klopfen hatten. Aber sie mußten dreimal klopfen, bevor der Riegel drinnen zurückgeschoben und die Tür einen Spalt breit geöffnet wurde.

»Was wünschen Sie?« fragte die brüchige Stimme des alten Herrn. »Ich bin für niemand zu Hause.«

»Ich bringe Ihnen, verehrter Meister,« sagte Friedrich Thorsberg achtungsvoll, »einen neuen Bewunderer, der Ihnen zudem von Ihrem Sohn erzählen kann.«

»Ich bedaure, nicht zu wissen, wer Sie sind. Und mein Sohn geht mich nichts an.«

»Dürfen wir«, fragte Friedrich Thorsberg mit freundlicher Ruhe, »nicht einen Augenblick bei Ihnen eintreten, da wir nun doch einmal die hohe Treppe erstiegen haben? Professor Thorsberg. Ich hatte heute mittag die Ehre ...«

»Ah, Sie sind's, verehrter Herr.« Die Stimme wurde kleinlaut. »Es ist sehr gütig, daß Sie schon so bald mich besuchen kommen. Aber – Sie werden verstehen – ich habe – Damenbesuch.«

»Laß doch die Herren eintreten,« erklang im Zimmer eine heitere Stimme. »Was sollen die Herren von dir denken, Waldemar.«

Der silbrige Kopf nickte lebhaft. »Ja, ja. Hatte ich nicht schon gebeten? Es wird uns eine Freude sein.«

Die Tür zu der dürftigen Kammer öffnete sich. Der alte Herr stellte mit einer zittrigen Handbewegung vor:

»Fräulein Franziska Großmann, ehemalige großherzogliche Hofschauspielerin.. Herr Professor Thorsberg, mein liebes Fränzchen, ein begeisterter Verehrer deiner Kunst, wird die Freundlichkeit haben, uns mit seinem Begleiter bekanntzumachen.«

»Herr Ferdinand Waldheim aus Amerika, der Ihnen Grüße Ihres Sohnes überbringen möchte.«

»Grüße meines Sohnes? Das muß ein anderer Heß gewesen sein. Mein Sohn Norbert leidet nicht an derartigen Gefühlsäußerungen. Grüße!« erregte er sich. »Grüße! Was sind Grüße? Inhaltlose Redensarten. Zu armselig, um eine Tasse Tee darauf zu kochen. Wären sie noch auf einem Zettel geschrieben, daß man ihn falzen und sich die Pfeife damit anzünden könnte! Ein Gruß? Ein Gruß? Wissen Sie, wie ein wirklicher Gruß auszuschauen hat? Wie diese hier hat er auszuschauen! Wie dieses wunderbare Mädchen, das gekommen ist, mich aus dieser wahnsinnig machenden Einsamkeit zu erlösen, das gekommen ist, mich in ihr Jungfernstübchen an den heiteren See von Starnberg zu holen.«

»Waldemar,« sagte Franziska Großmann, »das wunderbare Mädchen geht straff auf die Sechzig zu, und mit dem Jungfernstübchen ist kein Eindruck mehr zu machen. Meine Herren,« und das graugesprenkelte hagere Fräulein wandte sich gut gelaunt den Besuchern zu, »es ist die reine Selbstsucht, die mich zu meinem alten Freunde geführt hat. Die Gegenwart hat keine Rosen mehr für mich. Da möchte ich mir als Lebenskünstlerin ein Stück lebendiger Erinnerung heimholen. Überdies,« sie nickte scherzhaft, »empfehle ich mich als dramatische Tanz- und Anstandslehrerin.«

»Sie hat sich nicht unterkriegen lassen,« murmelte Waldemar Heß, »dieses wunderbare Mädchen hat sich nicht unterkriegen lassen. Ah, ihre ewige Jugend wird mein Jungbrunnen sein.«

Er verbeugte sich vor seinen Besuchern.

»Meine Herren – ich bedaure aufrichtig – aber ich habe Tag und Nacht zu packen.«

Eine große, altväterisch gebauchte Reisetasche wartete mit aufgeklappten Kinnladen. Mit dem Blick des geschäftskundigen Mannes hatte der Deutschamerikaner festgestellt, daß sie für die zusammengeschmolzenen Habseligkeiten reichte. Bücher, Bilder und Erinnerungswerte waren wohl in dunklen Abendstunden längst zum Altertumshändler gewandert.

Die Herren verabschiedeten sich.

»Sie haben mich«, sprach Ferdinand Waldheim mit gedämpfter Stimme zu dem Silberhaarigen, »mit den Grüßen Ihres Sohnes nicht zu Wort kommen lassen. Robert Heß vertraute mir diese Hundertdollarnote an, die ich Ihnen zu überreichen die Ehre habe.«

Kopfschüttelnd stand noch der Greis in der Tür, als die Besucher schon auf der Treppe waren.

»Das muß ein anderer Heß gewesen sein. Das muß ganz bestimmt ein anderer Heß gewesen sein.«

»Du hast die Probe bestanden, Persönlichkeitsmensch,« sagte auf der Treppe Friedrich Thorsberg und legte dem alten Schulkameraden fest die Hand auf die Schulter. »Die Lüge hat dich so schön gekleidet wie einen Engel der Heiligenschein.«

»Im nächsten Sommer suche ich dich in Bayern auf, Friedrich. Gute Fahrt allezeit.«

Sie trennten sich, und Friedrich Thorsberg schritt in angeregter Stimmung seinem Gasthof zu. Die Kinder traf er noch nicht an. Heute drängte es ihn noch einmal unter die Menschen. Der Anfang war gut gewesen. Und er gedachte der Universitätsfreunde, die in Frankfurt in ihren Ämtern und Würden saßen, schlug einen Namen im Fernsprechbuch nach und sagte sich auf eine Abendstunde an.

Die Kinder kehrten in stiller Frohheit heim. Sie hatten gefunden, was sie gesucht hatten. Und nach einem Imbiß ließ er sie im Austausch ihrer Gedanken allein und wanderte durch die laute Stadt dem Haus des Studienfreundes zu.

Herzlich wurde er bewillkommt.

»Was ich von unseren Mitburschen in der Eile zusammenberufen konnte, habe ich zusammengerufen, Thorsberg,« sagte der Schulprofessor. »Ein halbes Dutzend sind zur Stelle.«

Ein halbes Dutzend Hände streckte sich ihm entgegen. Ein halbes Dutzend Stimmen redete auf ihn ein. Die alten Studentenspitznamen wirrten durch die Luft. Die alten Scherzworte und Heiterkeiten. Es klang frisch und forsch wie auf der Studentenkneipe und klang doch in Friedrich Thorsbergs aufmerksam hinhorchendem Ohr wie ein gewaltsames Aufrütteln aus der Verstaubung, dem Gast zu Ehren. Schon eine halbe Stunde saß er und ließ sich die altbackenen Begebenheiten und überheblichen Abenteuer auftischen, bis er eine Frage stellte.

»Und was gedenkt ihr jetzt zu tun? Für Wiederaufrüttelung des Volkes?«

Die Stimmwogen ebbten ab. Einer blickte auf den anderen, um ihm den Vortritt zu lassen.

»Lieber Thorsberg,« meinte ein gemütlicher Amtsgerichtsrat, »ich habe tagsüber so viele Verbrecher abzuurteilen, daß ich wohl des Abends an meine karge Erholung denken darf.«

Der Hausarzt pflichtete ihm hastig bei. »Was habe ich überhaupt noch von meiner Familie? Außerdem könnte sie verhungern.«

Ein Bankherr fuchtelte erregt mit den Armen durch die Luft. »Um Gottes willen, Herrschaften, mehr Silentium, wenn ich bitten darf. Ein jedes Wort ist zuviel. Die Franzosen warten nur auf einen Anlaß, um auch Frankfurt besetzen zu können. Wir wären die ersten, die ausgewiesen würden. Mischen wir uns doch nicht in die Angelegenheiten der Regierungen!«

»Ja, lieber Thorsberg,« sagte der Hausherr in freundschaftlichem Ton, »so sehen die Dinge in der Wirklichkeit aus. Ihr leichtbeschwingten Traummenschen überseht nur zu leicht die Werte, die wir für ein nebelhaftes Ziel einsetzen sollen. Ich zum Beispiel, wenn du mir gestattest, von meiner Wenigkeit zu reden, schreibe seit Jahren an einem Werke: ›Die deutsche Sprache im Lichte der Jahrhunderte‹, das dem Abschluß nahe ist. Was würde daraus werden?«

»Es würde dann vielleicht erst die deutsche Sprache werden, die das Licht der Jahrhunderte nicht zu scheuen hat.«

»Thorsberg,« rief der Amtsgerichtsrat, »wir sind alte Leute. Laß uns das Leben.«

Friedrich Thorsberg blickte nach der Uhr. »Nun muß ich leider schon wieder davon. Meine Kinder erwarten mich im Gasthof.«

Noch einmal schlugen die alten Scherzworte mit den Flügeln. Aber es klang matter als zur Begrüßung. Das Strohfeuer erlosch.

Was ist das für eine Liedstrophe, die mir unablässig durch den Kopf geht? dachte Thorsberg. Was ist das nur für eine Liedstrophe?

Jetzt hatte er sie, Wort und Weise.

›Wie seid ihr so alt geworden – Wie bin ich geblieben so jung – – –‹

So kehrte er heim zu den Kindern.

*

 


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