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Dieses war das Bild, das Friedrich Thorsberg vor Augen sah, wo er ging und stand, unter den Menschen und in der Einsamkeit ... dieses war das Bild: Windgepeitscht der Abend. Unter der hochgewölbten Rheinbrücke tief drunten der Strom. Dunkle, hastig gleitende Hochwassermassen, auf Steinwurfweite ins Schwarze sinkend, Über die Brücke eilig hinschreitend ein Mann, rotbärtig, barhäuptig, zwischen zwei Soldaten, braunhäutigen Burschen, den roten Fes im Nacken, die blitzenden Bajonette an den Gewehrläufen. Links und rechts am Handgelenk gepackt, schritt der Rotbärtige. Was ihnen entgegenkam, stob scheu vor dem Tierschrei der Soldaten auf die andere Brückenseite, schwand im Dunkel. Eine Kinderstimme rief. Wind und Regen wirrten die Töne. »Badhaus, Vater!« Nur dem Rotbärtigen wirrten sie sich nicht. Plötzlich begann er im Hinschreiten zu reden, kurze Sätze, in einer fremden Zunge. Die braunen Burschen fuhren aus ihrem Trott empor, überrascht, offenen Mundes, Heimatklänge aus Wüstenländern in den Ohren. Und im selben Augenblick glitt auf der regenglatten Brücke ein Kind aus, ein Mädchen, vierzehnjährig, dem einen der Burschen zwischen die Füße, daß er mit einem Fluch jählings über den rollenden Körper dahinstürzte. Dem andern stieß der Rotbärtige mit wilder Wucht das Knie zwischen die Lenden, sah ihn hinsacken wie ein gekentert Boot. Wieselgleich war das Mädchen entwichen. Die Brücke voll Lärm, Licht, Wachen und Waffen. Den Rotbärtigen hatten die Wasser des Rheins. Mit vorwärts geschleuderten Armen hatte er sich über das Geländer geworfen.

*

Der Jäger trat aus dem Dickicht auf die Lichtung. Hinter einer Waldwiese klemmten sich ein paar mühsam erarbeitete Getreideäcker zwischen das zurückweichende Buschholz. In der Sommersonne knisterte das reifende Korn, als ob von Ähre zu Ähre Funken sprängen. Saftgrün prangte das Wieslein im Graswuchs, und an den farbengrellen Blumendolden hingen die weißen, gelben und bunten Falter in der Betäubung des Duftes.

Die hellen Augen des Jägers wanderten darüber hin. Der bartlose Kopf sah auf einem sehnigen Körper. Unter dem entfärbten Jagdhut drängte sich entfärbtes Haar.

Der Friede des Sommertages lag in den Augen, den entspannten Zügen. Der Widerschein des Friedens, den das Stücklein Natur rundum ausatmete.

Und die Augen, hellblau wie der Sommerhimmel, hoben sich langsam zum Himmel auf, verengten sich, wurden dunkel. Auf einen Punkt starrten sie, und kein Wimperhaar zuckte.

»Habicht.«

Rüttelnd stand der gierige Räuber im Blau. Ein kleiner, unbeweglich scheinender Federball. Ein Wolkenflöckchen am heiteren Himmel. Viele Herzschläge lang. Und warf sich herab, als fiele sausend ein Stein vom Himmel, stieß in blinder Mordlust auf die erspähte Beute.

Schneller noch flog der Blick des Jägers.

Aus dem Getreidestück am Waldesrand war ein Fasanenhahn aufgestanden. Angstvoll ging der goldschillernde Vogel hoch und wollte zu Wald, ins Dickicht. Umsonst. Der stoßende Habicht brauste auf ihn, schlug ihn, daß die Flaumfedern des Brustschildes beide wie Schnee umstoben, und plumpte im Feuer des Jagdgewehres, die Beute im Fang, steinschwer in das dichte Getreide.

Der Jäger nahm das Gewehr nieder. In seinen Augen saß ein kalter Glanz. Die Züge seines bartlosen Gesichtes waren hartgehämmert. Er warf die verfeuerte Patrone aus dem Lauf und schob eine neue ein.

»Beide auf einen Schuß. Der Fasan war nicht mehr zu retten. So verendete der Räuber doch an der Beute.«

Mit kurzschätzendem Blick stellte er den Punkt fest, an dem Habicht und Hahn spurlos im Korn versunken waren. Die knisternden Ähren standen, wie sie gestanden hatten.

Ruhigen Schrittes ging er auf das mannshohe Kornstück zu, das nirgends Einblick gewährte.

»Der Hund fehlt mir. Hilft nichts. Für die Frau kriech' ich eine Meile auf allen Vieren.«

Und mit einem Male lachte er und warf das Gewehr, das er griffbereit genommen hatte, am Riemen wieder über die Schulter.

»Der Hund fehlt mir? Meine beiden Jagdhunde sind, scheint's, an der Arbeit.«

Durch den jenseitigen Wald war es wie Schatten herangehuscht gekommen. Aus dem Walde bäuchlings in das Kornfeld. Einmal hier, einmal dort erzitterten auf der ruhigen Goldflut der Rispen ein paar Ährenköpfchen, daß es aussah, als hüpfte eine träumende Welle auf.

Dort suchen sie, dachte der Wartende. Du wirst sie mit keinem Wink auf die Fährte lenken.

Er brauchte es nicht. Mitten im Ährenfeld wogte ein Armvoll Halme auf, schlug um sich, peitschte die Gefährten, als wäre ein Wirbelsturm nur in dies Stückchen der stillen See gefahren. Und nun gaben des Jägers Jagdhunde Laut. Junge, helle, halberstickte Stimmen. Das Korn rauschte auf einer schnurgeraden Bahn, eine Welle lief bis zum Wiesenrand, und als sie ausgelaufen war, brachen aus der gleichen Spur zwei junge Menschen, in braunen Hemden, Beinlingen und Wickelstrümpfen, sprangen auf die Füße, standen, zwei schlanken Jünglingen gleich, atemlos, den Beutearm hochgereckt, bis dem einen, der den Habicht schwenkte, unterm Lodenhut die gelösten Flechten fielen.

»He – Gert! – Gertrude! – Weidmannsheil!«

»Dir, Vater, dir! Wir sind nur deine Jagdhunde, deine Zutreiber, deine – –«

»Ja – meine«, sagte der Mann. »Her mit der Strecke!«

Er nahm aus des Sechzehnjährigen Hand den Fasan, wog ihn, suchte mit spitzen Fingern den Einschuß.

»Hier sitzt das Schrot. In der Hirnschale. Wie kann man so farbenschillernd einherstolzieren, wenn man ein so kleines Hirn hat. Nun – wenigstens habe ich dem Räuber sein Späßlein verdorben.«

Er gab den Hahn an den Jungen zurück.

»Ob die Mutter sich freut, Gert? Sie kann eine kräftige Suppe gebrauchen. Aber nicht wieder beide von ihr laufen, hört ihr? Nicht wieder beide!«

»Wir sind auf Mutters Geheiß dir nach in den Wald, Vater.«

Der Mann fuhr dem Jüngling mit weicher Vaterhand über die schamrot gewordene Stirn.

»Einer muß wachen, Gert. Seit der Räuber auf sie stieß – das kann plötzlich verbluten.«

»Du bist Arzt, Vater –«

Der Mann wandte sich nach dem Mädchen. Sie reichte ihm den schweren Raubvogel. Ihre Blicke trafen sich und ruhten ineinander. Vor beider Augen stand dasselbe Bild: das Bild einer hochgewölbten, regendunklen Brücke über den Rhein.

Der Jäger hielt den Habicht an beiden Fängen. Seine Finger wurden zu Klammern. Auf den Handrücken hob sich das Geäder. Und mit einem Ruck riß er den blutwarmen Vogel in Fetzen.

Das Aas fiel zu Boden.

»Verludere – – –«

Von seinen Händen troff noch das Blut des Zerfetzten. Er griff ins Gras und mischte es mit einem Büschel rein ab. Und wie er aufschaute und seinen Kindern gerade ins Gesicht, leuchtete aus den hellgewordenen Augen wieder das klare, blanke Licht, um derentwillen ihn beide Kinder mit ihrer tiefsten Inbrunst liebten.

»Ich wollte euch nur zeigen, wie unschön eine Zorntat wirkt.«

»Du wolltest uns zeigen, daß ein Räuber außerhalb der Gesetze steht, Vater. Daran ist nichts mehr zu deuteln.«

»Du wolltest uns zeigen, daß, wo Verachtung am Platze ist, sie auch gehandhabt werden muß.«

»Es ist herrlich, Kinder, bei euch in die Schule zu gehen.«

Die Kinder standen mit ernsten Augen. Da zog der Vater sie an sich, den Jungen an seine Linke und das bubengewandete Mädchen an seine Rechte, und der Junge hatte des Vaters Größe, und das Mädchen gab ihm kaum um eine Handbreit nach.

»Laßt die Freude heraus, Kinder. Freut euch des schönen Sommertages über dem Rhein, und fällt es euch schwer, so freut euch der Beute, die uns den Sommertag verschönt.«

Der Junge stand aufrecht an seiner Schulter, aber der Mann spürte, wie der Knabenkopf unmerkbar fast die Fühlung mit dem seinen nahm. An seine rechte Schulter drückte sich das Mädchen. Sie drängte sich mit dem ganzen Körper an ihn an, als müßte sie mit jedem Muskel in ihm aufgehen.

»Sag uns den Weg, Vater.«

»Und was bedrängt den Gert?«

»Vater, mir ist, als wäre jede Freude eine Versündigung. Heute noch, Vater, und wohl lange noch.«

»Gib acht, Gert. Und auch du, Gertruds. Wir tragen an einem schweren Schicksal, an einem fluchwürdigen. Wir als Volk und wir als Einzelmenschen. Sagte ich: Volk? Nun gut, laßt mir das Wort heute einmal hingehen, obwohl der Ehrenname eines Volkes nur einer Gesamtheit von Ordnungs- und Gesittungsmenschen zukommt. Und zu ihrer Schaffung und Erhaltung gehört zu jeder Frist der Mut zur Tat, und zum Tatenmut gehört die Waffe. Beides aber ist in Deutschland in Bruch und Stücke gegangen. Vorläufig.«

»Vorläufig. Vater.«

»Und so bleibt – und wiederum vorläufig – der Einzelmensch. Der schleppt nicht weniger schwer an seinem Schicksal, ja, es kann ihm über die Schwere hinaus noch viel gemeiner und scheusäliger erscheinen, weil er es bei Schritt und Tritt vor Augen sieht, weil er die Fratze nicht mit einem Hieb weghauen kann, weil er, ob er nun von fremden Gewalthabern entrechtet, geknechtet, entehrt und besudelt oder eingekerkert, beraubt, vertrieben und landesverwiesen worden ist, sich vogelfrei sieht und so jämmerlich hilflos im Stiche gelassen von denen, die zur Regierung berufen sind, aber bei Gott nicht auserwählt. Trotzdem! Und haltet mir dieses Wort fest: trotzdem! Wenn die Gesamtheit versagt, muß der Einzelmensch es schaffen. Der, auf den sich täglich und stündlich das Schicksal wirft, wird auch am ersten die Handgriffe lernen, um seine Gurgel zu finden. Was er schaffen soll, fragt ihr? Nicht viel. Nicht mehr, als er leisten kann. Nicht mehr und nicht weniger nämlich soll er schaffen als den Glauben, daß die Deutschen immer noch keine Viehherde sind. Ach, Gert, du meinst, Glaube, das sei auch nur ein Schlagwort. Gut, so müssen wir das Wort der eigenen und der fremden Menschheit in die Köpfe schlagen, und wenn eine Anzahl Köpfe dabei zu Bruch geht, so ist das zehntausendmal besser, als daß das deutsche Herz in Schutt und Scherben geht. Und nun streich das Pathos davon herunter. Wir sind arme Leute.«

»Vater, und trotz allem lehrst du uns, die Freude herauszulassen?«

»Gert,« sagte der Mann, und die Kinder spürten, wie seine Hand über ihre Schultern strich, »zur rechten Stunde. Und jede ist recht, die uns Vergleiche gibt. Was würde aus unserem Schmerz, wenn er täglich und nächtlich nur das Leid zwischen den Zähnen zerschrotete. Er würde verkrusten. Und uns würde er die Brust verkrusten und uns langsam töten. Hei, mein Junge und mein Mädel, ist das die Absicht? Lebendig wollen wir den Schmerz erhalten und uns durch ihn! Und das können wir nur, wenn wir uns und ihm zu jeder rechten Stunde zeigen, wie schön die Welt allenthalben ist, in der wir leiden sollen, und der Wald und der Strom und der stille starke Sommertag und das Land der Väter und Mütter. Seht ihr? Hört ihr? Und begreift ihr alsdann? Die Freude muß heraus, damit wir an dem lebendigen Widerpart den Schmerz bis zur Vernichtung spüren und ihn endlich vernichten lernen.«

Drunten im tiefen Taleinschnitt zog der Rheinstrom. Auf dem Hange lagen die weiten, dunklen Waldstücke wie vorgeschobene Regimenter. Zwischen ihnen blühte das gelbe Korn, rankten an den Weingärten die saftgrünen Reben. Aus einer Erdfalte lugte ein Dorf, fernhin ein zweites, ein drittes. Die sommerschwere Nachmittagssonne funkelte in den Wetterhähnen der Kirchtürme. Und jenseits des Stromes dasselbe Bild: alte Nestlein mit vermoosten Wehrmauerresten, funkelnde Wetterhähne auf geschieferten Kirchtürmen, die Hänge hinan smaragdgrüne Weingärten, goldgelbe Kornspreiten, und unabsehbar weit der dunkle Höhenwald.

»Dort drüben,« sagte das Mädchen, und es lief ihm wie ein Fieber über den Rücken, »dort drüben – liegt Frankreich.«

»Und wo liegt Deutschland?« fragte der Sohn. »Ja – wo?«

Der Vater schlug den Kindern mit der flachen Hand aufs Herz.

»Dort liegt es, Gert, und dort, Gertrude, und hier bei mir, und im Herzen der Mutter, daß das arme Herz ihr fast auseinanderspringen will vor lauter Liebe zum deutschen Lande. Ist das nicht deutscher Boden genug? Braucht der Mensch mehr als dies Stücklein, um mit beiden Füßen fest zu stehen und vom Aufrechtstehen auch das Vorwärtsgehen wieder zu erlernen?«

»Werden die Füße die Mutter noch tragen, Vater?«

»Vater, du bist der große Arzt – –«

»Auch der größte Arzt ist an die irdische Beschränkung gebunden. Er mehr als andere Menschen. Weil er das Leiden erkennt und die Begrenzung allen Könnens. Und der Augenblick solch einer zwiefachen Erkenntnis kann ihn zum blindwütigen Lästerer an Gott und seiner Welt machen oder zum willensstarken Versteher unserer Daseinsart. Erdenmenschen sind wir, Kinder, und keine himmlischen Götter. Drum laßt uns das Unsrige auf Erden verrichten, solange es Tag ist. Das und nichts anderes will Gott. Irgendwo im Buche der Bücher steht es geschrieben. Wer weiß mir die Worte zu nennen?«

»Wirket, solange es Tag ist. Es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.«

»Die Worte meine ich, Gert.«

»Und wenn die Nacht der Mutter kommt? Alles aus, Vater? Ihr ganzes – reiches – Leben – umsonst?«

»Gert – mein Junge – denk den Gedanken zu Ende. Ihr ganzes, reiches Leben, sagst du. Wer das Seine auf Erden tut und wirket, solange es Tag ist, der wird ein reiches Leben leben. Und wenn seine Nacht kommt und er ins Dunkel muß, so wird sein Reichtum zurückbleiben und den Erben die Grundmauern werden, ihr Nachfolgeleben noch viel herrlicher auszubauen. Umsonst? fragst du. War der Mutter Leben eine Stunde umsonst für ihre Kinder – ihre Erben? Jetzt haben wir uns verstanden.«

An seine Linke und an seine Rechte standen sie fest angeschmiegt, und die drei Menschen eines Blutes blickten vom Berg hernieder in die deutschen Lande, als suchten sie auch dort das gemeinsame Blut.

»Nun bringen wir der Mutter Freude heim.«

»Und die Beute,« rief das Mädchen.

»Es ist das gleiche,« sagte der Bruder, »wir wissen es jetzt.«

Der Vater sah dem Eifer der jungen Menschen zu, die sich um die Bergung des Fasanen bemühten. Er lachte.

»Einer muß schon das Jagdhemd hergeben. Stopp, stopp, Gertrude, von dir ist nicht die Rede. Recht so, Gert, mach ein Kleiderbündel daraus. Der Bauer sieht den Fasan immer noch lieber im Habichtfang als unter dem Sonntagsmesser des Nachbarn, der im Finden glücklicher war.«

»Du hast ihn ja geschossen, Vater. Kopfschuß. Mitsamt dem Räuber.«

»Man schießt zur Schonzeit keine Fasanenhähne, mein Mädchen. Ich habe einen Habicht geschossen mit einem Fasanen im Fang. Fertig.« Das Mädchen nestelte lachend die Knöpfe seines Hemdes zu. Sonnengebräunt hob sich darunter die Brust. Wie lebendig schön sie ist, dachte der Vater. Wie die Mutter, dazumal, auf den afrikanischen Märschen. Minne, meine lebendig-schöne Minne. Was ist aus dir geworden!

Plötzlich war er bis in die Lippen erblaßt. Und ebenso jäh kehrte das Blut zurück.

Die Gertrude ist aus dir geworden, du Tapfere, klang es in ihm.

Und der Gert, dachte er und winkte dem Jungen zu, der mit dem Bündel über der Schulter ruhig durch die Wiese voranschritt. Es ist Verlaß auf sie.

Langen Schrittes ging das Mädchen in Beinlingen und Wickelstrümpfen an seiner Seite.

»Oft mein' ich, du wärst ein Bub,« sagte der Vater. »Sehnen und Fesseln wie Toledaner Stahl. Bravo, das war ein Grabensprung. Aber so komm schon her. Du willst ja doch an meinen Arm.«

Sie war schon untergeschlupft. Und damit er ihr nicht wieder entginge, verknotete sie um seinen Arm ihre beiden Hände ineinander. So dicht ging sie neben ihm, daß er jeden ihrer Schritte in seinem Körper mitschwingen fühlte. Als wäre ich die Mutter und nicht der Vater. Bald – bald muß ich ja auch beides sein. Nein, wir müssen alle eins sein!

Sie waren aus der Wiese heraus und wieder auf federndem Waldboden. Bergan ging's, über eine tannenbestandene Lehne hinweg und wieder hinab in eine von Buchen erfüllte weite Mulde. Oft raschelte hüben und drüben ein Stück Wild. Sie spähten nur aus scharfen Augen hin, wechselten halblaut ein Wort, unterbrachen aber nicht mehr den Heimmarsch. Noch einmal schob sich eine Berglehne quer, und den Pfad kürzend klommen sie zwischen den Stämmen empor, verhielten oben und lachten sich in die Augen. In die Berglehne eingefügt, aus dem Fels herauswachsend, als wär's ein Stück von ihm, ein wettergraues Turmgemäuer. Auf bloßen Hinblick kaum erkennbar. So sehr ging Farbe in Farbe, Form in Form. Und aus der Weite schien es, als wären über dem Hünenstein die Wipfel der Bäume dicht zusammengewachsen. Dem scharfen Blick aber zeigte sich schnell die Wohnstätte der Menschen. In den Fensterhöhlen spiegelte sich das Glas, weiße Gardinlein winkten, bunte Feldblumensträuße prangten auf den Simsen. Fest wuchtete das Tor in den schweren Angeln. Es führte in den Innenhof, der nur noch von wenigen Mauerresten umstellt war, und in dem Innenhof hatten Natur und Zeit ein Burggärtlein erstehen lassen aus wildem Salbei und Pfefferminz, aus rotem Mohn und blauem Rittersporn, aus Holunderbüschen und Marienrosenhecken.

Lachten sich darum Vater und Kinder mit verhaltenem Atem in die Augen?

Ein Streckstuhl stand in der blühenden Wildnis. Auf der dünnen Bespannung ausgestreckt lag weißgekleidet eine Frau, die flachen Hände an den Schläfen, die Fingerspitzen im Haar versteckt. Offenen Auges lag sie und blickte regungslos in den Sommerhimmel.

»Mama,« sagte das Mädchen am Waldrands »Mama ...«

Und der Junge noch leiser fast: »Mutter – Seht doch nur ... die Mutter.«

»Ja, Kinder, sie ist die schönste Frau. Uns ist sie es.«

»Vater, kann das Leben schöner blühen, als die Mutter blüht? Kannst du nicht noch hoffen, Vater?«

»Hoffnung ist bis zum Grabe, Gert. Wer sie vorher aufgibt, ist ein Feigling.«

»Nein, ein Feigling bist du nicht,« murmelte der Sohn, und ein wildes Lachen lief über sein Gesicht.

»Ich glaube es selber nicht, Gert.« Und er formte die Hände am Mund, wie wenn er dem Wilde den Lockruf gäbe.

»Minne,« rief er hinüber, » Frau Minne, Mutter Minne ... Ich ruf' dich mit dem Namen der Geliebten, der Gattin, der Mutter! Dreifach die Beschwörung ...«

Die weißgekleidete Frau regte sich nicht. Sie lag, als ließe sie sich von den Worten lieblosen.

»Minne, Frau Minne, Mutter Minne ...«

Jetzt zog sie die Fingerspitzen aus dem Haar, winkte mit der Hand einen Gruß.

»Kommt her, ihr meine drei.«

Wie ein Wettlauf brauste es daher. Die Jungen flogen wie der Wind. Aber der gestählte Manneskörper warf sich durch Büsche und Hecken hindurch, als wären es Halme. Vor ihr fiel er auf beide Knie.

»Hier ist dein Ritter, Fürstin von Niemandsland. Grau geworden, gelt, du? Aber sonst noch bei Wege.«

»Wildfang.«

»Hier, dein Junge!« – »Dein Mädel, Mutter –«

»Wildfänge auch ihr. Wer ist nun der Junge und wer das Mädel?«

»Einerlei, Mutter, einerlei! Sieht der Vater wie ein Doctor medicinae aus? Und noch dazu wie ein weltberühmter Universitätsprofessor? Was hat er all die Jahre in Afrika gesucht? Die Tsetsefliege und die Schlafkrankheit? Oder Löwen, Tiger, das Gnu und das Nashorn? Ach, Mutter, hast du danach gefragt, als du bei ihm sein durftest in der Wildnis?«

»Nein,« sagte die weißgekleidete Frau und hob das Kinn des Mädchens, »du bist kein Junge, denn ich höre meine Mädchenstimme aus dir.« Und das Mädchen senkte das Kinn und barg die Lippen in der Mutter Hand.

Die Frauenaugen wanderten zu ihrem Jungen.

»Mit nackter Brust, Gert? Spürst du den Sommer oder dein Blut so stark?«

Er wickelte den Fasan aus dem Jagdhemd und hielt ihr den schillernden Vogel an den Ständern hin.

»Vaters Beute. Für dich, Mutter.« Und er sah sie strahlend an. »Freut's dich recht?«

»Solch ein Jagdfrevel. Und freuen soll ich mich auch noch?«

Der Sohn wollte berichten. Die Schwester kam ihm zuvor. »Der Habicht schlug ihn, Mutter. Er wollte von der Äsung hastig zu Wald, da schlug er ihn. Aber in selber Sekunde holte Vaters Büchsflinte Habicht und Hahn. Den Tischsegen sprach sie. Aber für dich. Und der Gert und ich – wir lagen schon lange im Walde und belauerten den Vater – wie die Schweißhunde ins Korn und Witterung genommen und sie beide aufgestöbert, Habicht und Hahn, und sie herangebracht. Und so hielt der Vater den Räuber und dachte nach. Und dann schwollen ihm die Adern an den Händen, und mit einem Ruck riß er den mächtigen Vogel in Fetzen.«

Atemlos hielt sie inne, und ihre Blicke flogen zwischen Vater und Mutter dahin und daher.

»Freut's dich, Mutter?« fragte der Sohn wieder und sah nur die Mutter an.

Aber das ruhige Frauenantlitz schlug es wie eine rote Lohe hin. Ihre Hände suchten nach den Händen des fröhlich vor ihr knieenden Mannes, faßten sie, preßten sie mit einem überfesten Druck.

»Der Sommertag freut mich. Und die Beute freut mich noch mehr. Und ihr drei freut mich am meisten.«

Der Mann nickte ihr in die Augen, die ihm ein weitgeöffnetes Buch waren.

»Du hast einen schönen Tag gehabt, Minne? Trotzdem ich dir flüchtig ging und die verwahrlosten Kinder es wie der Vater machten und seine Fährte nahmen? Eine nette Pflegschaft hast du an uns dreien.«

»Wenn du spottest, Friedrich, hast du deinen guten Tag. Ach, Fritz, es war schön, hier in der Sommereinsamkeit zu liegen und zu träumen und sich doch behütet zu wissen von Mann und Kindern. Du hast mich verwöhnt, seitdem du mich vor zwanzig Jahren zum erstenmal in den Arm genommen hast, und nachher hast du die Kinder gelehrt, mich auch zu verwöhnen. Und das ist mir so ganz und gar zur Selbstverständlichkeit geworden, daß es gut ist, wenn ich mich mal ein paar Stunden allein finde und mir über all mein Lebensglück klar werden und so recht innerlich dafür dankbar werden kann. Zieh nur dein erstauntes Gesicht. Fritz, wenn du nur wüßtest, wie töricht dich das kleidet.«

»Marsch, ab, Kinder, besorgt den Abendtisch. Mutter wäscht mir die Mähne.«

Die Kinder küßten stürmisch der Mutter Hand, sprangen auf und ließen das Turmtor hinter sich in den Angeln kreischen. Zum geöffneten Fenster hinaus drang ihr Geschaffe.

»Deine Mähne,« wiederholte die Frau und kämmte mit ihren Fingern das dichte, graue Gelock. »Deine liebe Löwenmähne. Nun ist sie grau, sagt ihr, und ich sehe sie noch immer so gelb wie den Wüstensand.«

»Es ist nur noch ein Jahrmarktslöwe. Daran muß sich meine Minne langsam gewöhnen.«

Frau Minne Thorsberg zog noch einmal ein paar Strähnen des Gelocks durch ihre Fingerspitzen. Und hielt mitten im Spiele ein. Aber der Mann, der seinen Kopf in ihrem Schoße liegen hatte, fühlte, wie ihre Fingerspitzen auf seinem Scheitel hin und wider zuckten.

»Du lachst, Minne?« fragte er und wollte den Kopf erheben. »Du lachst über deinen Jahrmarktslöwen?« Sie hielt mit gespreizten Händen seinen Kopf in ihrem Schoße fest. Ihr fröhliches Lachen stieg in den Himmel.

»Friedrich, Fritz, während du das sagtest – plötzlich sah ich es, das Jahrmarktsbild. Du kennst es ja auch. Der Löwe ist los! Der Löwe war den Jahrmarkt satt. Der Löwe war die dummdreisten Wärter satt und das blöde-grinsende Philisterpublikum. Der Löwe hatte sich in Jahr und Tag das Pfeilgift aus der Tatze gesogen und spie es aus. Heraus war er aus dem Käfig, und keiner wußte: wohin. Alles rennet, rettet, flüchtet. Auf die Dächer, auf die Laternenpfähle. Hier ist er! Dort war er! Man trampelt einander nieder. Man zerreißt einander Frackschöße und Unterröcke. Wo? Wo ist er? Man zieht sich die Bettdecke über die Ohren. Fritz, Fritz, hilf mir! Der Löwe ist los ...«

Der Mann hatte seinen Kopf freibekommen. Aber seine eben noch hellen Augen lachten nicht mit. Sie waren hart und dunkel geworden wie in der Sekunde, da sie im himmelhohen Äther den Federball des rüttelnden Habichts erspähten. Seine Arme hoben sich in einer kurzen Bewegung und zogen den Kopf der Frau fest an seine Brust.

»Daß du recht behieltest, Minne.«

»Ich behalte recht,« murmelte sie an seiner Brust.

»Das Gift sitzt zu tief, die Kette zu eng, und der Jahrmarkt ist höllisch geräumig geworden.«

»Gut, gut, spiele den Jahrmarktslöwen weiter. Spiele ihn, bis ihn Wärter und Jahrmarktsgäste für ein blödes Bergschaf halten. Ich kenne deine Rasse besser. Ich kann's abwarten, mein Fridericus Rex.«

Die Züge seines Gesichtes, das über ihrem Scheitel stand, spannten sich jäh. Wie ein Aufhorchen war es in ihnen. Ich kann's abwarten, klang es in seinen Ohren. Ein dunkler Schatten lief wolkenschnell über seine Augen, daß sie sich schließen mußten. Als sie sich wieder öffneten und die rote Abendsonne über den Höhen jenseits des Rheines suchten, leuchtete in den hellgewordenen das blanke, klare Licht, um derentwillen ihn die Kinder mit ihrer tiefsten Inbrunst liebten und mit den Kindern die Frau.

Sie hatte den Kopf an seiner Brust gewendet und sah ihn an. Eine lange, stille Weile.

»Zweifelst du daran, – daß ich abwarten kann?« fragte sie und zögerte.

Er beugte sich zärtlich über sie, schüttelte den Kopf, wie ein ernsthafter Mann den Kopf über eine Kinderfrage schüttelt, und begann sie auf Stirn, Augen und Mund zu küssen.

»Friedrich ...«

»Ich habe es weit gebracht in deinen Augen. Erst bin ich ein Jahrmarktslöwe und jetzt ein Kurpfuscher.«

»Der Jahrmarktslöwe kam von dir.«

»Also kam der Kurpfuscher von dir. Nehmen wir die Beleidigungen wechselweise zurück und erklären wir uns gegenseitig für Ehrenmänner.«

»Ach, Friedrich, mach mich gesund! Laß es mich erleben! Laß mich nicht ohne die eine Genugtuung in die Erde, daß die Erde deutsch geworden ist!«

Unter ihrem Aufschrei saß er in der unveränderten Zärtlichkeit.

»Mein altes Mädchen. Meine alte Marschgefährtin in den afrikanischen Wüsten. Hast du mich je auf einer Lüge ertappt? So wahr es deine Kinder erleben, die aus deinem und meinem Blut geworden sind, so wahr wirst du den Tag der Freiheit erleben und bis zu ihm hin in allen Kämpfen mit uns sein.«

Sie atmete tief und befriedigt, streckte sich und lag still.

»Die Kinder schauen durchs Turmfenster, Fritz. Haben sie uns je anders als wie ein Liebespaar gesehen? Ich schäme mich darum nicht ein bißchen. Aber ich glaube, ich würde mich schämen, wenn es anders wäre. Man muß lange in der Wildnis gelebt haben, um das zu verstehen. Das Beste im Leben.«

»Auch das Land, das man früher Deutschland nannte, ist Wildnis, Minne. Lauf nur mit der Seele hindurch und nicht mit den Füßen. Wirr und verwirrt, wild und verwildert.«

»Die Kinder«, sagte die Frau und sann ihrem Gedanken nach, »sollen in dieser Wildnis leben. Und wenn sie sich auch manchmal an Gestrüpp und Dornen wundreißen und den heißen Sand unter den Fußsohlen spüren, sie werden darum nur um so stärker verstehen lernen, was das Beste im Leben ist.«

»Du bist es, Minne.«

»Daß ich diesen einen Mann so liebe, das ist es.«

»Ich bedanke mich auch für das schöne Zeugnis,« sagte er und machte ihr eine tiefe Verbeugung.

Die Kinder trugen einen Korbtisch und ein paar Korbstühle aus dem Turme heraus. Noch lag der Nachglanz der untergegangenen Sonne purpurn in der Luft, auf den Höhen und Hängen bis zum Strom. Und mit ihm eine feine, rieselnde Wärme.

»Ist es der Mutter recht?« fragte Gert den Vater. »Im Turme ist es jetzt kühler als draußen.«

Die Frau auf dem Streckstuhl las ihrem fragenden Jungen die Worte von den Lippen.

»Es ist alles so wohlig heute. Ich will mit euch hier draußen zusammenbleiben, bis die Nacht kommt.«

Die Nacht, da niemand wirken kann, dachte der Mann, und als er aufsah und die Augen der Kinder auf sich gerichtet fühlte, las er darin, daß sie dasselbe gedacht hatten.

»Ja,« sagte er laut, »es ist, wie die Mutter es sagt. Wir wallen die gesegneten Stunden auskosten wie einen edlen Wein. Gert, das Wort Wein ist gefallen. Im Burgverließ liegen noch ein paar Flaschen im Versteck. Hol uns die beste. Eine Steinberger Auslese aus dem Kometenjahr 1911 dürfte der Stunde am ehesten gerecht werden.«

Gertrude sorgte für den Tisch. Sie spreizte ein Linnentuch über die Platte, richtete die Teller aus, lief hin und wider und trug auf grüngeschmückten Schüsseln kaltes Rehfleisch, Brot und Kresse auf. Wie ein geschmeidiger Page mutete sie an in ihren Beinlingen und Wickelstrümpfen.

Die ruhig ausgestreckte Frau auf dem Liegestuhl beobachtete alles.

»Du liesest so oft in mir, Friedlich,« sagte sie, als das Mädchen wieder hinweggeeilt war, »daß ich jetzt auch einmal in dir lesen will. Ich treff' es. Du dachtest gerade jetzt: Welcher Unmensch wird mir einmal dieses mein köstliches Mädchen wegholen?«

Friedrich Thorsberg lachte still vor sich hin.

»Frauenaugen, Minne. Und gar die deinen. Ungefähr hast du es wirklich getroffen. Köstlich: ja. Aber Unmensch: nein. Unser köstliches Mädel würde einen Unmenschen über die Hecken jagen. Nicht rühran. Davor ist mir nicht bange.«

»Also bange ist dir doch? Und wenn es der Wackerste wäre und hielte an –«

»Frau, Frau, du willst nur recht behalten, und du sollst es. Und wenn es der Wackerste wäre, ich könnte den Unmenschen heute schon über die Hecken jagen.«

Sie streckte die Hand nach der seinen aus und hielt sie fest.

»Mann, Mann, wir Frauen denken darin wohl mit dem Weibtum der Liebe und ihr Männer mit dem Herrentum der Selbstsucht. Wenn alle Väter denken wollten wie du. Wenn mein alter, zutraulicher Vater so gedacht hätte, du Unmensch! Ernsthaft, Friedrich: wenn dies an Leib und Seele urgesunde Mädchen einen Mann wählt, dann nur einen, der ein Geschlecht von deutschen Adelsmenschen verbürgt, wie – wie du es gezeugt hast.«

»Minne,« sagte der Mann, »meine liebe, geliebte Minne ...«

»Ich glaube, Friedrich, nun bilden wir schon wieder ein Liebespaar.«

Die Mondscheibe kroch über den Höhenrand, und der Nachglanz der Sonne wob noch lange in der Luft. Gert kam mit der Flasche, die er vorsichtig und ohne Rütteln trug, und hinter ihm kam Gertrude mit den klingelnden Weingläsern. Friedrich Thorsberg legte den Arm um seine Frau, stützte sie sorglich aufrecht und wartete, bis die Kinder aus weichen Kissen eine Rückenwand gebaut hatten.

»Nun laßt euch munden, was der Vater aller Kreaturen auch den Leuten von Niemandsland gönnt.«

Er legte seiner Frau vor, den Kindern und sich selbst. Wie es vor hundert Jahren die Väter taten und es heute noch die Wildlinge in den Wüstenländern tun, denen Gastfreundschaft das Gebot des Lebens ist.

»Niemandsland?« fragte Gert und zerschnitt seine Wildbretscheibe in Streifen. »Nein, Vater, noch ist dieser kleine Strich am rechten Rheinufer nach Vertrag und Eid und Unterschrift deutsch geblieben.«

»Noch, mein Junge, noch. Das Wort ist so klein wie die Spanne Zeit, die es nennt. Nur wenn du dich mit der Waffe dahinterstellst, kannst du ihm Luft schaffen. Das aber ist nach Vertrag und Eid und Unterschrift verboten.«

»Für uns allein?«

»Für uns? Sagte ich davon ein Sterbenswörtlein? Wenn der Starke Eid und Unterschrift nur für den Gedemütigten gelten läßt, so kommt es darauf an – der Stärkere zu werden.«

»Soll ich den Steinberger in die Gläser schenken, Vater? Es steht noch der Königliche Adler auf dem Flaschenschild.«

»Schenk ihn ein, Gert, den Wein mit der Adlermarke. Frau Minne, beim ersten Trinkspruch mußt du zurückstehen. Nur scheinbar, Liebste, denn es ist doch dein Geist, der in diesem und jedem Trinkspruch waltet. ›Deutschland‹, sagen die Erschreckten und Zukreuzegekrochenen im Land, und ›Niemandsland‹ sagen die Übermächtigen und Übermütigen, die es als Würfelbrett nehmen. Irgendwo aber sitzt Wieland der Schmied und werkt an einem Schwert, das jeden Panzer schneidet in der Hand dessen, der sich vor Schwertarbeit nicht fürchtet. Auf ihn, den Deutschen mit der heimlichen Krone, der da kommen soll und kommen wird, wollen wir das erste Glas dieses deutschen Adlerweines trinken und ihm mehr geloben als Gefolgschaft –: Pfadbereitung.«

Die vier Menschen von Niemandsland sahen sich in die Augen. Es war wie ein Gebet, ein Waffensegen, ein Eid. Unter dem aufsteigenden Mond erwachten tief drunten zu ihren Füßen des Rheintals Jahrtausende. Und die vier Menschen tranken langsam von dem Wein und setzten die Gläser nieder.

Das Mahl war verzehrt. Weichgebettet lag die Mutter. Friedlich Thorsberg saß, die Ellenbogen auf der Tischplatte, den Kopf in beiden Händen, und ließ keinen Blick von dem Stücklein Rhein dort drunten, das in der silbrigen Vollmondnacht geisterhaft glimmerte und gleißte. Die Kinder aber saßen und taten wie der Vater.

»Dort liegt das Rheingold,« sagte Friedrich Thorsberg.

»Die Feinde wollen es haben,« sagte der Sohn.

»Aber sie kennen den Zaubersegen nicht, Gert, und haben deshalb nur den Fluch.«

»Weißt du den Zaubersegen, Vater?« fragte das Mädchen.

»Ich weiß ihn, kleine Gertruds. Er heißt: Rühre die Arme vom Morgen zum Abend. Was du in Tagesarbeit an Land gebracht hast, ist das Rheingold.«

»Und weißt du den Fluch?«

»Hat meine kleine, große Gertrude schon ihre Märchenbücher vergessen? In den alten Märchen blieb uns die Weisheit der Ureltern lebendig, die noch mit umgegürtetem Schwert den Acker bauten. Wie der Fluch darin lautet? Das Gold, das du bei Nacht erschlichen und erstohlen hast, wird bei Tagesanbruch ein Nest voll Schlangen- und Kröteneiern in deiner Hand sein, aus denen geflügelte Drachen schlüpfen, die den Goldgierigen verfolgen und verschlingen.«

»Vater, ist der Fluch stärker oder der Segen?«

»Kind,« sagte Friedrich Thorsberg, als spräche er zu sich selber, »es liegt nicht am Fluch und nicht am Segen. Es liegt daran, ob es mehr Menschen der Erkenntnis gibt oder mehr Diebe am Leben. Was macht uns stolzer: die Beute oder die alle Kräfte fordernde Jagd und der krönende Schutz? Das Gold oder die Gewißheit: es wurde erst Gold durch meine Kraft? Gottmenschen die einen, Tiermenschen die anderen. Es gibt aber Zeitläufe, und sie kommen wie die Hyänen nach jedem Krieg und jeder Pestilenz, in denen die einen Menschen den Gott in sich zerschlagen und mit den andern gemeinsam das goldene Kalb errichten und umtanzen, wie es die Juden taten mit den Baalsdienern. Da ist nur ein Heilmittel: eine neue Heimsuchung.«

»Eine neue Heimsuchung,« sprach der Sohn es nach.

Friedrich Thorsberg hob den Kopf. »Ja, Gert, eine neue Heimsuchung. Und immer wieder eine stärkere. Wie Wieland der Schmied dreimal sein Schwert zerbrach und zu Pulver rieb und dreimal aus den Resten ein neues schmiedete, bis das dreimal gekürzte endlich die rechte Schärfe hatte. So wiegt ein Häuflein von dreimal gesiebten Männern mehr in des Führers Hand als ein Millionenvolk von Glücksjägern und Schmarotzern.«

Von den Hängen kam wie eine stille Woge der Duft des reifenden Korns und der Ruch aus den Weingärten. Sie sogen ihn tief in sich hinein.

»Rheingold,« sagte der Mann. »Auch Gold hat seinen Geruch. Edles riecht kräftigend nach Arbeitshänden, Unedles betäubend nach Buben- und Dirnenhänden. Denkt immer daran.«

Und nach einer Weile fragte er in das Schweigen hinein:

»Ist unsere kluge Frau Minne über unserer Kinderweisheit eingeschlafen?«

Und die Stimme der ruhenden Frau klang zurück:

»Eure kluge Frau Minne ist das größte der vier Kinder.«

»Weil sie die Nacht zum Tage macht?«

»Wäre das unklug, Friedrich? Wir täten nur, was du uns lehrtest, als Menschen aller Lebenserkenntnis, und gewännen der Nacht die Stunden ab. Aber das größte der vier Kinder bittet noch um einen Trunk.«

»Um einen –«

»Um einen Trunk. Du hast richtig gehört. Um einen Trunk rheinischen Weines. Und da die Flasche leer ist –«

»Gert, die Fürstin von Niemandsland hat befohlen. Gertrude, schwenke die Gläser rein. Hallo, alle meine Pagen.«

Der Ernst flog hin von den Stirnen der beiden Jungen. Mit kinderseligen Gesichtern sprangen sie ins Turmhaus. Und Friedrich Thorsberg trat an den Liegestuhl seiner Frau und nahm sacht ihren Kopf in seine Hände.

»Tatest du das deinetwegen oder meinetwegen, du Eva?«

»Meinetwegen, du lieber alter Adam. Ich möchte dich verführen, um meinetwegen die Nacht zum Tage Zu machen.«

»Gehört der Wein dazu, du liebste Frau? Bist du selber mir nicht Wein genug?«

»Still, Friedlich. Ich weiß, jedes Wort, was du sprichst, ist Wahrheit, Für dich bin und bleibe ich der Wein, der ich für dich war. Für mich aber – nein, nicht unterbrechen. Braucht die Frau, die dein Wein war, im Leben einen Trost? Sprächst du aber jetzt, so wäre das eine Tröstung. Mein Leib ist gelähmt. Mein Geist und meine Seele aber nicht. Und ihr Durst steigt. Nach deinem furchtlosen Geist und deiner hilfsbereiten Seele. Ihr Durst steigt seit den letzten Wochen mit jedem Tag und jeder Stunde. Wenn ich dich nur sprechen höre, dich und die Kinder: dann ist alles leicht und frei. Dazu soll der Wein, den die Kinder holen, nur der Mittler sein.«

»Ich erwidere nichts darauf, als daß ich mich vor dir schäme.«

»Als Trinker? Bist du es etwa nicht? So sehr sogar, daß du es auch mich gelehrt hast, mit Mund und Augen und jedem meiner Sinne alles in mich hineinzutrinken, was du mir kredenztest, Mann? Dich selbst und deine Welt und das was die unsrige wurde? Und seitdem wir Flüchtlinge sind.«

»Gert und Gertrude,« rief der Mann den zurückkehrenden Kindern zu, »die Fürstin hat geruht, uns einen Tadel zu erteilen. Die Fürstin hat zu vermuten geruht, wir hätten auf der eiligen Flucht einen goldenen Schlüssel verloren und arbeiteten seitdem mit einem Dietrich. Gert und Gertrude, ihr habt von Stund an ein neues Amt. Allabendlich setzt ihr auch ohne Geheiß goldenen Wein auf den Tisch. Die Fürstin wünscht sich an uns zu verschwenden. Das ist Fürstenheit. Beugt die Knie.«

»O ihr Narren, ihr großen und kleinen Narren, wie leicht macht ihr mir das Schwere.«

Im Mondglanz lag der alte zurechtgemauerte Turm in dem Wildnisgärtlein wie ein Märchenschloß. Und Friedrich Thorsberg saß mit Frau und Kindern in dem alles verschönenden Licht und erzählte aus Jugendtagen. Aus den Jugendtagen des alten Gemäuers, das, solange eine Erinnerung ging, der Familie erb- und eigentümlich gewesen war, aus den Jugendtagen der Familie und den eigenen. »Jedesmal, wenn ein Thorsberg mannbar erklärt wurde, wurde ihm der Eid abgenommen, Turm und Wald schuldenlos zu erhalten. Und mit dem Wald die eigene Jagd. Nicht aus Überheblichkeit. Nicht um einem verrosteten Schilde einen Goldglanz anzutäuschen. Aber der Ältervater, der zuerst das Geheiß aufgesetzt hat, muß ein wettergezauster und darum lebenskluger Mann gewesen sein, denn er schrieb in dem Stiftsbrief nieder: ›Wer ein eigen Turmdach über dem Kopf hat, ist kein Mietling, und wer einen eigenen Hasen schießen und eine eigene Forelle stechen kann, ist kein Bettler, und besäße er sonst auch keinen krummen Dukaten.‹ Kinder, tut einen ehrfürchtigen Schluck auf das Wohlsein eures Ahnen. Ohne ihn, wo wären wir Flüchtlinge hingeraten!«

Und dann war auch die Fürstinnenflasche geleert.

»Komm, du Verschwenderin. Der Gockel auf dem Kirchturm wird alsogleich krähen.«

Frau Minne erhob sich, von Mann und Kindern gestützt.

»Seht ihr,« sagte sie, »das tut die Freude. Es geht sich leichter als sonst.«

Und sie schlang beide Arme um des Mannes Kais.

»Verschwenderin ... Ach du, sich mit allem und dem letzten verschwenden können an dich, an die Kinder, um mit der dahinströmenden Kraft eure Kraft zu stärken.«

»Tu es nur, liebste Frau. Tu es immerzu. Kraft ist unsterblich.«

*

 


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