Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

2

Oft und oft war es in diesen tiefatmenden Sommertagen, daß sie in der Wildnis des kleinen Mauergärtchens dicht beieinander saßen und die Stunden nicht zählten. Oft und oft war es, daß unbemerkt die Stunden des Tages in die der Nacht hinüberglitten und wiederum ein Schein über den Bergen vom wiederkehrenden Tage sprach. Frau Minne nannte es »das Leben längen«. Seit sie das Wort geprägt hatte, blieben Mann und Kinder heiter bei ihr sitzen, solange sie es begehrte.

»So stark habe ich euch nie empfunden,« sagte Frau Minne, »und ich habe euch doch immer redlich lieb gehabt.«

»Redlich – ja – das ist das rechte Wort,« erwiderte der Mann.

»Lange, lange Ferienzeiten hindurch haben wir doch auch früher beieinander gehockt, sich einer am anderen gedehnt und gewärmt. Und jeder Stern über uns war noch ein Glücksstern dazu. Wie kommt es, daß ich euch heute noch viel näher und wärmer empfinde? Oft so stark, daß ich es hinausschreien möchte: Ihr, ihr, ihr! Und die Glückssterne haben sich allesamt verkrochen, und Deutschland liegt so gelähmt, wie ich hier liege. Sag es mir doch, Friedrich.«

»Das weih meine kluge Minne allein.«

»Ist es so um das Leben?« fragte sie nachdenklich. »Gehört der Schmerz dazu oder die Angst, um uns den Besitz zu zeigen?«

»Meine Minne hat keine Angst,« sagte der Mann ruhig.

Und des Mannes Ruhe ging auf die Frau über und wurde zum ruhigen Stolz in den großgeöffneten Augen.

»Angst?« wiederholte sie mit wegwerfender Verachtung. »Vor was sollte ich Angst haben, wenn ich Liebe und Verehrung von Mann und Kindern spüre? Darin liegt die Reinheit meines Gewissens und in nichts anderem. Wenn ihr mir zunickt und mir die Hand darauf gebt, fürchte ich weder die Ober- noch die Unterwelt.«

Da lachte der Mann tief vor sich hin und reichte ihr beide Hände.

»Vorwärts, Kinder. Mutter Minne hängt noch an den alten Gebräuchen der Lossprechung. Nur die eigene Sippe hat Richter- und Priestergewalt. Legt ihr die Hände auf.«

Die Tage aber wurden kürzer und die Abende kühler. Und als die Nebel über dem Rhein ihre Schleiertänze begannen, wurde Frau Minne das Atmen beschwerlicher und mit dem Atem jede Bewegung.

»Vater – –?« fragte Gert mit flackernden Augen.

»Wir wollen es ihr doch leichter machen, mein Junge, und nicht schwerer. Nähmen wir eine Übersiedlung vor – denke nach, Gert, und äußere dich ruhig – die wenigen Monate, die wir dem Leben abgewännen für ihren Körper, würden wir ihrer Seele rauben. Sieh, jetzt sorgt sich ihre Seele noch um uns und unser Heil in der Gewißheit, daß jede – jede Änderung noch in ferner Ferne liegt. Der Vorschlag einer Übersiedlung allein würde sie stutzig machen, würde sie ihrem Schicksal hellsichtig auf die Spur bringen, würde ihre Sorgen um uns und unser Heil so steigern, daß sie stärker würden als ihre schwindende Kraft und damit zur Ohnmacht. Gert, meinst du nicht, es wäre ein schöneres Los für die Mutter, sie schlummerte ein im Glauben an ihre Kraft?« Eine Weile suchte der Junge seiner zuckenden Gesichtszüge Herr zu werden. Dann war er ihrer Herr.

»Ja, Vater.« – –

Nun saßen sie in dem wohnlich eingerichteten Turmgemach allabendlich bei der Lampe, und die Kinder machten den Vorleser. Und wieder floß ein Tag in den anderen.

»Worauf wartest du, Friedrich?« fragte die ruhende Frau. »Muß deine Berufung nach München nicht täglich eintreffen? Können wir nicht schon ohne sie reisen?«

»Gerade weil sie täglich eintreffen muß, müssen wir das Gesicht wahren. Wir sind keine Bittsteller.«

Sie forschte in seinem Gesicht und lehnte befriedigt das Haupt zurück.

Wenn ein jäher Windstoß um den Turm fuhr, an dem schweren Tore rüttelte und schrill über die Fenster pfiff, horchten sie alle auf. Friedrich Thorsberg aber horchte, wie man auf einen Boten horcht, dessen Schritte man durch die Nacht zu hören glaubt. Und er stand auf, glättete der Gelähmten mit streichelnder Hand, die Kissen und ließ die Hand auf ihrer Stirn und Wange verharren, wahrend er bei ihr niedersaß.

Solange sie wachte, hielten seine hellen Augen den klaren blanken Blick. Sobald sie entschlummerte, zogen sich die Augen zusammen, wurden dunkel und hart. So saß er und wartete.

Eine Sturmnacht hatte den Himmel gefegt und die Luft geklärt bis in die letzten Weiten. Ein Verlangen faßte die Frau, in diese Weiten zu blicken. Und dies Verlangen wurde so sehnsüchtig, daß sie es mit Unruhe füllte und ihren Kopf suchend hin und her warf.

Friedrich Thorsberg gewahrte es.

»Hei, mein altes Mädchen will zu den Falken auf den Turm. Meine hohe Fürstin möchte vom Turme niederschauen auf ihr geliebtes Land. Hallo, ihr Pagen!«

Gert und Gertrude kamen herbeigeeilt, das Mädchen wie noch immer in der jagdlichen Tracht.

»Kinder, Kinder,« rief ihnen die Mutter mit einem glücklichen Lachen zu, »der Vater übt das Gedankenlesen. Nichts habe ich ausgesprochen. Ich schaffe euch genug an Last.«

»Du möchtest auf den Turm?« fragten die Kinder zugleich. »Ist es wahr?«

»Ich möchte schon,« seufzte sie hin, »aber die Stiege engt sich oben so sehr, daß ihr mit dem Stuhl nicht hindurchkommt. Wir würden alle durcheinanderpurzeln.«

»Mutter,« sagte Gert mit Eifer, »wir schaffen's leicht. Wir wickeln dich in unsere alte Jagdhängematte und heben dich bei Kopf und Füßen. Wie in einer Wiege sollst du liegen.«

»Wie in einer Wiege!« wiederholte das Mädchen und rannte mit dem Bruder um die Wette nach der Matte.

Die Mutter schaute ihnen nach. Ihre Augen schimmerten. Dann begegnete sie dem Blick ihres Mannes.

»Meinst du nicht auch, Minne, daß unsere Erziehung die rechte Mischung erzielt hat? Die innere Vornehmheit des Kulturmenschen verbunden mit der äußeren Geschicklichkeit des Wildlings.«

Die Frau fühlte ihr Herz vor Freude jagen. Sie wollte antworten und fand den Atem nicht.

»Ach, du mein lieber Wilder ...« murmelte sie und schloß für Sekunden die Augen.

»Ja, ja, ja,« bestätigte er und legte ihr die Hände um die Schläfen, »es ist schon so. Was wir uns und den Kindern an schöner Kultur gerettet haben, verdanken wir dir.«

»Narr, du! Ach du mein großer Narr.«

»Aber nur der deine, Minne.«

Die Kinder schleppten die netzartig geflochtene Matte herbei und spreizten sie über ein Ruhebett. Friedrich Thorsberg aber wickelte seine Frau in Mäntel, schob ihr sacht die Hände unter und hob die Last mit den sehnigen Armen, als hebe er ein Kind. Einen Augenblick verharrte er, als wolle er dies Brust-an-Brust in sich trinken und ausgenießen. Dann legte er sie sanft auf dem Netzwerk des Ruhebettes nieder, ordnete ihr Gewand und hüllte sie in die Hängematte ein. Am Kopfende schlang er einen und am Fußende zwei starke Zipfel.

»Nun aufgepaßt, ihr Pagen. An der Spitze der Karawane reite ich, wie es die Mutter nicht anders gewöhnt ist. Den Nachtrab bildet ihr. Jeder von euch packt einen der Endzipfel. Mit nervigen Fäusten. Eher die Faust hergeben als den Zipfel. Ich regier' das Kopfteil. Fertig? Marsch!«

Der Zug bewegte sich aus dem Zimmer hinaus. Er bewegte sich von Stufe zu Stufe die Turmtreppe hinauf. Weder der Mann noch die Kinder zeigten, daß sie in dem engen Gewinde ein schwer Stück Arbeit schafften. Mit großgeöffneten Augen lag die Frau im Netz, und wenn die Scherzworte über sie hinsprangen, perlte aus ihrer Brust ein glückliches Lachen hinein.

Hoch oben unter der Plattform stieß der Mann mit kräftigem Schulterstoß die Turmluke auf. Rückwärts stieg er auf die Plattform, Auge und Faust eins.

»Dein Wunsch war uns Befehl, Fürstin von Niemandsland.«

Da lag das Rheintal, auf Meilen gedehnt, mit Städtchen und Dörfern, mit Bergen und Burgen, mit bunt bewimpelten Wäldern und purpurgefärbten Weingärten, da lag der Rhein, der deutsche Strom, zu ihren Füßen.

Die Frau hing an des Mannes Schulter. Seine stählernen Arme waren ihre Stütze, bis die Kinder hinabgeeilt und mit dem Liegestuhl wiedergekehrt wären. Jetzt standen sie allein.

»Friedrich, Friedrich,« rief die Frau und umhalste ihn mit Mädchenleidenschaft. »Küß mich, Friedrich, küß mich.«

Und er küßte sie mit Bräutigamsungestüm.

Sie griff in seine graue Mähne wie in ein Jünglingsgelock. Sie tastete über seinen Kopf, über sein ganzes Gesicht. Jede Form prägte sie nach in ihren Händen.

»Du bist immer und ewig derselbe geblieben.«

»War ich so wenig entwicklungsfähig, du arme Liebste? Du hast viel Nachsicht haben müssen.«

»Spotte nicht, Fritz. Wenn du spottest, willst du mich ablenken. Wer kennt dich so, wie ich dich kenne? Vor seinem Kammerdiener, sagt man, besteht kein König. Ich aber war dein Kammerdiener, wie du meine Kammerfrau warst, ungezählte Monate unter afrikanischem Zelt, in afrikanischen Felsen und Wüsten, du und ich die einzigen Kulturmenschen unter den braunen und schwarzen Jägern und Trägern. Und du hast bestanden.«

»Und du?« fragte er so leise, als fragte er in die Ferne. »Liebte ich dich sonst so über alle Grenzen?«

Er hörte die Kinder. Sie hoben den Liegestuhl durch die Turmluke, deckenbepackt. Und für den Vater einen Schemel. Seine hellen Augen dankten den Vorsorglichen.

»Schlagt den Thron auf, Pagen. Daß die Fürstin den Rhein vor Angesicht hat. Strom und Land und Luft und alle guten Geister sind zur Audienz geladen. Der Schemel ist für den getreuen Eckart.«

»Für den Wieland ist er,« sagte die Frau und ließ sich betten.

Ganz still lag sie und grüßte mit den Augen den Rhein und das deutsche Weinland. Es war, als ob der helle durchsichtige Oktobertag die Weiten erschlösse und immer weiter dehnte.

Ihre Brust hob sich unter einem tiefen, schmerzhaft schweren Atemzug.

»So nicht,« sagte Friedrich Thorsberg und ließ den Blick nicht von ihr, »so nicht, Liebste! Wir wollen feierlich werden, wenn es an der Zeit ist. Noch liegt kein Grund vor.«

»Ich habe eine solche namenlose Sehnsucht, Friedrich ...«

»Das ist ja das Schönste, Minne. Gib ihr einen Namen, und es ist keine Sehnsucht mehr.«

»Ich höre die Kinder nicht,« sagte sie nach einer Weile.

Gert winkte der Schwester zu. Sie verstand ihn sofort und trat mit dem Bruder vor.

»Wir haben einen Wunsch. Dort hinten an der Waldwiese hoppelt allabendlich ein schwerer Waldhase. Dürfen wir hin und ihn in der Dämmerung – holen?«

Der Vater sah seinen Kindern kurz in die Augen. »Ihr dürft,« sagte er, denn er hatte in ihren Augen die Ausflucht gelesen.

Sie wollen diese Stünde ganz Vater und Mutter lassen, dachte er und preßte die Lippen.

Dann rückte er seinen Schemel heran.

»Nun sind wir Alten allein,« sagte er, nahm ihre Hand auf und streichelte sie über das Gelenk bis zur Armbeuge. Hin und her, her und hin.

Sie ließ es mit einem wohligen Gefühl des Geborgenseins geschehen.

»Nein, du bist nicht alt, Fritz, und wirst auch niemals altern. Es brennt eine zu große Flamme in dir. Die reicht für ein paar Menschenleben. Wer an deiner Seite marschiert, bekommt ein gut Teil davon ab.«

»Mich soll's freuen, Minne. Nur jung sein heißt leben. Heute vor allem. Nur wer sich jung genug fühlt, den Kampf Mit dem Leben immer wieder von neuem aufzunehmen, hat Lebensberechtigung. Laß mich nur ein wenig plaudern. Du brauchst nur zuzuhören und kannst ruhig drüber einschlafen. Du thronst auf dem Turm und hast dir zur Kurzweil den Erzähler befohlen.«

»Du und ein Mann zur Kurzweil?«

»Zur Langeweile, Minne?«

»Nein, ich unterbreche nicht mehr.«

Wieder streichelte er ihre Hand, über das Gelenk bis in die Armbeuge. Hin und her, her und hin.

»Ich sagte, Minne, nur der Lebenskämpfer hat heute noch Lebensberechtigung. Im heutigen Deutschland kein anderer. Wenn das Schiff im Sturm zum Wrack geschlagen wurde und steuerlos gegen eine fremde Küste treibt, hat an Bord kein Mensch mehr das Recht, müde zu sein oder Feierabend zu machen. Und wenn er so alt ist, dass er nur noch die Säuglinge verwahren kann und damit andere Kräfte freimacht. Oder das Schiff scheitert und die Küstenpiraten verteilen das Strandgut.«

Sie lag und schaute mit großen Augen ins Rheintal.

»Früher«, sagte der Mann an ihrer Seite, »arbeitete eine Mehrzahl, als ob es nur gelte, die Arbeit loszuwerden und noch bei guten Kräften und in frühen Jahren aufs Altenteil zu kommen. Diese Geschlechterfolge wird auf lange hin als abgeschlossen zu gelten haben. Wem es heute ernst ist um sich und um Deutschland, wird die Arbeit als den Sorgenbrecher und Lebenswecker betrachten müssen, der das Alter zur Jugend macht in der Fülle. Nur im Wettbewerb wird das Alter seine Stellung unter der Jugend behaupten können, nicht mehr allein durch sein graues Haar. Das kann auch in Sünden grau geworden sein. Will das Alter eine Vormachtstellung, so hat es der Jugend vorzumachen, wie ein Stück Arbeit angepackt und – zur Tat gestempelt wird. Siehst du, Minne, in diesem Sinne gelüstet es mich, ein grauhaariger Jüngling zu bleiben.«

»Ich hab's – allzeit – gespürt, Friedrich.«

»Schwer und schmerzhaft, Minne?«

»Wie mein größtes Glück.«

»Ich danke dir, Minne. Aber du mußt nicht glauben, das wäre auf mein Guthaben zu schreiben. Ich buche es feierlich auf das deine. Diesmal ist die Feierlichkeit am Platz.«

»Friedrich – ich war nur deine Frau.«

»Nur ...« wiederholte er, als liebkoste er das Wort. »Nur ... Weißt du, daß nur Fürstinnen unter den Frauen so verschwenderisch mit diesem Wörtlein umgehen können? Nur meine Frau. Und damit meine Stütze und mein Stab, meine Freude und meine Kraftquelle, mein Glaube und meine Zuversicht. Nicht du mehr und doch nicht ich. Mein anderer Teil, der mich ergänzt. Der Teil, nach dem so viele Männer vergeblich suchen, oft unter Hinopferung ihres eigenen Teils.«

»Sie sind keine Friedrich Thorsbergs.«

»O nein: Ihre Frauen heißen nicht Frau Minne. Ich weiß es wohl, daß ich rede, wie der Hans im Glück. Und ich weiß sehr wohl, daß Frauen wie Geigen sind, deren Saiten mit unendlicher Geduld neu aufgezogen und gestimmt werden müssen, wenn sie sich dem Mann ergeben. Nehmen wir an, der Mann sei ein Künstler. Wie viele wertvolle Geigen gibt es und wie viele, die von der Geige nur den Namen tragen und sich darum allein schon wertvoll dünken. Die Eitelkeit einer Frau, der es nicht glückt, zu einem Mann hinaufzusteigen, wird nicht nachlassen, bis sie ihn zu sich hinabgezogen hat.«

»Warum so herbe, Friedrich?«

»Weil es mir ergeht, wie dir seit Tagen. Weil ich meine, dich nie so stark empfunden zu haben, und als glücklicher Besitzer rede. Es gibt auch Geigen, die mehr wert sind als der Künstler. Es gibt auch Frauen, die mit dem Ehrgeiz ringen, sich nicht den Lebenswünschen des Mannes anzupassen aus Furcht, ein Gran von ihrer Persönlichkeit zu verlieren, und die das gemeinsame Sein zum bloßen Schein machen. Es gibt vielerlei Frauen, eine häßlicher, eine schöner als die andere. Aber es gibt nur eine Frau Minne.«

Sie wurde unruhig, haschte nach seiner streichelnden Hand und hielt sie fest.

»Weshalb sagst du mir das alles, Friedrich? Gibst du einer Kranken gezuckerte Arznei?«

»Ich sage es dir, Minne, damit du dich über meine Jugendseligkeit nicht mehr wundern sollst. Ich habe dich

Ein Glanz trat in ihre Augen, überstrahlte mehr und mehr ihr Gesicht, ließ es erschimmern wie das Antlitz einer bräutlichen Frau.

»Nicht mehr sprechen, Friedrich. Nicht mehr laut. Ich höre dich auch ohne Worte. Und du mich.«

Er strich ihr die Decken zurecht und hielt, während er ihr noch einmal den Arm streichelte, einige Minuten wie zufällig ihren Puls. Dann hockte er auf dem Schemel nieder.

»Träum etwas Schönes, Minne.«

»Du auch ...«

Ihre Augen wanderten über das Rheintal. Ihr Atem ging ein wenig schneller. Hin und wieder trat ein gespannter Ausdruck in ihre Züge. Das war, wenn ein körperlicher Schmerz sie überkam und sie ihn vor dem Mann verbergen wollte. Friedrich Thorsberg aber tat, als gewahre er es nicht.

Er schaute über sie hinweg in die Weite und sah doch nichts als sein Weib. Nichts als die eine, die nicht wußte, daß sie von ihm scheiden wollte, und die er nicht zu halten und erhalten vermochte mit all seiner großen ärztlichen Kunst. Noch einmal versuchte er die Krankheit rückzuverfolgen in allen ihren Entwicklungsstufen – und vermochte es nicht. Da war das Bild. Da stand es greifbar, fühlbar vor ihm. Der windgepeitschte, regendunkle Abend. Die schwarzen, hastig gleitenden Hochwassermassen unter der hochgewölbten Rheinbrücke. Wie kam der rotbärtige Mann in die Hände der eilig hintrottenden braunhäutigen Soldaten? Friedrich Thorsbergs Gesicht wurde hart und fahl. Langsam – langsam ... es soll nichts vergessen werden. Nicht das Tüpfelchen auf dem i. Ich will es mir hersagen, als spräche ich der Frau dort die Sterbegebete.

Der Frau dort. Seiner Marschgefährtin kreuz und quer durch Afrika. Die ihm tropenkrank über das Meer nach Deutschland gefolgt war, als das umstellte Vaterland alle seine Söhne zu den Waffen rief und seine Töchter zum Heimatdienst. Als Artilleriehauptmann war er eingetreten. Er hatte in jungen Jahren nicht mit dem Pflasterkasten des Medizinstudenten dienen mögen. Sein Überschuß an Kraft hatte nach regelrechter soldatischer Ausbildung verlangt. Vier Jahre Feldzug waren gewesen. Vier Jahre hatte er Batterie und Abteilung über alle Kriegsschauplätze geführt. Bis die sturmerprobte deutsche Fahne überhastig in den Staub gerissen, in den Kot getrampelt wurde. Bis er heimkehrte zu Frau und Kindern und sein nie ganz gesundetes Weib, seine Tapfere, überwältigt von den tausend schmählichen Ereignissen, schwer leidend wiederfand. So schwer leidend, daß nur Ruhe und die Schönheit der Natur ihrem kämpfenden Herzen wohltätig sein konnten.

An den alten Turm im Walde, an die Thorsburg hatte er gedacht. Aber sie lag ihm doch ein wenig zu abseits von der Bequemlichkeit, die er der Kranken schuldete. So mietete er am rechten Rheinufer, gegenüber der heiteren Gartenstadt, ein kleines Landhaus und erbaute sich, eine halbe Fußstunde den Strand entlang, an einsam gelegener Stelle ein kleines Badhaus zwischen den Weiden.

Einen Sommer lang hatten sie den stillen Schönheiten der rheinischen Natur gelebt, auf dem Strom, in den Wäldern; einen Winter lang den stillen Genüssen der Stadt, der still und stark machenden Musik, die hier eine geweihte Stätte hatte. Und die Frau hatte sich in eine feine Gesundung hineingelebt.

Der Winter verging ruhig, trotz der fremdländischen Besatzungstruppen in der Stadt. Das kleine Landhaus lag zu weit ab, als daß es beachtet worden wäre. Und es kam ein brausender, hochwassertreibender, wind- und wolkenpeitschender Frühling. Sie aber kehrten mit der Straßenbahn von einer göttlich heitern Musikaufführung heim aus der Stadt. Als es geschah.

Der Wagen rollte auf der Rheinbrücke. Sturm und Regen hatten ihn mit Menschen überfüllt. Die Genesende saß, eingepfercht, auf dem Ecksitz, nächst der Hinteren Plattform, auf der ihr Mann im Gedränge stand. Gert und Gertrude aber hielten sich an den Gurten im Wagen, zwischen den lachenden Menschen.

Ein fremdländischer Offizier sprang auf das Trittbrett. Die schwere Reitpeitsche unterm Arm drängte er sich rücksichtslos durch die Fahrgäste auf der Plattform in den überfüllten Wagen hinein, forderte er mit der Geste des Siegers einen Sitzplatz. Niemand rührte sich. Nur das Lachen verstummte. Und der Überhebliche ließ sich, als müsse es so fein und nicht anders, hintenübersinken und engte schmerzhaft Frau Minnes Knie.

Die Frau tat einen leichten Schrei. Kreidebleich war sie geworden. Herausfordernd starrte der Rücksichtslose in den Wagen.

Die Frau mühte sich, zur Seite zu rücken, sich zu erheben. Ihr Herz hämmerte so rasend, daß sie es nicht vermochte. Jetzt erst hatte ihr Mann von der Plattform aus den Vorgang bemerkt.

»Es ist eine Kranke, Herr,« rief er hinüber. »Sie sehen es doch.«

Der Angerufene starrte ihn aus schwarzen Augen an.

»Sie belästigen eine Dame, Herr. Und eine Kranke dazu. Befragen Sie Ihre Ritterlichkeit.«

Keine Antwort. Nur in den schwarzen Augen zog es sich Zusammen.

Und über Friedrich Thorsbergs klaren Kopf kam es wie eine Trunkenheit. Er hatte seiner Frau erregende Auftritte zu ersparen gewünscht. Er war ruhig geblieben. Aber der Eindringling wollte nicht gutwillig hören. Vor ihm geisterte das kreidig gewordene Antlitz seiner Frau. Er drängte sich vor. Er griff zu. Ein-, zweimal klatschte ihm die schwere Reitpeitsche durch das Gesicht. Ohrenbetäubendes Geschrei, wildes Durcheinander auf allen Plätzen. Der Wagen hielt an der jenseitigen Brückenwache. Soldaten sprangen auf, zerrten den Überwältigten hinaus. Der Fremde ihnen nach, schrie ein paar Befehle, verschwand im Dunkeln.

Das war das Bild, das Friedrich Thorsberg auch heute sah, als er auf dem Turme sah, noch einmal neben seiner Frau. Als er über die Stillgewordene hinwegschaute in die Weite und doch nichts sah als sein Weib. Langsam – langsam ... Es soll nichts vergessen werden. Nicht das Tüpfelchen auf dem i. Ich will es mir hersagen, als spräche ich der Frau dort die Sterbegebete.

Das war das Bild. Auf der Brückenwache war es und jetzt wieder auf der Brücke. Auf dem Wege zurück zur Stadt. Zum Gefängnis. Aber die Rheinbrücke eilig hinschreitend ein Mann, rotbärtig, barhäuptig. Und der Mann war er. Zwischen zwei fremdstämmigen Soldaten schritt er, die den roten Fes im Nacken trugen, die blitzenden Bajonette an den Gewehrläufen, und ihn links und rechts an den Handgelenken gepackt hielten. Was ihnen entgegenkam, stob vor dem Tierschrei der Soldaten scheu auf die andere Brückenseite, suchte sich entsetzt im Dunkel zu bergen. Und dann war's, daß er die gellende Kinderstimme vernahm, die Stimme seiner Gertrude.

»Badhaus, Vater! Badhaus!«

In selbiger Sekunde hatte er seine Kaltblütigkeit zurück, hatte er verstanden.

»Freunde,« sagte er in der verständlichen Mundart der Suaheli-Stämme, »ich komme aus eurer Heimat, ein Ehrengast eurer Häuptlinge. Wir haben den Löwen zusammen gejagt und den Panther, wir haben unter demselben Zeltdach geschlafen. Und in den Dörfern mußten die Jünglinge vor mir in Waffen tanzen auf das Geheiß eurer Häuptlinge. Und auch ihr wart wohl darunter.«

Die Soldaten stießen einen Ruf der Überraschung aus: Sie lockerten den Griff, bogen sich vor, stierten dem Sprechenden ins Gesicht wie einem unfaßbaren Wunder.

Ein greulicher Fluch in Sekundenschnelle. Aber ein ausgleitendes Mädchen war der eine der Soldaten in der Dunkelheit auf das Brückenpflaster hingeschlagen, daß sein Gewehr klirrend über die Steine tanzte. Und bevor sich der zweite der Soldaten aus seiner Fassungslosigkeit aufzuraffen vermochte, hatte ihm der Gefangene mit so furchtbarer Wucht das Knie zwischen die Schenkel gestoßen, daß er mit gurgelndem Laut lumpenhaft zusammensackte.

Das war das Bild ...! Als sich der Befreite auf das Brückengeländer schwang, sah er sein Mädchen wie einen Schatten verschwinden. Hei, Lärm, Licht, Wachen und Waffen! Durch reißendere Ströme war er geschwommen als durch den heimatlichen Rhein. In afrikanischen Urwaldströmen hatte er gelernt, was ausdauerndes Schwimmen heißt. Um Leben und Beute. Mit vorwärtsgeschleuderten Armen warf er sich weit über das Geländer hinaus, tauchte unter, kam fernhin hoch, ließ sich von den Hochwasserfluten weite Strecken treiben und steuerte langsam aus der Flut heraus ins ruhiger fließende Uferwasser.

Seine Augen spähten wie Lichter durch die Dunkelheit. Jetzt mußte das einsame Strandstück auftauchen, das in den Weiden versteckte Badehäuslein. Da war's. Dreimal kämpfte er um die Landung. Dann kroch er wie eine Fischotter über den nachtdunklen Strand in die Bretterbude.

Über eine Stunde lag er an die Wand gedrückt mit abgestreiftem Zeug, nackt, in ein paar grobkörnige Badetücher gewickelt. Er wartete mit lauschendem Ohr. Er wußte, seine Kinder würden kommen. »Badhaus!« hatte das Mädchen gerufen. Er hätte Tage und Nächte gewartet, so sicher war er ihres Kommens.

Und dann huschte es heran. Sein Ohr erkannte den Mädchenschritt. Sie kam allein. Ah, der Junge geleitete die Mutter. Wie rasch und richtig seine Wildlinge ihre Maßnahmen trafen. Sie waren nicht umsonst in den Kolonien geboren, übersee, auf sich gestellt. Er zog den Riegel zurück, das Mädchen huschte herein.

Sie fiel dem Vater nicht um den Hals, sie weinte nicht und lachte nicht. Sie warf mit schnellem Griff den prallgestopften Rucksack von den Schultern, schnürte ihn auf und reichte in der Dunkelheit dem Vater Stück um Stück seines alten Lodenanzuges, dazu Jagdhemd, Unterzeug, Wettermantel und Nagelschuhe.

»Fertig. Vater?«

»Fertig, Gertrude.«

»Du mußt niedersitzen, Vater, daß ich vor dir hocken und dir den Bart abnehmen kann. Die Schere halte ich in der Hand.« Kein Lächeln kam dem Vater, als er sich wortlos niederließ, kein Lächeln dem Mädchen, als sie die Arbeit begann. Zwischen seinen Knien hockte sie, und als er mit der Hand über ihren Nacken strich, merkte er, daß auch sie schon daheim ihren lodenen Wanderanzug angelegt hatte.

»Willst du mit mir auf den Weg, Gertrude? Weshalb nicht der Gert?«

»Der Gert ist der Mutter nötiger auf der Fahrt. Er ist stärker als ich. Sie kommen uns nach auf die Thorsburg.«

»Auf die Thorsburg. Es ist recht. Sie liegt im deutschgebliebenen Winkel am Rhein. Oder auch – in Niemandsland.«

Das Mädchen hatte seine Arbeit verrichtet. »Kinn und Wangen sind noch arg rauh, Vater. Aber die Bauern tragen sich nicht besser.«

»Sahst du die Soldaten, Gertrude?«

»Sie rannten ein Stück das Ufer entlang und kehrten in der Dunkelheit um. Jetzt spielt der Scheinwerfer.«

»Ah, der Scheinwerfer.«

»Ich krieche durch die Weinstöcke bis an den Berg. Wenn ich schreie wie ein Rabe, kommst du in wenigen Sprüngen nach. Dann sucht der Scheinwerfer das andere Ufer ab. Das nasse Kleidelbündel schluckt der Rhein.« – –

Der Rabe schrie. Friedlich Thorsberg trat die Weinstöcke nieder, rannte geduckt bergan. Linksseit tastete der Scheinwerfer mit grellem Licht das Ufer ab. Als der Lichtkegel nach rechts hinüberschwang, lag Friedlich Thorsberg neben dem Mädchen im Brombeergestrüpp des Waldrandes.

Und bei der nächsten Drehung des Scheinwerfers verschlang sie der nächtliche Wald.

Stunden um Stunden schlichen sie vorwärts, sprangen sie in Hirschsprüngen über Wege und Waldblötzen, liefen sie gebückt durch winternasse Wiesengründe, verhielten und lauschten auf die Grenzposten. Immer bereit, als harmlose Landleute zu gelten. Immer auch bereit, dem Angreifer an die Kehle zu fahren.

Als der Morgen dämmerte, waren sie hindurch. Feindfrei war der deutsche Boden, auf dem der schmutzbekrustete Mann sein frostschauerndes Mädchen in die Arme schloß.

»Wärm dich, Gertrude, wärm dich.«

Zwei Tage darauf trafen sie auf der Thorsburg ein. Sie schliefen im Turm vierundzwanzig Stunden, ohne zu erwachen.

Friedrich Thorsberg war hinabgestiegen in den kleinen Ort. Eine Kindheitsfreundschaft verband ihn mit dem Bürgermeister und einigen der reiferen Männer. Er traf den Ortsvorsteher an, der den Bartlosen nur schwer erkennen wollte. Nur eine knappe Auskunft gab ihm Thorsberg, die der andere verstand. Es brauche kein Wesen gemacht zu werden wegen der Bewohner der Thorsburg.

»Mein Junge wird wohl eine Nachricht an Sie senden, Gotthold. Lassen Sie mich nicht lange darauf warten.«

Am nächsten Tag stieg der Ortsvorsteher zum alten Turmgemäuer hinauf. Er überbrachte einen Zettel, den ein Rheinschiffer bei ihm abgegeben hatte.

»Kommen in acht Tagen an. Zustand befriedigend,« las Friedrich Thorsberg. »Ich danke Ihnen, Gotthold.«

»Kann ich für den Herrn Professor irgend was tun? Oder für die Frau und die Kinder?«

»Helfen Sie mir die Vorratskammer füllen. Nur für das Nächstliegende. Für das Weitere sorg' ich dann schon selber.«

»Nach Thorsbergschem Muster, Herr Professor.«

»Jawohl. Wie's der Stiftsbrief bestimmt. Aber ein paar Flaschen Wein für die Frau. Es kann der beste sein.«

Als der Mann gegangen war, rief Friedrich Thorsberg seine Tochter ins Zimmer.

»Berichte,« sagte er, »was ist der Mutter geschehen? Du hast mir Schweres verschwiegen, Gertrude.«

»Vater,« berichtete sie ruhig, »auf Mutters Geheiß. Damit du nicht zurückkehrtest und alles verloren war. Ich hatte mit Gert, als dich die Soldaten aus dem Wagen rissen, nur ein paar hastige Worte getauscht, war dir nach und dann heim, den Rucksack zu füllen. Da kam erst der Gert mit der Mutter. Sie war wie gelähmt auf der linken Seite, schleppte sich schwer, konnte vor Herzbeklemmung kaum ein Wort herausbekommen. Vater!« schrie das Mädchen auf und warf sich an die Brust des fäusteballenden Mannes, als wäre sie die Übeltäterin.

Friedrich Thorsberg tat ein paar tiefe, schmerzende Atemzüge. Seine Augen brannten ihn, daß er sie aus den Kohlen hätte lösen mögen. Die Turmmauer schwand. Er starrte hindurch und sah nur das eine Bild.

Den Wendepunkt. Das Ereignis, vor dem er das geliebte Weib mit all seiner ärztlichen Kunst bewahrt hatte. Umsonst und. vergebens, weil ein machttrunkener, ein dünkelhafter Fremder –

»Mörder,« knirschte er, »du gibst mir Genugtuung. Auge um Auge. Zahn um Zahn.«

Das Mädchen lag wie erstarrt an seiner Brust.

»Gib mir einen Kuß, Gertrude. Auf dich ist Verlaß. Auf dich und deinen Bruder Gert.«

Gleich am nächsten Tage hatte er mit Hilfe der Tochter begonnen, die wenigen Turmzimmer in Ordnung zu bringen, sie warm und gemächlich auszustatten zur Aufnahme der Erkrankten. Nie waren ihm die Erfahrungen seiner Forschungsreisen so zunutze gekommen wie bei diesem Nestbau.

Und Frau und Sohn kamen an. Sie waren mit einem Schleppschiff gekommen, und Friedrich Thorsberg hatte sie mit einem Wagen zum Wald hinaufgeholt. Auf den ersten Blick hatte er den Tiefstand ihres Leidens festgestellt. Ihr gemartertes Auge hing an ihm.

»Das wären ja Alterserscheinungen, Minne. Gibt's nicht für uns. Als ich in Britisch-Ost den Löwenherrn umgelegt hatte und die Löwenmadame mich ansprang, weil ich den zweiten Schuß falsch angebracht hatte, wer knallte sie kaltblütig nieder, daß sie wie ein Sack niederplumpte? Wer anders als meine Frau Minne. Und da sollte so ein Windhund, der uns anspringt, uns um die Nerven bringen? Nur ruhig muß sich jetzt mein Mädchen halten und an ihren Doktorsmann mehr noch glauben als bisher.«

»Vater, ich habe dir deine ärztlichen Gerätschaften mitgebracht,« sagte Gert, als die Mutter zur Ruhe gegangen war.

»Komm einmal her, Gert. Ich muß dich doch so fest in die Arme nehmen, wie ich es mit der Gertrude tat. Ihr meine beiden Helfershelfer.«

Am nächsten Morgen hatte er seine Frau einer langen, eindringlichen Untersuchung unterzogen. Und als er sie beendet hatte, wußte er, daß sie langsam hinsterben würde.

Von dieser Stunde an wurden seine Augen noch blanker und klarer, wenn er sie anblickte, wurde seine Stimme noch froher und zuversichtlicher, wenn er mit ihr sprach. Um ihres Lebensglaubens willen.

»Es hätte weit schlimmer kommen können, Minne. Nun ist es nur langwierig.«

»Ich bin eine Last geworden, Friedrich. Gerade jetzt, wo jeder Mann die Arme frei haben muß.«

»Ich hatte wohl die Arme zu rasch frei. Du weißt. Und der liebe Gott sorgt wohl dafür, daß die Bäume nicht gleich in den Himmel wachsen.«

Wie eine Blume in zweiter Blüte war die Frau in der liebenden Sorge von Mann und Kindern noch einmal erblüht. Ihre Gestalt war voller geworden durch die lange Ruhelage, das Antlitz unter dem aschblonden Haar hatte an seinen Farbentönen gewonnen. Und doch schritt die Krankheit unaufhaltsam fort, wurden die Glieder schwerer, hatte das Herz stärkere Arbeit zu tun. Einen glücklichen Frühling, einen glücklicheren Sommer hindurch. Und nun, da der Herbst die Höhe gewonnen hatte, war der Todesbote unterwegs. Friedlich Thorsberg saß und wartete.

Ein Schuß fiel. Und neben dem aufhorchenden Mann sprach die Frauenstimme: »Die Kinder.«

»Hat meine Minne ausgeträumt?«

»Ich habe nicht geträumt, Fritz. Ich bin mit den Kindern in den Wald gegangen. Es ist so schön, mit den Kindern zu wandern.«

»Ich lasse mich aber nicht beiseite schieben, Minne.«

»Du schreitest ja vor uns her und bahnst die Wege. Und wir marschieren so sorglos in deiner Spur.«

»Gut. Das wollte ich wissen. Und nun bist du wohl ein wenig müde geworden von der Luft und der Wanderung.«

»Ja,« gestand sie ein, »ein wenig schlafmüde. Ein merkwürdig süßes Gefühl, Fritz. Aber ich geb' ihm nicht nach. Ich warte die Heimkehr der Kinder ab.«

Er beugte sich vor und legte ihr die Hand über die Augen. »Schlafe, schlafe, mein Liebchen.«

Als die Kinder die Turmtreppe hinaufkamen und den erbeuteten Hasen durch die Turmluke hielten, winkte der Vater ab. »Mutter schläft. Wir wollen sie nicht mehr bis hinunter schaffen. Nur aus der Abendkühle hinaus, hier oben ins Turmstübchen hinein. Eilt.«

Die Kinder huschten schweigend hinunter. Die Kehlen waren ihnen zugeschnürt. Friedrich Thorsberg saß und hielt den Puls der Frau. Die Lippen der Schlafenden bewegten sich. Als suchten sie schneller den Atem zu trinken. Und er behorchte ihr Herz, erhorchte die gesteigerte Mühsal.

Seine Hand tastete in die Brusttasche. Er zog einen Behälter heraus, entnahm ihm eine feine Glasspritze, versenkte ihre Spitze in den Arm der Frau. Sie wollte unruhig werden. Da war es schon geschehen, und seine Hand lag begütigend auf ihren Augen. Mit einem Seufzer schlief sie weiter.

Nach einer halben Stunde hatte der Mann sie mit Hilfe der Kinder in dem hohen Turmstübchen unter der Plattform gebettet. Er wachte allein bei seinem Marschkameraden. Wie manche Nacht hatte einer den anderen bewacht, bei Fieberglut, bei der Entspannung der Nerven, in Kindsnöten fern der Heimat. Nun beanspruchte er die letzte Wache.

Bei Tagesanbruch wurde die Kranke lebhafter. Sie murmelte vor sich hin, nannte die Kinder beim Namen, rief ihrem Manne zu, sprach mit fremdblütigen Jägern und Trägern. Sie war auf dem langen, abenteuerlichen Marsch durch Deutsch- und Britisch-Ostafrika.

Und der Wachende wußte, daß sie in ihre glückseligste Zeit zurückgekehrt war, und störte sie nicht. Mit einem schmerzhaften Lächeln saß er und horchte auf ihr lallendes Geplauder.

Die Kinder kamen die Treppe hinauf. Sie hatten in den Kleidern kaum geschlafen. Nun standen sie in der Tür und blickten auf den Vater. Der winkte sie mit einer gütigen Bewegung an das Lager heran.

»Sprecht nur Heiteres, Gert und Gertrude. Heiteres und Zukunftsfrohes. Ihr habt's ja seit langem gelernt und werdet heute die Probe bestehen.« Ganz groß schlug die Mutter die Augen auf. Ihr Blick kam aus der Weite und mußte sich erst zurechtfinden indem engen Gelaß.

»Gert! Gertrude!« rief sie, und die Erkennungsfreude zitterte um ihren Mund.

»Guten Morgen, Mutter! Gut geschlafen, Mutter? Ja, du staunst, wo du bist? Im obersten Turmstübchen bist du.«

»Wie komme ich denn hierher?«

»So fest warst du eingeschlafen, oben auf dem Turm, daß du nicht zu erwecken warst. Da hat sich der Vater die Überraschung ausgedacht. Schau dir mal die Morgensonne an, Mutter. Und dort unten den Rhein.«

»Friedrich,« sagte sie. bewegte den Kopf in den Kissen und streckte die Hand aus.

»Zu Befehl, Liebste.«

»Es ist so schön bei euch. Überall ist es schön bei euch.«

»Das will ich meinen. Bekomme ich einen Morgenkuß dafür? Aber das Frühstück ist dir nicht damit geschenkt.«

»Ach, frühstücken ... Ich bin so wohlig müde. So wohlig –«

»Das hat die frische Herbstluft auf dem Turm vollbracht, Minne. Heute wenigstens wirst du nicht über Schlaflosigkeit zu klagen haben.«

Gertrude brachte die Frühstücksmilch. Nur in Absätzen konnte die Kranke sie trinken. Aber es war ihr nicht fühlbar. Sie merkte die Atemnot nicht mehr.

»Was ist denn das? Habt ihr anderen denn schon gefrühstückt?«

»Sorg dich nicht, Mutter. Vor zwei Stunden schon. Dürfen wir noch bei dir bleiben?«

»Ob ihr dürft. Gestern bin ich mit euch in den Wald gegangen. Habt ihr es gespürt? Und heute müßt ihr hinunter an den Rhein gehen, damit ich mit euch gehen kann. Ach. Kinder, dort unten strömt er. Vor meinen Augen Hab' ich ihn, fast so nahe wie an meinem Herzen.«

Sie richtete sich auf den Ellenbogen auf, schaute lange durch das Turmfenster hinaus, so lange, als könne sie sich nicht sattsehen an dem Heimatbild, als müsse sie es trinken und trinken.

Friedrich Thorsberg trat hinzu und legte ihr den Arm um den Nacken.

»Leg dich hinein, Liebste. Mach es dir bequem. Ein jed' Ding dient dir zum Thronsessel.«

Sie dehnte sich tief in den Arm hinein, ohne ihr Schauen zu unterbrechen.

»Gert. Gertrude. Da seid ihr, Kinder. Seht ihr das alles, wie ich es sehe? Und ich – ich habe das Sehen von eurem Vater. Was ihr dort vor euch seht, ist Deutschland. Das Rheinland. Nichts anderes ist Deutschland, weil es Deutschlands Ehre ist. Ein Mann – fragt euren Vater – hat nur eine Ehre. Ein Volk auch nur die eine. Darin gibt's kein Drehen und Deuteln.«

»Kein Drehen und Deuteln,« wiederholte der Sohn.

»Nie,« sagte das Mädchen und sah nach des Vaters Augen.

»Es gibt ja auch nur den einen Herrgott, Kinder. Man glaubt daran, oder man glaubt nicht daran. Aber ›Du sollst keine anderen Götter haben neben mir‹, schrieb Gott in den Gesetzestafeln auf dem Berge Sinai. Das ist der reine Glaube. Und so sollt ihr nur die geheiligte Deutschlandfahne der Väter haben. Nur das ist die reine Fahne. Gott läßt sich nicht spotten. Glaubt es mir. Der Vater und ich – wir waren auf dem Berge Sinai.«

»Wir haben nur den einen Gott und nur die eine Fahne,« sagte Gert, »verlaß dich darauf, Mutter.«

»Verlaß dich darauf, Mutter,« wiederholte das Mädchen.

»Ich tu' es, Kinder, ich tu' es ja. Und trotzdem sollt ihr mir die Hände darauf geben.«

»Hier hast du sie, Mutter. Und nun lach uns an.«

Sie lachte sie an.

»Ich weiß nicht, wie mir heute ist. Aber ihr nehmt mir meine Morgenstimmung nicht übel, nein, ihr, und nicht, daß ich eure jungen Schultern schon so früh belaste. Aber in die Hand hinein müht ihr es mir versprechen, daß ihr in Not und Tod zu Deutschland steht und, wenn Deutschland in Trümmer geht, zum deutschen Geist, der lebendig macht.«

»Mutter – liebe Mutter – das schwören wir dir in die Hand.«

Friedrich Thorsberg bettete seine Frau in die Kissen zurück.

»Wenn wir den deutschen Geist vergäßen,« murmelte die Frau, »wenn wir würdelos würden, so hätte der Fremde mit der Peitsche recht.«

Sie griff nach der Hand ihres Mannes, umfaßte sie mit ihren beiden Händen und schlummerte ein.

Und Friedrich Thorsberg saß vom Morgen bis zum Abend an ihrem Bette, seine Hand in ihren Händen, seine Seele in der ihren. Und die Kinder saßen neben ihm.

Ihr Atem ging schneller. Die Uhr in ihr begann rascher zu schlagen, wie Uhren tun, deren Lauf zu Ende hastet.

»Leidet sie nicht?« flüsterte Gert und krampfte die Nägel in die Hand.

Friedrich Thorsberg schüttelte still den Kopf.

»Nein, Kinder, ich hab' ihr das Empfinden für den Schmerz genommen. Es ist der einzige Dank, den ich der ärztlichen Kunst zu sagen habe.«

Schneller und schneller hastete ihr Atem. Immer langsamer krochen die Stunden. Plötzlich schlug sie die Augen auf. Wie erschrocken. In einer hilflosen Verschämtheit.

»Da habe ich – euch alle – bei mir und – muß gerade heute – so – müde sein.«

Die Kinderhände streichelten sie. Die Kinderlippen küßten ihren Mund. Sie wußten keine frohe Antwort mehr.

Und schon war sie wieder hinübergeschlummert.

»Vater, trink ein Glas Wein,« drängte Gertrude den grübelnden Mann.

»Ja, hol ihn. Hol den Adlerwein. Für Mutter. Er war ihr der liebste.«

Und noch einmal schlug Frau Minne Thorsberg die Augen auf, suchend, erkennend, und wiederum in derselben hilflosen Verschämtheit. »Fritz ...«

Er hielt ihr das Weinglas an die gesprungenen Lippen.

»Trink, meine Minne.«

Sie nahm den Rand des Glases mit dem Mund.

»Dein Wohl, du Liebstes,« sagte sie mit Anstrengung, und in langen, durstigen Zügen trank sie das Glas leer.

»Bis auf den Rest,« sagte der Mann, und als er es aussprach, durchzuckte es ihn jäh: Dies war der Rest.

Das Letzte eines treuen, tapferen Gefährtenlebens.

Und dennoch: ein Gruß – – –

Frau Minne schlummerte in den Kissen, die Hand des Mannes in ihren Händen, seine Seele in der ihren. Der jagende Atem ebbte ab, ging langsamer, immer langsamer. Ein langes, wohliges Aushauchen – ein zweites stärkeres – ein drittes ganz ruhiges. Wie ein Punkt hinter einem Leben. Die Uhr in ihrem Herzen stand still.

Friedrich Thorsberg schloß ihr mit milder Handbewegung die Augen. Aber er küßte den seinen, erkalteten Mund erst, nachdem ihn die Kinder geküßt hatten. Er wollte der letzte sein.

Er richtete sich auf, wandte den Kopf zum Fenster und deutete hinaus. Draußen tobte ein Herbstgewitter. Urplötzlich hatte es sich geballt, war es losgebrochen. Über den Rhein, um die alte Thorsburg her pfiffen die Blitze, schlugen die Donner.

»Die Ahnen begrüßen die Mutter, die deutscheste Frau. Vergeßt das nicht, Kinder. Und daß wir durch Blitz und Donner hindurch müssen, um auch einmal so von den Ahnen begrüßt zu werden.«

Und er zog die Kinder heftig an sich, als wären sie untrennbar eins. – –

*

 


 << zurück weiter >>