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Kapitel XIV

Zum letztenmal: Paul und Joli

Aber Ruth ist doch früher müde als sonst und will schlafen gehen. »Diese Menge Menschen, und man hat soviel gesprochen. Das ist sie gar nicht mehr gewöhnt, aber es war schön und es war zugleich eigentlich mehr als schön. Es war erfreulich. Jetzt sind Lu und Dju wieder zu Hause. Ich möchte eigentlich nochmal anrufen und ihnen gratulieren.«

»Ach, störe die nicht. Ich fürchte sogar, sie werden das Telefon abgestellt haben.«

»Oder ob ich Paul Gumpert und Joli nochmal anrufe?«

»Die schlafen schon. Laß sein, mein Kind«, meint Fritz Eisner.

Aber Fritz Eisner hatte damit recht und unrecht. Recht, daß Paul und Joli schon schliefen, unrecht, daß Doktor Spanier das Telefon abgestellt hatte.

Doktor Spanier war gar nicht zuhause. Sondern grade um diese Stunde, es war kurz nach elf, saß er weit vorgebeugt mit ganz starren Augen am Steuer, und im Lichtkegel des Scheinwerfers tanzten die Kiefernkronen eine nach der andern und immer neu und immer die gleichen in dem kalten nebligen Herbstdunst des Grunewalds vorbei. Sie kamen auf ihn zu, warfen sich ihm entgegen und blieben hinter ihm dumpf und schwarz zurück. Nur selten tauchten da zwei andere grelle Augen in der Ferne auf, und dann blinzelten sie sich gegenseitig an, blendeten ab und schossen aneinander vorüber: Autos, die sich nachts begegnen.

Vielleicht saßen da Liebespaare drin, selig verschlungen, oder Verbrecher, die eine Villa ausmisten wollten, die grade unbewohnt stand.

Und merkwürdig, zur gleichen Stunde überlegte sich Lu, ob sie nicht bei Fritz Eisner anrufen sollte, um es ihm mitzuteilen. Aber dann sagte sie sich: Ach laß die schlafen. Sie werden es noch zehn Jahre zu früh erfahren. Und das, was ihr Dju vorhin angedeutet hatte, bestärkte sie noch darin, ja den Hörer in der Gabel zu lassen, so sehr es sie auch entlastet hätte, ihn abzunehmen.

Sie war fünfzehn Jahre lang eine Arztfrau gewesen, und jetzt war sie es eben wieder. Sie saß in ihrem Stuhl, streckte ihre alten Pantöffelchen, die roten arabischen, die sie in Fez im Bazar gekauft hatten, von sich, und da hingen ihre Bilder wieder an der Wand. Sie brauchte nur die Hand auszustrecken: da standen ihre Bücher noch in genau der Folge, wie sie sie verlassen hatte, kein Täßchen in ihrem Schrank da war verschoben worden, oder gar angeschlagen und heimlich gekittet. Schon auf der Heimfahrt hatte ihr Dju erzählen müssen, was er jetzt für Fälle hätte und welche davon ihm Sorge machten. Und da hatte ihr eben auch Doktor Spanier von Ruth erzählt, und vielleicht mehr sogar, als er Fritz Eisner gesagt hatte. ›Nein, da konnte sie jetzt nicht mehr anrufen!‹

Mit Dr. Groß würde sie morgen zu reden haben oder nicht zu reden. Aber schreiben müßte sie ihm wenigstens, denn, wenn sie jetzt wieder von ihm weggegangen war, so hatte sie es ja nicht im Bösen getan, und nicht mal im Unguten. In den ganzen Jahren ist kein schlechtes Wort zwischen ihnen gewesen, und sie ist wirklich die verwöhnteste Frau Berlins gewesen, wie er ihr versprochen hatte. Aber mehr ihr zu geben, lag nicht in seiner Macht, auch wenn er es gewollt hätte. Doch er war sicher nie auf den Gedanken gekommen, daß man so etwas wollen kann. Und das hatte sie eben wieder von ihm fortgetrieben. Und wenn nicht zu Dju zurück, dann eines schönen Tages ganz woanders hin. Dorthin, wo der arme Paul und die so wunderschöne Joli schon gelandet waren.

›Aber ich kann ja noch mal Dju da draußen anrufen. Gott, wie lange es dauert, bis sich Wannsee meldet. »Hundertsiebenundsechzig, Fräulein.« .Also, Leute in solchem Haus reden so leise.‹

»Könnt ich Herrn Doktor Spanier einen Augenblick sprechen? Aber nur, wenn er kommen kann.«

»Ja, Lu?«

»Ach, Dju, was ist mein Junge? Hast du dich sehr erschrocken?«

»Nein. Es war gar nichts zum Erschrecken da. Du hättest kaum etwas gemerkt Genau so wie sie fünf Stunden vorher mit uns bei Horcher am Tisch gesessen haben, nur daß sie in tiefen Lederstühlen saßen. Er noch im Smoking mit dem Brillantknopf im Hemd, nicht ein Spritzer Blut darauf. Und sie noch in ihrem tiefblauen, goldgestreiften Kleid. Sich gerade gegenüber, so daß sie sich gegenseitig bis zur letzten Sekunde sehen mußten. Nur daß Joli, es war nicht geheizt im Herrenzimmer (wieviel Bowlen haben wir da getrunken, Lu? Du kennst es ja!), daß Joli den Fehmantel über die Schulter gelegt hatte und ihn mit der Linken vorn krampfhaft geschlossen hielt Man hat die Finger gar nicht auseinanderbekommen, und sie hatten sich ganz im Fell verkrallt. Sie müssen beide auf Zählen geschossen haben. Sie mit einem kleineren Kaliber als er. Er hat hinter dem rechten Ohr angesetzt. Das ist das schnellste. Und sie anatomisch richtig in der Herzgrube. Das kann auch nur Sekunden gedauert haben. Sie müssen auch beide zu gleicher Zeit geschossen haben, denn in keinem Gesicht war ein Entsetzen, noch war es etwa entstellt. Und das hätte doch sein müssen, Lu, wenn es einer zuerst getan hätte. Meine Telefonnummer lag auf dem Tisch. Ganz groß. Sofort anrufen! stand darunter, und die Briefe müssen sie auch schon am Vormittag geschrieben haben. Hör mal, was er an mich schreibt:

Einen Augenblick, ich muß erst mein Glas aufsetzen.

›Ich erweise Ihnen einen schlechten Dank, wenn ich Sie für all die Freundlichkeiten, die sie mir durch bald über zwanzig Jahre erwiesen haben, noch belästige. Aber Sie erkennen daraus, daß mein Zutrauen zu Ihnen als Arzt nur vielleicht noch von dem als Mensch übertroffen wird, und beide noch über mein Leben hinausgehen. Und so möchte ich auch tot nicht in Hände fallen, und jenes süße Wesen, das mir bis dahin gefolgt ist, trotzdem ich sie tausendfach beschwor, ihr Dasein nicht auch hierin mit dem meinen zu verketten, in Hände, die gleichgültig und würdelos den allerletzten Dienst an mir und uns verrichten. Es gibt so manches zu ordnen mit Polizei und Gerichten und Behörden in unserem Spezialfalle und das wird Ihnen als Arzt weniger Schwierigkeiten machen, als andern, die dessen ungewohnt sind.

Sie werden mich nach den Gründen fragen, lieber Doktor. Die einen werden sagen, daß ich zu stolz war, um weiterzuleben. Die andern, daß ich zu verwöhnt war. Jene, daß ich zu feige war für ein neues Dasein. Ach Gott – sehen sie denn alle das nicht? Ich kann einfach nicht mehr. Ich bin völlig gleichgültig gegen Besitz. Auch wenn es mir nicht leicht gefallen ist, mich von den schönen Dingen, mit denen ich mein Leben umgeben konnte, zu trennen. Ich habe zu lange Jahre in Armut gelebt, um sie zu fürchten. Und ich weiß auch genau, ich hätte ja nie wirklich in Armut mehr gelebt. Ich hätte sogar das tun können, was man eine Existenz wieder aufbauen nennt. Und ich weiß weiter ganz genau, man hätte mir sogar in generösester Weise dazu geholfen.

All das also, lieber Doktor, war nicht der Grund. Ich bin auch kein Flüchtling des Daseins, kein Melancholiker und kein Hypochonder. Es ist auch nicht wahr, daß ich ungern lebe. Welche Blasphemie wäre das gegen ein Wesen, das mir schon durch ein Lächeln nur in den letzten sieben Jahren alle Sorgen im Beruf und alle Qualen der Ehe und im Haus, ja selbst den Schmerz um meinen gefallenen Jungen, der mich zernagte, auseinander trieb, wie der Schäferhund die Schafe, die dort weideten, wo sie nicht weiden sollten. Und doch mußte ich diese Art des Todes mir erwählen, ohne wie andre abzuwarten, daß der Feind und Freund aller Menschen und allen Lebens sich meiner erbarmte. Einfach, weil es mir nicht mehr möglich war, in dieser entgötterten Nachkriegswelt des Hasses und des Wahnsinns, des Betruges und der Umkehr aller Werte, die mir all meine Altäre zertrümmert hatte, weiter zu atmen.

Ich bin nie lebensscheu gewesen. Ich bin nie lebensmüde gewesen. Auch nicht in dieser Stunde. Ich bin nie lebensunfähig gewesen, wie man nun glauben wird. Aber ich verlasse freiwillig eine Welt, deren Wege mir ungangbar, deren Gedanken mir undenkbar geworden sind, und deren Menschengesindel mir Übelkeit erregt.

Der Entschluß ist mir nicht leicht gefallen. Aber ich will nicht mehr und ich kann auch nicht mehr.

Wenn mir Joli gefolgt ist, so hat sie es aus eigenem Antrieb getan. Und sie ist deshalb mit mir zusammen aus der Welt gegangen, weil es ihr leichter und einfacher erschien, als das nachher allein zu tun.

In den heutigen Tagen, in denen seit fast zehn Jahren der Tod Massenware und Schleuderartikel geworden ist, wäre es unrecht, eine solche billige Alltäglichkeit, wie sie in unserer Handlungsweise liegt, wichtig zu nehmen. Und uns etwa nachzutrauern. Oder nicht umgehend über uns zur Tagesordnung überzugehn.

Leben Sie wohl, lieber Doktor, und bewahren Sie mir kein schlechtes Andenken. Das ist das Einzige, um was ich Sie bitte. Nein, noch eins. Gehen Sie wieder mit Ihrer Frau zusammen. Wenn man schon am Ausgangstor ist und zurückblickt, dann sieht man die Dinge der kleinen und engen Menschenwelt in einer sehr anderen und neuen Perspektive. Sie verstehen mich. Schade, daß man sie dann nur noch so kurze Zeit in dieser Weise sehen kann.

Ihr Paul Gumpert.‹

Ja, und dann steht hier noch: ›Lieber Doktor, auch meinen Dank im Voraus. Joli.‹

Na, leg dich bin, bleib nicht auf, Lu. Ich bin in einer Stunde da. Ich habe schon alles erledigt, was zu machen ist. Morgen ganz früh fahre ich noch mal raus. Beruhige dich doch, weine nicht so, Lu. Also schlaf nur. Ich komme dann schon. Gute Nacht, Kind.«

*

Die Montagsblätter liegen da, als Fritz Eisner erwacht. Ruth schläft noch. Sie hat hier in Berlin ein so starkes Schlafbedürfnis. Das ist eben der Klimawechsel. Das süße Viehchen da neben ihm! Fritz Eisner ist ja kein Zeitungsleser, er überläßt das Nuck, Er liest doch immer das Falsche aus den Zeitungen heraus, selbst wenn mal das Richtige drinstehen sollte. Aber er will noch nicht aufstehen. Sie soll noch schlafen, die Arme! Und dadurch wacht sie eben sicher auf. Und dann ist gerade am Montag früh immer so'ne ganze Menge in der Welt passiert. Gerade über Sonntag. An jenem Tage, an dem sich selbst der Herrgott ausruhte, gerade dann pflegt die Politik ganz besondere Dummheiten zu machen. – Autos sind verunglückt. Heute im Schlafwagen überfallen. Es ist wo wieder mal ein ganz klein bißchen geputscht worden. Alte Kleinrentnerehepaare haben den Gashahn aufgemacht und Faustulus hat Ganelon jeschlagen ... Det war Schiebung!

Ob Rosenemil schon sein Frühstück bekommen hat? Naja, bei Horcher hat er jedenfalls gestern noch gut vorgelegt. Im Schlafwagen hätte er weicher geruht, als auf der Pritsche. Jetzt wäre er schon bald in Straßburg. Das heißt, er kann auch über Paris oder über Saarbrücken nach Monte fahren. Also keine Silbe steht da von Rosenemil. Aber hier steht doch ... Die in der Spritschiebung verhafteten Alois Reißmann und von Gerber sind wieder auf freien Fuß gesetzt worden, da die gegen sie vorliegenden Verdachtsmomente sich als unrichtig erwiesen haben und auf böswillige Denunziationen zurückgehen. Na, da scheint ja mein Rosenemil nochmal Glück zu haben. Was steht denn da noch?!!! Heilger Herrgott von Biberach!: Bei Redaktionsschluß erhalten wir die Meldung, deren Bestätigung noch nicht vorliegt ... bekannter angesehener Großkaufmann in seiner Besitzung in Wannsee mit einer jungen Schauspielerin, die in dieser Spielzeit in Pygmalion die Berliner entzückte ... selbstgewählter Freitod ... Ehezerwürfnisse ... geschäftliche Schwierigkeiten ... und vielleicht auch, weil seine wertvolle und gewählte Gemäldesammlung in diesen Tagen unter Hammer ... wohltätig ... allgemein angesehen ... im Vierundfünfzigsten ... königlicher Kaufmann alten Stils ... Vorstand der Handelskammer bis vor kurzem ... schwierige Umstellung des Apparates alter Geschäfte ... Verdienste um die Stadt ... Stadtverordneter ... wo bleibt die Staatshilfe?

Ich könnte nun diese Zeitung vorerst mal unter das Kopfkissen schieben, damit sie Ruth nicht findet, denkt Fritz Eisner. Packt im gleichen Augenblick das Bündel mit beiden Fäusten und reißt es quer durch. Es gibt Leute, die es nicht vertragen können, wenn jemand mit einem Griffel auf einer Schiefertafel schreibt, es gibt aber auch Leute, die das scharfe SSSSS von zerreißendem Papier nicht vertragen können, sich die Ohren zuhalten und weglaufen möchten, und zu denen gehörte von Kind an Ruth. Und natürlich fährt sie entsetzt hoch und starrt mit entgeisterten Augen um sich.

»Was machst du da nur?«

»Ach Gott«, sagt Fritz Eisner, »ich habe mich so über einen politischen Artikel geärgert. Schlaf du ruhig weiter.«

Aber Ruth will die Zeitungen haben. Und während sie noch über die zerrissene Zeitung parlamentieren, ruft Lu an und Ruth nimmt den Hörer, und nach einer Minute wirft sie sich herum, wühlt sich mit dem Kopf in die Kissen und beginnt konvulsivisch zu schluchzen.

Aber dann steht Ruth doch bald auf. Hat zwar etwas verweinte Augen, ist aber wieder ruhig. Paul Gumpert hätte gesagt, meint sie, und sie lächelt dabei bittersüß vor sich hin: ›Am Morgen kam ein Kommissar ... und mit ihm kam ein braver ... Chirurgus, welcher konstatiert ... den Tod der beiden Kadaver!‹ Vielleicht ist Paul Gumpert eben doch zu schwach für dieses Leben gewesen und hätte sich in dem Leben, das vor ihm gelegen hätte, doch nicht mehr zurecht gefunden. Er ist eben wie alle aus der Zeit ... auch du, Jorry, ihr seid viel besser fundiert, amüsanter und geistig-beweglicher, als wir heute und meine Generation ... aber zerschellt eben dafür an den neuen Realitäten, die ihr nicht mehr meistern könnt.

›Immer wieder der Gegensatz der Generationen‹ denkt Fritz Eisner.

Und Ruth hat wie immer sechs Verabredungen und sieben Vorbesprechungen, denn sie ist ja einige Tage nicht aus dem Hause gekommen, und acht richtige Besprechungen. Und sie will zwischendurch mit Edith zu deren Schneiderin. Die soll billig und doch schick sein. Und Edith hätte es ja auch nicht mehr so, und außerdem muß das Kind kommen, und man muß Kränze nach Wannsee schicken, solange die Ärmsten da noch liegen. Sie sind schon freigegeben. Paul wird ... das hat Doktor Spanier schon geordnet ... Mittwoch um zehn hier draußen verbrannt ... und Joli dann um Viertelelf. Es ist doch was Schreckliches, sich auszudenken, daß man solchen wunderschönen jungen Menschen einfach in die Erde verscharren soll. (Ich will auch mal verbrannt werden.)

»Neunzehnhundertachtzig!« sagt Fritz Eisner.

»Ich wünsche nicht, daß du bei M'chen einen Besuch machst. Ich jedenfalls mache keinen. Denn, da sie uns nicht angenommen hat, so liegt kein Grund dazu vor. Ich habe eine Karte Fritz Eisner und Frau genommen und p.c. runtergeschrieben. Joli und Paul haben nebenbei gewünscht, in aller Stille – nur die engsten Freunde sollten dabei sein – verbrannt zu werden, und die Anzeige soll erst später in die Zeitung kommen. Diese Vorsorge will mir immerhin bei ihrer etwas öffentlichen Art des Todes ziemlich problematisch erscheinen. Aber Paul Gumpert ist ja doch ein Prachtkerl gewesen. Ein Goldjunge. Das war das letzte Wort, das Lu zu ihm gesagt hat. Und wie er das wieder geschmissen hat!! Als Lebenskünstler. Und wie Joli bis zur letzten Sekunde mit ihm durchgehalten hat!!«

Aber Ruth ist eben im Weggehen, als, von Petermann eskortiert und von der kaffeebraunen Nurse geleitet, ihre Käte-Kruse-Puppe mit den Butterflecken im Arm, Maud fröhlich wieder eintrifft.

»Au, Mutti«, sagt sie, »ich war bei de Tiere«.

»Na ... und was war denn das Schönste da?« sagt Ruth, während sie das Kind hochhebt und küßt ... sie freut sich ja doch, daß sie es wieder hat ... wozu ist man denn Mutter, und wozu hat man denn ein Kind, wenn man es bei fremden Leuten lassen soll?!

»Der Ilifant«, sagt Maud.

»Na, wie sieht er denn aus?« meint Fritz Eisner. »Der Ilifant?«

»Kleens Tierle mit Dreck auf de Rücke«, meint Maud.

»Ach«, sagt die Nurse, »unser liebes Kind war gar nicht vom Elefantenzwinger wegzubringen und hat immer gesagt ›noch emol!!‹, weil sich Mampe doch so gern mit seinem Rüssel mit Sand bewirft.«

Aber dann gehen Petermann und die Nurse wieder mit leidlich befriedigten Mienen ab, was darauf schließen läßt, daß sich Fritz Eisner in der Höhe des Trinkgeldes nicht ganz vergriffen hat.

»Grüßen Sie jedenfalls die gnädige Frau von mir«, sagt Ruth. Was soll sie sich anmerken lassen, daß sie alles weiß. »Und meine Empfehlungen und meinen Dank auch noch an Herrn Doktor.«

»Gewiß, ich werde es der gnädigen Frau bestellen«, sagt die kaffeebraune Nurse ... wozu braucht sie sich etwas anmerken zu lassen.

»Hören Sie, Käte?« sagt Ruth, »die beiden Herrschaften ...«

»Ich weiß schon«, sagt Käte, »aber das hat man doch kommen sehen«.

Und dann geht Ruth fort. Sie ist ganz frisch und sieht wieder recht gut aus. (Was will denn nur um Himmels willen dieser Doktor Spanier?! Wenn Ärzte nicht hin und wieder mal falsche Diagnosen stellten, wäre doch die Menschheit schon längst ausgestorben.) Um zwei wollen sie essen. Wenn Ruth nicht zur Zeit kommt, dann wird sie eben anrufen. Vielleicht ißt sie auch im Lyzeumklub – ich glaube, man bekommt da was – eine Kleinigkeit. Jedenfalls rufe ich an. Die nachgeschickten Briefe brauchst du nicht zu beantworten. Das mache ich dann für dich heute abend.

Dagegen hat Fritz Eisner nun gar nichts einzuwenden, denn er hat herausgefunden, daß Ruth für ihn alles Geschäftliche weit besser erledigt als er, der überhaupt nicht gern Briefe beantwortet, ja sogar es meist seiner Frau überläßt, sie zu öffnen.

Gott, der arme Paul Gumpert!! Doch unausdenkbar, schrecklich. Und dabei geradezu fabelhaft, wie er im Stil geblieben ist!

Aber diese entzückende Joli! Ich habe sie nun doch nie auf der Bühne gesehen. Das ist ja viel grausiger noch. Bei Paul ist es ein Abklingen des Lebens, aber das war doch eins, das noch nie voll getönt hatte. Wie alt war sie? Höchstens acht-, neunundzwanzig ... und doch hatte es etwas unendlich Rührendes, diese Verankerung in einen anderen Menschen, der bald ein Viertel Jahrhundert älter war als sie. Und wie fest hatte sie schon seit sieben Jahren ihr Leben in die eigene Hand genommen. Ich dachte immer erst, er hätte sie auf der Bühne gesehen. Nein, sie hat ihn sich doch bei seinem Knöchelbruch in Warschau im Lazarett richtiggehend angepflegt. Das habe ich auch erst vor drei Jahren erfahren, als sie beide da unten bei uns waren. Und sie ist dann erst, wie er nach Berlin wieder an die Rohstoffversorgung kam, mit ihm zurückgekommen.

Maud hat indessen begonnen, die Wohnung zu inspizieren, solch eine Wohnung ist für ein Kind nämlich ganz etwas anderes als für Erwachsene. Erstens ist sie doppelt so hoch, und zweitens sind die Zimmer viermal so groß und alle Möbel sind Geschwister des Koloß zu Rhodos. Ein Büffet ist eine Burg, und ein großer Ausziehtisch mit acht dicken Beinen ist eine Hütte mit Säulen. Die großen Sessel sind Rutschbahnen, und der Rauchtisch mit den hölzernen Ketten ist ein Wunder. Und außerdem sehr geeignet, um nasse Puppenwäsche daran aufzuhängen.

Der große Säulenschrank aber ist ein Haus, in dem man wohnen kann, und der Nähtisch ist ein Storch, weil er auf einem Bein ganz allein steht.

Und vielleicht sind da oben in seinem Bauch die Kinder drin. Und der Teppich ist eine Wiese, auf der man sich rollen kann.

Bis man alles so in einer Wohnung entdeckt hat, dazu gehört Zeit. Maud ist also heute voll beschäftigt. Man braucht sich nicht um sie zu kümmern. Und außerdem muß sie doch ihre Puppe hier einführen und ihr alles zeigen. Wenn es nachher gutes Wetter wird, kann Käte vielleicht auch ein bißchen mit ihr heruntergehen.

Bisher war Maud ruhig. Aber jetzt jubelt und tobt sie da vorne im Salon. Warum lärmt denn das Kind da draußen plötzlich so? Es muß doch jemand zu ihm gekommen sein, da spricht doch jemand mit ihr? Das ist doch gar nicht Käte!!

»Herrgott, Fränze, meine gebildete Tochter! Seit wann bist du denn da?« ruft Fritz Eisner und geht in das andere Zimmer hinüber.

»Heißgeliebter, alter Vater«, sagt Fränze, »wie du siehst, bin ich vorhanden«.

Fränze steht zwar gegen das Licht. Aber die Beleuchtung ist doch nicht so schlecht, daß Fritz Eisner nicht sofort erkennt, daß sie etwas blaß aussieht und schmaler geworden ist. Vor acht Tagen war sie noch ganz rotbäckig. In Halle muß die Mensa nicht gut sein.

»Na – was ist los, meine gelehrte Tochter? Was machen die Maikäfer?«

»Die verpuppen sich jetzt gerade«, sagt Fränze. Und versucht Maud zu wehren, die an sie das Ansinnen stellt, mit ihr vorerst mal unter den Tisch zu kriechen. Das wäre etwas sehr Gespaßiges. Maud freut sich wirklich, ihre Schwester wieder zu sehen. Die andern verstehen sie hier nämlich gar nicht, und sie versteht sie auch meist nicht. Aber mit der kann man babbele wie mit 'nem Menschen.

»Wann bist du von Halle weggefahren?«

»Um halb neun«, sagt Fränze.

»Na ... du versäumst ja nichts. Das Semester hat ja noch nicht richtig angefangen.«

»Ach, ich weiß noch nicht, Halle scheint doch nicht das Richtige zu sein. Hier in Berlin ist es besser für mich. Da habe ich auch die großen Institute und die vorzüglichen Sammlungen!! Nicht wahr? Ruth hatte mich zwar erst zu dem nächsten Sonntag eingeladen, aber ich bin doch lieber eher gekommen, um mich mal erst umzusehen.«

»Na«, sagt Fritz Eisner, »Käte, gehen Sie jetzt etwas mit dem Kind spazieren. Es muß doch an die Luft, du kannst mir drin Gesellschaft leisten!

Hast du dein Gepäck schon an Käte gegeben?«

»Das habe ich noch alles an der Bahn.«

»Alles??!«

»Ja ... alles!!«

»Wo du schlafen sollst, das sehen wir uns nachher an. So, nun komm mal ein bißchen zu mir herein. So, nun setz dich mal. Nimm dir da ein Buch. Ich muß noch einen Satz gerade zu Ende schreiben. Dann bin ich ganz für dich da, mein Kind.«

»Wie fühlst du dich hier eigentlich? Die Wohnung ist ja nett. Bekommt ihr sie denn?!«

»Ich weiß noch gar nichts, Fränze. Sag mal, hast du heute früh die Zeitung schon gelesen, ja? Ist dir da etwas aufgefallen? Von dem Kaufmann, der sich in Wannsee erschossen hat? Was?«

»Ach ja! Da stand so etwas ... Nachdem er noch in einem bekannten Schlemmerlokal mit seinen Freunden ...«, sagt Fränze, »... aber ich habe es nur ganz flüchtig gelesen. Die Fahrt von Halle nach hier ist ja langweilig.«

»Das wäre eher ein Grund gewesen, es nicht flüchtig zu lesen.«

Fränze wird etwas verwirrt. »Aber Genaues habe ich nicht ...«

»Ahnst du gar nicht, wer das sein kann? Nein? Onkel Paul. Erinnerst du dich noch an ihn?!«

»Ach Gott! Aber natürlich! Der war doch mein Schwarm als Kind. Der war doch immer reizend zu uns. Den großen Ankerbaukasten, den haben wir noch. Da sollten mal meine Kinder mit spielen.« (Ach so, sollten, denkt Fritz Eisner.) »Und sowie er kam, sind wir doch auf ihm rumgekrochen und haben ihm die Taschen durchsucht. Er hat so schöne Haare gehabt. Also die waren ganz nußbraun und weich und ölig. Ich erinnere mich deutlich. Ich habe ihn doch stets frisiert, wenn ich bei ihm auf dem Schoß saß.«

»Na, von den Haaren war ja nicht mehr viel übrig geblieben bei ihm.«

»Warum hat er sich denn erschossen? Und war da nicht noch eine Schauspielerin?«

»Das läßt sich sehr schwer sagen, mein Kind. Vielleicht erfahre ich heute mehr von Doktor Spanier.«

»Was macht Onkel Dju?«

»Danke, sehr gut, Fränze.«

»Du sprichst so müde.«

»Na ja, das ist mir ein wenig an die Nieren gegangen.«

»Und wo ist Tante Lu eigentlich, Papa?«

»Wo soll sie sein?! Bei ihrem Mann natürlich.«

»Ach, das freut mich. Weißt du, man weiß bei so etwas heute immer so schwer, wie man sich verhalten soll. Aber sie war doch ...?«

»Gewiß ... sie war. Aber seit gestern abend um acht ist sie wieder bei ihrem Mann, Fränze. Such is life, meine gelehrte Tochter.«

»Du, Pap, ich habe dich eben belogen. Ruth hat mir geschrieben, ich soll kommen.«

»Also mit Käte Marx war es nichts? Bist du sehr unglücklich darüber? Ich will gewiß nicht in dich drängen. Du kannst es mir ja ein anderes Mal erzählen. Wie lange kanntest du ihn denn eigentlich schon?«

»Warte mal, so seit sechs Semestern.«

»Hm, hm«, sagt Fritz Eisner. (›Mein armer Kerl‹, denkt er, ›geh und lieb und leide!!‹) »So so«, sagt er wieder. »So so! Ich habe seinen Namen ... nicht wahr? ... Klaus Peter Werner heißt er, seinen Namen in der Zeitung erwähnt gefunden ... hast du denn davon schon länger etwas gewußt, Fränze?«

»So etwas weiß man nie, Pap. Man kann es höchstens ahnen und nicht glauben, weil man es sich nicht vorstellen kann. Aber sprechen wir nicht mehr davon. – Ich will nicht ungerecht sein gegen Klaus, er war früher ein sehr guter Junge. Frisch und famos ... nicht ganz unsere Art. Zu undifferenziert, aber gerade das hat mir vielleicht gefallen ... Aber in der letzten Zeit sind wir ja doch schon sowieso nicht mehr gut miteinander ausgekommen.«

Fränze schluchzt etwas. Eigentlich ist sie ja doch sehr unglücklich und sehnt sich danach, sich nur einmal hier bei ihrem Vater ausheulen zu können.

»Was ist denn sein Vater?«

»Ach, so'n oller verknöcherter Geheimer Rechnungsrat auf einem Katasteramt. Ahnst du nebenbei, was Kataster sind? Ich nicht, Pepperepppepps!!« (Wenn sie schon Peppereppeps sagt, ist das schon nicht mehr ganz so schlimm, denkt Fritz Eisner.)

»Wie steht er denn mit ihm?«

»Ach, mit dem war er damals ganz auseinander ...«

»Wie hieß er denn eigentlich? Er hatte doch ein bißchen viel Vornamen auf einmal für einen einzelnen Menschen.«

»Klaus, den Peter hat er sich damals in Marburg, die waren da alle solche Namenspächter, noch zugeschminkt.«

»Und wie bist du denn mit ihm auseinander gekommen?«

»Gar nicht, Papa. Ich hab ihm nur einen Brief geschrieben. Ich weiß auch nicht, ob er es war, oder ob er nur darum wußte oder ob er mit dabei war. Das geht mich ja alles gar nichts mehr an, Papa. Ich will auch nichts mehr davon wissen. Ich habe ihm nur einen Brief geschrieben. Ich weiß auch nicht, ob er ihn noch bekommen hat, denn er ist ja fort seit Donnerstag. Und in dem Brief stand nichts als: ›Schiller, Don Carlos: 5. Akt, 6. Szene, 12. Reihe‹. Ich glaube, da ist es, aber ich kann mich auch im Augenblick geirrt haben. Ich habe jedenfalls da die richtige Stelle angegeben.«

»Liebe Fränze, ich habe seit achtunddreißig Jahren Don Carlos nicht mehr gelesen. Das heißt, wenn ich ihn auf der Schule nicht hätte lesen müssen, hätte ich es sicher nochmal getan. Ich weiß wirklich nicht, was da steht.«

»Ach Gott, Pap, da steht nur« ... Fränze wird rot ... »na ja, warum soll ich es dir nicht sagen, was da steht. Da steht nämlich: ›Dein Geruch ist Mord. Ich kann dich nicht umarmen.‹«

»So so«, sagt Fritz Eisner. (›Geh und lieb und leide‹, denkt er.)

»Aber ich habe dieses Semester so viel zu tun, daß ich schon darüber hinwegkommen werde. Es hat mich schon verdammt geschlaucht, Papa. Das merkst du nicht so.«

»Ja nun, Fränze, nun nimm dir ein Buch und setz dich ein bißchen hin. Ich muß arbeiten, das heißt, ich muß mich beschäftigen. Außerdem merk dir mal das: nicht alle Leute schlafen, die die Augen zu haben.«

»Also der Olle merkt doch immer alles gleich«, sagt Fränze, »du bist so mißgestimmt, alter Knabe.« (Jetzt protegiert sie mich schon wieder, denkt Fritz Eisner, eben konnte sie selbst nicht den Kopf hoch kriegen.) »Ist das nur wegen Paul Gumpert?«

»Warum fragst du?«

»Weil ich nicht will, daß du traurig sein sollst, Herr Vater.«

»Ach Gott, mit Ruth steht es schlecht. Doktor Spanier hat sie doch jetzt sehr genau wieder untersucht. Sie hatte eine gewaltige Milzvergrößerung, so groß, daß sie den Magen zur Seite gedrückt hat. Die ist zwar etwas zurückgegangen, aber dadurch ist die Katastrophe wohl nur aufgeschoben. Er hält es für vollkommen hoffnungslos auf die Dauer. Es kann noch Monate sein, vielleicht ein Jahr, aber eines schönen Tages wird es ganz plötzlich zu Ende mit ihr sein. Und daß ich darüber ... ich weiß es erst seit achtundvierzig Stunden (nicht mal) nicht sonderlich froh bin, das brauche ich ja dir gegenüber nicht eigens zu betonen.«

»Ach Unsinn«, sagt Fränze, »du redest dir etwas ein, Papa. Gewiß, sie ist kein gesunder Mensch. Soviel verstehe ich auch. Das hätte dir Onkel Dju gar nicht sagen dürfen. Und er hat sich auch sicher geirrt. Sie schaut doch sehr gut aus.«

»Hast du sie denn schon gesehen?«

Fränze wird rot. »Ach«, sagt sie, »hab ich das nicht erzählt? Ich habe sie zufällig hier noch getroffen. Wie ich ins Haus kam, ist sie eben weggegangen.«

»Soso«, sagt Fritz Eisner und Fränze denkt, ›der Olle merkt auch alles. Das habe ich mal wieder dumm angestellt‹.

»Du, Papa«, sagt sie, »ich möchte mich ein bißchen hinlegen. Meinst du, ob ich Ruths roten Kimono anziehen darf? Ich find ihn so schön.« Aber ich kann ihm doch nicht sagen, denkt sie, daß Ruth mir geschrieben hat, ich soll schnell kommen, weil sie sich nicht gut fühlt und sie gerne einen Menschen um sich haben möchte, falls ihr etwas zustieße. Und für mich ist es ja auch das beste gewesen. Sonst sitze ich da doch bloß in Halle rum und verheule meine ganzen Tage. Ich muß nebenbei nochmal mit Onkel Dju reden. Er soll jedenfalls mal meine Blutgruppe feststellen. Wenn er eine Transfusion noch machen will. Damit kann man, wenn mal Not am Mann ist, keine Zeit verlieren. Papa ist doch zu alt dazu.

Und dann kommt Ruth früher, als sie dachte. Ist furchtbar erstaunt, daß Fränze da ist, und Maud produziert sich.

»Na, wie war's denn da?«, fragt Fränze, »bei so ganz vornehmen Leuten? Da hast du aber den feinen Wilhelm spielen müssen. (Denn sowie Fränze in Berlin ist, kommen die Klänge ihrer Jugend wieder. Draußen pfälzert sie.) Wann bist denn immer aufgestanden?«

»Jede Morge«, sagt Maud. (Da kann man nichts machen.)

Und es ist eigentlich sehr nett den ganzen Nachmittag und Abend. Das Leben hat wieder einmal recht. Auch wenn Paul Gumpert und Joli schon dahin gebracht sind, wo sie hinkommen sollten. Und wenn auch Ruth es weiß, und Fritz Eisner es weiß, und Fränze es weiß: Daß sie nicht immer so hier beieinander sitzen und laichen werden. Denn Fränze gibt ihre Kinoerlebnisse zum Besten und spielt einen ganzen Chaplinfilm vor ... Und wenn auch zur gleichen Zeit Klaus Peter Werner auf Schmugglersteigen gerade bei Kufstein von zwei Leuten in Touristenkleidung über die Grenze gebracht wird und knietief mit seinen viel zu dünnen Schuhen durch den Neuschnee stapft – – sehr nett ist es, das Leben, weil der Tisch voll Trauben und Obst steht. Der Tee warm und goldgelb ist und das Leben recht hat.


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