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Kapitel XI

Dju erschrickt

Das Romanische Café ist wie stets. Hochräumig, mit einer fantastischen Innenarchitektur, die sicherlich in Limberg oder Gellenhausen sehr feierlich wirkt. Aber hier wenig am Platze ist. Die Räume sind nicht niedriger geworden und das Publikum nicht viel anders. Es sind eigentlich die gleichen Gesichter, nur daß sie Fritz Eisner nicht mehr kennt.

In einer Ecke unten ... sonst tun sie das oben ... spielten zwei pockennarbige leichtschielende Krausköpfe Schach und widerlegten die Behauptung, daß Schach ein schweigsames Spiel wäre, indem sie sich gegenseitig »Patz'r« titulierten und sich vor jedem Zug »Sie sind ene tottte Henne, Sie werrden gleich geschächtet werrden« zuriefen. Während der Führer der vier Kibitze, die den Tisch und die Spieler umlagerten, ab und zu, gelegentlich, den kleineren der pockennarbigen und schielenden Krausköpfe händeringend beschwor »Manga, larrischina, friß ihm die Kennigin auf« – danach schien es ein Triestiner zu sein.

Von dem eigentlichen Stamm des Cafés waren um diese Mittagszeit wenig oder nicht allzuviel da, weil eben noch nicht Mitternachtszeit war, wo sie vollzählig um ihre Tasse Kaffee rumsaßen. Zu tun werden sie wohl nichts gehabt haben, denn die Zeiten waren nicht gut für sie. Also schliefen sie noch oder waren sonstwie nicht vernehmungsfähig. Vielleicht waren es wirklich Künstler, vielleicht waren es wirklich Künstlerinnen, wer konnte das ahnen? Jedenfalls bemühten sie sich so auszusehen. Sie hatten noch nicht heraus, daß der wirkliche Künstler die Mimikri liebt und sich gerade bemüht, nicht so auszusehen. Die von früher kannte Fritz Eisner teilweise, aber sie waren verfallen, verkommen, verweht und anderswo. Im und nach dem Krieg, die ersten Jahre, hatten sie sogar ihre große Zeit gehabt, aber die Jugend, die intellektuelle, die proletarische und die von rechts, die eine Weile geschwankt hatte, alle, die ihnen und ihren Versen und Worten einst so um 1918-21 zugeflogen waren, waren ihnen wieder untreu geworden, hatte sich in den Sport, in die Politik oder sehr schnell, und das war klug, ehe die anderen kamen, die die Lücken des Krieges füllen würden, in einen Beruf geflüchtet. Und sie waren ein Stück Literaturgeschichte geworden, ehe sie eigentlich wirkliches Leben geworden waren, und ehe sie wirkliche Literatur geworden waren. Und das war schade.

Draußen rollte die Straße, der schöne sommerlichwarme hellflackernde Herbsttag in seiner Boulevardstimmung vorbei, mit den Menschen, die heute weniger Eile haben als sonst in dem Karussel um die Gedächtniskirche.

Richtig, da hinten kommt schon Ruth. Sie sieht mich nicht, denkt Fritz Eisner, und selbst wenn sie mich sehen würde, wäre es fraglich, ob sie mich schon erkennt, denn, wie es Wesen mit so übergroßen sprechenden Augen oft sind, ist sie etwas kurzsichtig. Nicht gerade so, daß es sie stört, aber doch so, daß es ihr die Ferne angenehm verschleiert. Aber das macht nichts. Das ist ein Fehler, der sich bessert mit den Jahren. Deshalb will sie sich erst gar nicht an ein Glas gewöhnen. Sie sollte ein Glas tragen. Aber sie will nicht. Ruth soll manches, sagen die Ärzte immer, aber sie will nicht. Und zum Schluß meinen sie dann stets, na ja, es geht gewiß auch so.

Was war das vorhin für eine seltsame Andeutung von Hannchen! Na, Hannchen übertreibt. Man muß alles, was sie sagt, durch vier dividieren und dann nochmal sechs abziehen. Dann hat man so ungefähr die Wahrscheinlichkeit.

Es ist wie eine Probe bei der Algebra, wenn man eine Frau, ohne selbst gesehen zu werden, schon beobachtet. Eine, die man kennt. Und sich dabei in die Vorstellung hineinzwingt, man kenne sie nicht. Stände ihr nicht nahe. Es wäre eine ganz fremde Frau, die da zufällig auf der Straße vorübergeht. Würde sie uns auffallen? Und wie und wodurch würde es geschehen, daß wir ihr innerlich entgegenfliegen? Ist sie schön? Ist sie absonderlich? Was verrät sie von sich und ihren Eigenheiten? Was behält sie für sich? Sieht sie klug, begabt, beweglich aus, stolz, herrisch, unfreundlich? Welchen Anteil nimmt sie an der Umwelt? Hat sie ein Gesicht aufgesetzt, das wir noch nie an ihr beobachtet haben? Ist sie müde? Ist sie unfroh? Ist sie anteillos? Ist sie vergrämt, eitel, gefallsüchtig, sucht sie Blicke zu fangen, will sie, daß man sie beachtet? Will sie, daß man sie übersieht?

Also die Probe stimmt. Das Exempel geht schlackenlos auf. Sie würde mir auffallen. Sie nimmt an der Welt viel Anteil, aber auf eine selbstverständliche Art, ohne ihn für sich herauszufordern. Sie würde mir sogar einen Tag lang in Erinnerung bleiben. So wie man manchmal denkt: Gott was war das für eine schöne Person heute Mittag, die da an mir vorüberschritt, – rauschte – trendelte oder vor sich hinging, an dem Schaufenster stand und die Seidenstoffe mit den Blicken abschnitt und zusammenrollte. Ich würde es wünschen, einen ganzen Abend mit ihr zu plaudern, vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen. Ich würde meinen Witz ein Pfauenrad schlagen lassen, nur um sie um die Augen etwas lächeln zu sehen. Man kann mit dem Gesicht und man kann mit den Augen lächeln. Das zweite ist das Beglückendere für uns. Ich würde mich noch heute innerhalb zweier Tage in Ruth verlieben, wenn ich es nicht schon vor sieben Jahren getan hätte.

Nett sieht sie so aus mit ihrem hellen Kleid und der großen gelbfarbenen Sammetwippe und dem altrosa Seidenmantel über dem Arm. Eigentlich könnte sie aber doch schon über den Damm gehen. Warum bleibt sie stehen? Es kommt doch kein Auto. Nur da ganz in der Ferne. Der Übergang ist gerade mal frei. Und warum hat sie eigentlich die Hand an die linke Seite gepreßt? Wird wieder Schmerzen haben.

Aber nun erkennt sie Fritz Eisner da hinter seiner Scheibe und winkt ihm und steht (sie hatte sich etwas nach vorn gebeugt) mit einem Ruck sehr gerade, lächelt herüber und eilt über den Damm. Sie ist doch gleich den ersten Tag wieder hier zu sehr umhergestürzt. Berlin strengt an, denkt Fritz Eisner. Zuerst nimmt man sich immer wieder zuviel vor. Soll sich erst mal ein viertel Stündchen hier ausruhen. Wir kommen immer noch zur Zeit zu Paul Gumpert. Es ist ja von hier nicht länger als zehn Minuten.

»Also was war?«

Sie war auf ihrer alten Redaktion, und man hat sich sehr mit ihr gefreut. Die Kollegen und Kolleginnen von einst

»Waren um sie rum gewesen wie Fliegen um den Honigtopf«, ergänzt Fritz Eisner.

»Unsinn«, sagt Ruth, »sind alle noch da. Nur eine hat inzwischen geheiratet, aber die ist auch noch da. Und so oder so, komme was mag, es läuft da alles immer so weiter. Auch ohne mich. Zwar würde ich manches anders machen, aber es geht eben auch so. Die Leser merken es gar nicht.

Und dann, ja dann, wäre sie eben noch im »Frauenrecht« gewesen. Man hätte da große Pläne, aber kein Geld. Und sie wäre bei der Liga gewesen. Jedenfalls wolle sie da mitarbeiten. Denn Zeit hätte sie ja genug hier. Selbst wenn sie ihrem Manne wie bisher helfen wollte, und das Kind auch täglich wenigstens etwas unterrichten.

»Um Himmelswillen«, sagt Fritz Eisner.

»Ja, das muß sein, also täglich wenigstens etwas unterrichten.«

Komisch, denkt Fritz Ebner, woher hat sie nur diesen unerhört starken Drang zu leben, sich nach zehn, zwanzig Seiten zugleich zu betätigen. Diese Intensität der Anteilnahme an den verschiedensten Dingen, diesen gar nicht zu stillenden Hunger nach Leben und bewegtem Leben. Das haben eigentlich sonst doch nur Menschen, die sehr früh ... also davon ist ja nicht die Rede. »Komm, iß einen sogenannten Kuchen mit Sahne, sogenannter. Du willst nicht? Was hast du nur heute eigentlich schon gegessen?«

Ach, sie hätte zwischendurch eine Kleinigkeit gefrühstückt, bevor sie dann auf das Wohnungsamt gegangen wäre.

»Was war denn da los?« fragt Fritz Eisner. Er ist ein gut erzogener Mann, denn am liebsten hätte er schon bei dem Wort »Wohnungsamt« allein die Marmorplatte des Tisches zerschlagen. So begnügt er sich wenigstens, mit einem Bleistift darauf herumzukritzeln. »Also was hat der Herr Obervorsteher denn zu dir gesagt? Hast du ... Äugelchen mit ihm gemacht?«

»Ach, sie waren ganz nett«, sagt Ruth, »eigentlich sehr freundlich«.

»Zwanzig Mark«, sagt Fritz Eisner leise und schreibt eine zwanzig auf die Marmorplatte.

»Den Vorsteher selbst habe ich natürlich nicht sprechen können. Er wußte aber, daß ich komme, und hat sich entschuldigen lassen. Er hätte eine Sitzung zu leiten ... aber sein Vertreter ...«

»Fünfzig Mark«, sagt Fritz Eisner halblaut, streicht die 20 durch und schreibt 'ne 50 drunter.

»ist sehr nett. Also für einen Beamten geradezu erstaunlich liebenswürdig.«

»Fünfundsiebenzig Mark«, sagt Fritz Eisner und streicht die 50 durch.

»Ob wir aber die Wohnung so ohne weiteres bekämen, ist eben noch nicht ganz bestimmt.«

»Hundert Mark«, murmelt Fritz Eisner und streicht die 75 durch.

»Es sind gerade auf die Wohnung eben sehr viel Reflektanten.«

»Hundertfünfzig Mark«, meint Fritz Eisner, den Kopf über die Marmorplatte des Tisches gebeugt;

»Ja, wenn es so unter der Hand gewesen wäre, würde sich das viel einfacher, mit einem Federstrich, machen lassen. Aber wenn wo einer stirbt –«

»Zweihundert«, murmelt er vor sich hin.

»Und eine kinderreiche Familie, die niemand nehmen will. Denn wer setzt sich denn vier Gören ins Haus.«

»Vierhundert«, schreibt Fritz Eisner und schüttelt immer weiter mit dem Kopf.

»Ein pensionierter General, der in Posen sein Gut verlassen mußte.«

»Au weh, sehr schlimm, fünfhundert!«

»Und ein Subdirektor einer Unfallversicherung.«

»Hm hm«, stöhnt Fritz Eisner und schreibt: fünfhundertundfünfzig.

»Was redest du denn immer?«

»Ich glaube, Nuck, du bist wie Tünnes bei die falsche Leich jewäsn. Du warst sicher bei einer Auktion. Die Wohnung wird meistbietend versteigert. Niemand mehr?«

»Also laß mich doch ausreden. Jetzt kommt's. Hör gut zu. Dadurch aber, daß nun die Tochter der Verstorbenen plötzlich mit Ansprüchen auf die Wohnung aufträte, verschöbe sich das Bild natürlich.«

»Fünfhundertfünfundsiebenzig.«

»Ich habe ihm noch schnell eingeredet, daß wir in Scheidung lägen. Mir natürlich das Kind zugesprochen würde (sonst hab ich keine Ansprüche). Und du mich mit einem Brotmesser bedroht hättest. Er hat mich direkt mitleidig angesehen.«

»Sechshundert, nein nein, sechshundertfünfundzwanzig.« (Selbst die Schachspieler sind schon aufmerksam geworden, wenigstens die Kiebitze, und gucken herüber. Und die merken doch sonst nie etwas von der Umwelt.)

»Und daß du ins Ausland gehen wolltest, und nie mehr auf eine Wohnung in Deutschland Anspruch erheben würdest. Denn ob sie mir auf meine bisherige Wohnung als Tauschwohnung im Sinne des Gesetzes – jawohl: im Sinne des Gesetzes, er hat es mir schwarz auf weiß gezeigt, immerhin, es käme auf die Auslegung des § 38 Zusatz 5b an. Wie sagtest du?«

»Sechshundertfünfzig, sagte ich, Nuckelino. Aber das sind mindestens vierhundert Mark mehr, als ich mir für die Sache ausgesetzt hatte.«

»Ich verstehe dich nicht, Jorry ... im Sinne des Gesetzes als Tauschwohnung also gelten könnte. Und ob sie solange mir die Wohnung geben könnten, selbst in diesem Falle, daß das bejaht würde, bis ich im Ringtausch einen Mieter ...«

»Siebenhundertfünfzig«, ruft Fritz Eisner, »knif. – Kommt nicht in Frage. Ausgeschlossen.«

»– – ihm brächte, das wäre, ohne daß er sich selbst Unannehmlichkeiten bereite, zum mindesten dahin gestellt.«

»Hast du nicht gesagt: mit wieviel kann ich Sie für diese Unannehmlichkeiten entschädigen? Nein? Ja dann, mein Nuckchen, hast du natürlich den psychologischen Moment verpaßt.«

»Unsinn, du Hammel«, sagt Ruth lachend, »laß mich nur machen. Ich werd' das Kind schon ganz allein schaukeln. Für so etwas sind wir Frauen viel geeigneter als ihr Männer.«

»Aber nun komm. Wir können den Paul Gumpert da nicht warten lassen.«

»Weißt du, wir haben ja noch Zeit«, sagt Ruth, »es ist ein so schöner Tag heute. Wir wollen langsam gehen. Sieh mal, da drüben im Zoo sind doch wieder richtige Pinguine. Die waren alle im Krieg gestorben. Man hört sie quäken und man sieht ihre Spuren. Also da sitzt doch einer.«

»Das ist zwar ein Kormoran«, sagt Fritz Eisner, »aber wir werden ihn von heute an Pinguin nennen. Erinnerst du dich, wie wir in Holland über die Zuidersee fuhren, da haben wir eine Menge Kormorane gesehen. Man glaubt erst, es sind kleine schwarze Schwäne, wenn sie fliegen.«

»Ach ja«, sagt Ruth, »nächsten Donnerstag bin ich wieder aufs Wohnungsamt bestellt.«

»Fülle deinen Beutel«, meint Fritz Eisner ... »da drüben ist der Adlerkäfig. Siehst du, da oben sitzt einer auf der Stange. Wie zerfleddert er ist und wie traurig er guckt. Und wild zugleich. Es gibt doch kaum zwei Worte, die sich so ausschließen wie Adler und Käfig... Da drüben möcht ich noch ganz gern wohnen, wenn überhaupt irgendwo in Berlin. Aber es ist heute auch schon deprimierend geworden.«

»Ach Gott«, sagt Ruth, »so alte Dinge bauen sich eben langsam um. Dafür kommt Neues. Das ist wohl nie anders in der Welt gewesen.«

»Es wird für Paul Gumpert auch nicht angenehm sein, hier heraus zu müssen. Aber endlich bleibt es egal. Zwar auch nicht. Wie sagen doch die Teppichhändler immer? Die Teppiche sind gerade wie das Leben. Man kann es billig haben, und man kann es teuer haben. Aber billig taugt es meist nichts. Das sieht man doch an uns. – Geh ich dir zu schnell, Kind? Also, was man auch dagegen sagen mag, die Corneliusbrücke ist ja doch eine der hübschesten Stellen Berlins immer wieder. Nur die Sache mit dem Klima hier müßte endlich mal vernünftig in Regie genommen werden. Das muß in Deutschland ganz durchorganisiert werden. Wirklich, sie gründen doch jetzt ewig Gesellschaften, die sinnlos sind. Sollen sie doch mal die Wetterregulierungsgesellschaft gründen. Da würden sie sich wenigstens meinen Dank und den der Bevölkerung erwerben. Vielleicht kann ich da einen Aufsichtsratposten schnappen. Jeder anständige Mensch, der etwas auf sich hält, hat jetzt einen. Manche haben hundert. Und einmal im Jahr eine falsche Bilanz falsch lesen, eine Quittung unterschreiben, einen Scheck einstecken und ein Diner nachher essen, werde ich doch auch noch können.«

»Sieh mal, das da drüben ist Paul Gumpert. Er wohnt ja schön und er hat einen netten Garten.«

»Der gnädige Herr ist zu sprechen«, sagt der alte und verknautschte Diener. Keiner von der Sorte, die herrischer als ihr Herr sind, sondern von jener, die einen berufsmäßig bevatern. »Er wartet schon auf Sie.«

Richtig, da kommt er auch schon. Er sieht eigentlich schlechter aus als gestern, verdammt übernächtigt und blaß. Na ja, viel Farbe hat er nie gehabt. Immer ein bißchen nach weißem Käse hat er ausgesehen. Er trägt einen Hausrock, vielleicht hat er auch geschlafen, und Fritz Eisner wußte gar nicht, daß er zu Hause eine Hornbrille trägt. So etwas verändert einen ganzen Menschen plötzlich sehr. »Einen Augenblick«, sagt er, »ich will mich etwas in Gala für so hohen Besuch werfen, Meister«.

»Sieh mal da, Nuck, da drüben ist der Säulenhof. Und die ganzen alten Türen mit den Einlagen und die Renaissanceumrahmungen und die schmiedeeisernen Oberlichter und Geländer im Treppenhaus ... das ist schönste Würzburger Arbeit. Vielleicht von dem gleichen Tiroler Mann, der die Portale zum Schloßgarten gemacht hat. Das kann doch nicht alles herausgebrochen werden. Das bekommt also der Nachfolger einfach so gut wie zugeschenkt. Und das Deckenbild da hinten im Eßsaal mit der Entführung der Europa, auch Venedig, vielleicht von einem Tiepoloschüler, das kann man doch nicht rausmachen. Das alles hat ihn sicher mehr gekostet als das ganze Haus hier sogar. Wird einfach so pauschale dem Gulaschbaron, der ja auch Wannsee nimmt, nachgeschmissen. Der wird darin sitzen wie die Made im Speck. Vor sieben Jahren hat er noch anderswo gesessen. Nur die Schlösser an den Türen sind da fester gewesen.«

Paul Gumpert ist wieder da, ohne Hornbrille und ohne Hausjacke.

»Also lieber Gumpert, was macht M'chen? Ich hätte ihr gern wenigstens mal wieder Guten Tag gesagt nach so langen Jahren. Und meine Frau – die sie gar nicht kennt, wäre auch sehr erfreut, wenn ...« (denn hier gibt es ja keine Joli, hier ist das Reich M'chens ganz allein).

»Ach«, sagt Paul Gumpert verlegen, »M'chen hat sich gerade etwas zurückgezogen. Sie empfängt jetzt nicht gern Besuche.« (Also Lu hat gestern davon nichts verlauten lassen, denkt Fritz Eisner.)

Plötzlich wird Paul Gumpert rot. Irgendwas würgt ihn innerlich. »Es ist doch wirklich eine Narrheit«, sagt er lauter als er sonst spricht, »von solch einer Person. Lächerlich! Seit zehn Jahren hat sie weder von ihr etwas gehört noch gesehen. Nein, sagt sie, sie wäre doch mit Annchen zu befreundet gewesen, als daß sie in ihrem Hause ihre Nachfolgerin empfangen könnte.«

»Lieber Freund«, sagt Fritz Eisner, »warum erregen Sie sich darüber, wenn ich es nicht tue. Übrigens den Landshoff habe ich vorhin gesprochen. Er wollte Sie anrufen oder er wird es noch tun. Ich habe ihm gesagt, daß wir, es bleibt doch jedenfalls dabei, Sonntag nachmittag bei Horcher sind. Wenn er Sie nicht eher erreicht, kommt er da hin.«

»Ach, das freut mich! Landshoff ist also hier? Gott, er hat sich furchtbar anständig gezeigt. Wenn ich es gewollt hätte, hätte er doch die Sache noch saniert. Aber ich wollte nicht. Ich habe genug. Bis hierhin.«

Er streckt die Hand hoch. »Also so bis da hinauf habe ich genug! – Wissen Sie, die Bedienung in diesem Restaurant hier läßt nach. Aber es muß doch gleich Kaffee kommen.«

»Für uns nicht, Paul Gumpert. Wir sind gegessen und gekaffeet, was Sie wollen. Wir wünschen nicht gelabt zu werden. Meine Frau dankt!«

»Mein Mann nimmt nichts«, sagt Ruth, die sehr still und etwas gedrückt ist.

»Na Nuck, sieh dich mal hier um, damit du mal weißt und erkennst, was wir mit unserm Gelump da unten für armselige Pintscher sind. Gott, da haben Sie ja doch den Geertgen ten Jans, den Johannes auf Patmos, ein süßer melancholischer Eremit mit seinem Rauschebart, dem braunen. Wie er da sitzt an dem Bach auf der Blumenwiese vor dem Wäldchen, wie das alles strahlt, die ganze Natur um ihn, und wie traurig der Kerl ist! Es ist wirklich sehr schön um ihn. Ein noch blauerer Tag wie heute da draußen und grün und üppig und lieblich. Ganz delikat die kleine Landschaft. Wie mit Edelsteinen gemalt. Aber das geht ihn alles gar nichts an. Er sieht wirklich durch alles hindurch, als ob' es aus Glas wäre. Ein wunderschönes Bildchen.«

»Ja«, sagt Paul Gumpert, »wirklich, ich habe ihn doch bekommen. Es ist eins meiner Lieblingsbilder! Das man nie überbekommt. Weil es eben zugleich ernst und zugleich heiter ist. Und sehen Sie sich an, wie das erhalten ist. Nicht 'ne Hand ist mehr 'rangekommen. Alles die alte Krakelüre.«

»Können wir mal hinaufgehen? Ich möchte so gern mal Ihre Tiepolos wiedersehen. Und ist der Guardi immer noch so schön?« (Also den Geertgen ten Jans hab ich wenigstens.)

»Ach nein«, sagt Paul Gumpert, »erstens muß ich fort. Und zweitens sagt ich Ihnen ja schon gestern, daß ich mich von den Herrschaften da oben schon verabschiedet hätte. Aber ... Johann, führen Sie meine Freunde nach oben, bitte. – Leben Sie wohl, junge Frau. Sie sind doch schöner als alle die da oben. Lachen Sie nicht. Was schön ist, weiß ich.«

»Das merkt man an Joli«, sagt Ruth und strahlt ihn an.

Fritz Eisner muß sich eines Wortes von Ruth erinnern. ›Der einzige deiner Freunde, der mir gegenüber nie die Grenzen überschreiten würde, und der einzige, der mir, vielleicht wenigstens, von deinen Freunden gefährlich werden könnte.‹

»Also entschuldigen Sie mich, Eisner, Sie haben jedenfalls Glück, daß Sie sie noch hier sehen. Sie wären ja längst weg, aber hier sind sie versichert und die Versicherung läuft noch, und da würden sie nochmal jeden Tag eine Menge kosten. Und so lassen wir sie erst am letzten Abend von hier wegbringen. Ich hätte sie ja auch hier versteigern lassen können. Raum ist genug in den beiden Sälen oben. Aber ich wollte nicht. Werde mir von diesem Gesindel meine guten Teppiche zertrampeln lassen. Aber die gehören auch meist M'chen. So etwas habe ich ihr immer erb- und eigentümlich geschenkt.«

Fritz Eisner und Ruth gehen sehr langsam die breite geschwungene Eichentreppe mit den ausgeschweiften Stufen hinan. Es ist eine so bedrückende Stille im Haus. Der Diener schließt oben die schweren geschnitzten Türen mit großen alten Schlüsseln auf.

›Man sollte die Türen rausbrechen‹, denkt Fritz Eisner, ›und dem Gulaschbaron über den Kopf schlagen‹.

Die Säle sind sehr hell. Trocken. Das müssen sie sein. Durchwärmt. Riechen nach Staub und Holz. Das Gold der Rahmen spiegelt sich in den Mustern und Sternen des Stabfußbodens. Die schweren italienischen Eichenmöbel, die Mediceerbänke, die Tische mit den dicken Platten, die bemalte Truhe, alles ist von einer tiefen und lähmenden Nachdenklichkeit ergriffen. Sehr hell ist es. So hell, wie es im ganzen Jahr hier vielleicht noch nicht war. Denn es ist ein strahlender Tag. Wirklich die beiden Säle sind ganz von einem weißen singenden Licht erfüllt, das leise vor sich hinweint. Die Bilder in den Goldrahmen sind vollkommen lautlos und regen sich nicht und sehen mit kalten starren und entseelten Augen um sich. Alle Wärme, jegliches Persönliche ist aus ihnen schon entflohen. Vielleicht sind sie noch schön. Ihre Farben leuchten. Ihre Linien klingen. Und doch sind sie von einer tiefen und herzlosen und ganz und gar unbeteiligten Gleichgültigkeit. Sie gehören schon niemand mehr. Sind nur noch Kunsthändlerware. Vielleicht Museumsstücke. Anteillos und abweisend.

»Sieh mal, Ruth, das ist der kleine Tiepolo. Rosenemil hat recht, wie Marzipan das Frauenzimmer. Aber Nuckchen, was weinst du denn? Du kannst doch hier nicht weinen. Du brauchst doch auch gar nicht zu weinen. Komm, wir gehen jetzt.«

Und dann gehen Fritz Eisner und Ruth wieder die Treppe herunter durch das tote Haus, in dem man keinen Laut hört. Selbst der lehmfarbene Tschin, der aus einem Nebenraum wie eine lebende Quaste herangewedelt kommt und sie beschnuffelt, geht ebenso lautlos wieder in den Nebenraum zurück. Wirklich, man wäre ihm dankbar gewesen, wenn er gebellt hätte. Ruth schluchzt immer noch ganz leise vor sich hin, als sie schon auf der Straße in der warmen Sonne sind.

»Aber Nuck, ich begreife dich nicht. Gewiß, es ist traurig, aber das Dasein ist doch auch ohne die Rauchstraße und ohne all das möglich. Ich versteh, es ist schwer, sowas zu entbehren, wenn man es gekannt hat. Aber endlich, am Hungertuche (beachte das e), wie man sagt, wird er nicht saugen. Also das verwechsle ich mit den Hungerpfoten. Das muß er doch trotzdem nun wirklich nicht. Und solange ein so schönes und kluges und doch auch innerlich vornehmes Wesen wie die Joli an einem Mann so hängt wie sie an ihm ... Die würde heute in einer Hundehütte mit ihm wohnen und mit ihm mitziehen, wenn er morgen ein Tippelbruder würde. Er aber auch, Nuck. Also, zu beweinen braucht man sein Schicksal, solange er noch dieses Reservekapital an Glück hat, doch nun gewiß nicht. Sieh mal, was das für ein hübscher Herbsttag ist. Wie bunt die Bäume von hier aus sind. Der quittengelbe ist ein Ahorn. Hieran der Lichtensteinbrücke ist ja doch eine der schönsten Stellen von Berlin. Aber nun hör schon auf zu schluchzen. Die Leute denken ... vorhin haben sie dich und mich schon so angesehen ... wir haben miteinander was vorgehabt und uns gezankt.«

»Ach Gott, Jorry, weißt du, das hat mich ja doch sehr aufgeregt. Ich will gar nicht weinen und dann tut es mir hier oben – nicht am Herzen, sondern eher links davon – schon seit ein paar Tagen etwas weh beim Gehen. Es ist mir so schwer da. Nach den Übungen gestern Abend war es besser. Wir wollen doch lieber nach Hause fahren. Am Lützowplatz fassen wir eine Bahn oder hier an der Corneliusbrücke und steigen an der Gedächtniskirche um.«

»Auto!« ruft Fritz Eisner. Es ist sogar ein fast neuer Wagen. »Auto!« Und schon hält es. »Friedrichstraße 245. Immer hier am Kanal lang», sagt Fritz Eisner leise. »Also sitzt du bequem? So! Nun kann ich doch endlich mal deine Hand wenigstens halten. Den ganzen Tag haben wir uns nicht gesehen, mein geliebter alter Affe.«

»Du mußt ihm sagen, der Mann fährt doch ganz falsch. Er hätte doch gleich hier abbiegen können.«

»Nein. Der Mann fährt ganz richtig, wie ich es ihm gesagt habe. Ich möchte, weil ich so neugierig bin, mal wissen, was dir nämlich da oben weh tut. Dir kann's doch gleich sein. Aber ich möcht's mal wissen. Wenn's dir beim Gehen schwer ist, dann muß doch ein Organ vergrößert sein. Und da es das Herz nicht ist, kann's auf der Seite doch nur die Milz sein, Leber sitzt woanders. Und Galle auch. Und Magen in der Mitte. Und das wird sich mein oller Doktor Spanier mal angucken mit seinem Röntgenapparat. Bessere gibt's in den großen Krankenhäusern auch nicht. Der hat immer die neuesten Einrichtungen. Und dann, was unwahrscheinlich ist, aber doch immer nicht unmöglich, mein Geliebtes, wird er uns weiter schicken. Und dann werden wir mal an die richtige Schmiede mit dir kommen. Aber erst soll er mal sehen. Du kannst dich ihm ruhig anvertrauen. Riesenpraxis. Sehr sehr wohlhabend. Und deshalb schickt er an Freunde nie Rechnungen. Das heißt, das mit der Wohlhabenheit weiß man ja heute nicht mehr. Aber das zweite wird wohl geblieben sein. Stand mal in engerer Wahl zu Professuren. Aber es hat sich dann immer wieder zerschlagen. Etwas kühl ist er. Warm wird man nie bei ihm. Aber er ist von sehr guten Formen und distinguiert. Ich habe ihn seit sechs Jahren nicht mehr gesehen. Aber ich kannte ihn fünfzehn Jahre vorher sehr gut. Und bin sehr oft bei ihm gewesen. Nebenbei, ein wunderschöner Sephardimkopf. Ganz schmal und hochstirnig. Mit ein paar Stückkugeln von Augen. Lu sagte aber gestern, er wäre jetzt schon sehr weiß geworden. Der Großvater ist wohl erst aus Holland zugewandert. Und er behauptet immer, ein Nachkomme des Ephraim Bonus zu sein. Weißt du, der Arzt und Kabbalist und Freund Rembrandts, den er so an der Treppe stehend radiert hat und von dem es ein kleines Portrait bei Mannheimer in Amsterdam gibt. Wir haben es ja mal gesehen.«

»Ach ja, das mit den brennenden Augen. Jetzt weiß ich, Jorry.«

»Die Sache mit Lu soll ihn natürlich sehr geschlaucht haben. Aber so etwas nimmt einen Mann nie so sehr mit wie eine Frau. Weil der Mann mindestens zur Hälfte seinem Beruf gehört. Während die Frau, selbst wenn sie einen Beruf hat wie Joli, doch immer noch zu dreiviertel, und das ist selbst im Reichstag Majorität, doch ihrer Liebe gehört. Ich glaube sogar vielleicht, daß zum Schluß Lu von beiden Teilen der ist, der mehr leidet.«

›Nur reden‹, denkt Fritz Eisner, ›so zum Arzt fahren ist selbst, wenn man seit Jahren von ihm nicht losgekommen ist, immer wieder eine peinliche Viertelstunde‹. (Endlich muß man doch mal sehen, ob der Doktor Spanier was davon weiß, daß das Gummischweinchen ihm damals etwas gesagt haben soll.)

»Weißt du, Nuck, ein Freund von mir hat mal ein Buch geschrieben. Er hat sogar viele Bücher geschrieben. Sie sind alle verschollen heute. Denn es waren gute und eigenartige Bücher. Auch das war ein gutes Buch. Aber das Beste an diesem Buch war doch der Titel: ›Die Liebe ist so komisch.‹

Siehst du, Berlin sind viele Städte. All die Menschen, die du hier siehst, lassen sich da draußen, wo wir jetzt wohnen, überhaupt nicht blicken. Kennt man da gar nicht. Was diese Lastautos mit den eisernen Trägern für'n Krach hier unter der Eisenbahnbrücke machen? Hier hört langsam das Individuum auf und die Menge beginnt. Weißt du, daß da unten ein Tunnel unter der Anhalter Bahn durchgeht? Das wissen die wenigsten. Das war mein Schulweg. Den bin ich immer langgerannt, und der Widerhall hat mir in die Ohren gegellt, denn ich bin fast immer zu spät gekommen und habe dann nachsitzen müssen. Die Häufigkeit des Zuspätkommens ist proportional zur Länge des Schulwegs. Na ja, da sind wir also schon. Warten wollen wir nicht lassen. Wir wissen ja nicht, ob wir gleich herankommen. Siehst du, so etwas galt mal vor fünfundzwanzig Jahren als fürstlich. Die Zimmer sind auch Reitsäle. Damals glaubte man noch, es ist Architektur, wenn man eine Schürze voll nackter Jünglinge und Weiber nähme und sie klatsch klatsch gegen die Fassade und aufs Dach schmiß und vor allem gegen die Kuppel ... Kuppeln waren damals das Wichtigste, ganz gleich ... wo sie da hängen blieben.«

Also Ruth ist eigentlich wieder ganz mobil (wie habe ich sie doch ohne Protest hierher geschleppt! denkt Fritz Eisner) und sagt, sie brauchte eigentlich gar nicht heraufzugehen. Sie hätte gar keine Schmerzen mehr.

»Na, ruh dich einen Augenblick vorher aus«, sagt Fritz Eisner. »Also siehst du, Nuck, solange ich dies Haus kenne, ist hier der Laden ›Zur entweihten Ölfarbe‹ mit seinen Dackeln und Fjorden und Wein trinkenden dicken Mönchen, spinatgrünen und bronzeroten Buchenwäldern und neckischen Maderln, denen der Försterbua in alle Backen kneift, und außerdem mit der Elfenbeinschnitzerei ›Venus züchtigt Amor‹. Wenn mal die gesamte Kunst in Deutschland zu Grabe getragen sein wird und der letzte Kunsthändler Selbstmord genommen haben wird, wie Fränze als Kind immer sagte, dann wird dieses Geschäft noch in Glanz und Glorie bestehen. Und da ist die ›vornehme Fremdenpension‹ auch wieder. Nichts hat sich hier geändert. Sei vorsichtig mit der Marmortreppe. Da liegen noch immer keine Läufer. Sie waren mal rot wie ein Kaiserthron, denn es war ein sehr vornehmes Haus hier ehedem.«

Fritz Eisner atmet doch auf, wie er Ruth oben hat. Denn sonst ist es wahrlich nicht leicht, etwas gegen ihren Willen bei ihr durchzusetzen. Und vor allem dem Arzt gegenüber simuliert sie gern die Gesunde und weicht ihm, wo sie es kann, im Bogen aus.

Auf den Gedanken, daß Ruth vielleicht froh war, daß sie ihr Mann hierher geschleppt hatte, weil sie wirklich heute vormittag kaum noch hatte krauchen können und sie bei jedem Schritt da oben links, wo es ihr schwer wie eine Kanonenkugel zu sitzen schien, einen schneidenden Schmerz gehabt hatte, und daß es ihr so ihrem Manne gegenüber viel lieber war ... da ängstigte sie ihn nicht, sondern er war nur der überflüssigerweise Übervorsichtige gewesen – auf den Gedanken war Fritz Eisner während der ganzen Fahrt gar nicht gekommen.

Und dann kommt Doktor Spanier und freut sich sehr mit Fritz Eisner. Ahnte aber schon irgendwie, daß er jetzt in Berlin wäre. Und freute sich sehr, Ruth kennen zu lernen. Sie sollten drin eine Tasse Tee trinken. Er käme einen Augenblick, um sich zu ihnen zu setzen. In einer halben Stunde würde er dann mal sehen, was bei dieser jungen Frau eigentlich vorläge. Aber sie sähe ja vorzüglich aus. Das wäre sicher bedeutungslos. Das wichtigste für den Arzt wäre der erste Eindruck, und der ist – Doktor Spanier küßt Ruth die Hand – durchaus günstig.

Doktor Spanier ist, denkt Fritz Eisner, der aus unserem alten Kreis, der in den fünf Jahren am meisten grau geworden ist. Ja, fast weiß ist er geworden. Und da er sein Haar ganz voll und dicht behalten hat, fällt das stark auf. Dabei sieht er nicht alt aus. Er ist noch ebenso schlank wie ein Herrenreiter. Er und Lu (wie kommt sie eigentlich darauf, ihn Dju zu nennen?!) waren immer ein prachtvolles Paar in Größe und Schlankheit. Er ist nicht mehr so peinlich gepflegt wie ehedem. Sein weißer Arztmantel ist kein Seidenmantel, sondern einer aus Shirting, und sein Schlips ist nicht mehr mit soviel Sorgfalt gebunden.

Aber drinnen das Berliner Zimmer und der Salon davor ist nicht anders wie immer. Es ist ebenso in der Ecke auf dem Tischchen Tee gedeckt zwischen den breiten Rokokosesseln und mit dem Frankenthaler Geschirr, und auf dem Teewagen stehen die gleichen Köstlichkeiten wie ehedem, genau die gleichen bis auf die gerösteten Kartoffelscheiben, die gestern schon bei Lu standen. Die werden wohl immer zusammen bestellt von ihr. Nur daß das Mädchen – und auch das kennt Fritz Eisner seit Endlosigkeiten, hier ist es auch noch Tradition, Mädchen nicht zu wechseln – sie nicht ganz so raffiniert zur Schau zu stellen versteht. Kein Silberstück und keine Tasse in den Vitrinen ist zugekommen – denn Sammeln tat ja Lu, nicht er. Aber es ist auch nichts verschwunden. Auch hier ist die Zeit stehen geblieben und gefroren. Die ganzen fünf Jahre lang, da er und da auch Lu wohl, denn das war ja fast zur gleichen Stunde, diese Räume nicht mehr betreten haben. Dabei ist es ganz geschmackvoll und wirklich wohnlich. Wohnlicher sicher als die Von der Heydt-Straße.

Das Einzige, daß sonst der Teetisch meist für vier oder fünf gedeckt war und heute und hier und jetzt eben nur für einen noch. Die Teezeremonie aber wird hier immer noch gehalten. Und Doktor Spanier zieht vielleicht nur für sich allein den Cut an oder einen besseren Rock, als er gewöhnlich trägt. – Auch der kleine Buchara liegt da immer noch, den ich ihm mal, Geld war ihm nie beizubringen, denkt Fritz Eisner, eine Rechnung wenigstens für die Bekannten nie zu erhalten, den ich ihm damals, als er die ganze Nacht um mein kleines sterbendes Kind gekämpft hatte, dann wenigstens als geringen Dank für seine Mühe geschickt hatte.

Mit Hannchen habe ich hier gesessen. Damals war der Röntgenapparat ganz neu, als Doktor Spanier festgestellt hat, daß ihre Lunge angegriffen war, und jetzt sitze ich wieder mit Ruth hier. Rede, als ob nichts wäre, und warte, daß er kommen soll. Und wenn man sich die Illusion noch so vornehm vorspielt, es ist nicht nett, auf den Arzt warten zu müssen. Die Kehle wird einem trocken trotz Tee, und die Luft ist mit Elektrizität, die bis zur Entladung kribbelt, angereichert. Ach scheußlich! Man hat immer solch Ziehen in den Handgelenken und solch Nadelprickeln oben auf der Stirn. Die Ärzte haben zuviel Menschenschicksal in Händen!

Und dann kommt Doktor Spanier. Will sehr freundlich sein, ist aber zerstreut, etwas übermüdet, und sehr ironisch. Das hat er sich wohl angewöhnt. Über die Sache mit Lu ist er nicht ganz hinweg gekommen. Das einzige Thema, über das man mit ihm reden möchte, ist also tabu. Nämlich über seine Frau. Und sowie Fritz Eisner von Ruths Mißbefinden zu sprechen beginnt, springt Doktor Spanier ab. Spricht immer wieder von Heidelberg, den Professoren da und dem Neckar. Und schimpft auf die Medizin. Mit der Medizin wäre nichts mehr los. Besonders seine Spezialität wäre langsam unmodern geworden. Welcher gesunde Mensch hätte heute noch Tuberkulose?

Er versucht krampfhaft Konversation zu machen. Nebenbei ist er merkwürdig gut unterrichtet über Fritz Eisner und Ruth. Viel besser als sie über ihn. Und er ist bemüht, Ruth, die er immer wieder eigentlich wie ein Maler sein Modell, das er gerade zeichnet, mit einem leicht eingekniffenen Auge beobachtet, von allen Möglichkeiten, nur nicht von ihrem Mißbefinden jetzt sprechen zu lassen. Fritz Eisner hätte ihn gern unter vier Augen gehabt. Was zum Beispiel daran wäre, was Hannchen heute gesagt hätte. Aber er ist wie geölt und nicht zu fassen. Aber kaum hat er die Tasse Tee hinter gegossen, als er schon meint, ob sie nicht in das Untersuchungszimmer herübergehen möchten. Er möchte Fritz Eisner doch mal seine neuen Apparaturen zeigen.

»Ach nein«, sagt Ruth, »lassen wir ruhig den jungen Mann da draußen. Ich genier' mich sonst. Armer Jorry«, und das hat sie schon mal gesagt (alles wiederholt sich) damals, als Maud zur Welt kam, »du wirst ewig das Kind bleiben, das herausgeschickt wird, wenn die Großen unter sich sein wollen. Ach, sei nicht böse, dummer Kerl. Wenn ich mit dir zusammen bin, dann will ich auch nicht, daß ein Arzt dabei ist, aber umgekehrt wünsche ich es ebensowenig.«

»Ja also, aber wie können wir ihn inzwischen beschäftigen, den Meister? Da sind Zigarren, da sind schon die Abendblätter, und da kann er sogar eine Schachaufgabe lösen. Den Dreizüger habe ich nicht herausbekommen. Mit so etwas bringt man eine Viertelstunde am besten hin. Sehen Sie mal, ich habe den Läufer G3 versucht, aber da klappt eine Variante, wenn der König auf G2 geht, eben auch nicht. Oder ich hab sie noch nicht recht durchgerechnet.«

»Ach ja, Jorry, da hast du zu tun.« Jetzt ist schon der Arzt Ruths Verbündeter gegen ihn.

»Wir müssen überhaupt mal eine Partie Schach zusammen spielen.«

»Seit wann spielen Sie denn Schach, Doktor?«

»Ach nicht seit langem, so seit fünf Jahren ungefähr. Aber kommen Sie jetzt, junge Frau!«

Und dann klappt die Tür, und Fritz Eisner ist allein. Es ist ohne Zweifel weniger angenehm, auf jemand zu warten, den der Arzt gerade zwischen den Fingern hat und untersucht, als selbst zwischen den Fingern des Arztes zu sein. Denn der Arzt ist Gewißheit und die hat man nicht gern. Also die Schachaufgabe ist heimtückisch. Viel zu schwer, um sie ohne Brett zu lösen. Fritz Eisner steht auf, geht an die Vitrinen, geht von Bild zu Bild, drückt sich an den Wänden herum, fühlt bei jedem Schritt, wie die Sohle des Schuhs in den Teppich eindringt. Und atmet kurz. Er möchte sehr gern sein Auge auf dem kleinen Sisley ruhen lassen, denn er hat ihn als sehr schön, vor allem in der Luft, in Erinnerung. Eine Luft, die nicht still steht, sich bewegt, und die die ganze Tiefe des Himmels einem suggeriert. Hauchleicht, unerklärlich und geheimnisvoll. Aber es ist, vielleicht macht das die Beleuchtung, nur eine leere Fläche da, die irgendwie den Hintergrund bildet, plötzlich zu Ruths Kopf, der ihn deutlich bis auf die einzelnen Strähnen des Haares da aus dem Goldrahmen mit großen Augen anstarrt.

O weh, so etwas hat er öfter. Wenn er übermüdet, übererregt, überdreht oder schwer überarbeitet ist. Es kommt in einem Vor-Sich-Hinstarren, in einem plötzlichen Halbwachsein. Dann produzieren die Sehnerven das, was da unten unter der Schwelle des klaren Bewußtseins vorgeht, bei ihm nach außen. Er hat es, wenn er sich um einen Menschen sehr ängstigt, wenn er sich nach ihm sehr sehnt und wenn er ihn wohl zu verlieren fürchtet und wenn er ihn verliert. Er schätzt es nicht, daran erinnert zu werden, daß er das hat. Es ist ihm wie eine dünne Stelle Eis, die abgesteckt ist, und wo man einbrechen müßte, und um die der Schlittschuhläufer vorsichtig herumläuft. So ungefähr ist ihm das in seinem Dasein. Es ist ja auch gewiß dreißigmal nichts gewesen. Einfach eine Nervenüberspannung. Solch Berlin setzt ja doch einem Menschen, der seit Jahren an Ruhe wieder gewöhnt war, viel zu, so in den ersten Tagen. Will heute früh zu Bett und mich ausschlafen. Dann geht so etwas schon vorbei. Die Woche mal wenig tun. Habe doch in dem letzten Monat immer nur nachts gearbeitet. An so etwas merkt man, daß man runter ist.

»Na, nun wollen wir noch eine Tasse Tee trinken«, sagt Doktor Spanier, (hab sie gar nicht gehört, denkt Fritz Eisner) »kommen Sie, setzen Sie sich, Meister. Die Bilder kennen Sie ja alle. Es gibt nichts Neues bei mir. Nehmen Sie hiervon. Diese Knusperchen schmecken ganz gut. Ich weiß gar nicht, wo sie das Mädchen auftreibt. Die hat sie erst seit einiger Zeit.«

Doktor Spanier sieht Fritz Eisner von unter her an, sehr still und nachdenklich, und in diesem Augenblick und durch diesen Blick der Augen bekommt er wirklich eine Ähnlichkeit mit dem alten Ephraim Bonus, dessen Gesicht einen Rembrandt immerhin genug reizte, um es in Farben festzuhalten und in Kupfer zu ätzen. Ein sehr ernster und sehr erstaunter Mann, ganz nach innen gekehrt, dem man Grübeln und Mitfühlen des Arztes wie die spukhaften Träume des Kabbalisten wohl zutrauen konnte.

»Daß Sie sich darüber beklagen, wie mir Ihre Frau sagte, daß Ihre hübsche junge Frau zu wenig ißt, wundert mich gar nicht. Denn die Milz ist ...«

»Wozu dient die Milz?«

Doktor Spanier gibt sich Mühe, burschikos zu sein. »Weeß ich auch nicht. Geht mir nischt an, Meister. Also die Milz ist ungewöhnlich stark, vor allem nach dem Magen hin vergrößert, so daß sie die Lage des Magens, vor allem des Magenpförtners, schon beeinflußt hat und ihn zusammendrückt (so scheint es mir wenigstens). Nun habe ich, so etwas wirkt manchmal Wunder, im kleinen Feld die Milz, ich kenne da die Dosierung genau, trotzdem es ja eigentlich eine seltene Sache ist, bestrahlt. Deswegen hat es auch ein bißchen länger gedauert. Und da wollen wir in zwei Tagen mal sehen, ob sie zurückgegangen ist. Gott, sonst habe ich eigentlich nichts gefunden. Wenigstens nichts von Belang, Meister. Naja, mit dem Fleck an dem Oberschenkel muß sie vorsichtig sein. So etwas kann doch mal leicht eine Trombose geben. Damit muß sie sich natürlich ruhig verhalten, und darum wollen wir sie mal achtundvierzig Stunden ins Bett stecken. Aber nicht als Kranke, sondern nur als Bettschönheit.«

»Haben Sie darauf geachtet«, sagt Fritz Eisner, »wissen Sie, meine Frau hat früher so ganz weiße und gleichmäßige Hände gehabt, und jetzt hat sie plötzlich seit einigen Wochen so starke Adern bekommen.«

»Nein«, sagt Doktor Spanier erstaunt, »aber greifen Sie doch noch zu, Meister«, und damit nimmt er die Hand und beugt sich einen Augenblick darüber und bekommt (aber Fritz Eisner kann sich auch täuschen) nur den Bruchteil einer Sekunde, bekommt er sehr starre Augen. So als ob ihm das Herz plötzlich einen Schlag lang aussetzt. Aber dann beugt er sich vor und küßt galant wie ein alter Chevalier die Hand da in der seinen.

»Unsinn«, sagt er, »ich wünschte uns beiden, Ihnen und mir, Meister, wir hätten so süße Pfötchen! ... Warten Sie mal, wo wohnen Sie doch? Richtig, ach, das trifft sich famos gerade. 65, das ist noch weiter oben als Sie, da muß ich noch einen Besuch machen. Ich nehme Sie dann gleich in meinem Wagen mit raus. Ich muß nur noch drin Matschke etwas sagen. Sie können sich immer schon fertig machen. Ich nehm' keinen Mantel. Natürlich muß, wie ich schon sagte, Ihre Frau zwei Tage liegen. Heute ist Mittwoch. Am Freitag um die gleiche Zeit will ich sie mir mal ansehen, ob die Milz zurückgegangen ist. Das erstemal ... ja, was ich noch sagen wollte; wo sind Ihre schönen Sachen? Haben Sie die alle in Ihrer Wohnung oder ist da noch ein Teil davon im Haus bei Ihrer ersten Frau geblieben? ...«

»Ich werde hier bald durch alle Autos meiner Freunde durch sein«, sagt Fritz Eisner, »das ist ein Steyrwagen, nicht wahr?«

»So«, meint Doktor Spanier, »wer hat Sie denn schon alles hier herumkutschiert?«

»Ach«, sagt Fritz Eisner, »vor allem denke ich da ... denke ich da zuerst an den Studebaker von Gumpert, und dann, Landshoff hatte einen deutschen Wagen, und dann hat mich mein alter Freund Rosenemil gefahren, ich habe doch immer so vornehme Freunde und hohe Beziehungen gehabt.«

»Ach ja«, ruft Doktor Spanier und lacht, »das ist doch der mit der altdeutschen Trinkstube. Ich weiß von Paul Gumpert schon. Ich bin im Bilde.«

»Einen ›schnittigen Chrysler‹. Ja, und dann – dann bin ich auch einmal ... (nein, von Doktor Groß ist hier besser nicht reden) mit einem sehr klapprigen Taxi und mit einem sehr schönen Herrschaftsauto, das zum Taxameter degradiert war, den ganzen Kanal lang gerast.«

»Ich fürchte, ich fürchte, es werden viele von den schönen Autos, die uns hier überholen, und die uns entgegen sausen, bald den gleichen Weg gehen. Es sieht nicht rosig aus in Berlin. Das ist schon nicht mehr Umschichtung. Bei Umschichtung kriegen die einen das Geld, das vorher die anderen hatten. Das riecht nach Katastrophe. Da hat's zum Schluß keiner.«

Ruth sagt daß es ihr vorzüglich ginge, und sie keine Schmerzen mehr hätte. Und auch das gespannte Gefühl da so herum, also wo Lucretia bei Cranach mit dem Dolch hantiert, überhaupt schon weg wäre. Wozu sie denn im Bett bleiben sollte?

»Weil Langeweile eine der wichtigsten Medizinen ist, junge Frau«, sagt Doktor Spanier. »Ich glaube, es ist das Beste, wieder bis zur Corneliusbrücke vor und dann den Kurfürstendamm herunter. Jedenfalls ist es das Amüsanteste und das Weltstädtischste. Und ich muß doch so armseligen Provinzlern was bieten. Also es sieht zwar hübscher aus, wenn die vielen Menschen wie heute auf den Straßen sind, aber mir ist es lieber, wenn es wenig sind. Man braucht nicht so aufzupassen.«

Hier, denkt Fritz Eisner, müßte ich doch eigentlich aussteigen und mal sehen, ob ich den Alten mit der Sammetjacke in dem Haus da drüben oder war es das nebenan – ich habe mir nicht mal die Nummer gemerkt, aber ich fände es schon – auftreibe. Aber was kann man für ihn tun? Man kann ihm einen Hundert-Millionenschein in die Hand drücken, und dafür kann er sich ein Brot und einen Zwieback kaufen, und wenn das aufgegessen ist, wird es genau wieder ebenso sein. Zu helfen ist ihm doch nicht mehr. Wenigstens ich kann es nicht. Wir sind alle heute eigentlich hoffnungslose Fälle. Und vor allem kann ich jetzt nicht hier aussteigen. Ich weiß doch gar nicht, wie das mit Nuck wird. Wie ihr die Bestrahlung bekommen ist. Und wie sie darauf reagiert. Denn das strengt doch den Körper an.

Aber Ruth ist sehr vergnügt Erstens sagt sie, sie hätte einen Bärenhunger und das Gefühl hätt' sie seit zwei Monaten nicht mehr gekannt, und zweitens wäre ihr hier schon leichter. Und sie erzählt eine lange Geschichte von ihrer Großmutter, wie die 1856 nach Paris gefahren wäre und immer geklagt hätte die ganze Zeit in Paris, sie hätte solchen Druck vorm Magen. Und wie sie wieder abreisen wollten, da hat sie plötzlich gesagt: Jetzt wäre der Druck vorm Magen weg. Und da wäre es ihnen aufgegangen. Der Großmutter und dem Großvater. Es ist nur von der Ledertasche mit den Louisdors gekommen, die sie, weil es da sicherer war, als Reisekasse an einem Band um den Hals trug. Und da die Tasche jetzt so gut wie leer war – hatte sie eben auch kein Magendrücken mehr.

So etwas serviert nun Ruth über alle Erwartungen charmant. Und der Doktor Spanier, der nicht gern und nicht oft lacht, lacht, daß es selbst den Straßenlärm für einen Moment übertönt, und wendet sich dann – er sitzt am Steuer und muß ja aufpassen – einen Augenblick doch zu Ruth zurück und streift sie mit einem sehr merkwürdigen Blick. Und plötzlich durchzuckt es Fritz Eisner. Er versteht diesen Blick: Solch reizendes Geschöpf, heißt er, und so schwer krank.

Doktor Spanier bittet Ruth, aufzuhören. Er möchte nicht vor Lachen eine Laterne umfahren. Und sie sollte das auch lassen mit dem Lachen. Vor allem nicht heute, sonst könnte man die schönste Blutung kriegen.

»Ach«, ruft Ruth, »Männer fürchten sich immer gleich vor einem bißchen Blut«.

»Blut ist ein ganz besonderer Saft«, sagt Doktor Spanier sehr nachdenklich. »Erstens wissen wir nicht, was es ist, und zweitens ahnen wir nicht, was alles drin ist Wenigstens noch nicht«

Und wie er das sagt, daran merkt man doch, daß er die junge Frau da hinter sich in den zwei Stunden, da er sie kennt, fast lieb gewonnen hat, mit einer Zuneigung, die auf einem tief mitleidigen Quosque tandem fußt und die wohl nur der sehende Arzt ganz kennt. Dieser Doktor Spanier da am Steuer ist nicht mehr der gleiche, der Ruth da vorhin am Teetisch die Hand küßte, genau so wie er das jeder schönen Frau tut.

»Also da drüben brennt schon das ganze Haus vor wildem Wein. Das ist es«, sagt Fritz Eisner.

»Sie wollten ja noch weiter.«

»Ach, ich komme einen Augenblick zu Ihnen noch rauf. Da kann ich auch 'ne halbe Stunde später hin. Ich will als gewissenhafter Arzt erst sehen, ob meine Verordnungen befolgt werden. Und daß die junge Dame auch zu Bett geht Dann kann ich nochmal abtasten, ob sich die Spannung schon etwas behoben hat. Und dann will ich auch mal von Ihnen aus telefonieren. (Ruth ist schon auf das Haus zugegangen.)

Es ist ganz gut«, setzt Doktor Spanier halblaut hinzu, »wenn Sie jetzt ein paar Sachen im Haus haben. Es kann nach solcher Bestrahlung auch mal 'ne unangenehme Überraschung geben. Aber was anderes konnte man nicht tun. Es muß nicht, es wird nicht, aber man muß Vorsorgen. Also ich lasse Ihnen jedenfalls ein paar Sachen aus der Apotheke auf meinen Namen kommen. Dann ist es billiger. Und die lassen wir unausgewickelt liegen, und gebe Gott, daß wir sie nie brauchen. Sehen Sie mal, jetzt haben wir doch durch die Bestrahlung, die die Milz zurückbilden soll, mit einer großen Überschwemmung von Flüssigkeit in das Blutsystem zu rechnen. Und bei dieser Brüchigkeit der Wände, der erweiterten Blutgefäße, nicht wahr, da ist es schon besser, Meister, wir sind ein bißchen vorsichtig, damit wir, wenn Not am Mann sein sollte, keine kostbare Zeit zu verlieren brauchen. Das Paket darf natürlich ihre Frau nicht sehen. Sonst denkt sie schon wer weiß was.«

»Halten Sie es denn wirklich für ernst, lieber Doktor?«

»Im Augenblick, nein. Aber Sie werden sich im ganzen damit abfinden müssen, daß Sie eine kranke Frau haben. Aber das kann Ihnen nichts Neues sein. Krieg ist ebenso ein Zustand wie Frieden. Und Krankheit ebenso ein Zustand wie Gesundheit. Die Hauptsache ist, daß man sich dem anpaßt.«

Ja, und dann ruft sie Ruth herein. Sie hat schnell im Schlafzimmer Wohnlichkeit zaubern lassen von Käte, mit einer der Stehlampen aus dem Salon mit dem purpurroten Seidenschirm mit Troddeln wie ein Balletröckchen. Liegt da im Bett wie ein Reznicek aus seiner allerbesten Zeit, bevor er noch kitschig wurde. Und sie hat ihr allerbestes Hemd aus rosa Seide schnell herausgeholt, das mehr Durchbruch als Spitzen und mehr Spitzen als Seide hat. Und Fritz Eisner und Doktor Spanier sitzen, der eine am Kopfende, der andere am Fußende, neben ihr am Bett. Sie wünscht das Telefon ans Bett und hat schon den unumgänglichen Schreibblock am Nachttisch. Und gleich sechs Bücher, die sie alle auf einmal lesen will. Ferner Brötchen mit Wurst und einen Teller Suppe noch von Mittag. Und Obst in »rauhen Mengen«, wie die Herren Korpsstudenten gerne sagen.

»Na ja«, meint Doktor Spanier, »ich sehe, es geht der Patientin gut. Also fahren Sie so fort. Haben Sie Appetit zum Essen? sagte immer unser alter Hausarzt und hatte dabei so den Kneifer auf der Nasenspitze. Lachen Sie nicht. Auf Hausärzte laß ich nichts kommen. Die wußten mehr als wir. Die kannten wenigstens die Leute, die sie behandelten. Wir sind Chemiker und Feinmechaniker geworden, die ein paar Griffe gelernt haben und ein paar Analysen machen, und haben keine Ahnung von dem Material, das wir in die Finger gespielt bekommen. Und wie es reagiert. Und worauf wir bei ihm achten müssen ... Die wußten das genau. Denen war noch der Mensch die Hauptsache. Und uns ist es die Krankheit. Und dadurch hat sich eben irgendetwas zu unseren Ungunsten verschoben.«

Aber während Doktor Spanier so spricht, streicht er mit sehr leisen Fingern dort Ruth über den Leib, wo das rosa Hemd von Durchbruch und Spitzen in Seide übergeht.

»Also der Appetit ist ja gut, und die Spannung hat da jedenfalls nachgelassen. Man hatte es ja von außen, sogar durch das Kleid gesehen, wie es sich vorwölbte. Ist das Ihnen nicht aufgefallen, Eisner? Mir auf den ersten Blick. Also Sonnabend um fünf, wenn ich bitten darf. Nicht Freitag, lieber Sonnabend. Da seh ich schon mehr. – Ihr Mann kann – wir brauchen ihn zwar nicht bei unserm tête-à-tête – auch mitkommen. Sonnabend hab ich nämlich wegen des Krankenhauses, na ja, ich bin da endlich Konsularius für TBC geworden, sowieso nachmittag keine Sprechstunde. Und da können wir dann eine nette Partie Schach spielen, Meister. Es geht ja alles vorzüglich. Zur Beunruhigung liegt gar kein Grund vor. Also auf Wiedersehen, junge Frau! Warum haben wir eigentlich so spät miteinander Bekanntschaft gemacht? Wie kann man sich mit sowas, Meister, auf ein halbes Dorf verkriechen? Witz und Schönheit sind gesellige Kräfte, sagt Jean Paul, aber jetzt lassen wir Sie hier so bald nicht wieder fort, nicht wahr?«

»Ach Gott«, sagt Doktor Spanier, als ihn Fritz Eisner dann zur Tür bringt, »sie brauchte natürlich gar nicht zu liegen. Ich habe das nur vorgeschoben. Aber ich habe Angst mit dem Fleck da. So etwas hab ich bei einer leichten Kontusion, und mehr ist es doch nicht gewesen nach der Beschreibung Ihrer Frau, in meiner langen Erfahrung als Arzt kaum je gesehen. Da ist es schon besser, sie hält sich ruhig, bis es sich so ungefähr aufsaugt. Eine mir rätselhafte Geschichte, Meister. Und wenn Sie mich ernstlich fragen, mit der Milz, das versteh ich auch nicht. Das muß irgend 'ne ganz seltene Sache sein. Wie die Jugendkrankheit, von der sie mir da erzählt hat. Aber das geht uns ja alles im Augenblick gar nichts an. Die Hauptsache ist, daß wir die Milz jetzt erst mal zurückkriegen. Daß Sie ein bißchen nett zu Ihrer Frau sein sollen, brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu sagen. Beobachten Sie sie nicht. Reden Sie nicht mit ihr von Kranksein. Sie soll sich vollkommen gesund fühlen. Und es wird ihr ganz gut gehen. Beschwerden wird sie kaum noch haben. Nein, das wohl kaum. Es geht ... also auf Wiedersehen, Meister!«

Angelogen hat er mich auch. Er fährt gar nicht nach 63, denn er fährt nach der anderen Richtung davon. Daß Ärzte doch immer so vorzüglich lügen können. Auch darin muß man wohl die Technik erst lernen. Was hat er eigentlich mit dem letzten Satz sagen wollen, denkt Fritz Eisner, während er aus dem Fenster dem davonflitzenden Auto nachsieht. Wie kann man ihn fortführen? Es geht ... es geht ... es geht ja gut, nicht wahr? Oder es geht nicht ... oder es geht mal ganz plötzlich, – Unsinn, so etwas zu sagen, ist ein alter Arzt viel zu raffiniert. Und es ist ja auch nicht wahr, wenn man Ruth so sieht. Schwerkranke Menschen schauen anders aus. Und sind vor allem anders. Nicht derart lebensgefüllt wie sie. Da haben wir beide doch schlimmere Sachen schon zusammen durchgemacht. Wenn ich damals an die erste Münchner Zeit denke, diese ersten Schwangerschaftsmonate mit den ewigen Ohnmächten. Wie ich Wochen – einmal zehn Tage lang – nicht aus ihrem, na ja, es war ja auch unser Zimmer, nicht aus ihrem Zimmer und nicht aus den Kleidern gekommen bin. Da werden die achtundvierzig oder zweiundsiebenzig Stunden auch noch vorübergehen. Ich habe da schon genau soviel Technik drin wie ein alter Arzt im Lügen. Käte soll Schnittblumen kaufen, soviel sie noch kriegt. Was es gibt. Gladiolen und Goldball und Dahlien und vor allem die kleinen kupferfarbenen Chrysanthemen. Die machen ein Zimmer freundlich. Und dann allerhand Schokolade und Ingwer und Dinge zum Knabbern. Und ein paar nette Bücher. Und gute Zigaretten. Ich werd mir die Maschine hereinholen, und so werden wir schon über die achtundvierzig oder zweiundsiebenzig Stunden Stubenarrest hinwegkommen. Jedenfalls aber soll Käte das Paket von der Apotheke gut im Hintergrund verstauen, damit's die Frau nicht etwa findet.

Wie Fritz Eisner jedoch wieder hereinkommt, hat Ruth heimlich verweinte Augen. Aber sie sagt, daß sie das mit Paul Gumpert eben aufgeregt hätte. Aber Fritz Eisner beruhigt sie und erklärt ihr, daß es nicht nötig, ja sogar ganz und gar unnötig wäre.

Komisch! Man redet doch immer um die Dinge herum, wie die Katze um den heißen Brei tänzelt. Warum will man immer Andere nur etwas glauben machen, was man selbst nicht glaubt. Das geht doch schon seit Jahren so, sagt sie sich. Es wird nicht besser. Ich bin doch nun wie ein Stein, der den Berg herunterrollt. Einmal muß er unten ankommen. Und je näher er dem Ziel kommt, desto schneller rollt er eben. Ich bin ein junger Mensch, der gern lebt. Aber ich glaube es nicht mehr, daß ich noch lange leben werde. Der Doktor Spanier ist nett und lieb. Sie sind alle lieb und nett zu mir. Vielleicht netter und lieber als ich zu ihnen bin. Aber endlich wird er mir auch nicht helfen können. Und du bist ganz gut zu mir, alter Kerl. Aber was nützt das alles? Ich werde am Schluß eben dann doch allein gehen müssen. Aber jetzt werd ich mir die Augen wischen und werde gut zu dir sein, und werde hübsch aussehen, und werde zu meinem Mann ganz besonders freundlich sein. Was soll er sich denn ängstigen? Der ahnt sicher gar nichts. Und ich werde Briefe schreiben, daß es mir hier herrlich geht, an die Leute, von denen wir uns doch hätten eigentlich verabschieden müssen. Und ich werde jeden Tag wenigstens dreimal mit Maud telefonieren, und sie wird ins Telefon piepsen: Tag, Mutti, wie geht es dir? – Und sie wird mir einen Schmatzkuß durch das Telefon geben.

Und Jorry wird mir aus Büchern vorlesen, was ihm so gefällt. Und wir werden darüber sprechen und tun, als ob das der Inhalt des Lebens ist. Und ich werde eingeladen werden. Und ich werde tanzen mit allerhand glattgescheitelten Boys, und in vier Wochen werd ich wieder auf der Nase liegen. Und ich werde in Versammlungen gehen und man wird mich in Comités wählen, und ich werde zweite Beisitzerin sein, und in vier Wochen wird mir das Blut aus dem Mund laufen. Und ich werde so tun, als ob das gar nichts ist. Nur damit der alte gute Jorry sich nicht aufregt. Und die Herren werden mir Schmeicheleien über seine Bücher sagen, weil sie mich damit zu gewinnen hoffen. Und ich werde dabei denken, es wäre mir besser, wenn ich jetzt ganz ruhig und langgestreckt liegen könnte. Das Leben wäre ja ganz erträglich, wenn man nicht mit seinem eigenen Ich so unlösbar auf Gedeih und Verderb verknüpft und verbunden, verraten und verkauft wäre.

In einer Stunde ist das alles wieder sehr hübsch und mollig und ich werde ganz weich und freundlich und witzig ... das hat er gern, ›der Schmetterlingsstaub auf den Flügeln des Geistes‹, sagt er ›... sogar witzig werde ich sein. Ich werde tun, als ob ich alles vergessen habe, und innen, da ganz drin, da wird es eben doch immerzu fragen: wie lange noch? wie lange noch?‹

Und genau so kommt es. Ruth ist lustig, kullert sich sogar im Bett herum, daß Fritz Eisner sie beschwört, an den Arzt zu denken, schreibt zahllose Tapetenmuster von Briefen auf angezogenen Knien, sieht hübsch aus und weiß es, macht tausend Dummheiten und redet zehntausend Klugheiten. Schmerzen hat sie nicht. Gar keine. Eigentlich ist sie doch überhaupt quietschfidel und ganz gesund. Sie suchen sich in Goetheversen gegenseitig zu übertrumpfen. Ruth hat dabei besonders schwierige sich besonders eingeprägt: ›Ein Dulbend war's, der Alexandern in Schleifen schön vom Haupte fiel‹, ›und jenen Folgekaisern allen andern‹ und »du allumklammernde, dann seh ich dich«.

Fritz Eisner liebt es ja überhaupt als Büchermensch, wie er ja nun mal einer geworden ist, so vierundzwanzig oder achtundvierzig Stunden oder noch länger mal nicht vor die Tür zu gehen, ganz gleich, wie das Wetter sein mag. Und er fühlt sich ganz wohl dabei. Nein nein, ein Opfer ist es für ihn wirklich nicht.

»Siehst du, Jorry«, sagt Ruth plötzlich, »in dem Bett hier, das hat da am Kopfende die hellere Mahagonileiste, die ist mal ersetzt worden, bin ich zur Welt gekommen, und in dem Bett hier werde ich auch mal – jeder muß zum Schluß auch mal ohne sich selbst auskommen – sterben. Wann, ist auf der Redaktion des Blattes zu erfahren.« – Dann ist sie wieder bei den schwierigen Versen: »Wanderer, gegen solche Not, wolltest du dich sträuben, Wirbelwind und trockenen Kot, laß sie drehen und stäuben.«

Eigentlich hat Fritz Eisner auch ganz vergessen, welche Wolken sich da zusammenballen, denn man lebt ja doch nur in der Stunde. So nett sind sie lange nicht zusammen gewesen. Käte bringt das Essen ans Bett. Alle Mittag, früh und abends, muß Maud anrufen, daß es ihr gut geht. Und sonst ist es wie ehedem, wie vor sechs Jahren hier, als von dem Kind noch nicht die Rede war. Sie wissen aber, daß sie es haben, und das ist immerhin ein tröstlicher Gedanke.

»Nichts ruiniert Ehen so wie Kinder«, das ist eines der bon mots, die Ruth startet. »Es sei denn Kinderlosigkeit!«

Ruth studiert nicht mal die Zeitungen, läßt sie sich aufhäufen. Dabei muß Käte ihr Zeitungen aller möglichen Richtungen immer anschleppen. Sie will von der Welt da draußen nun mal absolut nichts wissen. Sie hält Reden über die Sitte verschiedener Indianerstämme, bei denen der Mann sich ins Bett legen müsse, wenn die Frau ein Kind bekommen hätte, und Beileidsbesuche empfinge – (also immer verspreche ich mich:) Beifallsbesuche empfinge – und das Merkwürdigste daran, daß die Frau dort doch das Wochenbett gar nicht kennt.


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