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Kapitel XIII

Souper macabre

Als Fritz Eisner am nächsten Morgen mit etwas dickem Kopf erwachte, denn die Freundin Edith hat einen ihrer Freunde von Mixer in der lauschigen Likörstube freie Hand gelassen, und er hatte jedenfalls die teuersten Schnäpse, aber sicher nicht die besten gemischt ... und da unten hatte er außerdem wie in einem Vogelbauer geschlafen und hier wie in einer Zigarrenkiste, denn man konnte die Fenster nicht aufmachen die Nacht über, weil es so lärmte und staubte ... als er die Augen aufriß, brauchte er eine ganze Weile, bis er in die richtige Wirklichkeit zurückkam.

Aber seltsam! Ganz so schwer wie gestern war es doch nicht mehr da drin bei ihm, denn die menschliche Art ist sehr eigentümlich: wenn man weiß, daß jemand mit einem geladenen Revolver hinter einem steht, der unweigerlich losdrücken wird (nur der Zeitpunkt ist nicht bestimmt), so erschrickt man bis ins Mark hinein. Aber wenn der Abend herumgeht und der Morgen und voraussichtlich noch lange Wochen und Monate, so wird er zwar nie mehr ganz dieses unheimliche Gefühl der auf ihn gerichteten Stahlmündung los werden, aber allgemach wird ihn trotzdem das Leben wieder aufnehmen, und es wird sehr schnell wieder die Führung übernehmen. Und das wird nur eine leise und immerwährende Begleitung zur ersten Violine sein, die ja das Leben stets zu spielen begehrt und erzwingt.

Alle Menschen sind ja zum Tode verurteilt. Auf ungewisse Frist vorerst. Immerhin, es ist nicht hübsch, es zu wissen. Und es ist noch weit weniger hübsch, wenn man es von jemand weiß, auf dessen Dasein man sein Herz eingestellt hat wie eine Uhr nach der Sternwarte. Und doch will man es eigentlich immer wieder nicht glauben und verdrängt es immer wieder für Minuten und bald für Viertelstunden in sich.

Nein, Potsdamwetter ist nun heute nicht. Es ist etwas grau. Es fisselt manchmal, und abgefallene nasse Blätter liegen platt auf dem Gesicht über die nassen Granitplatten der Straßen hin. Merkwürdig, trotz der warmen Tage ist es draußen doch herbstlicher geworden. Es sprüht aus schnellziehenden Wolken, die zerflatternde graue Nebelfetzen nachschleifen (fast bis zu den Dächern und Schornsteinen herunter), unregelmäßig wie aus einer schlecht geschlossenen Brause. ›Da war es schon eher Museumswetter‹, schlägt Fritz Eisner vor. Aber für Museen ist Ruth nicht. Man bekommt in Museen immer so schwere Füße, sagt sie. Und das ist richtig. Auch müsse man noch warten, bis man mit Maud sich unterhalten könne. Denn es wäre besser, sie nicht zu besuchen, weil sonst das Kind sicher gleich mit ihr mitwollte, und sie wollte sie doch erst holen, nachdem man sich hier so'n bißchen eingelebt hätte. In den Tagen jetzt hätte sie sie ja doch nicht brauchen können. Und sie wäre heilfroh gewesen, daß sie nicht da gewesen wäre. Mitte nächster Woche, vielleicht Donnerstag, wolle sie Maud im Triumph heimführen. Denn endlich fehle das Kind ihr ja doch, trotzdem Jorry sich alle Mühe gäbe, in zweiter Besetzung dafür einzutreten. Er mache es zwar ganz gut, aber das Richtige wäre es doch nicht.

Lu sagt am Apparat, daß Maud reizend wäre und ihr viel Freude mache. Ein echtes Kind. Sie hätte sie wirklich lieb gewonnen. Nur hätte sie noch etwas rustikale Umgangsformen. So hätte sie am Goldfischteich gestern die kleine Silbermann, als sie ihr ihre Puppe nicht geben wollte, angespuckt. So daß sie. sich bei Frau Silbermann deswegen habe entschuldigen müssen. Das Kind meinte nebenbei, daß das bei ihr daheem de Kinner aach täten.

Ja, und dann hätte sie sich heimlich zwei Butterkügelchen vom Teetisch gestohlen, und sie ihrer Käte-Kruse-Puppe in die Nase und ins Gesicht geschmiert, weil sie sie gestern im Regen auf dem Rasen hätte liegen lassen, und da hätte sich Lisbeth einen Schnupfen geholt. Also selbst Doktor Groß hat über das Kind gelacht. Sonst aber wäre sie ganz geliebt und äße vorzüglich. »Das heißt, nicht was die Manieren, sondern was die Menge anbetrifft. Aber ich seh Sie ja heut Nachmittag noch. Da will ich Innen mehr berichten. Jetzt ist wieder der ›Herr‹ Friseur da. Wollen Sie ein paar Karten zur Eröffnung des Lufthafens durch mich haben, Frau Ruth? Das ist gesellschaftlich sicher ein Ereignis. Nächsten Mittwoch. Also ich sag es nur dem Doktor. Er kann soviel haben, wie er will. Er ist ja mit dabei. Gewiß, ich vergesse es nicht. – Also heut Nachmittag. Na so um sechs. Vorher bin ich bei den Bulgaren zum Diner. Haben Sie noch was von Paul Gumpert gehört? Ganz Berlin spricht nebenbei schon von der Versteigerung. Also der kleine Geertgens ten Jans und der kleine Tiepolo! Na, dann wird Doktor Groß den Geertgen aufs Korn nehmen lassen. Und Landshoff kann den Tiepolo steigern lassen. Kommt auch hin heute?! Das freut mich! Ein netter Kerl. So urwüchsig. Haben paar Tage im Bett gelegen? Na, sowas kommt bei uns Frauen ja manchmal vor. Also seine Majestät, der ›Herr‹ Friseur wartet. Sie machen wenig mit Ihren Haaren? Na ja, wenn ich Ihr Haar hätte, hätt' ich es auch nicht nötig. Können Sie mir nicht verraten, wo man diese Sorte herbezieht?«

»Nein. Wir werden zuhause bleiben. Und werden uns einen guten Tag machen. Ich werde alle meine Kochkünste spielen lassen, – denn mit einmal macht es mir Freude – und dann werden wir ein bißchen lesen und Männerreden führen. Und so um fünf herum werden wir dann langsam wegbummeln und zu Fuß nach der Lutherstraße gehen. Der Sonntag ist ja sowieso verregnet.«

Fritz Eisner sitzt bei Tisch und sieht seine Frau an. Gott nochmal – dieser hübsche Mensch da! Es ist doch nicht zum Ausdenken. Und Ruth ist lustig und originell. Wirklich, solche richtige Stadtwohnung ist für den Sommer ein Unding. Aber wenn es draußen windet und regnet, wie heute, und die Scheiben sogar beschlagen, ist sie doch gemütlicher als eine draußen.

»Na«, sagt Ruth, »du siehst mich doch heute so verliebt an, alter Sünder. Ich kann auch noch sehr schön sein, wenn ich will. (Das sagt sie gern.) Paß auf, nachher mach ich mich fein. Du wirst sehen: die Konkurrenz wird platzen. Auch wenn ich nicht bei der Marbach arbeiten lasse wie die anderen.«

»Auch ich werde ein reines Chemisettchen vorbinden und die Manschetten umdrehen.«

Und Fritz Eisner vermutet gar nicht, daß Ruth ihm doch nur Komödie vorspielt (genau wie er ihr), damit er gar nicht ahnen soll, daß sie ... denn sie ist ja sehr klug und kombiniert nicht allein aus Worten, sondern aus Silben, aus einem leisen Versprechen, aus einem halben Blick schon ... daß sie genau weiß, daß sie nur noch eine Gefangene auf kurze Sicht ist. ›Wozu braucht das mein Mann vorher zu ahnen? Er wird es früh genug erfahren, wenn es nicht mehr zu verhehlen ist‹, sagt sie sich und lächelt ihn an: »Wie du zu einem Namen gekommen bist, begreif ich nicht. Du bist doch das Dümmste, das in dieser Welt ersonnen werden kann. Vielleicht nur, weil die anderen – außer mir! – noch dümmer sind.«

Und dann ruft, als sie nachmittag ... solch Tag im Morgenanzug und in Parisern hat ja auch seine Vorzüge ... sich etwas hingelegt haben und Ruth ein wenig eingedrusselt ist, sie schläft manchmal so plötzlich ein, wie ein überarbeitetes Schulkind ... Käte hat Ausgang ... ruft Paul Gumpert an. Seine Stimme klingt durch den Apparat ganz anders wie letzthin noch.

Er sollte nicht seiner gewohnten Weise gemäß so spät kommen, und ob sie es auch nicht vergessen hätten. Er müsse jedenfalls den Tisch belegen. Ab acht Uhr wären sie alle schon belegt. »Berlin fiebert und hungert nämlich.«

»Irrtum«, sagt Fritz Eisner, »es hummert! Das heißt, das ist auch nicht richtig. Der eine Teil hungert, und der andere hummert. Was sagen Sie zu dem Alten mit der Sammetjacke? Haben's gelesen? Ja? Tut mir doch auch wieder leid.«

»Also Sie sollen lieber ein bißchen früher kommen. Und wenn Sie noch jemand etwa mitbringen wollen? Vielleicht Ruths Freundin?«

»Um Himmelswillen!«

»Ja, Landshoff kommt auch.«

»Nein«, meint Fritz, »ich habe es nur Lu gesagt. Sie möchte ein bißchen mit hereinschauen. Sie muß dann ins Theater, und sie meint, sie freut sich sehr, Sie zu sehen.«

»Meister«, ruft Paul Gumpert, »also wenn ich nicht schon säße, würd' ich mich jetzt hinsetzen. An die Möglichkeit hab ich natürlich nicht gedacht, als ich den Doktor Spanier gebeten habe. Höchst peinliche Angelegenheit. Das ist aber sehr fatal!«

»Und mir nun erst, lieber Gumpert. Selbst wenn ich Lu noch erreichen könnte, was nicht der Fall ist, kann ich ihr doch unmöglich sagen: Liebe Lu, komm nicht. Dein dir rechtmäßig angetrauter Ehegatte kommt auch.«

»Duzen Sie sich denn mit Lu?«

»Ja, seit fünf Tagen ungefähr. Aber nur unter dem Vorbehalt, daß das Privatleben des andern jedem tabu bleibt und sich keine plumpen Vertraulichkeiten unter uns ereignen.«

»Ja, wie soll ich denn Doktor Spanier erreichen? Wollen Sie mir das anvertrauen, Eisner? Ich kann mich doch nicht auf die Halenseebrücke stellen und sehen, ob er da zufällig vorbeifährt. Und nachher kommt er dann über Lichterfelde rein. Also, also dann wird man einfach den, der zuletzt kommt, an der Tür abfangen und ihm sagen: Hören Sie, Ihre Frau oder Ihr Mann ist da! Stört Sie das? Allerschlimmstenfalls kann man natürlich auch nichts machen. Kommt ja oft vor, daß verfeindete Menschen, auch sogar Ehepaare an einem Tisch sitzen müssen. Schließlich sind wir ja sieben oder acht am Tisch. Da sind ja genug andere da, an die sie dann das Wort richten können.

Was macht Ihre reizende Frau? Sie sah doch neulich wieder zum Verlieben aus. Waren Sie noch lange oben mit ihr? Heute abend kommen sie aus dem Haus, die Sachen. Naja, die Leute wollen doch ihre Neugier befriedigen, und sie müssen dort gut gehängt werden. Sie können doch nicht durcheinander geschmissen werden wie Kraut und Rüben.«

»Danke, Ruth war ein paar Tage nicht wohl. Hat sogar gelegen, aber jetzt geht es ihr wieder ganz ordentlich. Wo sind Sie eigentlich? In Wannsee? Auch morgen der letzte Tag? Na, jetzt verlieren Sie ja nichts bei dem Wetter. Im Winter sind Sie ja nie viel draußen gewesen. Grüßen Sie doch Joli von mir.«

»Sie können es ihr selber sagen. Sie steht neben mir.«

»Ja, liebes Fräulein. Sie sollten Ihre Rolle durchs Telefon sprechen. Ihre Stimme klingt noch viel angenehmer so, als wenn man Ihnen gegenübersitzt.«

*

Und dann wacht Ruth auf und schmatzt ... das macht sie manchmal ... Erst so zweimal mit den Lippen, während sie ihren Mann anblinzelt. (Liebes, dummes, armes Tier, denkt er.) »Du«, sagt sie verschlafen, »hör mich an. Es ist jetzt Zeit, daß ich zur Weide getrieben werde. Dann will ich mich, also fertig machen.«

»Ja, Paul Gumpert hat eben angerufen. Wir sollen nicht zu spät da sein. Und denke mal, was ich angerichtet habe. Ich habe doch Lu gesagt, sie soll etwas herankommen, und Paulemann hat es doch dem Doktor Spanier gesagt. Das kann das geben, was man diplomatisch als ›peinlichen Zwischenfall‹ bezeichnet.«

»Ach«, meint Ruth, »das sollen die Leutchen mit sich abmachen. Ich würde mich an eurer Stelle gar nicht drum kümmern.« Und schon ist sie dabei, aus dem Kleiderschrank das Kleid, das passende, das man nie hat, doch noch herauszufischen. Und als sie es endlich hat, ist sie sich noch nicht klar, ob man dazu die goldenen Schuhe oder die »lila wildledernen« tragen soll. Fritz Eisner ist für das letzte, sonst könnte man sie auf der Straße für Aschenbrödel halten, die zu dem Prinzen auf den Ball will. Und Märchen und Prinzen liebt man nicht mehr. Dazu ist die Gegenwart zu real denkend.

Fritz Eisner muß sich noch schnell auf Befehl rasieren. Warum eigentlich: weder Lu noch Joli werden ihm einen Kuß geben. Er fände sich sehr schön.

Aber er ist immer noch zehn Minuten eher fertig als Ruth.

»Hast du auch Marley nicht vergessen?« sagt sie schon in der Tür. »Ach nein, ich wenigstens möchte das nicht erleben!«

Ein verregneter Sonntag war das bisher, aber jetzt klärt es sich. Die Nebenstraßen, durch die sie gehen, sind wie ausgestorben.

Also nun sieh einer an, was da für eine Kette von Autos schon hält. Da erkennst du wieder, in was für vornehmen Kreisen wir verkehren. Der Studebaker ist Gumpert. Das ist der von Landshoff. Richtig, ist ja doch Minerva. Ich möchte jetzt nicht in dem halboffenen Wagen morgen früh nach München karriolen. Das pustet einen doch durch und durch. Der pompöseste von allen, das ist Doktor Groß. Ei weh, und das! – Jetzt haben wir's! – ist der von Doktor Spanier! Also, Nuck, jetzt gibts noch 'ne famose Überraschung. Kennst du den Chrysler? Hast du den vielleicht eingeladen?: Rosenemil! Du meinst, es gäbe mehr solche Chrysler von dem Typ? Ja! Aber keinen, der die Nummer 17 189 hat. Die hab ich mir nämlich gemerkt, weil sie sich so leicht merken läßt, mein armer, alter Hund du.«

»Also Jorry, benimm dich hier auf der Straße. Und dann, iß drin nicht so viel. Das schickt sich nicht. Ich möcht überhaupt mit dir keine Unehre einlegen.«

Also drin ist es sehr gemütlich. Dicke Smyrnas, in denen die Tische fast ganz einsinken. Kleine Räume und Möbel, die nicht an die der Restaurants erinnern. Eine Riesenkognakflasche, die eine Geschichte hat, mit Inhalt von irgendeiner längst sagenhaft gewordenen Vorkriegsgüte. Ein Regal mit alten Kochbüchern von einer Finesse, daß Brillat Savarin dagegen nur der Vorsteher einer Massenspeisung ist. Das angenehme Halbdunkel einer guten Sonntagsnachmittagsstimmung um diese Zeit. Ein Bildnis des hohen Chefs, und er sogar selbst anwesend und besorgt um das Magenwohl seiner Gäste, diskret besorgt. Man redet von gutbürgerlich und bezeichnet damit einfaches, anständig fundiertes, solides Bürgertum ohne Aufmachung und Anreißerei. In dem Sinne könnte man es hier gutaristokratisch nennen. Man ist wie zuhause und ißt eben doch so wie man zuhause nicht ißt.

Richtig, da sitzen sie schon. An einem schönen langen Tisch gegen die breiten von dünnen Gardinen umwölkten Fenster und begrüßen Fritz Eisner und Ruth mit einigem Hallo, soweit man das hier wagt. Denn ein sehr unnahbarer Herr in Cut und breitgestreiften Hosen schreitet soeben mit Storchschritten und dem Gesicht einer beleidigten Bulldogge durch die Tische, um sich einen Platz zu suchen, der seinen Wünschen entspricht.

»Guten Tag, vornehmer Gast«, sagt Ruth halblaut »Komisch, wenn sie erst mal sitzen, sind sie nur noch halb so ekelhaft.«

Also da ist Landshoff und Paul Gumpert und Lulu, der den Examensfrack seines Vaters herausgegraben hat und nach Naphtalin riecht, ihn außerdem aber nicht ganz füllt und mit einem langen Hals aus dem Kragen herauswächst. Er erweckt zwangsläufig die Vorstellung eines Marabus. Lulu ist also auch erschienen. Am einen Ende des Tisches sitzt Lu neben Paul Gumpert und am andern Doktor Spanier neben Joli. Ein paar Tische weiter davon sitzt breit und allein und schon mit den Resten seiner Flasche Lorcher Kapellenweg und seiner fast leeren Bouteille Nuits, einem großen Kognak Spezialmarke des Hauses, und einer mächtigen Schüssel gemischter Früchte in dänischer Sahne beschäftigt ... er ist mit einem sehr smarten englischen blaugrauen Reiseanzug mit kleinen Würfeln angetan, und mit bauschigen Kniehosen über den karierten Sportstrümpfen (man würde das gar nicht sehen, wenn er nicht die Beine so weit von sich streckte) – sitzt also Rosenemil. Eine Reisemütze liegt neben ihm in einem Stuhl auf einem roten Baedekerband, keinem von den ganz dicken, sondern nur einem halbdicken Teilband. Also für eine schöne Gegend, in der es wenig zu sehen gibt

Rosenemil gehört zwar nicht zur Partie. Aber endlich ist er doch mit dem kleinen, dicken Herrn da, dem mit der Glatze, auch seit Jahren ganz gut bekannt, von früher her, – dem Herrn Gumpert. Und die anderen haben ihn infolgedessen auch gegrüßt. Er ist nicht gerade Verbündeter, aber sozusagen eine befreundete Macht. Man wechselt einige Worte mit so etwas, und dann geht jeder an seinen Tisch. So wird das gehalten.

Ruth setzt sich zu Joli. Und Landshoff und Lulu, der letzte verschlingt seine neue Tante mit den Blicken, bemühen sich um sie. Fritz Eisner jedoch denkt: es ist besser, du gehst mal an Rosenemils Tisch, als er kommt nachher an deinen. Man kann sich nun mal nicht von Leuten erst im Chryslerwagen mitnehmen lassen und sie nachher bei Horcher nicht kennen wollen. Und selbst wenn sie Rosenemil heißen.

»Ach, Tag, verkehren Sie hier ooch?«, sagt Rosenemil gemütlich, wie man es nach der zweiten Flasche nun mal ist. »Was sagen Sie dazu? Wolln Sie nicht ein bißchen platzen? Nee? Na, ick verstehe auch. Sie sind da drüben. Kann ich Ihnen ein Glas eingießen oder einen Kognak? Nee? Nicht vorm Essen? Det können Sie schon vorm Zähneputzen trinken. Ein idealeres Mundwasser wie den haben Sie noch nicht gesehen.«

»Sie sind im Reisedreß«, meint Fritz Eisner.

»Na ja, man muß sich doch ooch mal erholen. Des jefällt mir hier nich mehr. Ick mach jetzt mal erst nach Monte. Nachher werd ick sehn. Die Schlafwagenkarte hab ick schon. Heute abend. In anderthalb Stunden hau ick ab.«

»Ach, da beneid ich Sie«, meint Fritz Eisner.

Rosenemil schüttelt bedenklich den Kopf.

›Da klappt doch was nicht‹, denkt Fritz Eisner.

»Hör'n Se«, sagt Rosenemil plötzlich, »ick habe jehört, Sie sind gar keen Doktor. Sie sind doch een Buchmacher, Herr Doktor. Det stand ja in der Zeitung sogar. Über mir könnten Se och ein Buch schreiben. Ick könnt Ihnen erzähln. Det is, wie Sie sich das jarnich ausdenken könnten. Da dazu müßten Se bei uns jelebt haben. Denn kennt'n Se es (›Ja, soll das nun können oder kennen heißen‹, denkt Fritz Eisner). Aba ick sage Ihnen nur, de Brieder jetzt, det sind keene anständigen Kollegn. De haben keenen Korpsjeist. Aba Ihre kleene Frau kuckt schon mit so'ne Stielogen rüber. Die hat Sehnsucht. Ick will Sie jewiß nich aufhalten.«

Drüben am Tisch ist man im wichtigen Gespräch. Alle reden durcheinander. Die Stimmung ist trotzdem frostig, und Lu und Dju sehen und schweigen ostentativ aneinander vorbei. Was soll man bestellen? Paul Gumpert will, daß man das ihm überläßt. Aber er beißt damit auf Granit. Jeder für sich, und Gott für uns alle. Und da er eben nicht der Liebe Gott ist, dürfe er das nicht. Nun schön! Die Getränke würde man ihm dann wenigstens cedieren. Aber sonst nichts.

Joli sieht so schön wie nie vorher aus. Vielleicht hat sie etwas getrunken. Sieht aus wie eine Bacchantin mit den übergroßen glänzenden Augen. Sie trägt ein rotschillerndes, electricblaues Kleid mit Goldfäden durchzogen, das vielleicht aus einem arabischen Burnus gearbeitet ist. Jedenfalls aus keinem europäischen Stoff.

Paul Gumpert ist, wenn man von Lulu absieht, am feinsten, denn er hat einen Smoking mit weißer Hemdbrust an und sogar, den hat Fritz Eisner noch nie bei ihm gesehen, mit einem einzigen großen Brillantknopf drin. Man könnte zwar sagen, daß Lulus Frack dem Rang nach feiner ist, aber er ist nur ehrwürdiger. Doktor Spanier ist so wie er aus dem Auto kam, und Landshoff ist sogar in einem Sportanzug, denn er will gleich weiter. Er kann ebenso gut die Nacht durchfahren, oder in Weimar übernachten, vielleicht auch erst in Bamberg. Dann ist er morgen nicht so spät zuhause in München.

Lu aber ist in Theatertoilette mit einem metallisch-grünschillernden Pailettenkleid, das das Geschmeidige – ›meine kleine Ginsterkatze‹, denkt Fritz Eisner – ihres schlanken und nie hageren Körpers noch betont. Sie hat eine rosa Orchidee auf der Schulter, eine La-France-farbene Cataleia mit einem Blutfleck in dem weitgeöffneten Blumenrachen, und sie hat eine Brillantagraffe im Haar, das der ›Herr‹ Friseur kunstreich onduliert hat. Ihr Alter ist unschätzbar. Fünfunddreißig gibt man ihr kaum. Die letzten zehn Jahre ahnt man nicht.

Menukarten sind eine herrliche Lektüre. Aber man weiß eigentlich nie, was man wählen soll.

Fritz Eisner steigen plötzlich Tränen auf: Eure Sorgen!

Man ruft, das heißt, man bittet Herrn Horcher höchstselbst heran. Er soll Vorschläge unterbreiten, und man belobt ihn wegen vergangener Leistungen. Das damals war herrlich – meine Frau schwärmt immer noch davon – aber nun möchte man etwas anderes.

»Es ist meine Pflicht, Ware zu verkaufen«, sagt Herr Horcher bescheiden.

»Siehst du«, sagt Fritz Eisner zu Ruth, »auf kleinen Metalltischen wird jetzt alles herangerollt von feierlichen Kellnern, und vor den Augen der Gäste werden geheimnisvolle Ingredienzien den Saucen beigemischt und durcheinander gerührt. Die Salate werden vor unseren Augen mit Zitrone beträufelt und mit Estragon, und sie werden mit einem Öl besprengt, das nur in Handschuhen bei Mondschein geerntet wurde. Oder verwechsle ich das mit Tee? Dieses silberne Monstrum dort ist keine Traubenpresse, sondern eine Entenpresse für die Roueneser Enten. So etwas darf, das steht in jedem Magenkursbuch, in keinem besseren Haushalt fehlen. Omelettes soufflées werden solange und so fein geschlagen, bis sie nur noch soufflées und gar keine Omelettes mehr sind, und dann werden sie mit Rum in blauen Flämmchen serviert, der leise britzelnd auf dem Teller verlischt, und schmecken nach Karamelzucker.«

»Ich möchte gern ein sehr raffiniert in Weinblättern geschmortes junges, ganz junges Rebhuhn, aber keine Großmutter«, meint Doktor Spanier, »in der Saison hab ich noch keins gegessen.«

Lu lehnt sich weit über'n Tisch vor und sieht das erstemal von einem Tischende zum andern ganz frei zu ihrem Mann herüber. »Was?«, ruft sie, »aber das ist doch auch wieder nicht wahr, Dju? Du hast doch Mittwoch – oder war's Dienstag abend – Rebhuhn gehabt.«

Doktor Spanier faßt sich an die Stirn. »Richtig, ganz richtig. Entschuldige.« Und nach einer kleinen Pause: »Woher weißt du denn das?« (Gott, denkt er, wenn man so allein ißt, dann schlingt man das so lieblos rein und achtet nicht drauf. Aber richtig, es war ein ganz junges Rebhuhn, das ihm die Köchin gemacht hatte. Es zerfiel einem ordentlich auf der Gabel. Aber ich vergesse so etwas immer.)

Aber Lu spricht schon nicht mehr mit ihrem Mann. Sie ist bei Paul Gumpert, zu dem sie sehr nett zu sein sich vorgenommen hat, sie ist doch wirklich nur seinetwegen gekommen – sehr unangenehm, daß sie hier mit ihrem Mann zusammengetroffen ist. Wenn sie weggegangen wäre, so hätte es aber noch dümmer ausgesehen, als wenn sie bleibt. Man soll von zwei Dummheiten immer die kleinere wählen. Das hat sich Dju wohl auch gesagt. Denn sonst wär er ja weggegangen.

Die vornehme Bulldogge von vorhin hat sich nebenbei höflich grüßend an Rosenemils Tisch gesetzt. Na, das kann ja was Lustiges geben, wenn die beiden miteinander ins Gespräch kommen. Denn Rosenemil hat sich jedenfalls nochmal einen Kognak bestellt. Fritz Eisner sieht zu Rosenemils Tisch herüber und streift so zufällig dabei das Profil der vornehmen, aber beleidigten Bulldogge. ›Wo hast du eigentlich das Gesicht schon mal gesehen in den letzten Tagen, wo nur? Gesehen hast du es bestimmt.‹ Aber schon hat ihn Lulu mit Beschlag belegt.

»Eigentlich hat die Scheidungsepidemie doch wieder etwas nachgelassen«, meint Paul Gumpert und hält das Glas hoch. »Teifi, ä Woinche!«

Fritz Eisner lacht. »Mensch«, denkt er, »bist du denn wahnsinnig: sitzst hier und lachst?«

Indessen geht Lu zum anderen Ende des Tisches und beugt sich etwas über ihren Mann, der gerade mit Joli spricht.

»Hör mal«, sagt sie, »das Hemd hat dir aber die Seifert – und sie zieht ein Fältchen am Kragen auseinander – miserabel geändert.«

Dju sieht sie erstaunt an. »Na ja«, sagt er, »sie sind erst gestern gekommen. Ich habe es, so wie es war, angezogen. Aber daß sie es schön gemacht hat, Lu, habe ich auch nicht gefunden. Erinnerst du dich noch, die haben wir bei Selfridge gekauft.«

»Nein«, sagt Lu, und beugt sich nochmal über seinen Kopf, »das da haben wir bei Robinson gekauft. Es hat eine halbe Guinee gekostet, also zehn Mark fünfzig nach damaligem Geld.«

»Was macht der Klub der violetten Aster?« fragt Paul Gumpert.

»Er wird in vier Wochen verblüht sein.« (Um Himmelswillen, was redest du denn hier?!)

»Ach Gott, Herr Landshoff«, sagt Ruth, »wenn Sie etwas haben, und es Ihnen gut geht, seien Sie nicht gleich böse auf Leute, die nichts haben, und denen es nicht gut geht. Es ist nämlich ein ganz dummer Zufall, daß Sie zu den ersten gehören. Es könnte sogar viel leichter umgekehrt sein.«

»Also Landshoff«, sagt Paul Gumpert »Sehr schön, solch Krematorium ... also ich meine natürlich (Paul Gumpert biegt sich vor Lachen), ich meine natürlich Moratorium. Aber so etwas drei Jahre lang?!«

»Wir werden noch länger uns daran gewöhnen müssen, alter Freund«, meint Landshoff.

Aber schon hat ihn Lu mit Beschlag belegt und schiebt ihm einen Zettel zu. ›Bon auf den Geertgen ten Jans der Sammlung Paul Gumpert‹ steht darauf.

»Zücken Sie mal Ihr Notizbuch, Landshoff«, sagt Lu, »aber ganz unauffällig und schreiben Sie: ›Bon auf einen Tiepolo oder einen danach der Sammlung Paul Gumpert‹, Landshoff. Machen Sie den Halter wieder zu, sonst ist die Weste hin. Das geben wir ihm nachher, aber so ganz beiläufig. Ohne längere Ansprache. Lassen Sie mich es machen, oder wollen Sie es tun? Na schön: dann mache ich es.«

»Hören Sie, Eisner«, sagt Gumpert, »da ist im Louvre doch das Fayencegeschirr mit Gubbio- und Deruta-Stücken, da in der Nähe wo die Uhrensammlung, nicht die Rothschildsche, ... nein, die Renaissance-Uhren und die gotischen Uhren sind. Ich glaube, es ist das Geschirr einer Eleonora von Este. Und da ist ein Teller dabei, den ich sehr gern habe. In der Vorhalle eines Palastes sitzt ein Liebespaar, und ein Greis blickt aus dem Fenster zu ihm herab. Und darunter steht: ›nec spe nec metu.‹ Ohne Hoffnung, aber auch ohne Furcht. Den hab ich mir jedesmal angesehen, wenn ich wieder im Louvre war. Früher bin ich doch viermal im Jahr geschäftlich nach Paris gekommen. Wir hatten doch da eine Filiale. Das Wort fand ich so schön als Devise: ›nec spe nec metu.‹«

»Warum erzählen Sie mir das, Gumpert«, sagt Fritz Eisner leise. (Hat dem der Spanier etwas gesagt? Aber ein Arzt hat doch Schweigepflicht, oder meint er etwas anderes damit?)

Plötzlich kommt ein Mann mit einem eigelben Anzug herein. Na nicht gerade eigelb, aber so ähnlich, der einen Biberkragen über den Mantel gebunden hat. So etwas sieht bei einem Mann sehr komisch aus. Er hat nebenbei nicht in der Garderobe draußen abgelegt. Er sucht wohl nur einen Bekannten hier. Er ist klein, dicklich und breitschultrig. Und auf seinem runden Schädel müßte eigentlich eine Melone sitzen. Aber es ist ein Jägerhütchen. Den hast du auch schon gesehen. Jetzt weiß ich! (Ruth hat ihn gar nicht bemerkt.) Jetzt bin ich im Bild. Das sind doch die beiden Kriminalschutzleute von damals, von Dienstag vor dem blauen Salonwagen auf dem Bahnhof Charlottenburg. Der hat mir doch gesagt: »Gehn Se weiter!« Das ist er doch. Und der andere mit dem Bulldoggengesicht, das ist doch nur sein Kollege. Na ja, es werden irgendwelche fremde Diplomaten hier sein. Die Franzosen essen gerne gut. Die kommen gern her. Und da müssen sie wohl aufpassen, daß sie nicht beleidigt oder belästigt werden. Na ja, solche Kriminalkommissare haben es nicht leicht.

Aber der zieht das Hütchen und setzt sich auch ziemlich still an den Tisch, wo Rosenemil sitzt und die leere Weißweinflasche schwenkt.

Der Ältere, der mit dem Cut und der englischen Hose hat nebenbei mit Rosenemil ... er hat nur eine Flasche Fachinger vor sich, und deshalb verachtet ihn wohl Rosenemil, denn das sieht man seinem Gesicht an ... ein ganz leises zuvorkommendes und vertrauliches Gespräch. Und Rosenemil weiß genau, das kennt er, er ist ein alter Praktiker, genau weiß er, was die Glocke geschlagen hat. Der braucht gar nicht erst die Rockpatte umzudrehen und ihm seine Marke zu zeigen.

›Na ja, wenn der sich den anderen Kaschuben da, den kleinen, nicht noch herangeholt hätte, wenn der früher so mit ihm ins Gespräch gekommen wäre, dann wäre wohl noch was zu machen gewesen. Man kann so ganz still so'n Messer hier nehmen, und ihm damit quer über den Hals schlagen.‹

›Man könnte auch tun, als ob man sich noch ein Gläschen eingießen will und den Hund ins Jesichte mit de Weinflasche hauen, daß es splittert.‹

›Man kann auch im Notfall mit zwee so'ne Brieder fertig werden, indem man jeden an den Deez packt – aber det muß sehr fix jehn – und se feste mit de Koppe aneinander haut.‹

Des kann man aber allens nur machen, wenn man eben jut zu Fuß is und leicht türmen kann. Aber so wie ick jetzt bin, hab'n se mer doch an de nächste Ecke.

Sowas war früher mal. Heute ist's aus. Die sind mer ieba.

Det enzigste und klügste is, den wilden Mann markieren, und denn werden se schon – des macht mein Jacobsohn prachtvoll – die Sache auf Paragraphen einundfuffzig drehen können.

Aber die Genugtuung geb ich doch den Hunden nicht, daß ick etwa an zu flennen fange vor de Brieder hier, vor all die feinen Äser, die da rumsitzen. Nee, det macht Rosenemil nich.

Es is ja auch zu dußlig. Fuffzehn Jahr hab ick ejal weg Rosen ausjeschrien, damit se mer nich nach Rummelsburg bringen und hab mir nischt zu Schulden kommen lassen. Und jetzt wo ick schon en oller Mann, und jetzt, wo ick en ehrlicher Mann bin, da hab'n sie mer noch erwischt. Det is doch 'ne ßu doofe Sache. Also nu markiern wir mal halb den Dußligen. So halb und halb aba nur. Halb den wilden Mann und halb den Besoffenen. Da kann sich Jacobsohn dann nachher von aussuchen.

»Ech bin de Kaiser von China«, kräht Rosenemil durch die angenehme Sonntagnachmittagsgemütlichkeit

»Also machen Sie keine Fisimatenten, Sie sind nicht der Kaiser von China«, flüstert die Bulldogge im Cut. Er hat eine so akzentuierte Art zu flüstern, daß man jede Silbe in der entferntesten Ecke hört.

›Seine Mutter muß mal Souffleuse gewesen sein‹, denkt Fritz Eisner.

»Wir wissen genau, wer Sie sind. Kommen Sie jetzt mit. Das Übrige wird sich dann erweisen. Bitte. Sie werden sofort heute noch Ihren Anwalt anrufen können. Vom Alex aus. Das verspreche ich Ihnen.«

(›Man kann doch den Mann hier nur in Güte wegbringen, sonst haut er noch alles kurz und klein. Das geht gerade in diesem Lokal nicht. Anfassen dürfen wir ihn nicht. Das ist ein rabiater Bursche. Das sieht man ja.‹)

»Sie werden auch in Ihrem eigenen Wagen fahren. Sie müssen uns nur gestatten, Sie zu begleiten. Wenn wir uns geirrt haben, kriegen wir einen Wischer.«

»Sie haben sich geirrt, meine Herren«, ruft Rosenemil, »fassen Sie mich nich an, verstehen Se. Des jibts bei mich nich. Ick jeh auch so ... Des sind Hunde!«

Aber das letzte galt wohl Fritz Eisner noch.

Und dann geht der Dicke mit dem Cut voran. Rosenemil folgt, wenn auch etwas schwankend.

Draußen sind die Kriminalbeamten schon weniger freundlich mit ihm.

»Was war denn da, Eisner«, fragt Landshoff erstaunt. »Sie haben sich doch vorhin mit dem Mann geduzt? Hatten Sie schon lange mit ihm Brüderschaft getrunken?«

»Also Jorry, du verkehrst ja in feinen Kreisen. Da mußt du mich auch einführen.«

»Es ist ja doch eine Gemeinheit«, meint Paul Gumpert, »Rosenemil ist ein anständiger Kerl im Grunde. Ich habe ihn immer gern gehabt.«

»Ach Gott, Landshoff«, sagt Fritz Eisner, »ich kenne ihn doch ganz genau. Seine ganze Vorgeschichte. Er ist Halbwaise, das heißt, die Mutter ist vor die Hunde gegangen und der Vater hatte sich schon vor seiner Geburt abmelden lassen und war bei solcher nicht mehr aufzutreiben gewesen. Und dann war er Stadtreisender, wie er sagt. Also Hausierer. Und dann war er Zuhälter. Und das Mädchen ... das eine ... war doch auf die andere eifersüchtig und hat ihn verpfiffen. Und er sollte ins Arbeitshaus. Aber bei der Verhandlung, wie sie wieder gegenüber gestanden sind, ist sie plötzlich mit ihrer Aussage umgefallen – haben Sie mal so etwas miterlebt? Sowas ist merkwürdig und ergreifend zugleich. Eins der stärksten Kommentare zum Kapitel Liebe. Und dann hat er durch fünfzehn Jahre wie ein Wilder gegen das Arbeitshaus gekämpft und Tag für Tag vor Wertheim ›schöne langstielige Rosen, reizende Kinder Floras!‹ ausgeschrien. Bei Wind und Wetter. Und zwischendurch war er immer wieder in der Charité. Das war eben noch vor dem Salvarsan. Da haben sie ihm einen Zeh nach dem andern abgeknipst. Und dann hat er den ersten Kriegszitterer in Berlin markiert, aber jetzt ist er bis zu einer Villa in der Ulmenallee heruntergekommen mit einer altdeutschen Trinkstube und Zinnhumpen, und eben hatte er eine Schlafwagenkarte nach Monte in der Tasche und wollte türmen, weil er doch in dem Spritskandal mit drin ist. Na, es stand ja vor ein paar Tagen genug darüber in der Zeitung. Aber die haben ihn wohl verpfiffen, de Brieda, de Brieda hab'n ja keenen Korpsjeist nicht!«

»Was?«, sagt Landshoff, »nur das? Na, da wird ihm nicht viel passieren.«

»Warum denn nicht?«, meint Fritz Eisner.

»Na, ich vermute so. Sehen Sie, die Gerichte sind wie die Volksküchen. Für feine Leute wird da selten gekocht.«

»Na, halten Sie etwa Rosenemil für besonders fein?« wirft Ruth dazwischen.

»Ihn nicht. Aber die andern«, sagt Landshoff. »Was man so Komplizen nennt, das heißt, die auch nicht, aber die, die wirklich dahinter stehen. Da sind glänzende Namen bei.«

»Na«, sagt Doktor Spanier, »weihen wir ihm ein stilles Glas.«

Alle trinken.

Ruth hat einen Kleinen sitzen und dann fängt sie gern zu singen an: »Hastig entschwinden die Tage des Lebens ...«

»Nicht, sing was anderes«, meint Fritz Eisner.

»Erinnerst du dich noch an den Simpel?«, sagt Doktor Spanier zu seiner Frau, die jetzt etwas weiter oben neben der heute so wunderschönen, aber doch sehr schweigsamen Joli sitzt. »Satt bin ick wie'n Schwein.« (Das ist nebenbei das erstemal an dem Nachmittag, daß er an seine Frau das Wort richtet, dieser Doktor Spanier.) »Einzige Frage: Wat essen wir nu?« Lu lacht.

»Hören Sie«, flüstert sie Landshoff zu, »soll ich jetzt Paul die beiden Bons geben? ...«

Gewiß, Dju, ganz genau. Die famose Zeichnung dazu war von Wilke.«

»Wenn ich bloß wüßte, wie das Zeug hieß? Das hat es vorgestern Abend bei mir gegeben. Gebacken mit einer Sauce dazu. Sehr gut. Ich kann doch nicht nach Hause deswegen telefonieren, und ich weiß gar nicht, ob die Mädchen da sind.«

»Vorgestern?« sagt Lu nachdenklich. »Vorgestern? Das waren gebackene Auberginen mit einer englischen Mayonnaisensauce.«

Doktor Spanier sieht mit einem sehr scharfen Blick zu der sich innerlich zur Wehr setzenden Lu herüber. »Woher weißt du denn das?« fragt er kühl. Das heißt, ich habe nie geliebt, daß man mir nachspioniert

Lu spielt mit ihrem Anhänger, der grünen Jadeplatte, und blickt vor sich hin auf ihr Glas.

»Na, meinst du etwa, ich werde dich verkommen lassen?!« sagt sie endlich sehr leise und wird rot dabei wie ein Schulmädchen bei der ersten Liebeserklärung.

Petermann ist hereingetappt in seinen braunen Lederstulpen und steht drei Meter vom Tisch fast an der Tür.

»Wir müssen Herrn Doktor zum Theater abholen, Madame«, sagt er endlich. »Es ist gut«, sagt Lu, »Sie können gehen, Petermann. Ich fahre dann mit dem Wagen meines Mannes.«

Petermann ist erstaunt Aber er ist viel zu sehr Herrschaftchauffeur, um sich so etwas anmerken zu lassen. Herrschaften unterscheiden sich ja gerade dadurch von den anderen, daß sie sich zu benehmen wissen und nie die Haltung verlieren, wenigstens die äußere Haltung. Und ihre Bediensteten verstehen das noch viel besser. Also Petermann marschiert ab in betontester Gleichgültigkeit.

Dju sieht sehr erstaunt und halb ungläubig zu Lu herüber. »Hör mal«, sagt er und gibt sich Mühe, kühl zu bleiben, »das ginge vielleicht doch ein wenig zu weit. Meinst du wirklich, daß ich dich dann nach dem Theater bringen soll?«

»Lieber Dju«, sagt Lu, »ich habe, wenn ich mich genau erinnere, soeben gesagt, ich fahre mit dem Wagen meines Mannes. Von einem wohin habe ich nicht gesprochen. Das auszuwählen habe ich früher dir überlassen, und ich denke, das werden wir auch in Zukunft so halten.«

Doktor Spanier sieht ein wenig vorgebeugt zu Lu herüber. Plötzlich streckt er den Arm aus und fährt Lu von der Stirn aus gegen den Hinterkopf mit den fünf ausgespreizten Fingern der Rechten durch die Haare.

»Einen Augenblick, Dju«, sagt Lu und nestelt am Haar, »ich will mir nur die Agraffe herausnehmen, damit du dich nicht reißt, und nun komm her, alter grauer Esel.«

»Du hast recht«, sagt Doktor Spanier und zieht Lu's Kopf etwas zu sich heran und wuschelt ihr mit den Fingern nochmal durch das Haar. »Man wird auch alt. Wenn einen eine Frau liebt, ist man nicht mehr stark genug, sich dagegen zu wehren.«

Paul Gumpert sagt: »Wir wollen doch nochmal anstoßen. Der Giardinetto war so gut, daß man gar nicht die Diminutivform versteht, nicht wahr, Joli?«

»Ja«, sagt die, und ist wie ein aufgestörter Vogel in den Augen.

»Na, junge Frau«, sagt Doktor Spanier, »es freut mich, daß Sie wieder so gut aussehen. Sie müssen mal wieder bei uns Tee trinken, oder kommen Sie überhaupt mal die Woche zum Abend. Vielleicht Donnerstag. Mittwoch hab ich einen Vortrag in der Medizinischen zu halten. Es ist dir doch recht, Lu?«

»Und Mittwoch abend bin ich in Stettin«, sagt Fritz Eisner, »aber da kommt man ja in zwei Stunden hin. Ich glaube sogar, man kann noch die gleiche Nacht wieder zurück sein.« (Ich möchte jetzt doch nicht viel von Nack weg, aber den halben Tag mal, das geht schon.)

»Trinken, trinken, meine Herrschaften«, sagt Paul Gumpert, »am Essen verdien ich nichts«.

»Herr Wirt«, sagt Lu, »es war gut und nicht fett, Paul. Und deswegen hab ich Ihnen von der gesamten Tafelrunde (ich weiß nichts, meint Fritz Eisner) ein kleines Ehrendiplom in Gestalt dieser beiden kleinen Zettel feierlichst zu überreichen.«

»Wie lieb von Ihnen, Lu, reizend! (Gott, wie aufmerksam, sagt Landshoff.) Aber ich werde den Rest meines Lebens ohne den Geertgen ten Jans auch noch auskommen. Ich habe ihn lange genug gehabt. Nun kann ihn auch mal ein anderer haben. Na ja, ehe ich mich prügeln lasse, also jedenfalls tausend Dank. Nicht nur Kinder, auch schöne Gemälde sind doch nur geliehene Güter.«

»Das geht auf Werner«, sagt Joli zu Ruth. Sie spricht heute auffallend wenig. »Der ist am 8. November 18 drei Minuten vor Waffenstillstand gefallen.«

Aber Lu will nichts davon wissen.

»Ja«, sagt Paul Gumpert, »nun müssen wir aber auslosen, wer den Meister mit nach Hause nimmt. Das beste schon, wir nehmen ihn mit, denn wir haben die gleiche Richtung. Nachher nämlich, ab acht, ist hier jeder Stuhl besetzt.«

»Rechnung«, ruft Landshoff.

Aber der Kellner überhört es.

»Sie heißen doch Landshoff«, sagt Paul Gumpert, »heute haben wir Sonntag. Am dritten Sonntag im Oktober nachmittag von sechs bis acht haben hier immer alle Leute, die mit L anfangen, freie Zeche. Nicht wahr, Herr Horcher?«

»Gewiß, Herr Gumpert«, meint der im Vorübergehen und begönnert den nächsten Gast, den er in ein wohlwollendes Gespräch zieht.

»Also Lu«, sagt Doktor Spanier, »worauf warten wir denn noch? ... Ihre Frau ist doch reizend, lieber Eisner«, flüstert Doktor Spanier im Herausgehen, »wirklich, es ist solche Freude, mit ihr zu plaudern, und es geht ihr doch wahrhaftig noch gut. Ich habe sie ziemlich genau heute beobachtet. Wirklich erstaunlich, wie sie sich hält.«

»Ja, was machen wir nun mit Maud? Ich telefoniere dann noch«, meint Lu.

»Wenn mich im Leben noch eins freut«, sagt Paul Gumpert sehr leise zu Fritz Eisner, »so ist es ja das hier. Und dabei ist es doch nur ein Zufall. Wenn wir nicht den Fauxpas gemacht hätten, die wären noch Jahre miteinander verquer geblieben. Und wären beide daran kaputt gegangen. So wird's der dritte sein.«

»Der sieht nicht so aus.«

»Menschen sehen oft nicht so aus«, sagt Paul Gumpert.

»Komm, mein geliebter Paulemann«, sagt Joli in einer Zärtlichkeit, die zu hören für dritte Menschen fast indiskret ist.

»Wenn Sie nach München kommen, so gehen Sie nicht an meinem Hause vorüber, Meister.«

»Adieu, es war reizend«, meint Lu. »Paul, Sie sind doch ein Lebenskünstler.«

»Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, Lu. Und Sie mir auch, nicht wahr?«

»Du bist ein Goldjunge, Paul«, sagt Lu, die eben in ihren Wagen steigt, das heißt, um den Wagen herum geht, um den Platz neben ihrem Mann zu haben.

»Seit wann duzen wir uns, Lu?«

»Seit eben. Gute Nacht, Paul.« Und dann klappt die Türe zu.

Während der ganzen Fahrt spricht Paul Gumpert nichts. Er muß wohl auf die Fahrbahn achten. Und auch Joli fröstelt still vor sich hin. Ruth versucht Konversation zu machen, aber sie tropft nur dürftig weiter. Und dann steigen sie aus. Es ist eben nach acht erst. Aber sie sind müde und man kann noch etwas arbeiten. Vielleicht wollte auch die Freundin Edith kommen, wenn sie nicht ins Kino geht

»Ich danke Ihnen, teurer Meister, für alle Freuden, die Sie mir gemacht haben ... Nicht nur heute, daß Sie gekommen sind ... Wir haben heute so ein letztes Menuett noch vor der Guillotine zusammen getanzt.«

»Im Gegenteil«, sagt der, »denken Sie doch an Spaniers. Einen neuen Boston oder einen valse bleu.«

»Gute Nacht, Meister«, sagt Joli, und hält sich während sie die Hand herausstreckt, mit der andern vorn den Fehmantel zu. ›Sie hat so eine reizende Art, den Fehmantel zu halten‹, denkt Fritz Eisner.

»Hast du noch gehört«, meint Ruth, nachdem der Wagen losgefahren ist, »was Paul Gumpert gesagt hat? Nein? Genau weiß ich es auch nicht. Es hörte sich so an, wie aus dem Schulgedicht. Heißt es nicht Hans Euler? Und sollt ich nimmer kommen, Tirol ist groß genug.«

»Unsinn! Nuckelino, da hast du dich verhört. Davon müßte ich doch auch was gemerkt haben. Das redest du dir ein. Nun gehen wir rauf und machen uns ein nettes Teechen.«

›Donnerwetter‹, denkt Fritz Eisner, ›der hat sich doch so komisch versprochen einmal, wie er statt Moratorium Krematorium sagte. Das stimmt vielleicht ja doch nicht mit den beiden. Und sie war auch eigentlich heute furchtbar niedergeschlagen. Diese süße Person. Na ja, es ist natürlich kein Vergnügen. Morgen oder Donnerstag beginnt es: Tausend zum ersten. Niemand mehr? Und aus der Wannseebesitzung geht er doch auch heraus. Ich glaube, sie schlafen heute überhaupt die letzte Nacht drin. Aber ich kann ihm ja auch nicht helfen. Ich habe mehr auf dem Kopf, wie der da. Das kann er versichert sein.‹

»Also einen schönen Tee mache ich dir noch, mein Jorrychen. Es war doch nett. Und das mit den Spaniers war doch famos. Du, an der kann man lernen, wie man euch Männer zu nehmen hat.«


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