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Kapitel X

Hannchen

Ruth will früh weg. Die Übungen, sagt sie, haben ihr geholfen. Sie hätte da keine Schmerzen mehr. Aber wenn sie bis zwei herumkommen will, dann muß sie sich eilen; und außerdem möchte sie ganz gern noch Maud sehen. Sie wird nach dem Tiergarten gehen und vielleicht kann sie sie da – sie hat natürlich schon telefoniert – – – während Fritz Eisner die Badestube unter Wasser setzt mit Zuhilfenahme einer Handbrause, die so praktisch war, daß die Wucht des Wasserdrucks mit der Glätte des Porzellangriffs verbunden sie einem ständig wie einen Kreisel in der Hand drehte und die bestimmt ihren Beruf als Rasensprenger verfehlt hatte ... also vielleicht kann sie sich mit Ruth am Goldfischteich treffen. Das würde ihr Spaß machen.

Ruth hat sich schon drei Zeitungen besorgt und alles heraus gelesen, was darin steht. Ihr Mann ist nie ein Zeitungsleser gewesen. Er versteht nicht mal 'ne Zeitung zu lesen. Denn das ist eine geheimnisvolle Kunst, die man erst auf den Redaktionen lernen muß, und die Ruth dort gelernt hat, während er doch nie auf einem Redaktionsschemel gesessen hat, davon keinen Schimmer hat, immer Unwichtiges aufbauscht und Wichtiges übersieht. Aber jetzt liest er überhaupt keine Zeitungen mehr, oder kaum noch. Er läßt sich von seiner Frau berichten. Und Ruth versteht vorzüglich, die Resumés zu ziehen und in einem Augenblick das Wichtige herauszuholen.

»Du solltest vortragender Rat im Ministerium werden«, meint Fritz Eisner.

»Warum nicht?« sagt Ruth und gießt ihm Kaffee ein.

»Sieh mal an, das ist doch echte englische Marmelade, wie im dicksten Frieden. Das mußt du dir von Käte sagen lassen, wo sie die hier aufgetrieben hat.«

»Du, da schreibt hier ein Direktor der Nationalbank ...«

»Gibt es das auch?« fragt Fritz Eisner.

»Über die Rentenmark, die kommen soll.«

»Gewiß, ich verstehe. In Amsterdam, da rammen sie Eichenpfähle in den Sumpfboden und da bauen sie das Haus drauf. Den Sumpf seh ich, Nuck. Aber die Eichenpfähle seh ich nicht. Doch vielleicht gehts mir nur wie Dovid bei Reuter in der ›Stromtid‹: ›Dovid, du bist jung for die Geldgeschäfte.‹ Kurz gesagt, die Rentenmark seh ich, aber die Deckung ist doch auch nur eine Fiktion. Solange ich ein Haus hier auf dem Kurfürstendamm für hundert Dollar kaufen kann, gibt's doch keine Deckung, nicht wahr?«

Aber Ruth ist überzeugt, daß der da recht hat.

»Darauf kommt's gar nicht an, Nuckelino, es kommt nur darauf an, daß er recht behält

»Ja, und die Devisenrazzia, von der du erzählt hast, hat doch sechsundfünfzig Dollar und dreißig Franken ergeben.«

»Also, wir sind gerettet.«

»Und nur zwei von denen, denen man das Geld abgenommen hat, haben sich Quittungen ausgebeten.«

»Da siehst du wieder, was die anderen für schlechtes Gesindel sind. Nicht mal Quittungen haben sie sich geben lassen.«

»Ja, und jetzt kommt das Kabinett der Persönlichkeiten, steht hier.«

»Entschuldige, wer sagt das? Die Leute, die kommen oder die andern? Aber wechseln wir das Thema, Nuck. Nebenbei hast du dich sehr fein gemacht. Ist das neu? Ist das Crepe Georgette oder Vollvoile oder Goldlamée? Na, jedenfalls macht es einen kleinen Fuß.«

»Dabei tut er immer, als ob er nie weiß, was ich anhabe. Und sowie ich was Neues habe, macht er solche Stielaugen.«

»Du«, sagt sie, während sie schon die Klinke in der Hand hat, »denk mal, was ich heute früh für eine fabelhafte Idee gehabt habe. Ich lasse mir aus Mutters Nerzmantel – so lang trägt die kein Mensch mehr – eine moderne Pelzjacke machen. Und mit dem, was dann übrig bleibt, zahl ich die Änderung. Oder ob solch Fehmantel sehr teuer ist, wie ihn Joli hat?«

»Das wird dir Paul Gumpert sicher wahrheitsgemäßer sagen, als er es Joli gesagt hat.« –

Aber Ruth ist schon fort und ruft auf dem Flur: »Zwei, spätestens halbdrei Romanisches Café, gleich links die Tische ... Die Stadt verkauft Heringe. Neun Millionen das Stück. Ob man sich ein paar hinlegt?!« (Aber das galt wohl Käte!)

Fritz Eisner sieht ihr eine ganze Weile nach, das heißt, er sieht auf die Tür, durch die sie hinausgegangen ist.

Wenn Ruth bei all ihrer Klugheit, und sie ist ihm, was den Verstand anbetrifft, sicher überlegen, nicht manchmal so ganz frauenhaft dumm wäre, hätte er sie vielleicht gar nicht so bis zu den nassen Augenwinkeln gern. Und das sind sehr differenzierte Dinge, sagt er sich, wie alle Gefühle es sind. – Also diesen Vormittag werd ich über den Bücherschrank herfallen, und wenn ich so um zwölf dann weggehe ... Wie die Weinblätter in der Sonne heute vor dem Fenster leuchten, die paar Blätter, diese eine Ranke, die sich so herübergeschoben hat, wirklich genau wie der Volnay gestern, wenn das Licht durch ihn fiel. – –

Die bunten Faschingsmützen der Zeitungshändler sind wie Blumen geworden, und ihr Schrei ist nicht das mürrische und böse Rabengekrächze, das es noch gestern war, sondern belustigt. Und ist sogar fast melodisch.

Was es da jetzt alles für neue Blätter gibt! Nächstens wird noch jede Stunde des Tages ihr eigenes Organ haben.

»Poincaré lehnt Verhandlungen ab!«

»Große Separatistenschlacht in Düsseldorf«, brüllt einer.

»Das neue Ministerium bleibt das alte«, schreit ein dritter daneben.

All das ist furchtbar ernst und aufregend, und alle Leute sind sehr vergnügt und sehr ruhig dabei.

Wer einen Mantel an hatte, hat ihn ausgezogen und trägt ihn über dem Arm und hat am andern Arm irgendein weibliches Wesen, das mit den Augen wie ein Zeisig um sich sieht, um zu kontrollieren, was die Konkurrentinnen in dem endlosen Kampf um das Ekel Mann heute tragen. Römische Streifen sind schon wieder im Abflauen.

Selbst die Bettler, die ihren elenden Singsang vor sich hin summen, scheinen zu sagen: Ich bitte es besonders zu berücksichtigen, daß es bei solch einem Prachtwetter sehr schwierig ist, den richtigen herzerweichenden Ton zu treffen.

Die Straßenbahnen sind nicht mal überfüllt. (Man geht lieber.) Sie sind bunt und läuten wie Kühe auf der Alm beim Halten und Wegfahren. Und die Autos sind heute so blank, wie sie gestern trübe und kotbespritzt waren.

Alle haben das Gefühl, sie müßten eigentlich bei solchem Wetter raus aus der Stadt. Aber zugleich das zweite Gefühl, daß es doch hier eigentlich lustiger ist.

›Ach Gott ja, ich will doch mal erst zu Hannchen gehen jetzt‹, denkt Fritz Eisner. ›Weggehen tut sie ja nicht viel. Man trifft sie schon zu Haus. Telefon hat sie nicht mehr, sonst hätt ich vorher angerufen. Ist mir zwar ein bißchen peinlich, glaub ich. Ist das zweite oder dritte Mal, daß ich sie seit meiner Scheidung von Annchen sehe, und das war sonst nur immer sehr kurz. Aber, wie ich sie kenne, sind wir nach den ersten zwei Minuten wieder ganz d'accord. Ich bin zwar nicht genau mit dem Komment vertraut: Hat man nach einer Scheidung mit der Familie der ersten Frau verfeindet zu sein oder nicht? Üblich ist wohl das erste. Aber unumgänglich notwendig will es mir nicht gerade erscheinen. Denn sicher ist man in seiner ganzen Charakteranlage dadurch nicht geändert. Und wenn sie einen vorher ihres Umgangs gewürdigt haben, warum sollen sie es dann nicht nachher auch noch tun?‹

Also die Stadtbahn rumpelt jetzt hier noch genau so wie früher. Sollte damals gerade elektrifiziert werden, als der Krieg kam, und sie rußt jetzt immer noch so, daß, wenn man da oben bei Hannchen jetzt eine Stunde in einem Tennisanzug auf dem Balkon sitzen würde, man sicher in einem Smoking vom Stuhl aufstände. Und das muß man auch sagen: In keinem Haus ringsum sind so große Stücke Putz aus der Fassade gefallen wie aus dem der guten Frau Lindenberg. Vielleicht macht das aber auch die Erschütterung von der Bahn. Ich würde die Bahn verklagen. Aber man soll als Privatmann keine Behörde verklagen. Ich jedenfalls habe noch niemand mit solcher Klage glücklich enden sehen. Aber im Ganzen ist selbst dieses Haus heute nett, und die fette Ratte, die da am achten November so vergnügt die Treppe vor mir herunter sprang und auf die ich mit Marlée, dem Stock: »Ha, eine Ratte tot für einen Dukaten« – Jagd machte und die mir Frau Lindenberg nicht glauben wollte: »In meinem Hause gibt es so etwas nicht. Oder lüge ich?« mit jenem schönen Schillerpathos, das ihr eigen ist ... Also hoffentlich treff ich sie nicht. (Wer redet hier von Ratten?) So gern ich Hannchen wiedersehe, nach ihrer Mutter steht nicht mein Verlangen. Die Schwiegermutter hat selbst die Fliegenden Blätter überlebt. (Der Student, der den Onkel anpumpt, ist dagegen längst gestorben.) Oder sie wird sie doch überleben ... Nein, also hier ist keine Ratte mehr. Und das Treppenhaus riecht auch gar nicht mehr nach Müllkasten. Denn die werden jetzt wieder abgeholt. Fast regelmäßig. Und es wird nicht mehr wie im Krieg der Müll auf einen Haufen geschüttet. Nein, so etwas ist ein für allemal hier erledigt ...

Aber vielleicht sieht das Haus heute nur so nett und anständig aus, weil ein so pompöses offenes Auto davor hält. So etwas ziert ein Haus und hebt den Kredit einer ganzen Gegend.

Macht sie direkt vornehm. Mindestens sechs Meter lang ist das Auto, offen, mit solch einem neuen Amerikanerverdeck. II A – das ist doch gar kein Berliner Wagen? Was ist denn das? Das ist Bayern glaube ich. Oder München.

Aber auch oben ist gar nichts anders. Sechs Jahre fast haben gar nichts geändert. Hannchen vielleicht. Sie ist grauzottlig mit ihren kurzen Haaren und hat eine Hornbrille jetzt. Wirklich geblieben von ihr sind nur die großen Augen mit den langen gebogenen Wimpern. Sie könnte heute Lu's Mutter sein, denkt Fritz Eisner. Dem Aussehen nach. Lu spielt noch mit im großen Spiel, sogar als Königin. Als der stärkste Stein. Und Hannchen ist längst geschlagen und an den Rand gestellt, und doch ist die eine kaum älter als die andere. Vielleicht ist sogar Lu etwas älter als Hannchen. Na ja, zwanzig Jahre Tuberkulose höhlen eben doch den schönsten und vitalsten Menschen endlich mal aus. Und dann arbeitet sie die ganzen Nächte durch. Wann sie schläft, ist nicht zu eruieren, und raucht wie wild dabei. Quält sich mit ihrer Mutter. Mit dem Herrn Sohn. (Er ist nebenbei gut zu ihr. Dagegen kann man nichts sagen. Er, der berufsmäßig opponiert, hier ist er gewohnt, sich bedingungslos unterzuordnen.) Also sie, Hannchen, ist das einzige hier, was sich verändert hat. Sie ist noch mehr abgemagert, ihr Gesicht hat neue Falten bekommen, sie hustet immer noch. Aber all das macht gar nichts! Und wird ihr auch die nächsten zehn Jahre nichts machen. Denn sie ist unglaublich zäh und hat eine durch nichts zu brechende Lebenslust. Nein, das sind nur so kleine Schönheitsfehler. Sonst nämlich ist sie genau wie sie vor fünf Jahren war und eigentlich wie sie vor fünfundzwanzig Jahren war. Damals, wie sie mit Egi (das war ein Fehler, daß der siegte, es hätte Paul Gumpert sein müssen) und Wilhelm Klein und Johannes Hansen und eben also mit Paul Gumpert zugleich verlobt war. Na ja, das ist nun auch übertrieben. Sie hatte nur jedem versprochen, auf ihn zu warten. Wenn Onkel Bräsig drei Brutens up eenmal hatte, so hatte sie damit vier Bräutigams up eenmal. Natürlich waren das alles anständige Jungens aus anständigen Häusern, und sie war ebenso, nein also: »jejangen« ist sie sicher mit keinem von ihnen. Damals war sie, da hat Lu gestern schon recht gehabt, eigentlich die schönste von all den Mädchen. Mit dem zarten rosig untertuschten Teint, mit der Strohschute, den großen schwimmenden, lang bewimperten braunen Augen und mit dem schimmernden goldroten Helm von Haaren. – Wirklich – sie war damals wie aus einem Bild von Gainsborough herausgeschnitten, denkt Fritz Eisner.

Gott ja, Hannchen sieht nicht gut aus, eigentlich sogar miserabel. Aber irgendwie ist sie doch ganz vergnügt. Wenn ich von Käte absehe, dem innerlich fröhlichsten Menschen, den ich bisher in Berlin gesehen habe. Sie sitzt immer noch mit der Aussicht auf Dächer und Hinterhäuser über dem Schacht des sogenannten Gartens da unten.

Die vielgeknudelte Katze rollt sich immer noch auf dem Strumpfkorb zusammen. Der Zeichentisch ist da, den sie von dem blindgeschossenen Architekten billig übernommen hat, steht gegen das Licht, quer vor dem Fenster. Und Hannchen selbst zeichnet wieder ihre Kärtchen mit den Elfen, die durch Reifen hupsen, sich auf Grashalmen schwingen und Maikäfer aus der Luft vergeblich zu haschen versuchen. Und die Elfen haben immer noch je nach Glück vier, fünf oder sechs Finger. Aber irgendwie müssen sich doch Elfen von gewöhnlichen Menschen unterscheiden. – Und das Merkwürdigste ist, sie hat immer Bestellungen. Wer das Zeug abnimmt, wo es hingeht, weiß kein Mensch. Genug, sie kann es manchmal gar nicht schaffen. Hannchen tut gar nicht erstaunt und begrüßt Fritz Eisner, als ob er nie weggewesen wäre.

»Na teurer Schwager, na teurer Schwager.«

»Liebes Hannchen, seitdem ich dich hier oben nicht mehr heimgesucht habe, haben sich nennenswerte Dinge vollzogen. Deutschland hat keinen Kaiser mehr und du keinen Schwager. Also einigen wir uns auf Ex-Schwager. Weißt du, wie Du mir hier vorkommst? Der junge Böcklin hat mir das mal erzählt, er kommt so alle fünf Jahre nach Basel und geht dann in die Weinwirtschaft, in die ihn sein Vater immer zum Frühstücksschoppen mitgenommen hat. Und da sitzen immer noch die gleichen Leute, zur gleichen Zeit tagaus, tagein. Und dann setzt er sich zu ihnen. ›Sso, sso‹, sagen sie, ›der junge Herr Böcklin. Sans auch ä mol widder doo?‹ Und dann geht er nach einer halben Stunde fort und kommt nach fünf Jahren wieder. Und dann sitzen sie noch genau so da. So kommst du mir hier vor.

»Was kann ich dir anbieten? Selbstgebackenen? Na, Fritz?«

»Wir haben uns doch lange nicht gesehen, Hannchen. So lange, daß du sogar den Wahlspruch meines Großvaters vergessen hast, den ich mir zur Lebensmaxime gemacht habe. – – –«

Hannchen lacht: »Ich wünsche nicht gelabt zu werden!!« Und dann ist sie bei den Kindern. Von ihrer Schwester spricht sie nicht. Voraussichtlich weiß sie von ihr mehr als Fritz Eisner. Vor allem aber will sie wissen, was die Kleine macht.

»Sie durchschaut uns«, sagt Fritz Eisner. »Augenblicklich ist sie bei Lu.«

»Hast du ein Bild von ihr?« (Damals war sie die Einzige, die mich nach einem Bild von Ruth gefragt hatte.)

Natürlich hat Fritz Eisner ein Bild da und hält es ihr hin. Hannchen beugt sich mit ihrer Hornbrille darüber. »Sie hat dasselbe Lächeln wie ihre Mutter«, sagt sie, »und wie ihre Tante. Wie lange ist Lena Block – oder hieß sie Bloch, nein doch Block – eigentlich schon tot?«

»Sieben, acht Jahre mindestens, Hannchen.« Aber das ist es ja gerade, wovon Fritz Eisner jetzt nicht reden will. Seltsam, zwei Schwestern, die, wenn auch über 15 Jahre auseinander, das Schicksal für zwei Ehen, wiederum von zwei Schwestern dann wurden. Und dabei hat Ruth Lena, die von der ersten Frau war und bald zwanzig Jahre älter als sie, und fast nie mehr in Berlin gelebt hatte, doch kaum noch gekannt. Wie seltsam sich so Schicksalsfäden oft verwirren.

»Wie geht's deiner Frau? Ihr kommt jetzt ganz nach Berlin? Ja, ich wußte es schon, seit Wochen, von Lu. Und sie wußte es wohl von Paul Gumpert. Ist auch kaputt jetzt, der gute Paul. Ich glaube, er hat zu leichtsinnig gelebt. Diese Person da. Na, solche Schauspielerinnen verstehen das eben, einen Mann auszunehmen. Bei denen muß man in die Schule gehen, wie so etwas gemacht wird.«

(Also es ist doch sinnlos, auf so etwas zu antworten.)

»Wie es meiner Frau geht? Darüber habe ich eigentlich nicht nachgedacht. Aber wenn du mich ehrlich auf Herz und Gewissen fragst, Hannchen, sie macht mir Sorgen. Sie macht mir große Sorgen. Da unten ist es gewiß schön, aber ich glaube wirklich, das Klima ist nicht das rechte gewesen. Was siehst du mich denn so an, Hannchen?«

»Ach«, meint Hannchen und lenkt ab, »du siehst eigentlich sehr gut aus. Na ja, die paar grauen Haare machen nichts«.

»Sage mal, altes Hannchen, warum fragst du mich eigentlich mit solchem Unterton, wie es Ruth geht?«

Hannchen beginnt auf der Zeichnung, die vor ihr liegt, zu radieren und pustet die Krümelchen ab und muß dabei husten. Aber sie ist gewohnt, ihren Husten zu unterdrücken. Wenn man so lange hustet, lernt man auch das.

»Also ich möchte das gern von dir hören. Was weißt du?«

»Aber lieber Schwager, ich weiß doch nichts. Dju, nicht wahr, Dr. Spanier, der kommt doch immer mal her und sieht nach mir. Mehr als Freund, verstehst du. Denn einen Arzt brauch ich ja eigentlich nicht. Und der hat mir mal gesagt, daß deine Frau doch eigentlich sehr leidend wäre.«

»Sooo? Aber er hat sie doch nie gesehen?«

»Ja, ihr hattet doch einen gemeinsamen alten Freund ...«

»Das Gummischweinchen, ah so«, sagt Fritz Eisner.

»Der hat sie doch mal damals zu ihm geschickt. Ja, sie sollte noch mal zu ihm gehen. Aber sie ist dann nie gekommen. Aber eigentlich hat Dju gesagt, wäre es doch sehr gut für euch gewesen, daß ihr's nicht getan habt.«

»Hm, hm«, meint Fritz Eisner.

»Weil ihr doch jetzt das Kind habt. Und sie hat sicher viel Freude an ihm. Und du auch.«

»Ach so«, sagt Fritz Eisner.

»Wenn's nach ihm gegangen wäre, hätte sie es natürlich nie bekommen. Und nun freut er sich, daß er doch unrecht gehabt hat. Und das Gummischweinchen auch. Wir haben noch vor fünf Tagen darüber gesprochen. Er sagt, es gibt nur eine Möglichkeit. Der Mann war eben schon schwer krank damals.«

»Ja. Er war sogar in acht Tagen tot.«

»Und hat eben, wie er das immer so ausdrückte, eine Fehldiagnose gelandet.«

»Hm, hm«, sagt Fritz Eisner. »Warum meint denn Dju, daß es nur die eine Möglichkeit gäbe, daß es eine Fehldiagnose gewesen wäre?«

»Ja«, sagt Hannchen, und beginnt wieder an der Elfe herum zu radieren, tief über ihren Arbeitstisch gebeugt, » das hat er mir natürlich nicht anvertraut. Wir haben auch nur einen Augenblick darüber gesprochen. Aber Ärzte können sich eben irren. Wenn sie sich nicht mit mir geirrt hätten, ich habe nie offene Tuberkulose gehabt in meinem Leben ... wäre ich doch schon längst unter der Erde.«

»Hm, hm«, sagt Fritz Eisner, »ich danke dir jedenfalls für die Antwort, Hannchen.«

»Aber Unsinn, Fritz, was redest du dir ein. Ich weiß doch nichts. Wir haben gar nicht darüber gesprochen.«

»Ich danke dir nochmals«, murmelt Fritz Eisner. Es ist ihm etwas heiß auf der Stirn geworden.

»Also Fritz, wirklich. Lebst du denn wenigstens gut mit ihr zusammen? Es ist dir zu gönnen. Ich will gewiß nichts gegen meine Schwester sagen damit. Aber es ist dir zu gönnen, alter Knabe. Und ihr auch. Lebst du denn gut mit ihr?«

Fritz Eisner wacht auf: »Wie sagtest du eben? I hope so. Hörst du was von Egi eigentlich?«

»Gewiß. Er schreibt ganz pünktlich alle Woche. Letzthin schrieb er mir sogar, daß er voraussichtlich diesen Winter noch ... Weißt du die Fahrt ... er ist jetzt Professor in Paraguay, an der ersten Universität da, ... ist ja sehr teuer. Aber er hat noch vorige Woche geschrieben, daß er in diesem Winter sicher noch rüber kommt ... Soll ich dir den letzten Brief zeigen? Willst du ihn mal lesen? Ich glaube nicht, daß was drin steht, was nicht für Dritte ...«

»Ach nein, Hannchen«, sagt Fritz Eisner, »laß nur.« Ich kann doch nicht sagen, schreibt er denn immer noch auf den Briefbogen, die du dir dazu aus vergilbtem alten Zeitungspapier selbst reißt und die so fuselige Ecken haben? Und schreibt er immer noch mit den dicken Keulenstrichen unter der Linie, die für deine Handschrift so bezeichnend sind?! Ich habe schon gesehen, daß eine Frau die Schrift des Mannes annimmt, den sie liebt. Aber umgekehrt ist es mir eigentlich noch nie begegnet. Und für wen, Hannchen, schreibst du dir eigentlich diese Briefe von Egi? (Wie lange ist er drüben? Muß doch bald an zwanzig Jahre demnächst sein.) Für dich oder für die Anderen? Voll von Zärtlichkeiten und freundlichen Dingen. – Nein, das kann man doch nicht gut sagen. Es gibt so Sachen, die man bei Anderen übersehen muß, wenn man sie weiter für voll nehmen will. Und das kann man ja Hannchen.

»Aber nun muß ich vor allem von dir wissen, mein altes Tier. Was macht der Herr Sohn, der würdige Knabe, Lulu? Ich höre da immer so etwas wie seine edle Stimme im Hintergrund. Er soll jetzt sogar sehr würdig geworden sein. Ich komme ja eben um ihm vorzuschlagen, daß wir tauschen. Ich werde ihn von jetzt an ›Onkel‹ nennen. Und er kann mich zu seinem ›Neffen‹ degradieren.«

»Hör mal Mutter«, kommt es von drüben, und die Tür wird aufgestoßen.

»Ach Onkel Lulu. Ich habe schon eben deiner Mutter gesagt, wir wollen von jetzt an die Verwandtschaftsgrade austauschen. Du wirst als der Würdigere von uns beiden zum Onkel befördert, während ich zu deinem Neffen degradiert werde. Vor der Jugend soll man aufstehen und den Hut abnehmen. Du bist aber gewachsen. Sogar breit geworden.«

»Gott, die Stimme kenne ich doch«, ruft es aus dem Nebenzimmer. »Der Meister! Was tun Sie denn hier? Wie komisch, vier Jahre haben wir uns bald nicht mehr gesehen.«

»Herrgott, Landshoff! Also deswegen steht unten das feeesche Auto.« Landshoff kommt herein. Er ist immer noch jungenhaft schmächtig, brünett und ein wenig undurchdringlich. Man weiß nie, wie er es eigentlich meint. Jedes Wort von ihm hat einen doppelten Boden. Einmal ist schon Fritz Eisner schwer auf ihn hereingeschliddert, als er ihm eingeredet hatte, er hätte ein Beerdigungsinstitut. Dabei war und ist er immer noch der größte Privatbankier Süddeutschlands. Jedenfalls Bayerns. Und Kommunist war er also bis heute auch geblieben. Denn was tat er sonst hier bei Lulu oben. Unvorsichtig eigentlich, daß er sein Auto am hellen Mittag hier unten vorm Haus halten läßt.

Aber damals hat er doch bei dem Attentat eins gehörig durch die Hand gekriegt, denn sie hängt ganz steif herunter und zwei Finger sind verkrümmt und haben sich übereinandergelegt. Er muß schon die Linke geben.

»Was ich hier mache?« meint Fritz Eisner. »Ich will Hannchen besuchen.«

»Na, Meister«, sagt Landshoff, »wie ist es mit Ihnen? Kommen Sie mit? Ich hätte mich doch gern mal wieder mit Ihnen unterhalten. Das Gartenfest haben wir damals doch noch gegeben.«

»Natürlich, ich war doch da. Also die Aufführung im dunklen Park Schlag zwölf, wie hieß das Stückchen von Justinus Kerner doch? Der Totengräber von Kirchberg oder so – also davon schwärmen wir beide, meine Frau und ich, immer noch, wie da plötzlich der Windstoß einsetzte und durch die hohen Pappeln fuhr, und der Mond aus den Wolken herauskam, das war eine Regie von Danen, wie ich sie noch nie bei Reinhardt gesehen habe, Landshoff!«

»Ja, aber das zweitemal ist auch alles verregnet.«

»Hör mal, mein kleiner Neffe«, sagt Lulu (also sowas greift er gleich auf), während er Fritz Eisner und Landshoff zur Tür bringt, »was macht deine löbliche Tochter Fränze?«

»Sie will jetzt nach Halle gehen.«

»Warum Halle? Sag mal, mein lieber Neffe, heißt nicht ihr Freund Klaus Peter Werner?«

»Ob das nun gerade ihr Freund ist, weiß ich nicht. Darin pflegt sie mich nicht einzuweihen. Und ich pflege sie nicht danach zu fragen. Aber den Namen habe ich mal von ihr gehört. Das weiß ich. Er war sogar am Bahnhof, der Jüngling, als wir abfuhren vorgestern. Aber weswegen fragst du, lieber Onkel?«

»Ach Gott, es interessiert mich. Ich frage nur so, (das reicht nicht, denkt Lulu) ich möcht ihm mal gern was bestellen lassen.«

»Also kommen Sie«, sagt Landshoff. »Sie sind erst kurz hier? Haben Sie schon unsern gemeinsamen Freund Gumpert gesehen? Also auf Wiedersehen, Genosse!« Und dann, wie sie die halbe Treppe herunter sind, spricht er weiter.

»Also, wo kann uns der Huber hinbringen?«

»An die Gedächtniskirche, ins Romanische Café, Landshoff. – Sie fragten vorhin nach Paul Gumpert. Gestern war ich mit ihm zusammen, und jetzt treff ich ihn um drei voraussichtlich wieder. Schade, war denn da gar nichts zu machen?«

»Um drei? Nein, um drei kann ich nicht. Geht unmöglich. Hätt ihn aber doch gern nochmal gesprochen.«

»Sind Sie denn Sonntag noch da, Landshoff?«

»Sonntag ja. Ich komme doch vor Montag früh wieder mal nicht fort.«

»Sonntag bin ich nämlich mit ihm und seiner reizenden Joli, die wird immer faszinierender! – gegen sechs bei Horcher. Wenn Sie ihn nicht zuhause aufsuchen wollen, und wenn es Ihnen in seinem Geschäft nicht angenehm ist (denn Sie wollen ihn doch sicher allein sprechen), da können Sie mit ihm ruhig und gemütlich und ungestört sich unterhalten, und es macht sich ganz zwanglos. Denn wissen Sie, man muß jetzt vorsichtig mit ihm sein. Er ist empfindlich. Ich rechne eigentlich auf Sie, daß man ihm doch vielleicht eins oder das andere Bild zurückkauft, an dem er besonders hängt. Ich weiß, Sie sind ja. im Krieg zusammen gewesen. Ich würd's tun an Ihrer Stelle. Lu und meine Frau sind eigentlich sehr besorgt um ihn. Nicht wahr. War denn da gar nichts mehr zu machen?«

»Das Klügste ist schon, so wie's jetzt geordnet wird. Bei den Halsabschneidern und Krawattenmachern, die sich jetzt da mit hinein gesetzt haben, kann man gar nichts anderes tun, als sie ausräuchern. Und das geht eben nicht anders, als daß man die ganze Bude mit Petroleum begießt und ansteckt. Es ist rigoros. Aber es gibt kein anderes Mittel. Solange die drin sind, wäre alles Geld verloren, das man da hineinsteckt, nicht wahr?«

»Aber das ist nicht Ihr Wagen von damals mein??«

»Nein«, sagt Landshoff, »solche lange Lebensdauer haben deutsche Motoren nicht. Aber er ist doch bequem.«

Der Wagen ruckt an, muß halten. Irgendwelche Vorschrift ist nicht berücksichtigt worden.

»Jo, wissens«, und jetzt ist Landshoff ganz münchnerisch, »wissens Herr Wachtmeister, dös kennt mei Chauffeur fei bei uns in Minka net. Da wird g'winkt und da fahrt ma halt los wie der Teifi dann.«

»Ach wat«, sagt der Schupo, »hier sind Se in Berlin. Merken Sie sich das für ein andermal. Diesmal will ick noch von een Strafzettel absehn.«

»Also ich danke Ihnen, Landshoff.« (›Bitte geben Sie dem Chauffeur nichts. Er bekommt von mir genug.‹)

»Und seh ich Sie nochmal? Und wie ist das mit Gumpert?«

»Na, wenn ich ihn nicht vorher erwische, eben Sonntag«, sagt Landshoff. »Vier Minuten nach zwei!! Ach Gott, ich sollte schon um zwei auf der Nationalbank sein. Da ist eine Besprechung wegen der Rentenmark. Da muß ich mit bei sein.«

Fritz Eisner macht ein erstauntes Gesicht. »Ach Gott«, sagt Landshoff. »Bei der Besprechung können sie mich doch jetzt da nicht umgehen. Aber Sie können versichert sein, ich hätte viel lieber Ihre Frau mal wieder gesehen. Ist sie immer noch so schön?«

Fritz Eisner überlegt einen Augenblick. »Vielleicht auf andere Art«, sagt er dann. Und schon schiebt sich das Auto vor. Landshoff lehnt sich noch einen Augenblick heraus, während er die Tür zuklappt. »Also es bleibt dann bei Sonntag«, ruft er nochmal, »zwischen fünf und sechs, nicht wahr?«


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