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Kapitel V

Der Mond

Draußen ist es ungewöhnlich mild geblieben. Die Berge halten die Wärme vom Tage lange. Und die Laubwälder auch. Hier ist das immer so. Weiter flußab, wo viel Tannen sind, werden die Nächte leicht und schnell kühl. Man merkt das ganz plötzlich. Gerade, als ob man von Italien nach Sibirien käme. Der Mond rückt hinten hoch, genau gegenüber der Stelle, wo die Sonne gesunken ist. Denn da ist noch ein rosiger Rand am Himmel. Merkwürdig, wie lange der stehen bleibt. Es scheint wirklich so, als ob der Mond der Sonne immer noch traurig nachblickt. Aber er ist kaum noch angeglüht von ihr. Hat sich nur noch mit einem kleinen letzten Abglanz ihres sterbenden Rots das breite Gesicht geschminkt. Er ist ungewöhnlich groß da über dem Berg. Man sieht den Schattenriß einer Baumkrone klar abgezeichnet in dem lichten grellen Gelb seiner Scheibe. Ganz klein und doch sehr deutlich. Aber wenn er – der Mond – auch noch nicht hoch ist, er ist doch sehr hell schon. Man kann die Dinge bei seinem Schein erkennen, fast sogar ihre Farben sehen. Man könnte vielleicht sogar nach der Uhr sehen oder lesen. Aber, das glaubt man nur. Dazu muß der Mond erst höher sein. Die Kapuzinerkressen vor dem Haus, die Maud heute nachmittag verwühlt hat, leuchten noch in seinem Schein gelbrot, und die blauen kleinen Astern, die violetten, haben in dem grünlichen Licht eine merkwürdige Silberfarbe bekommen wie Sanddisteln.

Ruth bleibt stehen und knipst eine kleine Blüte mit den Nägeln ab. Irgendwie hat sie dabei einen gerührt warmen Schimmer in den Augen. Trotz des Mondlichts darin, das eigentlich Frauenaugen nixenhaft und kühl macht.

»Ich ernenne dich hiermit für dieses Jahr zum Ehrenpräsidenten des Alten Herrenklubs der violetten Aster«, sagt sie, zupft das welke Blümchen vom Vormittag aus dem Knopfloch und nestelt ein neues mondscheinversilbertes an. Und dabei streicht sie ganz unauffällig mir mit den Lippen über die Backe. »Du bist ja doch der Beste von allen.« (Seit wann stehe ich in Konkurrenz, denkt Fritz Eisner?)

In Gegenwart von Fränze nimmt sie sonst nicht den kleinen Finger meiner linken Hand. Sie vermeidet alles, was die Kinder daran erinnern könnte, daß man schließlich und endlich ja doch seit so und soviel Jahren verheiratet ist und vorher, wie sie es gern intim ausdrückt, bald zwei Jahre lang eine Ehe auf Raten geführt hat.

Drüben im Ort, jenseits des Neckars, glänzen Fenster auf in dunklen Häusern, die sich übereinander den Berg hinauf stufen. Das ist immer wieder sehr hübsch. Es erinnert an so altmodische Lampenschirme, auf die ausgeschnittene schwarze Häuschen mit Fenstern aus rotem und grünem Seidenpapier geklebt waren. Und wenn man dann den Docht anzündete, waren plötzlich alle Fenster erleuchtet, und überall wohnten friedliche Leute in den Häusern. Das habe ich als Kind – wir hatten eine solche Lampe noch – sehr gern gehabt. Und mußte immer dabei sein, wenn sie angezündet wurde.

Ruth und ich wollen gern etwas langsamer gehen, des herrlichen Abends wegen. Und Fränze will gern etwas schneller gehen. »Langsam werden wir nachher durch die Mondnacht gehen, wenn wir zum Schloß emporsteigen«, denkt sie. Und bei so verschiedenen Wünschen bleiben nun mal Menschen nicht lange zusammen, selbst wenn es Vater und Tochter sind.

»Also, heißgeliebter alter Mann, ich muß weiterstürzen. Ich bin gern pünktlich«, sagt Fränze.

»Liebes Kind, das ist ein falsches Prinzip. Wenn ich von einem Menschen etwas will, bin ich pünktlich. Wenn ein anderer etwas von mir will, bin ich unpünktlich. Denn ich kann andern Leuten nicht gestatten, über meine Zeit zu verfügen. Aber ich sehe, du hast es eilig.«

Fränze ist schon ein Stück den Weg nach der Bahn voraus. Aber sie dreht sich noch um.

»Von Hause her bist du eine unausstehlich-didaktische Natur, Papa. Gute Nacht, Ruth«, kommt es herauf. »Vielen Dank noch für Halle.« Und dann setzt sich Fränze in Trab. Und dabei hatte sie noch gut fünf Minuten Zeit gehabt. Man sieht ihren Schatten wegab gleiten.

Der Mond ist jetzt ganz übern Berg hochgekommen und es ist heller geworden. Die Wälder sind bestäubt von seinem Licht und die Konturen der Höhenzüge zeichnen sich klarer wieder gegen den Himmel ab, der in einem schwimmenden Blaugrün mit wenigen Sternen emporsteigt. Die Kirchenuhr schlägt, und ihre Klänge singen einzeln und klar über den Fluß fort.

Ruth hakt sich ein. Sie weiß, er hat das gern. Das wichtigste dazu ist die gleiche Länge des Schrittes und der gleiche Rhythmus. Und vor allem die gleiche oder doch fast die gleiche Größe. Wenn man den Kopf wendet, muß man das Gesicht der Partnerin neben sich haben, muß sich gegenseitig gerade in die Augen sehen können, ihren Atem spüren. Von solchen Nebensächlichkeiten kann Wohl und Wehe zweier Menschen abhängen. Vielleicht hat uns das – denkt Fritz Eisner –, dieser gleiche Rythmus, und dieses vollkommene Gegenüber dabei nur zusammengeführt. Und vielleicht hält es uns nur zusammen. Denn jede Ehe hat doch Wellenhügel und Wellentäler.

Wie schön sich das so geht. Bleiben wir ein bißchen am Waldrand. Da brauchen wir nicht zu steigen. Die Schatten im Wald sind schwärzer als sonst. Mondschatten sind ja überhaupt so dunkel. Vereinzelte Grillen zirpen noch, Farrenwedel liegen auf dem Weg, die Kinder abgerissen haben. Und die Baumwipfel und die Fächer der überhängenden Buchenäste zeichnen sich silhouettenhaft scharf mit jedem einzelnen Blättchen, das sich aus den Rundungen der Laubfächer hervorwagt, gegen das schwimmende Grünblau der Himmelswölbung. Und der Widerschein des Mondes, der immer höher rückt und wie Tau auf den Wiesen liegt, die sich in sanfter Linie bis zum Fluß senken – der Mondschein liegt so duftig über den Wiesen, daß man nicht unterscheiden kann, ob er es ist oder das Heu, das da in kleinen Stapeln aufgetürmt ist, das so heraufduftet ... der Widerschein tanzt in den Wellen auf dem ziehenden Fluß, der gerade hier von großen Steinen unterbrochen, über niedrige Kiesbänke hinrauscht, Strudel macht, glatt fließt und scheinbar erlahmt, und zehn Meter davon wie ein Junge ist, der einem fortrollenden Ball nachspringt. Hunderte von kleinen Monden tanzen auf dem Wasser dahin. Immer wieder kommen und schwinden sie. Sind an andern Stellen und von neuem an den alten. Das ist hier nicht die lange Brücke, die der Mond über die Seen schlägt. Nicht sein klares Spiegelbild aus der Tiefe des Teiches. Er ist immer noch hier der gleiche Mond, der vor über hundert Jahren hier einen Eichendorff zum Dichter machte.

Ruth spricht fast nichts. Aber ich fühle es, sie will sprechen. Vielleicht ganz etwas anderes, als ich jetzt sagen will. Sie ist beklommen. Sie hat etwas auf dem Herzen.

»Wie oft erinnerst du dich an den Mond, den wir beide zusammen sahen? Nikolassee, über Kiefern, von meinem Fenster aus. Kurz vor der Revolution ... die wir beide verschlafen haben. Meersburg, mit dem Mondstreifen bis nach Konstanz hinüber. Waldsee, in einer Februarnacht, wo alles vergeistert war und der Stufengiebel des Rathauses wie voll von Gespenstern saß. So schien es wenigstens. Die Aquädukte vom Sabinergebirge her mit den tiefschwarzen Schatten über der Campagna. Und von Palermo, da oben von dem Kloster mit der riesigen Pinie, wo die ganze Stadt unten weiß wie eine Araberstadt war und ebenso silbrig. Und dann die Mondnacht oben in den Dünen in Scheveningen im vorigen Herbst. Weißt du noch?«

Und nur daran, wie Ruth meinen Arm preßt, empfinde ich, wie sehr genau, ja allzu genau sie all das noch weiß.

Nuck preßt meinen Arm noch fester. Aber dann lehnt sie den Kopf an meine Schulter. »Du, ich möchte mit dir reden. Ich möchte hier weg. Ganz und für alle Zeit weg von hier.«

»Bitte, Liebling, die Tür steht ständig offen. Ich würde nie jemand halten, der von mir fortwill. Auch wenn ich es wünschte.«

»Unsinn, Jorry, ich will nicht von dir fort. Wie kommst du darauf?« Wenn man eine Weile mit einem Menschen verheiratet ist, bekommt man ein feines Ohr für solche Nuancen: so etwas heißt doch, Gott, ich weiß es ja noch selbst nicht, aber hast du es etwa schon wieder bemerkt. »Ich will mit dir fort und will von hier fort. Komm, wir gehen wieder nach Berlin. Vielleicht können wir noch die Wohnung von Mutter kriegen. Ersten Oktober gehen die Zwangsmieter heraus. Ersten November muß sie geräumt sein. Vielleicht läßt sich das noch machen. Wir können doch die Wohnung hier im Tausch dafür geben. Ich habe schon an Lucie geschrieben, sie soll aufs Wohnungsamt gehen und das sagen. Wenn wir ein bißchen den Rubel rollen lassen, gehts schon.«

»Mit Rubeln wirste kein Glück da haben, mein Gutes.« Freundlich bleiben, ganz nett bleiben. »Was willst du denn in Berlin. Hier ist es doch hübsch. Und einen Vorzug hat unsere Wohnung wenigstens, auf den du noch gar nicht gekommen bist. Man ist von ihr aus in zehn Stunden in Paris, in zehn Stunden in Amsterdam und in zehn Stunden in Lugano. Und sogar, wenn man's sein muß, Gott behüte, in Berlin. Ich bin als pflastermüdes Pferd da weggegangen, und möchte nicht gern ein pflastermüdes Pferd da wieder werden, Nukelino.«

»Pferde sind unmodern. Wir halten beim Auto, Jorry. Und wenn der Motor streikt, läßt man ihn vier Wochen überholen und dann tut er's nachher ein paar Jahre wieder.«

»Hör mal, das Käuzchen. Wie weit das von drüben vom Kirchturm herüberschallt. Und vielleicht ist es ein hervorstechender Zug von mir, daß ich nun mal immer wieder solche tiefe Sehnsucht nicht nach Einsamkeit, sondern nach Selbstbesinnung habe. Und das ist das einzige Laster, dem man nun mal in Berlin nicht fröhnen kann.«

»Unsinn«, sagt sie, »man kann nirgends in der Welt mehr für sich sein als in einer Großstadt!«

»Und was tun wir da oben? Man ist so mitten drin. Man merkt so peinlich viel von allem. Hier kann man die Türe zumachen und die Dinge wegdenken. Oder man kann sehen, wie der Mond übers Wasser tanzt. Früher hat mir ein Buchsbäumchen auf einem asphaltierten Hof in der Uhlandstraße genügt. Heute macht es mich traurig. Vielleicht hätte ich nicht solange schon hier unten leben sollen. Und besser, als das Kind hier aufwächst ...«

Denn das ist für eine Mutter doch eigentlich das wichtigste.

»Also, das Kind verwildert, verbauert und verdummt hier, finde ich wenigstens.«

»Deutschland wird meiner Schätzung nach noch drei Millionen solcher Kinder haben. Davon wachsen doch höchstens tausend im Zoologischen Garten auf. Es ist doch nicht unumgänglich nötig, daß sich so etwas generationenweise vererbt.« (Vernünftig sein! Nicht aggressiv und persönlich werden, Mensch!)

»Sieh mal, Jorry, du kannst ja hier leben.« Ihrem Tone höre ich an, daß Ruth in diesem Augenblicke das gleiche gedacht hat: nicht aggressiv werden, nur in Ruhe das besprechen!

Wieder wehen, aber jetzt schon von weit her, die Stundenschläge herüber. Ruth hat Fritz Eisner losgelassen und ist stehen geblieben, ist ihm in den Weg getreten, hat grade vor ihm sich hinpostiert. Wie hübsch sie da sich aufgepflanzt hat, denkt er, mit dem russisch-grünen Kleid und dem erdbeerfarbenen Taftmantel über dem Arm unter dem hohen Baldachin der Buchen gegen den silbriggrauen Haselbusch am Rand der Wiese. Renoir .. Ach ja, Renoir ist ja nun auch tot .. Ist er der letzte oder lebt nicht Monet noch?! –

»Du«, meint Ruth und hält ihren Mann fest, »du .. ich habe kein schlechtes Gedächtnis. Hat nicht gestern noch jemand sowas gesagt: und dennoch bekommt man den scheuen Gesang seiner Jugend nicht aus den Ohren mit den endlos weiten Roggenfeldern und der Wolfsmilch und den Katzenpfötchen .. deine ganze Botanik habe ich nicht behalten .. in den Kieferkuscheln .. und der Birke am Kreuzweg, die voller Flechten hängt, wie vom Winter der Eiszeit aus den Tundren her?! Wer kann das gesagt haben?«

»Und unser Berggarten hier?!«

»Ganze sechs Nachmittage sind wir dieses Jahr mit Maud obengewesen. Zweimal ist sie die Steintreppe runter gefallen. Einmal hat sie sich beinah ein Loch in 'n Kopf gehauen. Das kann sie später auch noch .. denn du wirst, als Brandsalbe für deine wunde Seele – ja doch oft hier sein. Und sie auch mal. Guck mal zu, Fritz, ich bin doch hier wie das Kind, das in die Ecke gestellt ist und nicht mehr mitspielen darf. Gewiß verheiratet sein, und selbst mit dir verheiratet sein, alter Schurke, – ich kann mir zwar etwas Schöneres vorstellen – und ein Kind haben .. ich sage nichts dagegen. Aber es ist nicht das Leben. Einsamkeit und Gemeinsamkeit liegen nicht nur im Reim nahe beieinander.«

Wie nett sie so etwas prägt. Ganz beiläufig. Und nach einer Stunde hat sie es wieder vergessen.

»Ich möchte in eine Redaktion zurück, an irgendetwas mittun. Ich möchte auch politisch wieder arbeiten. Das bißchen Haushalt, das bißchen Bücher für dich lesen und Inhaltsangaben machen, das bißchen Edeltippeuse bei dir spielen, ist doch nicht alles. Ich bin Jahre heraus, ich möchte nicht den Anschluß ganz verlieren. Wo kann man das hier? Man läuft mal in einen Vortrag, spricht mit ein paar Studenten, die heute hier und morgen schon da organisiert sind. Versucht ein paar lasche Bürgerfrauen zusammenzubringen zu irgendetwas, was nach einem Jahr doch wieder auseinanderfällt, .. aber das genügt doch alles nicht! Das ist so, als ob sie hier den Neckar da unten .. wie schön das jetzt blitzt da drüben (ich habe ja auch Augen im Kopf, dummer Kerl! Ich seh das ja!) .. mit einem Kinderbagger regulieren wollten. Ja, aber soll das etwa das Leben sein?«

»Ich habe eine sehr verlockende Aufgabe für dich, Ruth: schreib die Geschichte dieser Siedlung. Sie wäre – ganz still ... sieh mal den Hasen da vor uns, wie er so ganz vorsichtig ... da drüben links am Waldrand .. wie er so ganz vorsichtig aus den Farrenkräutern guckt .. jetzt hoppelt er nach der Wiese rüber. Nu ist er im Gras. Da unten, wo sich jetzt die Halme bewegen, muß er jetzt ... still ... Hast du mal eine Eule fliegen sehen ... Da ... Da ... Jetzt da unten ... Da streicht sie an den Birken hin. Ein seidenes Tuch kann nicht lautloser durch die Luft flattern ... Ja, also du solltest die Geschichte dieser Siedlung schreiben ... Dieses Polypenstocks. Dieser Pilzsiedlung. Dieses Hexenrings von Menschen hier. So wie wir sie miterlebt haben hier ... Mit Heiraten und Scheidungen und Tod und Not und Eheirrungen und Kindern und Zank. Und dem Bächelchen Glück und dem Strom Unglück wie wir ihn so in den wenigen Jahren hier an uns mit vorbeirauschen ließen. Ich bin nie soviel Menschen auf einmal so nahe gewesen, ohne ihnen nahe sein. Das wäre der beste Roman, der je geschrieben worden war. Das könnte ein wunderbares Buch werden. Ich kann's nicht schreiben.«

»Wozu soll ich dir Konkurrenz machen, Jorry?«

»Frauen sehen besser Einzelheiten. Männer beurteilen sie besser. Aber ich glaube trotzdem, du könntest es besser als ich. Weil du beides hast .. eine frauenhafte Beobachtung und einen männlichen Kopf dabei.«

»Ich kann nicht schreiben, Jorry.«

»Doch .. wer sprechen kann, kann schreiben. Und du kannst sprechen.«

Wie still das jetzt ringsum ist. Nur ganz ganz weit drüben, an der Gegenseite des Flusses unten am Wasser, singende Studenten. So etwas kann manchmal sehr hübsch sein. Aber die da scheinen reichlich betrunken. Denn sie unterbrechen ihren Gesang immer, um sich gegenseitig: »Fuchsmajor, du bist eine Seele, du altes Schwein«, anzuprosten. Soweit es ist, sieht man doch im Mondlicht selbst die Goldschnüre an ihren roten Stürmern über das Wasser blinkern. Und dann gröhlen sie weiter, genau, wo sie sich unterbrochen haben. »Alles atmet Frohnatur.« Sie haben aber einen Vorzug, sie kommen nicht näher, sondern sie gehen weg.

»Laß die Finger von der Politik, Nuck. Einmal hast du schon schlechte Erfahrungen gemacht. Und man kann doch auch nicht Wohnungen und Wohnorte heute, wo das so erschwert ist, wie Schlipse wechseln.« (Aber, schießt es Fritz Eisner durch den Kopf, aber ist denn das eigentlich der Grund, weswegen sie hier fort will? Ein Grund vielleicht. Der Grund – das fühle ich deutlich – der Grund ist es nicht!)

»Und das Kind soll mal in Berlin in die Schule gehen. Die sind besser. Und vor allem jetzt moderner geleitet.«

»Im Gegenteil, Nuckelino, die Schulen hier sind sehr gut. Man kann ein Kind mit sechs hier hereintun, braucht sich nicht weiter um es zu kümmern und geht dann wieder nach zwanzig Jahren zu seiner Antrittsvorlesung.«

Ruth lacht und streichelt ihren Mann. Darin ist sie wie eine Französin, ein Witz entwaffnet sie vollkommen .. (Jetzt habe ich sie, denkt Fritz Eisner.) »Wie hat unser Freund, der alte Direktor, da gesagt, als du ihn wegen der modernen Jugenderziehung interpelliertest: ›Ach was, gnädige Frau, dö Borschen wollen nichts lernen. Und sä haben recht. Keiner will lernen. Ech wörde auch nichs lernen. Also mössen sie dazo gezwongen werden.‹ Seine Schüler erweisen ihm nebenbei, um in der Sprache der Klassik zu bleiben, göttliche Ehren. Nur ihr Mädchen seid so abscheulich ehrgeizig und beflissen mit der Schule immer. Ihr verderbt uns Jungens ja damit das ganze Jahrhunderte alte Konzept.«

Ruth ist sehr still geworden. Der Mondschein macht sie ganz blaß plötzlich. Erst, das fühlt Fritz Eisner, wollte sie reden, aber sie sagte nicht, was sie sagen wollte. Und jetzt fühlt er, sie will nicht reden. Und das ist bedrückender. Das gesprochene Wort zwischen Eheleuten hat kaum Gefahren. Nur das ungesprochene Wort kann zur Lawine werden, die beide verschüttet.

»Und paß auf, Kindchen, wo sollen wir in Berlin hin? Die Wohnung deiner Mutter ist doch wirklich und wahrhaftig für uns recht ungeeignet. Sie ist zu groß. Sie hat mir zu wenig Sonne. Und sie ist mir noch viel zu sehr in der Stadt drin. Und wo sollen wir sonst wohnen? In irgendeiner Bauzuschuß-Mausefallenwohnung in solch einem neuen komfortablen Massengrab? Und es dauert eine halbe Stunde, bis das Kind von da ins Freie herauskommt. Wozu willst du sie denn durchaus aus einem Garten in einen Blumentopf verpflanzen? Wir werden ja doch nicht ewig hier sein. Warte etwas noch. Warte etwas noch. Ich bitte dich. Alle Dinge werden. Morgen kann doch der Inflationsschwindel zusammenknacken – was dann? Hier kann nichts passieren. In Berlin laufen doch schon die Kriegsgewinnler wieder wie die fahlen Leichenwürmer herum, weil selbst von ihnen niemand weiß, was für ein neuer Schwindel kommen wird. Die Aasgeier fliegen sogar schon wieder weg von Berlin. Wozu sollen wir grade jetzt dahin fliegen? Wart's doch ab, mein Nuckchen.«

»Meinst du, Jorry, daß ich soviel Zeit habe?«

»Mehr als ich. Denn sieh mal, Ruth, wenn du es auch nicht wahr haben willst, weil wir kontraktlich die Jahre zusammengeworfen und geteilt haben. Du bist ja nicht einundvierzig. Du bist achtundzwanzig. Oder wirst es erst sogar. Und ich bin nun mal dreiundfünfzig und nicht mehr einundvierzig. Und nun schon gar nicht mehr siebenundzwanzig. Also du bist der Jüngere, der mehr Zeit hat, von uns beiden – du.«

»Nein .. das ist falsch gerechnet, Jorry, weil« (warum zerrt sie eigentlich die Worte so) »weil ein Dreiundsechziger, der fünfundachtzig dann wird, viel jünger ist, als ein Neunundvierziger, der fünfzig wird. Das Leben stellt nun mal so komplizierte Rechenaufgaben.«

»Ich ernenne dich hiermit feierlich zum Ehrendoktor für Unlogik, mein Gutes .. wirklich, hör' damit auf ..« ruft Fritz Eisner ziemlich laut.

»Warten wir doch, Nuckchen, das ist doch nur eine Zwischenpause hier.«

Ruth will etwas antworten. Aber sie gibt es auf.

»Im Leben dauern die Zwischenpausen aber oft länger als das Stück«, sagt sie endlich. Und es gibt so Momente, wo ihre Stimme sehr tonlos wird.

»Warten wir es doch hier noch eine kleine Weile ab, Ruth. Es ordnet sich ja immer alles von selbst. Es sah aus, als ob wir nie heiraten könnten, und eines schönen Tages sind wir doch auf den Petersberg gegangen und haben es getan.

Es sah aus, als ob ich nie wieder einen Roman schreiben könnte .. jetzt ist er heraus .. Es sah aus, als ob der Krieg nie aufhören würde .. als ob wir nie ein Dach über'n Kopf kriegen würden. Es ist alles geworden. Auch das wird werden. »Nur nit brumme, es wird schon kumme«, sage se hier. Warum meint Ruth eigentlich nichts dazu? denkt Fritz Eisner.

»Also .. warum soll das nicht auch werden. Ich sehe es doch auch nur als ein Interregnum an. Später, wenn die Kinder majorenn erst sind .. ziehen wir doch da in mein ... in unser Haus da vielleicht wieder. Da sind wir ganz für uns .. (aber Ruth will das ja gar nicht, denkt Fritz Eisner). Und wir werden es durchaus menschlich da haben ... Gewiß, in manchen Beziehungen ist es ja ... ich gebe das zu, hier ein ganz klein wenig unter menschlich ... (Wirklich: Was spricht sie nicht! Es ist nicht leicht, dabei ruhig zu bleiben!) Was beklagt ihr euch denn immer und wollt es immer wieder anders. Habe ich die Wohnungsnot gemacht? Habe ich die Inflation gemacht? Eigentlich haben wir es doch herrlich gut. Keiner ist auf die Landstraße gekommen. Keiner ins Gefängnis. Du glaubst gar nicht, wie schnell und leicht jetzt beides geht, Ruth! Ihr habt noch immer gewußt, wo ihr nachts den Kopf hinlegen sollt. Und das Bett war gemacht, wenn ihr nach Hause kamt.«

»Gewiß, Jorry, du willst damit sagen: man freut sich, daß man lebt, und beneidet die, die tot sind.«

»Wirklich, mein guter Nuck, nu sei vernünftig. Man kann sich die Dinge heute nicht mehr aussuchen. Man muß mit ihnen fürlieb nehmen. Wie man über diese letzten zehn wahnsinnigsten Jahre, die je die Welt sah, hinweggekommen ist, ohne auch nur ernstlich von einem Seitenwind der Lawine gestreift zu werden, das war doch ein unverdientes Glück. Wir heute sind ja alle nur Reiter über dem Bodensee. Wir leben heute. Wir existieren auch noch morgen und in einem Jahr noch. Selbst ein Paul Gumpert, der doch ein Glückskind war, ist doch gestern zusammengebrochen.«

»Ja ja .. ich las schon«, meint Ruth sehr sehr tonlos. »Aber wollen wir nicht umkehren. Ich finde, es ist plötzlich doch etwas kalt geworden. Es kann sogar schon ein ganz klein bißchen gegen Morgen vielleicht Reif geben.«

»Ach Unsinn. Das gibt noch keinen Reif. Paß auf, sowie wir unter den Buchen sind, ist es wärmer. Hier sind eben Tannen. Sieh nur mal, wie hübsch der Stern durch die Kronen schimmert.«

»Ich bekomme ja noch Geld aus England«, meint Ruth .. aber eigentlich sagt sie es mehr für sich. Fritz Eisner weiß es nicht .. aber er ahnt so etwas von der Gedankenkette, deren Schluß das ist.

»Gewiß, mein Gutes, ich zweifele nicht daran. Nur wann, ist mehr als ungewiß. Das gibt es so oft in den Grimmschen Märchen, daß Leute eine Schüssel voll Goldstücken heben wollen. Manchmal sind sie ihr schon ganz nah, bücken sich schon danach, sehen es schon verlockend blinkern und blitzen. Aber meist fehlt ihnen in der letzten Minute das richtige Beschwörungswort, und grade wenn sie es schon glauben, daß sie es haben, sinkt es wieder ein paar Klafter tief in den Boden. Oder wenn sie es wirklich kriegen, dann ist es am nächsten Morgen Spreu und Asche, wenn nicht noch etwas Schlimmeres. Daran erinnert mich heute immer die Sache mit Auslandsguthaben. Also rechnen .. mein Liebling .. rechnen kannst du im Augenblick damit nicht. Aber wir brauchen es ja auch nicht .. mein süßes altes Tierchen .. bisher ham mer ja a Göld noch im Sack.«

Was ist nur mit dem Mädchen los? denkt Fritz Eisner, sonst nimmt sie mir so nett die Beschäftigung des Redens ab und heute ist kaum ein Ton aus ihr herauszubringen. Vielleicht bin ich vorhin doch zu weit gegangen! »Richtig, mein Liebchen, ich sehe das vollkommen ein: Bei uns da oben wissen die Menschen, und vor allem die so um uns, besser, welche Farbe eigentlich Trumpf ist. Aber endlich bist du doch hier auch mit vielen ganz gut ausgekommen.«

»Gewiß, die Menschen haben mich ganz gern gehabt .. auch hier, weil ich weder häßlich noch dumm bin. Aber, wenn ich hier weggehe, werde ich doch kaum wissen, von wem ich mich verabschieden soll.« Und dann schweigt Ruth wieder .. aber in ihr spricht es weiter .. das fühlt Fritz Eisner.

Schade drum – sie ist so auserlesen schön, diese Mondnacht. Sie fühlen das beide und trotzdem treiben sie auseinander, statt zusammen. Schade drum. Gehen stumm und verärgert nebeneinander her.

Plötzlich fällt Ruth ihrem Mann um den Hals und küßt ihn. Sie bleibt gar nicht mal stehen dabei. Oder nur einen Augenblick. »Sag: nie wieder Krieg!« ruft sie, »sag: nie wieder Krieg! Also sprich nach: nie wieder Krieg! Noch mal. Lauter: Nie wieder Krieg!!« Jetzt lacht sie wieder: »nie wieder Krieg!«

Gewiß, denkt Fritz Eisner, aber sie hätte das, mit den Jahren nicht sagen dürfen. Es ist ja doch nicht wahr. Mag sein: sie ist ein kränklicher Mensch. Aber solche Leute werden bekanntlich sehr alt dann. Stellen sich eben auf ihre Krankheit um, finden sich auch mit ihrer Krankheit ab. Sie hält doch sehr viel aus dabei ... Aber Turnen .. Gymnastik. Nichtwahr, das darf sie nicht. Nein, das dürfte sie auf keinen Fall tun. Soll sie schwimmen. Das ist sie gewohnt. Das sind keine Gewaltssachen. Und das überanstrengt sie nicht. Wenn sie nicht grade viel springt – und das tut sie ja nicht – kann sie sich auch dabei nicht schlagen. Aber diese neumodische Gymnastik. Das muß man als Kind lernen, aber nicht mit bald dreißig Jahren, plötzlich die Kerze machen wollen bei diesem ewigen Nasenbluten und so, was sie jetzt immer wieder hat. »Gewiß, Ruth, ich gebe es ja zu, man ist hier nicht verwachsen. Aber wie kann man sich von heute auf morgen hier loslösen, selbst wenn du dich hier unglücklich fühlst. Du kommst ja hier fort ... aber das geht doch nun mal nicht so schnell. Hörst du ... hörst du ... wie die Äpfel runterfallen .. buff .. buff ... wieder buff. Weißt du was das sind? Ein paar Siebenschläfer. Die räumen son Baum ab! Ich glaube nicht, daß er weiter nach Norden, als so bis Weinheim geht. Ich weiß es zwar nicht. Reizende Kerlchen. Wie kleine graue Eichhörnchen mit 'nem Stummelschwänzchen. Und ganz ganz großen Knopfaugen, noch größer im Verhältnis zum Kopf wie die von dir. Man müßte mal solch Tierchen sich halten. Nur sie schlafen so lange. Daher der Name Siebenschläfer. Siehst du, auf der Astspitze an der Mauer, da sitzt einer. Huit .. jetzt hat er uns gesehen und nun turnt er ab. O Gott – es ist gleich elf schon. Jetzt kann man die Uhr wirklich erkennen .. Ich glaube, man könnte die kleinste Schrift lesen, so hell ist der Mond. Sieh mal, wie der Mondschein da auf dem Wasser tanzt. Der wird das gar nicht müde die ganze Nacht fast über. Aber wir tanzen jetzt nicht mit. Wir gehen schlafen. Merkwürdig, wieviel schneller immer ein Rückweg geht als ein Hinweg. Sieh mal die Häuser, viel anders kann solche Siedlung auf dem Mond auch nicht aussehen. Wie aus Mondsteinen gebaut sehen die Häuser aus. Ich glaube, die Leute gehen hier mit den Hühnern schlafen. Nirgends ist mehr Licht. Selbst der Pfarrer Moser ruhet nunmehr schon neben seiner guten alten Frau.«

»Wunderschön«, sagt Ruth leise.

»Frierst du auch nicht? Nimm den Mantel über .. Kriech hier in meinen Arm ein bißchen herein. Komm, ich wärm dich ein wenig an. Ach .. du hast ja ganz kalte Fingerspitzen.«

Aber Ruth ist kaum zum Reden zu bringen. Fröstelt trotz des Mantels und trotzdem sie sich in Fritz Eisners Arm schmiegt. Wer die beiden so durch die Mondnacht schleichen sähe, würde nie auf den Verdacht kommen, daß sie verheiratet sein könnten.

»Habe ich dir das eigentlich mit der Ente erzählt?« (Wozu soll man immer von den gleichen Dingen reden? denkt Fritz Eisner.)

»Du nicht, aber Maud. Deshalb haben wir ja so gelacht mit Fränze vorhin. Was hat er gesagt? – Die Ente ist das Schäflein des armen Mannes? .. das hat Maud mir erzählt.«

»Ach nein .. das verwechselt sie. Er sprach von einem Scherflein. Jedenfalls habe ich ihm fünfzig (wozu soll ich hundert sagen? denkt Fritz Eisner) ganze Millionen gegeben für den Vogel.«

Jetzt lacht Ruth wieder. Das heißt, Fritz Eisner hört es dem Laut an, daß sie innerlich immer noch weint. Aber für sich. Was geht das die andern an? Das ist ihm noch peinlicher. Was hat sie denn? Menschen, die man liebt, sollen auch nicht innerlich weinen. Schön .. man wird mal wieder weggehen von hier im Winter. Hat man immer getan. Aber es wird doch nicht morgen oder übermorgen sein. Vom fünfzehnten November ... aber da sind hier noch die Buchenwälder rot ... das ist die schönste Zeit hier im ganzen Jahr, das soll man nicht verfehlen ... vom 25. November so bis in die Mitte Februar vielleicht. Dann fängt es auch schon wieder an, ganz hübsch hier zu werden ... Und so allerhand Bälle und Einladungen und Karneval gibt's dann ... Das ist was für Ruth. Warum soll eine junge Frau auch nicht gern tanzen? Als man noch nicht Tango richtig tanzen konnte .. und es noch keine »Tanzplatte« gab ... hat sie sogar einen Preis drin bekommen. So ungefähr wie ich vor fünfundzwanzig Jahren in Tennis, weil man damals noch Tennis für eine Kombination von Skat und Billard hielt. Heute kann ich ... ich habe das neulich mal versucht wieder, selbst bei einem Klubmitglied zweiter Garnitur ebenso gut aufm Neuen Markt stehen. Da bin ich wehrlos dagegen.

Wieder schlägt die Kirchenuhr drüben. Aber jetzt hört man es ... vielleicht ist's auch noch stiller geworden indessen .. sehr deutlich und hell herüberklingen. Am Tage hört man es fast nie so weit. Ein Auto tutet dazu von unten zornig von der leeren Uferstraße herauf und eilt davon. Wozu ist es so böse? Es ist ja keiner da, der ihm was tun will. Soweit man die Straße herabsieht, ist sie ein einziger ungetrübter, glimmender Mondstreifen .. Der Mond ist eigentlich nicht sehr hoch gekommen. Er wird bald wieder hinter die Berge gehen. Da drüben senkt er sich schon von neuem ihnen zu. In ein, zwei Stunden werden in seinem untern Rand wieder die ersten Spitzen der Buchenkronen sich schwarz abzeichnen. Alles wird schlafen. Und niemand wird das sehen. Nur die Hasen, die sich in den Wald zurückdrücken. Und die werden auch nicht darauf achten.

Die Blumen, die Kapuziner, die Maud zerwühlt hat, haben sich im Tau schon wieder etwas aufgerichtet. Und die Asternbüsche stehen steil und blaß und sehen mit ihren vielen Köpfchen zur Mondscheibe empor. (Wirklich, es ist recht kühl geworden!)

»Bist du sehr müde? Hast du dich heute beim Turnen auch nicht überanstrengt, Kind? Wozu machst du sowas? Es ist für dich das Ungeeignetste, was du erfinden konntest«, meint Fritz Eisner, während er aufschließt.

Und dann sind sie drin im Zimmer ... »Hör mal«, sagt er, »ich gehe noch einen Augenblick zu mir rein. Ich will mir noch ein paar Notizen machen für den Artikel für Sonnabend. Und dann ist mir da noch etwas zu dem Roman eingefallen vorhin. Nachher fliegt es einem wieder fort. Solche Vögel sind verdammt schnell.«

Ruth legt den Mantel ab ... macht das Haar auf und wirft es mit so ein, zwei Kopfbewegungen herum, daß es wie ein schwarzer Roßschweif von rechts nach links fliegt, ehe sie es zu bürsten beginnt. Das Kleid hat sie abgestreift. Aber das macht ja jetzt gar keinen Unterschied eigentlich. Die Frauen sehen ... so ist grade die Mode, und da macht jede mit .. angezogener fast aus, wenn sie das Kleid ausgezogen haben, als wenn sie es anhaben. Ruth sieht recht abgekämpft aus, das arme Tierchen. War vielleicht doch zu lang der Weg jetzt, denkt Fritz Eisner. Na, soll schlafen. Morgen kann man weiter drüber reden. So etwas muß doch überlegt werden!

»0 weh, mein Jorry«, sagt sie, »wenn du äußerst, du willst dir noch eine Notiz machen, dann ist es faul. Dann höre ich dich noch um halb vier, wenn ich grade mal zwischendurch aufwache, an der Maschine klappern. Wenn du nur gesagt hättest, du willst arbeiten, dann hätte ich gewußt, du bist in drei Minuten schon bei mir. Also, gute Nacht, mein alter Herr. Ich lasse noch die Tür auf. Willst du noch etwas zu essen? Nein? Zu trinken? Tee? Auch nicht. Also bona sera!!«

»Also ›Schlaf, mein Liebling, träum von lauter Rosen‹, ›Und alle Leute tanzen‹ und andre beliebte Tangos, wie der Tango aretino und der Tango de rêve (für 25 Pfennige!).«

Da lacht sie sonst immer drüber, denkt Fritz Eisner. Ist wohl heute sehr schnell eingeschlafen ... antwortet doch gar nicht mehr. Nun will ich wenigstens warten, bis sie ganz fest schläft.

Wirklich, jetzt ist der Mond da oben am Wald wieder, sinkt langsam ein in die Bäume da oben. Und der Fluß und die Berge beginnen sich leicht zu verschleiern. Die Sterne, erst nur wenige und hell, holen sich kleine Brüder heran. Und der Gürtel des Orion hängt da hinten wie ein silbernes Band herab, irgendwie geheimnisvoll im nächtigen Nichts befestigt. Ein leiser Wind kommt jetzt von den Höhen nach dem Fluß herunter, als ob der Wald so in weichen rhythmischen Stößen atmete ...

Es ist doch merkwürdig, wie Kinder sich zu Büchern einstellen. Hast du all die Bücher allein ... sie meint selbst ... geschrieben? fragt Maud. Aber vorher hat es eine ganze Weile gedauert, bis sie herausbekommen hat, daß Schreiben und Drucken zusammenhängt. Und sicher hat sie das nur kombiniert, weil man ihr gesagt hat, daß ich Bücher schriebe. Aber dann verbessert sie sich und sagt: geschriebe nich! Hast du sie alle gelesen? Und dann gibt sie sich wieder selbst die Antwort. Du sagst es nur so. Alle wirst du wohl nicht gelese habe .. vulleicht so eine Reih. Aber doch nicht sämtliche Wände lang. Und sie geht weiter. Sie ist im Fragealter. Wenn du es getan hast ... weißt du noch, was in allen steht? Und wenn du es nicht weißt, muß du sie nochmal lesen – alle? Wenn du jeden Tag ein Buch liest, wie lange liest du dran, Papap? Na .. so ungefähr neun Jahre, Maud. Aber davon hat sie keine Vorstellung. Und haben wir sie denn? Und weißt du denn alle auswendig, so wie ich: Paulinchen war allein zu Haus .. die Eltern waren beide aus. Warum liest du denn? Und wenn du eins schreibst, schreibst du das aus den andern Büchern dir ab? Warum sagt Mutti immer neue Bücher für die, die auf'n Tisch liegen. Sind denn die andern Bücher alle alt? Sie kann einen totfragen damit.

Ja, das sollte man ... natürlich geändert! ... als Motto über den Aufsatz »Wozu lesen?« setzen. Den könnte man mal in Kopenhagen ganz gut einschieben. Wer durch über dreißig Jahre literarisch interessiert war, hat unabsehbare Bücherfluten heranrollen und wieder verebben sehen. Von vielen glaubte er, daß sie nicht nur in die Literatur eingehen würden, sondern, was mehr ist, der integrierende Bestandteil der Seele, der Seele eines Landes und was noch weit mehr ist, ja sogar der Seele der Menschheit werden würde ... und was noch mehr ist, den einzelnen Menschen umformen würde. Wie hundert ... tausendmal hat man sich getäuscht. Ein paar Blätter von dem ganzen Baum bleiben nur immergrün, die andern fallen fast alle zu Boden, verwehen, werden nicht mal Humus für neuen Pflanzenwuchs. Sehr groß, gewaltig groß kommen sich die neuen Dinge vor, solange sie neu sind. In drei Jahren ... noch eher schon ... sind sie nur noch eine Registraturnummer der Bibliotheken.

Also ... man müßte doch mal nach Maud sehen. Ich glaube, das Kind weint da drüben. War doch sehr munter den ganzen Tag. Hat sich eben aufgeregt mit der Ente. Oder träumt was. Oder es hat sie eine Schnake gestochen. Aber hier gibt's doch kaum wel .. »Nuck, bist du das da etwa, der weint?« Was ist denn da los? blitzt es in Fritz Eisner auf. Habe ich das nicht schon mal erlebt ... November achtzehn? »Das bin ich doch von dir gar nicht gewohnt, kleine Heulmine!«

Auch Eminé ist munter geworden, steht vor Ruths Bett und sieht still mit halbschiefem Kopf zu ihr herauf.

Ruth liegt in die Decke gewickelt, hat die wilde Art zu schluchzen, die Fritz Eisner von ganz früher an ihr kennt. Sie dreht sich mit dem Kopf in die Kissen und ihr Körper wirft sich rhythmisch hoch und nieder. Ein Seidenwurm, der spinnt, hat ähnliche krampfige und durch den ganzen Körper gehende Bewegungen. Das ist alles sehr deutlich in der grünen Monddämmerung. Den Nacken unter dem schwarzen Helm von Haaren biegt sie etwas zurück, und die Kissen haben schon große Tränenspuren. Gott – Ruth ist doch sonst immer ein sehr disziplinierter Mensch. Aber, wenn die Hemmungen bei ihr gefallen sind, bricht es wie eine Eruption, wie ein Strom von Lava aus ihr hervor, der alles versengt und niederlegt, und den dann keine irdische Macht von seinem Weg ablenken kann.

Fritz Eisner sitzt auf dem Bettrand, streichelt sie. Er weiß, es wird eine ganze Zeit dauern, bis er sie zum Sprechen bringen wird. Und bis sie seine streichelnde Hand nicht mehr zurückstößt. Ist ja – und das ist vielleicht das Beste an ihr und sicher das Schönste – von Hause her doch wie ein schwarzer Panther. Man kann ihn zähmen. Er zieht den Wagen des Bacchus. Aber man ist doch nie vor dem Hieb seiner Tatze ganz sicher. Auch gezähmt bleibt er im letzten Kern ungezähmt. Denn sonst wäre es eben kein Panther, kein schwarzer.

Es ist so unangenehm, machtlos zusehen zu müssen, wenn jemand, mit dem man verbunden ist und mit dem eine fast untrennbare Gemeinschaft besteht, Schmerzen des Körpers oder der Seele ausgeliefert ist, wenn er etwa krank ist, verwundet, ganz gleich, wo das Geschoß des Schicksals ihn traf. Und je stärker das Mitleiden, desto bedrückender die zugleich einsetzende Fremdheit, die, wie ein Erbteil von Urzeiten her, einen immer wieder überfällt. Deswegen ist auch die schwerste Stunde der Frau die dümmste Stunde des Mannes.

»Na, mein Nuckelino, wo schwimmen denn die Felle, mein gutes Kind?«

Aber noch ist keine Antwort zu bekommen. Das Schluchzen geht weiter.

»Komm, sei ruhig! Sei doch still, damit man mit dir wie mit 'nem Menschen reden kann! Tut dir was weh? Hast du Magenschmerzen? Die Nase? Der kleine Zeh vom linken Fuß? Also raus mit der Sprache.«

»Du sollst nicht fragen«, kommt es endlich zurück. »Du sollst wissen!« Aber Fritz weiß nun wirklich nichts.

»Ich bin immer ein grader Mensch gewesen«, und jetzt wirft es sie beinahe vor Schluchzen. »Ich will ... ich will ... ich will keine Komplikationen. Haben wir denn dazu all das zusammen durchgemacht, Jorry? Ich will fort von hier. Frage mich nicht, warum und weshalb! Du sollst mich nicht danach fragen. Ich will nicht einen Tag länger mehr hier sein. Wie sagst du immer: Garantiescheine werden nicht gegeben.«

Wie meint sie das, denkt Fritz Eisner. (Vielleicht hat ihn da grade jemand mit einer Bleikugel zwischen die Augen geschlagen): »Entschuldige, Ruth, wie meinst du das?«

»Du ... ich bin meiner nicht mehr sicher. Ich sage dir das.«

»Willst du mir sonst etwas sagen?«

»Nein!!«

»Ist es nötig, daß du mir etwas sagst?«

Wieder eine Minute vorbei.

»Nein ... noch nicht, Jorry.«

»Wer?«

»Du kennst ihn nicht oder kaum Jorry, und ich! will ihn nicht mehr kennen.«

Fritz Eisner hat immer noch diesen verdammt dummen Schmerz zwischen den Augen ... Wieder geht eine Minute vorbei. Von draußen hört man einen verfrühten Hahn krähen. Das tun sie manchmal schon kurz nach Mitternacht.

»Ist das also, du verstehst, der Grund?« Fritz Eisner würgt es im Hals. Wenn man ein Vierteljahrhundert älter ist als seine Frau, so ist das ja doch das Schicksal, auf das man hintreiben muß. Fünf Jahre früher oder fünf Jahre später. Man mag sich noch so lieb haben. Endlich ist es ja doch etwas Stärkeres, das dann die Karten mischt. Man müßte doch ein Narr sein, es nicht zu wissen, daß sieben Achtel der Männer heute jünger sind, als man selbst ist. Endlich aber hat er viel aufgegeben deshalb, eigentlich mehr als sie. Sein Haus, seine Freunde, bis auf wenige, seine Kinder und seine bescheidene Lebenssicherheit. Fast sogar seinen Namen, sein bißchen Ruhm. Wenn einer sich hierbei ganz und gar umgestellt, sein Dasein von neuem begonnen hat, so war er es doch. Und nun wurde gegen das wieder von außen Sturm gelaufen.

»Nein, Jorry, der Grund ist es nicht. Es kommt so alles zusammen. Ich fühle mich auch nicht gut hier. Vielleicht das Klima. Schön ist es. Aber ich habe hier immer Angst, es geschieht doch mal früher oder später etwas Schlimmes mit mir. Ich möchte hier fort, Jorrychen.«

»Aber, mein Liebling, gewiß, darüber ließe sich reden«, sagt Fritz Eisner endlich sehr unbestimmt. Ja eigentlich so, daß es mehr das Gegenteil der Worte bedeutet als die Worte selber.

»Und es hat alles nichts genützt!!« schreit Ruth auf.

Es gibt immer zwischen Menschen, die sich sehr nahe stehen, Worte, die man eigentlich wie nach einem stillschweigenden Übereinkommen nicht aussprechen darf, um die jeder von den beiden einen Bogen macht, weil jeder dem andern gegenüber immer ein schlechtes Gewissen hat. Worte sind das, die man nur in höchster Seelennot ruft. Wie die SOS-Rufe der Seeleute.

Ja, es gibt immer solch ein paar Worte zwischen zwei sehr nahen Menschen. Und das war eines davon. Denn es hatte schon einmal vor langen Jahren (die Zeit geht schnell ... Früher, wo das Leben glatt und einfach floß, – früher wäre das nur ein etwas zurückliegendes Vorgestern gewesen, aber jetzt sind so sechs oder bald sieben Jahre, sechs oder sieben Ewigkeiten schon ...) schon einmal hatten sie da eine schicksalsbestimmende und sogar lebensbestimmende Rolle an sich gerissen. Aus Peter Altenberg hatte Ruth es aufgegriffen. Den sie ja – heute war er ihr schon wieder etwas entrückt – einmal sehr geliebt hatte. Der junge Graf X steht da, hatte seinem Mädel den Laufpaß gegeben. Und da kam es weinend zu Altenberg. »Geh, Peter, schreib mir was, wie ich's schreiben tät, daß er mich wieder nimmt. Setz mir was auf.« Und da schrieb Altenberg ihr dann auf die Kehrseite einer Speisekarte: »ein Jahr lang hat der Kerl mich jede Nacht nackt im Bett gehabt – und es hat alles nichts genützt!«

»Also, mein Nuckchen, nun sei mal stille. Du weinst mir doch die Worte vorm Mund weg. Da kann ich doch gar nicht reden. So, nun trockne dir mal das Gesicht ab. Hier ist dein Taschentuch!«

»Kein Licht anknipsen«, sagt Ruth, »dann schäme ich mich.«

»Berlin? Wer hat vordem überhaupt etwas von Berlin gewußt? Noch vor 200 Jahren war's eine ganz unbedeutende Stadt. Ein Fischerdorf eigentlich. Wer redet überhaupt hier von Berlin? Ich möchte nie wieder hin. Du vielleicht?«

Ruth dreht sich um und lächelt ihren Mann an ... so hell ist es doch noch draußen vom sinkenden Mond ... lächelt ihn mit ganz verträntem Gesicht an und zieht ihn zu sich nieder. Sie kennt die Art ihres Mannes sehr genau. »Sag nie: ›nie‹, Jorry«, flüstert sie.

»Habe ich etwa was von Berlin gesagt? Daß ich nicht wüßte. Also, wir werden einen Pakt machen, Ruth.«

»O weh«, sagt Ruth und dreht den Kopf wieder auf die andere Seite, »wir haben schon einmal einen Pakt gemacht: ich dürfte nicht denken, und ich dürfte nicht handeln. Du denkst und du handelst für mich. Da bin ich nicht gut gefahren.«

»Wirklich?« meint Fritz Eisner, von neuem verstimmt, »dann wäre es nicht nötig, daß wir einen zweiten Pakt ...«

»Doch, Jorry, – es war nur etwas schwer und hat etwas lange gedauert.«

»War das meine Schuld?«

»Nein, die war es gewiß nicht.«

»Also, wir wollen einen Pakt machen. Ja, wir fahren nach Berlin. Mit Maud. Und du versprichst mir dafür mit heiligem Eidschwur, aber nicht wie die Athener, von denen ein alter Schriftsteller sagt, sie kamen auf dem Markt zusammen, um sich gegenseitig mit falschen Eiden zu betrügen .. du versprichst mir dafür: die Gymnastik sofort aufzustecken. Vollkommen und für immer. Abgemacht. Du bist für mich jung und schlank genug.«

Ruth streicht Fritz Eisner über den Nacken. »Ja«, sagt sie leis', »abgemacht. Und wann werden wir reisen?«

»Wann? ... das bestimmst du.«

»Also, morgen abend, Jorry. Das wird gehen. Ja, morgen abend.«

»Und was wird aus Frau Zehrer?«

»Sie wird für's erste in der Wohnung bleiben.«

»Und Emi?«

»Den holen wir uns dann mal später. Soll er Frau Zehrer und die dicke Pute ihn bewachen. Nicht, mein Hundebaubauchen? Kann denn niemand das dem Hund abgewöhnen, daß er einem immer und ewig die Finger leckt. Ich verabschiede mich von niemand hier. Sollen sie mal zuerst denken, wir sind nur verreist.«

Jetzt ist Ruth ganz still geworden und lächelt vor sich hin. Eine schwere Schlacht war das, denkt sie. Aber ich habe sie gewonnen.

»Hören Sie, mein Herr«, sagt sie plötzlich mit ihrer etwas männlich rauhen Stimme. Und es wäre schwer für Fritz Eisner, sich loszumachen von der Umrankung der Arme. Selbst wenn er es wünschte. »Hören Sie, mein Herr, wollen Sie sich nicht ausziehen jetzt? Wenn man eine junge schlanke Frau hat, soll man sich des abends keine Notizen machen. Das ist Zeitvergeudung. Also komm jetzt ... Vergiß nicht, drin das Licht auszuknipsen, Jorry. Morgen früh kündige ich hier«, ruft sie, während Fritz Eisner im Halblicht nach seinem Schlafanzug tastet.

»Nein, Nuckelino«, sagt Fritz Eisner, »das wollen wir lieber noch lassen. Die Wohnung hier ist doch als Sommerwohnung der Traum aller Sommerwohnungen. Oder wenn ich wieder meinen Raptus mit der Selbstbesinnung habe und in Berlin pflasterscheu werde. Du mußt doch auch erst sehen, wie die Dinge sich in Berlin anlassen, ob wir da nicht ebenso wie in der Minknastadt hinten abirutschen ... das Kündigen können wir dann von Berlin aus machen. Wenn wir wissen, woran wir sind. Und ich werde doch nicht leichtsinnig eine Wohnung wie die hier aufgeben. Von der ich weiß, daß ich in zwölf Stunden, wenn ich gerade Lust habe, in Amsterdam, in Bergamo oder in Paris bin. Schon dieser Gedanke ...«

»Ach komm zu mir, blöder Hammel.« Fritz Eisner kennt diesen Ausdruck letzter Zärtlichkeit. » Und nach Berlin! Was brauchst du nach Paris? Ich werde so nett zu dir sein, daß Paris ein Ursulinerinnenkloster dagegen ist!«


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