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Vorwort

Der fünfte in einer Kette von fünf Romanen ist dieser hier. Fünf Romane mit den gleichen Figuren über ein Lebensalter hin. Jeder spielt nur kurze Zeit, jeder ein anderer Querschnitt an einem anderen Wendepunkt des Weltgeschehens und der Einzelschicksale. Von den letzten Jahren des alten Jahrhunderts bis zu den letzten Tagen der Inflation zieht sich die Kette hin. Drei Generationen nebeneinander. Das heißt die erste Generation, die um 1840–60 geborene, ist etwas zu kurz gekommen dabei. Und die Generation, die nach neunzehnhundert geboren ist, auch. Es ist im Großen die Geschichte der Generation, die zwischen 1870 und 1880 zur Welt kam. Männer und Frauen des guten bürgerlichen Berliner Mittelstandes sind es fast alle eigentlich ›vom gesicherten Leben‹ oder doch aus dem gesicherten Leben kommend, fast alle Berliner, fast alle Juden. Intellektuelle, Schriftsteller, Musiker, Ärzte, Juristen, große Kaufleute ... wie Paul Gumpert ... sie alle erleben hier, daß ihre »Zeit stirbt«. Großstadtjuden sind es, Berliner Juden mit allen Gaben, mit der ganzen geistigen Beweglichkeit, aber auch mit allen Differenziertheiten und Gebrochenheiten eben dieser, mit der ganzen so einzigartig gestalteten Mentalität, unpolitische Menschen mit ihrer Kulturbeflissenheit, und einem Hauch von Schwermut über eine Welt, in der sie sich nicht mehr zurechtfinden.

Sie stehen als Menschen zwischen zwanzig und dreißig (die Frauen mehr nach den Zwanzig zu, die jungen Männer mehr nach den Dreißig hin) vor der Tür des Lebens, sie betreten die Säle und haben Erfolge oder Mißerfolge, und sie gehen zur andern Tür alle vorzeitig und enttäuscht hinaus.

»Einen Sommer lang« sind es zwei junge Brautpaare draußen in Wildpark bei Potsdam. Die Töchter von Frau Lindenberg, die sich mit jungen Männern, die nichts haben und noch nichts sind, aber viel werden wollen, mit goldenen Ringen an der Linken richtig und wirklich verlobt haben. Und dann sind es die komischen Liebeswirren um eine von ihnen, um Hannchen, die noch einem halben Dutzend anderer junger Leute, die gleichfalls noch nichts sind, versprochen hatte, auf sie zu warten, bis sie etwas sind.

Im »Kleinen Gast« ... all die Schicksale sind aus einer Perspektive des einen sie Miterlebenden, von ihm Geformten, des Schriftstellers Fritz Eisner gesehen ... sind es junge Eheleute, und der Tod des ersten Kindes des Eisnerschen Paares, eben des »kleinen Gasts«. Die jungen Ehen auch der andern ... Hannchens und Egis ... die Paul Gumperts ... die des Doktor Spaniers ... kriseln schon. Die Ehe Hannchens bricht sogar durch eine schöne, elegante Malerin, Lena Block ... Die Ehe des Doktor Spanier, des Lungenarztes und Röntgologen, mit der graziösen Lu ... der einzigen der Frauen dieses älteren Kreises mit hohen geistigen Entwicklungsmöglichkeiten nach einer skrupellos verflatterten Jugend ... hier hat sie das erste Mal schwere Erschütterungen, die noch einmal überwunden werden, und die erst fünfzehn Jahre später, am letzten Tage des Weltkrieges zum Bruch führen, um nach weiteren fünf Jahren ... eben hier in »Eine Zeit stirbt« ein erneutes und letztes Sichfinden zu erleben.

Und eine weit jüngere Halbschwester jener Malerin, Lena Block, eben Ruth, wird das Schicksal des hier Handelnden und Betrachtenden, eben der Ehe Fritz Eisners. Davon erzählen »November achtzehn« und »Ruths schwere Stunde« ... ein Roman, der in der Aussicht auf eine zweite Ehe Fritz Eisners und Ruths ausklingt. In »Eine Zeit stirbt« jedoch werden die Fäden weitergesponnen, bis sie Atropos zerschneidet ... die meisten wenigstens.

»Ruths schwere Stunde« steht auf dem Hintergrund von München im Juni bis August neunzehn. »Eine Zeit stirbt« auf dem der Schlußtage der Inflation ... München, Heidelberg und Berlin mit den wechselnden Landschaften der Städte bilden die Dekorationen bei den dreien.

Die fünf Romane mögen über zweitausend Seiten haben, und mit dem bislang unedierten, aber abgeschlossenen einer Nebenfigur, nämlich des »Rosenemil«, der davon handelt, wie aus dem Kolporteur ein Einbrecher und Zuhälter, und dann neunzehnhundertdrei der Blumenverkäufer vor Wertheim wird, der schon im »kleinen Gast« seine Rivierarosen ausschreit ... »scheene langstielije Rosen, reizende Kinder Floras!!« wohl über zweitausendfünfhundert Seiten.

Man kann vielleicht am besten die fünf, sechs Romane mit einem altmodischen Kantenschal vergleichen, der an fünf, sechs Stellen große eingewebte Blumensträuße hat. Weite Strecken gehen die Schicksalsfäden unsichtbar und unterirdisch, jeder für sich, aber dann stoßen sie plötzlich wieder zur Oberfläche alle zusammen, verflechten sich eben wieder ineinander zu eben diesem Muster, dem Blumenstrauß. Keiner der Sträuße, keine der Blumen ist ganz wie die andere. Aber sie kehren alle wieder, wenn auch die Seidenfäden etwas changiert sind. Endlich jedoch sind es, – hier, wie da! – stets die gleichen Fäden. Gewiß, man kann ruhig jedes Muster, jede Blüte, jeden Strauß für sich betrachten. Doch man wird, scheint mir, mehr noch Freude daran haben können, wenn man sie alle einmal übersehen wird.

Der Leser wird vielleicht glauben, den und jenen in den Romanen zu erkennen. Sie sind es nicht. Sie ähneln jenen höchstens soweit, wie Menschen, von denen wir träumen, denen der Wirklichkeit gleichen. Es gibt vielleicht nur einen Fritz Eisner ... doch auch er ist jedem von uns schon mal begegnet! ... Aber es gibt hundert Lus, Doktor Spaniers, Annchens wie Hannchens unter uns, Paul Gumperts und Jolis, Ruths, und tausende von Fränzes und Hänses und Lulus heute, Ludwig das Kind ... Denn es ist unser ganzes Leben, das Geschichte wurde, in diesen fünf, in diesen sechs Romanen, unser Leben, das in zehn, zwanzig Jahren schon als unwiederbringliche Vergangenheit vergessen sein wird, sowie sie schon heute halb vergessen ist, und so wie alle Geschichte vergessen wird und vergessen werden muß, um Raum dem Neuen zu geben.

Endlich aber auch schrieb ich diese Romankette, weil es zum Schluß doch nichts in der Welt gibt, was mich mehr interessiert als mich selbst, jenes Selbst, ohne das mir erst gar nicht die Welt wäre, und das mit mir zusammen mit der Welt zugleich schwinden wird. Und wenn sich gegen eines unser Gefühl auflehnt, so zwar nicht dagegen, daß sie schwinden wird, und daß wir mit ihr schwinden werden, sondern dagegen, daß davon nicht soviel übrig bleiben soll, wie der zarte Abdruck eines Grashalms und eines Blättchens in der Kalkplatte der Versteinerung ... dagegen sträubt sich unser Gefühl.

Und so spann ich also diese Romankette aus der gleichen oder einer ähnlichen Erwägung, die mich einst veranlaßte, nach dem Woher zu fragen und ein »Jettchen Gebert« und ihre Zeit aus tiefster, letzter Vergessenheit zum Scheinleben wieder heraufzuzaubern.

Oder ... wie es da heißt: eine gute Hausfrau liebt es nicht, daß in ihrem Haushalt Brot weggeworfen wird oder verkommt ... denn, ob es nun Brot oder Menschenleben ist, es ist doch Gottesgabe.

Georg Hermann


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