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Kapitel VI

Abreise

Als Fritz Eisner aufwacht, hört er draußen sprechen. Oder vielleicht ist er nur dadurch aufgewacht.

»Denks mal aa, heit nacht hat scho greifft. Könnens mer glaabe, mei Liebe, mei Dahlie daheim lasse scho die Kopp hänge .. denkens mal aan.«

Und zugleich ist das ganze Zimmer doch voll Sonne. Sie liegt wie ein dünner Überzug von Goldlamée über den Plumeaus. Und der Morgenhimmel draußen über den Bergen, deren Grün vielleicht etwas mehr angeröstet ist als es gestern war, ist ganz mattblau und zart von einigen weißen Federn durchpustet.

Das muß die Milchfrau sein. Ein braves altes krummes Wesen von achtundsechzig Jahren, das immer noch mit einem Wägelchen und Milchkannen von früh an eine ganze Gegend abkarrt, rotbäckig, zahnlos und von einer unverwüstlichen Freundlichkeit, eine anima candida, sicher so weiß wie ihre Milch an Seele, die bestimmt einmal einen Ehrenplatz oben im Himmel kriegt.

»Nuckelino, was tut dir heute weh?« ruft Fritz Eisner vom Nebenbett herüber, denn das ist sein Morgengruß. Ruth richtet sich auf und setzt sich sehr vergnügt im Bett hoch. (Sie ist noch immer eine Bettschönheit, denkt Fritz Eisner.) Wie schon gesagt, die Wohnung hat eine vorzügliche Akkustik, und geschlossene Türen wirken nur schallverstärkend in ihr. – »Frau Beisel«, ruft sie, »wir verreise! Von morge ab brauche wir keine Milli mehr.« (Nun kommt sie sogar ins Bayrische.) »Nur noch für die Frau Zehrer, die sagts Ihne scho wieviel.« Denn Ruth ist der Meinung, daß sie mit dem Volk hier in seiner Sprache sprechen müsse, um verstanden zu werden, während das doch gerade ein Mittel ist, meist von ihnen unverstanden zu bleiben.

»Ach schau her, verreise tuns?« kommts von Frau Beisel. Sie spricht wie alle Leute ihres Alters und ihrer Zahnlosigkeit ziemlich hoch. »Viel Vergniege, Fraa!«

»Dank schö«, ruft Ruth und lacht zu Fritz Eisner herüber. Jetzt läßt sie sogar noch von schön das »n« fort, um zum Schluß auch ja recht farbecht zu wirken.

»Du«, sagt sie dann, »ich freu mich doch, wir wollens uns nett in Berlin machen.«

»Aber denk auch an unseren Pakt, Ruth.«

»Also um die Wohnung brauchst du dich gar nicht zu kümmern. Das mach ich in Berlin schon irgendwie. Und in Berlin bist du doch wer. Und hier bist du ein Kinobesitzer. Hier kennt dich niemand. Du solltest dich nicht immer so einmauern. Mit den Wölfen muß man heulen. Ehe du dich versiehst, sind andere da und du bist vergessen. Man hat heute ein verdammt kurzes Gedächtnis.«

»Und was wird aus den Büchern?«

»Da machen wir Pakete draus und dann haben wir ja acht, neun Tage sogar Zeit, und eine Maschine hat Mutter noch. Wenn auch 'ne uralte Remington mit unsichtbarer Schrift, auf der Adam schon die ersten Liebesbriefe an Eva getippt hat. Aber die ist unverwüstlich, und noch heute für diese und ähnliche Zwecke herrlich zu brauchen. Selbst für deine Artikel.«

»Ach nein, Nuck, den Unsinn da von Büchern und den Quatsch von Artikeln mein ich doch nicht. Ob da vier besprochen werden von den Romanen oder zwei, in denen der Generaldirektor – – das ist jetzt Mode, bei Björnson war alles noch der Pfarrer! – den Unschuldengel von Privatsekretärin per Auto ins Blockhaus entführt. (Ich werde welche der Parität wegen schreiben, in denen die Sekretärin den Generaldirektor verführt) – das ist doch so egal! Aber ich meine, meine Bücher, du weißt ja, ich lese nie ein Buch zum zweitenmal, aber es gibt kaum eins, in dem ich nicht ein zweitesmal wieder lese. Ich lese mal gern ein paar Seiten aus dem Phaedrus, ich lese gern ein Göttergespräch von Lukian, ein Gedicht von Verlaine oder Rilke, ein paar Kapitel aus der Candide, Kiplings Soldatenballaden, Tristram, France oder eine Mogligeschichte, einen frühen Galsworthy oder den Schüdderump, Fontanes Familienbriefe oder Montaigne.«

»Aber Jorrychen, Berlin hat doch Bibliotheken, hab ich mir sagen lassen.«

»Nein, Nuck, was hat das für'n Sinn? Ich kann ja vorher gar nicht wissen, was ich lesen werde. Das gibt die Laune und gibt die Stunde. Vielleicht, ein Zufall, daß die Hand nach rechts oder nach links greift. Und da kann ich, wie man sagt, nur aus meiner Mutter ihrem Gebetbuch beten. Oder, um es ganz echt zu zitieren, wie der kleine Judenjunge sagte, aus meiner Memme ihren Zidder benschen. Bis wir die Bücher in Berlin haben, das wird mir doch fehlen.«

»Aber du bist doch bald zwei Jahre ohne deine Bücher ausgekommen.«

»Ja, damals hast du sie mir auch ersetzt und damals hast du mich auch noch lieb gehabt. Also – wer?«

»Ach Gott«, sagt Ruth, »sei vernünftig, Jorry, es könnte der oder jener sein. Es könnte zum Schluß jeder sein. Verstehst du denn nicht, so etwas hängt doch nicht von ihm ab, sondern von mir, ob ich glaube, daß es besser ist für mich, und zum Schluß ja auch für dich, jemandem auszuweichen.«

Fritz Eisner träumt eine Weile mit offenen Augen vor sich hin, sieht raus in die Berge, in die blaugrüne, nur ganz leicht herbstliche Wolle der Wälder. Wie klar das heute wieder wird und wie schön das alles hier von der jungen Sonne angemalt ist. Um die Zeit sind hier die schönsten Tage. Gott ja, sagt es in ihm, hat es einen Sinn, da weiter dich und Ruth mit Fragen zu quälen? Eigentlich muß es dir doch genügen, daß sie ihm ausweicht. Aber das sagt sich nur sein Verstand, und der hat eigentlich wenig zu sagen bei Dingen dieser Art. Früher wäre ich auf solchen Kerl mit dem langen Messer losgegangen .. am liebsten. Man wird alt. »Schön, Nuck, also du willst es mir nicht sagen?«

»Wenn es nötig wäre«, sagt Nuck, »daß ich es dir sagte, so würde ich es tun. Das heißt: du kennst mich. Ich würde dann ebenso anständig wie rücksichtslos gegen dich sein. Aber da ich es dir nicht sagen will, so ist es eben nicht nötig.«

»Gut«, sagt Fritz Eisner, »dann will ich es auch nicht wissen«.

Ruth ist sehr rot geworden. Aber plötzlich wirft sie sich mit einem Ruck herum und beginnt ihren Mann lachend mit den Fäusten zu bearbeiten. Und da die sehr klein und nicht allzu kräftig sind, und Fritz Eisner harte Muskeln und harte Knochen hat und immer wieder die kleinen Fäuste aufzufangen weiß, tut Ruth sich dabei wie stets nur immer zum Schluß mehr weh, als es ihm weh tut. Und sie läßt wie stets, leicht beleidigt, aber lachend-aufatmend wieder von ihm ab. »Du blöder Hammel«, japst sie, »was gehen dich die anderen Männer an? Komm mit mir, wir machens uns hübsch in Berlin.«

Solange aber Frau Zehrer lärmvoll ist und fromme Lieder singt und die Wohnung durchtobt, wagt man nicht aufzustehen. Sie wird sich schon bemerkbar machen, wenn es soweit ist, daß sie solche Leute wie Fritz Eisner und Ruth, die ihr im Wege stehen bei ihren weit und wuchtig ausladenden Handbewegungen brauchen kann. Außerdem wird man es daran feststellen, daß es nach Kaffee riechen wird.

Dafür dringen aber jetzt Maud im Nachtröckchen und Eminé in das Schlafzimmer ein und verlangen Aufnahme.

Eminé weiß, daß ein Zorn selten über eine Nacht währt und tut unschuldsvoll, und als ob nichts gewesen ist, stellt sich starr und steif, hält den Kopf schief und blinzelt unter buschigen Brauen, und macht sich niedlich wie ein Spielzeughund (damals in Potsdam vor einem Viertel Jahrhundert – oder länger noch – bei der »Kapitänswitwe« da draußen gab's doch so einen komischen Hund, denkt Fritz Eisner, den Hannchen .. habe lange von ihr nichts mehr gehört .. wenn wir wieder in Berlin sind, muß ich mich doch mal um sie und um Lulu kümmern. Endlich bin ich doch nur von ihrer Schwester und nicht von ihr geschieden – – den Hannchen immer den Spielzeughund nannte).

»Werde ich nicht auch wie dieses Kind ins Bett genommen?« sagt Eminé. »Betten sind angenehm. Und Betten sind warm. Und außerdem liebe ich die Leute darin sehr. Aber sie stupsen mich immer zurück, wenn ich nur die Pfoten auf die Bettkante lege und ihnen das zeigen will, indem ich ihnen ins Gesicht zu lecken versuche. Das ist unfreundlich von ihnen!«

Fritz Eisner muß Maud nun die Geschichte vom Seehund erzählen. Das ist eine sehr lange Geschichte, so lang, daß sie – mit Unterbrechungen von Jahrfünften, natürlich schon über zwanzig Jahre geht und noch nie zu Ende gegangen ist. Sie hat täglich Abweichungen und ist sehr komisch immer wieder. Ihre Hauptpointe, die stets von neuem belacht wird, ist, daß sich gegen Schluß herausstellt, daß die Tante sowieso eigentlich der Seehund ist. Außerdem hat sie zwei Ausgaben, diese Geschichte, die für Vier- bis Sechsjährige, und die für Sieben- bis Zehnjährige. Und innerhalb dieser Grenzen wieder hat sie nie endende lokale Variationen und schmiegt sich stets dem Ideenkreis und den geographischen Kenntnissen sowie der augenblicklichen Umgebung an. Für Fortgeschrittene spielt sie ebenso gut im schnellen Wechsel im Eismeer und bei den Feuerländern Südamerikas, während sie bei der ersten Stufe selten über den Rhein, Helgoland und Amsterdam herauskommt.

Ihre Beliebtheit ist ohne Zweifel stärker als die der Geschichte von der Ziege, die entdeckt wird und dann auf einer rollenden Kugel im Zirkus balanciert und sehr reich und glücklich wird, während die Geschichte von »Piep, der dada ging« wiederum nur von Kindern unter vier Jahren goutiert wird und jene »vom Lausehammelchen und seinen beiden Violinen« doch nur von Kindern über zehn Jahren in ihren letzten Tiefen erfaßt wird. Hingegen ist »Isehoppelinchen« für Kinder aller Altersstufen (Ruth inbegriffen).

Ruth ist zwar dagegen, daß man Maud solchen Unsinn erzählt. Denn sie ist für Montessori und so. Aber Maud ist dafür. Also ist Ruth überstimmt. Ruth sitzt jetzt im Bett, hat sich die Kissen in den Rücken gestopft und die Beine angezogen und sie hat einen Schreibblock auf den Knieen, auf dem sie mit einer präzisen Fixigkeit steile Tapetenmuster haut und in wenigen Minuten Blatt auf Blatt häuft, während sie dabei leise vor sich hinsummt. Fritz Eisner mag das russische Lied nicht recht. Es ist ihm immer leicht unheimlich mit seinem Puschkintext. In München hörten sie es in einem kleinen Theater in einem echt russischen Stück – in dem die Jugend aufbegehrt und sich dann doch fügen muß ... »Hastig entschwinden die Tage des Lebens ... die Himmlischen wollen unser Verderben ... die Götter, die graben uns selber das Grab.« Gewiß! Das Lied hat eine schöne Melodie, aber einen peinlichen Text.

Ja, aber bei näherer Betrachtung entpuppen sich dann doch aus diesen Tapetenmustern Buchstaben, Worte und sogar zusammenhängende Sätze und das Ganze scheint ein Brief zu sein. Warum Ruth plötzlich all die Briefe schreibt, die meist nach Berlin fliegen sollen, ist unerfindlich, denn sie wird ja ebenso schnell wie diese Briefe da sein und kann sich dann ans Telefon hängen, statt den Leuten Keilschriftbillets zu schicken, die die dann erst im Museum entziffern lassen müssen.

Vielleicht beginnt, durch diese Beschäftigung ihrer Mutter angeregt, Maud die Blümchen an der Tapete – es sind bunte Winden – beginnt die Blümchen zu zählen. Das heißt, wenn sie bis zwölf ist, fängt sie wieder von vorne an, denn weiter weiß sie noch nicht. Maud macht das ganz stumpfsinnig und mechanisch.

»Warum zählst du denn die Blümchen?«

»Das muß ich. Wenn die Fraa Zehrer sich anziehe tuat, muß ich mich ins Eckche allweil so lange stelle – aber heimlich dreh ich mich doch um – und die Bliemles an der Wand zähle.«

Ruth sieht Fritz Eisner an und Fritz Eisner sieht Ruth an. So etwas paßt nicht in ihr Erziehungssystem. So etwas gibt nur verdrängte Komplexe.

»Das hört nun auf«, sagt Ruth.

»Ich mag lieber meine Mari wieder«, jammert das Kind.

»Ja ... Alles wege dir! Weil du immer Emi Enten zu essen gibst, wollen wir heute mal bißchen nach Berlin fahren, alle drei.«

Maud will das mit Emi nicht wahrhaben. Emi hat mit ihr wirklich nur spiele wolle. Und dann fragt sie plötzlich. »Ist die Omi nun nicht mehr tot?« Doch sie fragt es so leise, daß Ruth, die wieder neue Tapetenmuster entwirft, es gar nicht hören kann.

Aber Fritz Eisner will Maud vom Thema abbringen. »Also heut Abend fahren wir«, sagt er, »die ganze Nacht über fahren wir. Aber weil wir vornehme Leute sind, fahre wir Liegewagen und schlafen.«

»Ach, Schlafwage«, ruft Maud, denn auf allen Reisen, die Fritz Eisner und Ruth mit ihr machten, und das waren doch immer zwei, drei im Jahr gewesen oder mehr, war ein Schlafwagen, der mitlief, stets die Sensation und das große Geheimnis gewesen, daß es sogar Leute gab, die sozusagen ihr Bett mit auf die Reise nahmen. Fritz Eisner hatte sie hochheben müssen, daß sie wenigstens durch die Fenster da hineinschauen konnte, und sie hatte es später immer so gemacht, daß sie sich mit dem Schaffner davon – vielleicht war es auch schon die Suggestion der Uniform und der Goldtressen auf ein weibliches Wesen – anfreundete, damit er ihr einmal so eine Kabine auch von innen zeige. Das hat ihr sehr imponiert. So schönes blankes Holz und blanke goldene Griffe und, wenn man an der Wand zog, war's ein Waschbecken aus Silber, und der Nachttopf war nicht viel größer als ihr Puppennachttopf. Also, jetzt weiß sie sich vor Freude kaum zu lassen und tobt vor Glück auf ihrem Vater herum.

»Was heißt Schlafwagen? Wir fahren Liegewagen«, ruft Fritz Eisner und bläht sich vor Stolz nur so, »das ist viel vornehmer! Schlafwage gibts zu hunderten! Liegewage gibts kaum ein halbes Dutzend in ganz Deutschland. Pe! Du wirst ja staunen. Später, wenn du erst mal groß sein wirst, so groß wie deine dumme Mama –« Ruth haut etwas mit der kleinen Faust herüber. Sie liebt es nicht, in den Augen ihrer Tochter herabgesetzt zu werden. Solch Kind, meint sie, kann nicht unterscheiden, was ernst und was nicht ernst gemeint ist. (Im Gegenteil, Nuck, Erwachsene können das meist nicht. Ein Kind weiß so etwas ganz genau!) »Also dann wirst du dich noch erinnern, wie königlich ... aber das verstehst du nicht. Das war vor deiner Zeit ... wie reichspräsidentenhaft deine guten, aber würdigen Herren Eltern (jetzt mach ich es wieder wett, Nuckelino) am 9. Oktober 1923 mit dir nach Berlin gefahren sind. Hör mal, Nuck, eigentlich ärgere ich mich, aber ein Gutes hat es ja doch, ich brauch dann nachher zu der Vorlesung am 15. nach Stettin nicht weit zu fahren. Da ist man in ein paar Stunden von Berlin aus.« Und dann schnüffelt Fritz Eisner. »Du, ich wittre nicht nur Morgenluft, sondern auch Kaffee«, ruft er und springt mit beiden Beinen aus dem Bett, um als Erster ins Badezimmer zu kommen. Und auch Ruth ist mit dem letzten Tapetenmuster auf ihren Knien – sie liebt es so, auf altetruskische Art zu sitzen – jetzt fertig und wirft einen ochsenblutroten wattierten Seidenkimono über. Er hat keine gestickten Blumen, der Kimono. Die müßten dann sehr hohe Qualität haben, und das ist auch in Japan sündenteuer. Aber er hat um noch eine Nuance rötere eingewirkte Chrysanthemen auf dem Grund der stumpfen ochsenblutfarbenen Seide. Und das ist delikater als alle Stickereien.

Ruth fängt einen Blick ihres Mannes auf. Sie weiß, daß er diesen Kimono, den er ja aussuchte, zu dem Ebenholz des Haares und zum rot unterlegten Brünett ihrer Haut, gerade diesen, und sie darin sehr liebt, und vielleicht hat sie ihn eben deshalb sich jetzt genommen. Denn, da sie an vieles denkt, so denkt sie auch an solche kleinen Nuancen, mit denen sie sich dann wortlos zu bedanken pflegt. Und sie erwidert den Blick und sagt sehr leise (so etwas braucht ein Kind nicht zu hören und die Göhre paßt sehr auf, und auch Eminé, der es sich auf einem Bettvorleger bequem gemacht hat, braucht das nicht zu hören): »Also, Jorry, ich kann immer noch sehr schön sein, wenn ich will. Nichtwahr???«

Das sagt sie gern. Aber nicht häufig. Und stets, wenn sie es sagt, hat es eine bestimmte Bedeutung und Bewandtnis damit, und es ist irgendein Anlaß, der es herausforderte.

Auch Maudi krabbelt aus dem Bett, denn sie will doch nicht zu spät zum Kaffee kommen. Der Kaffee interessiert sie gar nicht so, und außerdem bekommt sie gar keinen, sondern Milch. Aber da gibt es immer etwas sehr Lustiges. Sie, Maud, ißt ganz heimlich und schnell ihr Ei auf, so daß die Schale fast ganz bleibt, und dann dreht sie es um und tauscht schnell ihren Eierbecher mit dem ihres Vaters aus. Und dann klopft er es auf, und macht ein sehr erstauntes und dummes und böses Gesicht zugleich, weil das Ei doch leer ist. Und so minderbegabt – das ist das Komischste! – ist doch dieser alte Mann, daß man das jeden Morgen wieder mit ihm machen kann, ohne daß er es je vorher merkt. Jeden Tag fällt der Esel wieder darauf hinein. Das Merkwürdigste ist aber daran – doch das weiß Maud nicht! – daß er, trotzdem das schon vor fünfzehn und zwanzig Jahren die anderen Kinder, ihre Schwestern, Fränze und Hänse, genau so mit ihm gemacht haben, daß er immer noch nicht auf den Gedanken gekommen ist, das Ei könnte doch einmal hohl sein und deshalb mißtrauisch geworden ist.

Ruth ist unglücklich, da aus der Zeitung ersichtlich, daß die Mark dem Dollar gegenüber wieder, wie es technisch heißt, nachgegeben hat. Gar nicht auszudenken, um wieviel Millionen! Und daß sie der Bankmensch beschwatzt hat, gleich leichtsinnig ihre ganzen drei Dollar zu wechseln, an denen der nun eben diese Millionen verdient hat. Dieser Wegelagerer!

Aber sie ist doch wieder glücklich, weil ihr Papier, der »Tobackshändel Köhl«, dafür etwas gestiegen ist. Aber sie sieht gar nicht, daß es eben trotzdem bedrohlich, ja schon mehr katastrophal gefallen ist.

»Ach Gott, Nuck. Ich halt's von jetzt an mit dem chinesischen Gesandten am Hofe Ludwigs des Vierzehnten: Wir nennen es tanzen, spricht er mit Lachen, aber wir lassens von andern machen.«

Aber das ist ja gerade die Anschauung, die Nuck haßt. Man soll mittun. Das ist eben die Bourgeoisart, die uns so weit gebracht hat. Warum haben sie sich nicht darum gekümmert.

»Kind, überleg mal, was haben wir für'n verrücktes Jahr hinter uns. Und jetzt dieser Millionen- und Milliardenrummel, mit den Portokassendefraudanten, die die Generaldirektoren und die Wirtschaftsführer spielen, meinst du, es wäre alles weniger verrückt gewesen, wenn ich mich zum Volkstribunen aufgeworfen hätte?«

Aber Ruth sagt, daß doch der Bourgeois an allem schuld ist, und zum Schluß ist es ja doch gut, daß er ausgespielt hat. Ein leerer Darm voll Angst und Hoffen, daß Gott erbarm! Sie kennt ihren Goethe auch, nicht nur gewisse Leute!

»Ach Gott, Nuck«, meint Fritz Eisner, »unsere Generation kann ja sterben, und ich will ihr gewiß nicht nachweinen. Sie kann sogar ganz und gar zugrunde gehen. Wenn sie nur den Boden für eine neue starke Generation endlich mal schafft. Aber das tut sie doch gar nicht damit. Und deshalb tut mir der Bourgeois eigentlich leid. Endlich hab ich ihn ja doch mit all seinen Fehlern gern gehabt – weil ich selbst einer bin!«

Aber Ruth sagt, Maud und Emi haben sich schon wieder zurückgezogen, denn sie haben überall zu erzählen (Emi weiß sicher noch gar nicht, daß er nicht mitgenommen wird), daß sie verreisen würden... Ruth sagt, daß sie mit Frau Zehrer packen müsse, daß es höchste Zeit sei, und bei so etwas stören Männer und sind sehr überflüssig. Er soll rausgehen und dichten. Denn wenn man eine Kuh, die gut Milch gibt, nur mal im Stall hat, dürfe man sie nicht trocken stehen lassen. Wer weiß, wie lange man noch so Dollars aus ihr herausmelken könnte. Wenn man an seine Sachen käme, würde man ihn rufen.

Und dann beginnt Ruth zu dirigieren, zu disponieren, zu organisieren, alles hat doch jetzt den Organisationsfimmel, und Ruth glaubt an diesen Schwindel, wie sie an das Evangelium nicht glaubt. Sie schreibt lange Listen auf Notizblocks, was mitgenommen werden soll und was hier gelassen wird und was nachgesandt werden soll. Überall legt sie Zettel bei und spielt Warenhausbetrieb. Billets und Plätze im Liegewagen hat sie sich schon telefonisch gesichert und Fränze im Zoologischen Institut von der neuen Veränderung, die in Aussicht steht, ausführlich in Kenntnis gesetzt. Wirklich, Fritz Eisner braucht sich um gar nichts zu kümmern. Der soll nur dichten. »Davor ist er Pferd!«

Jetzt ist die Luft wieder weich und mild. Seidig und schmiegsam. Die Sonne hat sie schnell erwärmt. Vielleicht ist auch der Wind, der nach Nordost gestern Nacht gedreht hatte, wieder umgesprungen. Jedenfalls aber ist die Luft hier überhaupt aus einem anderen Stoff gemacht wie im Norden da oben, und darüber gibt auch das Thermometer keine Auskunft. Da oben denkt man, es sind zehn Grad und es sind fünfzehn, und hier denkt man, es sind fünfzehn Grad und es sind zehn. Aber die Kapuziner haben doch etwas abbekommen in der Nacht. Oder richtiger am Morgen. Ihre Blätter, Stiele und Ranken, die dicklich und saftgefüllt sind und wie Glas brechen, sind vom Reif ein wenig angewelkt, und manche der gespornten Blüten, die noch gestern feurig rot, gelb und veilchenfarben über dem Graugrün der Schildblätter sich erhoben, liegen schlaff und gekraust nun auf ihnen. Sie sind nicht tot, aber gezeichnet. Und die werden sich doch kaum noch von neuem erholen. Aber die gestern noch in Knospe waren, sind unter der Morgensonne herrlich wieder aufgegangen.

Fritz Eisner geht herunter und pflückt sich eine Glasschale voll, um sie auf dem Schreibtisch vor sich hinzustellen. Wenn es ein zweitesmal Frost gibt, werden sie sowieso hin sein. Vielleicht blühen sie bis Ende November, ja bis in den Dezember hinein. Das war manches Jahr so. Vielleicht sind sie in einer Woche hinüber.

Sie sehen sehr schön auf dem Tisch aus, leuchten in der Sonne, die sie seitlich durchstrahlt in ihrer frischen Schmetterlingsbuntheit. Ein paar Bienen, ja, selbst eine Hummel haben sie bald entdeckt und kommen, die helle Morgenluft in den schwirrenden Flügeln, herein, und umkreisen erst einmal die Schale, ehe sie sich zu ihr niedersenken, um summend in den breiten Blüten herumzurumoren.

Und doch ist Fritz Eisner, wenn er auf die Blumen von seiner Arbeit heruntersieht und die ganze Landschaft mit Fluß und Waldbergen und mit den roten Steinbrüchen dahinter, im Rahmen des Fensters hat, jedesmal von einer lähmenden Traurigkeit durchflutet, die er sich nicht ganz erklären kann, und die mehr ist, als solch bißchen Abschied und sich trennen. Das ist er gewohnt.

Er denkt gar nicht daran, die Wohnung so schnell aufzugeben. Aber ein Abschnitt seines Lebens wird hiermit zu Ende sein, und Ruth und er werden sich nie mehr so ganz haben wie sie sich hier gehabt haben. Sich so seelisch, geistig und körperlich aufeinander einspielen. Es werden von nun an wieder zuviele Menschen zwischen ihnen stehen.

Aber selbst mit dieser Erklärung, die Fritz Eisner sich für seine lähmende Traurigkeit gibt, vermag er doch nicht, sich von ihr zu befreien. – Teufel auch, was hat er denn plötzlich für einen Satz geschrieben mitten in seinen Artikel hinein. Er paßt doch gar nicht in den Zusammenhang: »denn wir wissen viele Dinge, die wir nicht wissen, weil wir sie nicht wissen wollen.« Muß gestrichen werden. So etwas kann nicht stehen bleiben.

So um eins kommt Ruth herein. Sie ist voller Tatkraft, aber sieht ganz abgeäschert aus. Frau Zehrer schwitzt mit nackten Ringerarmen hinter ihr her: wo seine Lackschuhe und der Sweater und die Volsey-Unterzeuge wären. Die hätte er wo hingesteckt, wo sie kein Mensch finden könne. »Richtig«, sagt Fritz Eisner, »richtig, Nuck! Aber sollten sie nicht vielleicht in dem alten Kabinenkoffer auf dem Oberboden sein? Da hast du sie nämlich damals eingepackt.«

Ja, und sie will wissen, welche Bücher mitgehen sollen und was sonst noch. Außerdem müsse ja noch eingemottet werden. Das hatte sie vergessen. Auf den Einwurf, daß sie sich Ruhe gönnen solle, und daß das Frau Zehrer, wenn sie fort sei, machen könnte, und daß die Wollsachen und das Tierfellige ja in einer chinesischen Truhe aus Kampferholz lägen und somit für ewige Zeiten gegen die gefürchtete Mikrolepidoptere im zweiten Entwicklungsstadium geschützt wären, wird, weil Fritz Eisner für so wichtige Dinge nie den nötigen, sittlichen Ernst aufbrächte, nicht ohne Gehässigkeit geantwortet.

Ja aber, ob er etwas dagegen hätte, wenn sie nicht kochen würden – es wäre doch etwas viel zu tun – und im Schlößchen nachher, wenn er fertig sei, essen würden.

»Gewiß, ich kann jede Minute gehen, denn ich bin fertig und außerdem habe ich Hunger«, sagt Fritz Eisner, »das ist sogar eine herrliche Idee. Da kann man vielleicht sogar noch draußen am Wasser unter den hohen Platanen sitzen.« In Wahrheit ist er nicht fertig, aber so ungefähr. Die paar Schlußsätze kann er sich noch nachher schnell tippen, und Hunger hat er auch nicht. Jedenfalls aber soll Nuck sich ein bißchen Ruhe gönnen, und in solcher Nacht im Liegewagen schläft man ja doch nicht viel. Und wenn er sie jetzt hier nicht loseist, tut sie das sicher wieder nicht, schleppt sich mit Koffern ab und so. Wozu das? Sieht nicht gut aus gerade. Wer weiß auch, was sonst noch in ihr vorgeht. Vielleicht regt sie sich doch über all das auf.

»Die Bücher da, den Stapel, bei dem der gelbe Band oben auf liegt, da machen Sie drei Pakete draus und schicken sie, versichert, morgen wenn wir weg sind, nach Berlin, Frau Zehrer. Die anderen Sachen, Manuskripte und Notizen, die packe ich mir selber. Dann kann ich wenigstens nicht einen andern beschuldigen, wenn ich nachher was vergessen habe.«

»Das ist nett von dir Jorry, da brauch ich nicht zu kochen.« (Also das ist auch wieder übertrieben. Ruth gibt sozusagen dem Gekochten ihren letzten Segen, aber sie kocht doch nicht.) »Maud, Emi«, ruft sie, »raufkommen, aber schnell ... Also schön, ich zieh mich dann an. Du bist ja fertig!«

Frau Zehrer teilt sich jedenfalls schon die Bücher für die Pakete ein. Wenn sie es jetzt macht, kann sie es nachher nicht verwechseln.

»Mir wird unser geliebtes Kind sehr fehlen«, sagt sie, und bekommt dabei Tränen in die unrechte Kehle.

»Ja ja«, entgegnet Fritz Eisner mitfühlsam. Er kann doch nicht antworten: Sie aber dem Kind nicht.

»Und überhaupt, gnädiger Herr«, schluckt Frau Zehrer.

»Ja, aber meiner Frau ist es doch wohl hier auf die Dauer zu einsam.«

Frau Zehrer hat die Hände über den Bauch gefaltet und sieht mit ihren großen Magdalenenaugen zu Fritz Eisner herüber, und der Blick heißt deutlich: Mir können Sie ja viel erzählen. Dann aber, da sie doch schon die Hände gefaltet hat, sagt sie jedenfalls: »Ich werde Sie immer alle in mein Nachtgebet einschließen.« Denn Frau Zehrer ist stolz darauf, daß sie ein Privattelefon zum Lieben Gott hat.

»Seien Sie jedenfalls zu Eminé nett«, sagt Fritz Eisner.

»Ein Sohn kann's bei mir auch nicht besser haben, Herr Eisner«, sagt Frau Zehrer mit einem leicht beleidigten Ton ob dieses Mißtrauens, daß man etwa ihre Tierliebe anzweifeln könnte.

»Sonst, Fränze und Hänse nehmen ihn gern so lange wieder!«

»Ach Jott, mit so'n Tier hat man doch wenigstens mal 'ne Ansprache«, sagt Frau Zehrer, »und ich fürchte mich doch immer so allein in die Wohnung«.

Wirklich, wer Frau Zehrer so sah, in ihrer breiten und resoluten Robustheit, glaubte das zuerst gar nicht.

»Ich habe es dem Herrn Pfarrer Moser schon gesagt, daß Sie hier wegziehen werden«, meint sie, indem sie herausgeht.

›Kanaille‹, denkt Fritz Eisner, und doch siegt so etwas immer wieder durch seine Herzensroheit und den Mangel an Skrupeln. »Woher wissen Sie das?«, ruft er hinterher.

Aber da ist Ruth schon wieder, im grünen Kleid mit den freien Schultern und ohne ihren grauen Schlapphut und Maud, die man noch in aller Eile etwas wenigstens oberflächlich durch die Badewanne gezogen hat, wogegen sie noch nachträglich protestiert und bockt und beleidigt ist. Und Emi trottet, ein schwarzes frommes Lämmchen, nebenher. Ruth hält sich beim Gehen die linke Seite, da stäche sie etwas. Aber das gäbe sich schon. Hätte wohl doch zuviel mit den Koffern herumgewirtschaftet.

Wie schön es ist! Mild und golddurchsonnt. Genau so wie gestern. Und wie still! – Täler sind immer ruhiger als weite Ebenen. Das Habichtspaar kreist oben jetzt da drüben zwischen den zwei Kuppen. Also wird es doch bald drei Uhr sein. Der gelbe kleine Birkenbaum tanzt ganz allein für sich in einem leichten Windzug. Und ein paar nackte Menschen gehen da noch vor den Weidenbüschen in der Sonne.

Maud und Eminé haben eine Menge Bekannte unterwegs zu begrüßen. Doch verteilt es sich so, daß Maud die Kinder und Eminé die Hunde begrüßt.

Wirklich, man kann noch draußen am Fluß sitzen unter hohen Platanen und den himmelhohen Kastanien. Die blauen Lichtflecken in ihrem Laub sind nur ein wenig größer ab vorher. Und nur ein paar welke Blätter müssen von der Tischplatte gekehrt werden. Die Zweige werfen immer wieder in kurzen Pausen ihre grünen Igel von dicken Früchten herab, daß sie knallend aufplatzen und die schönen mahagonibraunen Kugeln über den Kies der Terrasse streuen. Maud sammelt einen ganzen kleinen Berg davon in aller Eile. Sie will sie mit nach Berlin nehmen. Emi beschnuppert sie und beginnt dann sehr geschickt mit ihnen Fußball zu spielen. In einer offenen rotumrankten Laube zechen Studenten und lärmen, schon des Weines voll. Wie wird das erst abends werden? denkt Fritz Eisner. Aber dann sind wir ja nicht mehr da. Und außerdem sitzen wir sowieso ziemlich weit von ihnen. Ruth redet zwar immer noch von Packen und von Berlin und dem Crepe-Marocain-Kleidchen, das sie sich ändern lassen wird. Und macht sich Notizen über das, was sie vielleicht vergessen haben könnte. Aber eigentlich ist Ruth doch gerührt und, wider ihre Art, sanft gestimmt durch die milde Anmut und Weichheit der Landschaft ringsum.

Wirklich, es gibt hier vorzügliche Eierkuchen. Und sonst auch ein tüchtiges Stück Fleisch. Der Wirt ist Metzger zugleich, und ganze Schüsseln voll Salat gibt es. Und solche voll von gestoovten Erdbeeren, und der Schoppen Markgräfler ist achtenswert.

»Du hast ja doch recht, Jorry«, sagt Ruth und tätschelt die Hand ihres Mannes, »es ist ja doch schön hier. Vielleicht viel zu schön, um immer hier zu leben. Wir habens doch gut hier gehabt. Wir zwei Beide. Na, ich mach's dir in Berlin auch wieder. Ich möchte schon wieder mal hierher. Manchmal denke ich heute, ich werde es ja doch nie wieder ... O sieh nur mit einmal diese Unmenge Schwalben.«

»Muttiii, au Schwelbs«, ruft Maud, denn so einige Worte hat sie noch aus ihrer ersten Kinder- und Sprechzeit behalten, mehr, weil die Leute darüber lachen, als daß sie sie nicht besser wüßte.

Wirklich, das ganze Tal, das hinten bei der letzten Biegung des Flusses von hier aus durch die vorliegenden Berge geschlossen erscheint ... aber auch die ganze Luft über dem Wasser bis hoch oben ins Blaue hinein ... in dem sie nur wie schwarze flatternde Schmetterlinge erscheinen – ist von einem fliegenden Gewimmel von Schwalben plötzlich erfüllt, die hin und her schießen, als ob sie den Ausweg aus dem Tal suchten und nicht fänden. Hunderte schneiden mit Schlittschuhläuferkurven, daß sie, wenn sie wenden, ganz feine Rillen auf dem Wasser ziehen, die blanke Fläche. Andere setzen schreiend über Weidenbüsche fort, fast ohne Anlauf, aus dem Stand gleichsam. Schleudern sich wie ein Stein in die Luft hoch. Die gleiten über die Bäume am Ufer fort, als ob sie an unsichtbaren Fäden dahinschwebten. Sie stellen die Schwanzfedern breit und gleiten seitwärts hinüber, indem sie sich gegen das Nichts stemmen. Ein kokettes Spiel federnder beschwingter Grazie. Welche halten einen Augenblick über ihnen in der Luft, und man sieht deutlich den Stahlschimmer auf den Sichelschwingen und den weißen Kehlfleck unter dem aufgesperrten Schnabel, ja selbst die schwarzen Stecknadelknöpfe ihrer Augen. Welche haben sich von den andern abgesondert, drei, vier, und spielen auf einem genau begrenzten Teil des Himmels für sich mit einem unsichtbaren Ball, den sie einander zuzutreiben und zu entreißen versuchen, ein himmlisches Flügelballspiel. Welche taktieren, immer vor und zurückgleitend im Rhythmus, diesen stets steigernd und dabei wild schreiend, als trainierten sie noch und als müßten sie sich selbst anfeuern, immer mehr aus sich herauszuholen. Aber trotz aller Hast scheinen sie nicht von der Stelle zu kommen. Wirklich, sie sind zierlicher als die zierlichste Siebzehnjährige.

»Weißt du noch«, meint Ruth, »damals im Schwarzwald im Höllental in der Schlucht, als die hunderte von Schwalben unter uns neben der Bahn herflogen. Sie taktierten genau so. Man sah ihnen doch richtig auf die Flügel. Sie flogen auch so wie nach Zählen. Es war wie solch Heer auf dem Marsch. Man konnte den einzelnen Schwalben von oben auf den Rücken sehen. Kleine Luftautos, die mit der Bahn wettflogen.«

»Das waren damals die ersten, die weggingen. Und das sind so ungefähr die letzten. Weißt du noch, Maud, wie wir uns in Wimpfen die kleinen Schwalben angesehen haben, die da in den Nestern unter dem Gesims wohnten? Hundert in einer Reihe. So niedrig, daß man fast hineinsehen konnte. Erinnerst du dich noch, ich hab dich doch hochgehoben, Dummlack! Immer eins neben dem andern, und jede Alte hat genau gewußt, wo sie wohnt und ist nie mit ihrem Schnabel voll Mucken an das falsche Nest geflogen.«

Aber Maud stellt sich blöd und tut, als ob sie's nicht mehr wüßte.

»Ach ja, die Schwälbs«, sagt sie dann und kullert weiter im Kies mit ihren Kastanien. Sie hat sich mit ihnen so eine Art von Murmelspiel ersonnen und spricht mit ihnen per »Fräulein« und »Herr«. Weiß der Himmel, was sie ihr gerade bedeuten.

Eigentlich wollte sie sagen: »Du weißt doch, Papa, das interessiert mich nicht!«

Dann lacht der alte Herr zwar, aber Mutti wird immer böse, und so markiert Maud nur den Halbidioten. Denn das weiß sie, da kann weder der alte Mann noch Mutti widerstehen. Denn so sind nun mal Eltern. Je dußliger solch ein Kind sich stellt, desto niedlicher finden sie es.

»Sieh mal, was ist das jetzt?« Plötzlich setzt sich doch die ganze Riesenschar in Bewegung. Es ist gerade, als ob sie sich gegenseitig das Kommando zum Abmarsch zurufen. Alles stürzt vor und alles scheint mit einemmal wirklich wie vom Teufel gehetzt zu sein. »Sieh mal, jetzt sind es schon gar nicht mehr so viele. Nun sind es noch weniger. Siehst du, da oben am Berg gehen sie lang. Und die ganz unten fast auf dem Wasser. Du mußt schnell dein Lorgnon nehmen, sonst sind sie ganz fort. Ja, da drüben fliegt jetzt noch eine, und da und da auch. Gott, wie wunderschön ist das eigentlich hier! Was ist das heute doch noch wieder für ein bezaubernder Tag geworden. Sieh mal, wie die Buchenwälder da drüben jetzt schimmern in der Sonne. Es geht schon auf vier. Müssen wir nicht zurück? Wir haben kaum noch zwei Stunden, bis wir wegmüssen. Ach komm, gehen wir doch! Warte, ich zahle gleich! Ich finde, seitdem die Schwalben weg sind, ist es doch etwas trist und entgöttert hier. Der Himmel ist so leer geworden. Weißt du, Nuck, reisen wir lieber mit den Schwalben mit, statt nach da oben hin. Seien wir vernünftig. Was sollen wir da?«

»Ach Gott, Jorry«, meint Ruth, und sie ist sehr nachdenklich, »du wirst ja doch noch dahin kommen. Nun komm mal lieber noch mit mir solange mit.«

Und dann, als sie bemerkt, daß Fritz Eisner sie etwas befremdet ansieht, verbessert sie sich schnell und lacht: »Denkst du etwa, ich werde dich allein dahin reisen lassen?« Und dann fährt sie ihm über's Haar mit der kleinen Hand. (... Komisch, die hat in letzter Zeit so ein paar bläuliche Adern bekommen! ...).

Und dann gehen sie so ganz langsam nach Hause, wieder die paar Minuten, und bleiben noch mal auf der Brücke stehen. Da ist in der Mitte solch kleiner Söller, solch Austritt für die, die sich die Landschaft länger betrachten wollen und trotzdem nicht dem anderen im Wege stehen möchten. Ob man sich so oder so, rechts oder links, vor oder zurück dreht, immer von neuem ist man von dem Blick überwältigt. Von dem geschwungenen blauen Band des Wassers und den langgestreckten goldgepuderten Waldhöhen, dem ziegelroten Ort am Fluß und den Häuschen, die ins Grün eingestreut sind, den Kirchen in der Farbe des Sandsteins. Und zwischen all dem die grünen Wiesen mit ihren Obstkronen und die rotbraunen Steinbrüche mit ihren halbüberwachsenen zackigen Steilwänden. Lange Streifen, als wären die einen aus Malachit und die anderen aus Blutsteinen eingelegt. Und dann darüber dieser Himmel, der ganz rein gefegt ist und das Blau eines Herbsttages in der Campagna hat. Ein Himmel, wie er sich doch nur ein Dutzend Tage im Jahr über die Alpen bis hier herauf verirrt und wie ihn eigentlich Frankfurt schon, solange es steht, noch nie gesehen hat. Vielleicht haben ihn seinerzeit die Römer sich von ihren Göttern wenigstens für manchmal hierher verschreiben lassen, damit sie sich in ihren Feldlagern am Grenzwall zwischen den Barbaren in den Waldbergen nicht allzu einsam und sehnsüchtig fühlten.

Ruth stützt sich etwas auf ihren Mann. »Ach komm nun«, sagt sie. Maud fängt vergnügt an zu lachen. »Du, Mutti weint!« jubelt sie, aber nicht für Fritz Eisner, sondern für den Hund, den sie nach sich zieht, weil er vergessen hat, hinten einige Freunde zu begrüßen, und durchaus zu ihnen will.

»Ach Unsinn, Jorry, mich sticht hier eben was. Und dabei habe ich doch fast nichts gegessen.«

Also das kann Fritz Eisner bestätigen. Das heißt, sie hat sich an dem Kompott und an dem Omelette für das andere immer noch etwas schadlos gehalten, und da ist er schon zufrieden.

Zu Hause ist eine ziemliche Unordnung, aber Frau Zehrer hat doch viel geschafft indessen. Das muß man ihr lassen: sie greift zu.

Richtig, Fritz Eisner muß ja noch den Schluß von dem zweiten Artikel schreiben. Der zweite ist schon für die übernächste Woche. Jetzt hat er vierzehn Tage Ruhe, denn seine Bücher sind ja auch erst bei der Bummelei heute frühestens in fünf, sechs Tagen in Berlin ... Da war es schon besser, gleich auf Vorrat ... Und den einen Artikel, der liegen geblieben war, doch noch fertig zu machen. Dann kam er wenigstens nicht in Rückstand. Die Arbeit war augenblicklich wichtig genug. Eigentlich gar nicht so literarisch wie für den Tag wichtig. Denn in den Zeiten wie heute, da doch kein Hund einen Brocken von Deutschland eigentlich nahm, war das doch das Letzte, was man noch tun konnte, um da oben gegenüber Frankreich und England nicht alles Terrain zu verlieren. Man verfolgte die Arbeiten, man las sie, man verglich sie gegeneinander, und er durfte sie nicht, wie das gern seine Manier wäre, auf die leichte Achsel nehmen. Drei, vier Sätze nur noch, dann konnte er sie beide gleich mitnehmen nachher.

Und richtig, die Briefe waren kaum frankiert, es war immer schwer auszurechnen, wieviel Millionen da hinauf mußten, das wechselte alle zwei drei Wochen ... als schon Ruth und Maud und Frau Zehrer, alle mit Hut und Mantel, in der Tür stehen: er soll nun endlich kommen, das Gepäck wäre schon an der Bahn. Seine Sachen hier vom Tisch und die Manuskripte, an die doch keiner herandarf, soll er nur schnell in die Handtasche werfen. Und was er anziehen solle, läge auf dem Bett. Der Wintermantel und die dicken Anzüge kämen mit der Fracht nach. Das wäre schon alles aufgegeben!

Fritz Eisner steht auf, sieht über seine Bücher an den Wänden mit den Rückenschildern in stillen Reihen, zwischen denen auf den Konsolen vor den Meßgewändern die gotischen Figuren stehen. Die römischen Gläser schimmern im Widerspiel der Sonnenstrahlen draußen in der Etagere mit den Widderköpfen. Und auf der Mahagoniplatte des runden Tisches vor dem Sofa – denn auf dem Schreibtisch haben sie doch gestört mit ihren Bienen und Hummeln, die nach ihnen flogen – spiegeln sich die Kapuzinerkressen in ihrer Glasschale. Wirklich, man ist doch wie solch Einsiedlerkrebs, immer wenn man sich ein passendes Schneckenhaus für seine empfindlichen Schalen gerade gefunden hat und sich darin wohlzufühlen beginnt, muß man wieder heraus, um sich in ein neues einzufügen. Und das ist doch hier ganz seins.

»Na, Ruth, komm«, sagt er, »nun laß dich von dem Sanctus Christopherus da nochmal segnen. Er sieht heute so besonders ernst und so besonders vertrauenerweckend aus. Findest du nicht auch? Und verbeug dich nochmal vor der Madonna di Casa Eisnerio. Solche Dinge, wenn man sie lange um sich hat, bekommen so ein persönlich-menschliches Patina wie Hausgötter. In Museen bleiben sie im besten Fall distinguierte Hotelgäste. Was wird nun aus den Sachen von Paul Gumpert werden? Hoffentlich behält er sie. Er hängt doch sehr dran. Auch darin ist er ein schlechter Kaufmann: Er hat sich nie von einem Stück trennen können – und er hat manchmal sehr hohe Angebote gehabt.«

Ruth tritt an den braungoldenen Holzheiligen heran, der da ganz in sich versunken vor dem Brokat an der Wand Wache hält und den Blick des alten Faltengesichts nach innen und zugleich ins Wesenlose richtet, und streichelt leise mit der Hand an den Raffungen des Mantels herunter. Vielleicht denkt sie dabei etwas. Vielleicht will sie nur sehen, wie lange da nicht Staub gewischt ist. Denn das ist ein schwieriges Kapitel: wenn es die Frau Zehrer macht, liegen nachher immer Farbspuren von der Fassung herum, und das ist eine Sache, die Ruths Mann durchaus nicht liebt.

Aber ihr Blick sagt dabei doch mehr: laß es dir gut gehen solange, alter Freund. Und vielleicht kannst du wirklich für mich mal was tun! Bei deinen weitverzweigten Beziehungen da oben.

Laut aber sagt sie: »Ich weiß schon, Jorry, wie wir das bei uns machen werden. Für dein Zimmer nehm ich genau die gleiche Aufstellung mit den Nischen in der Bibliothek zwischen den Regalen. Nur, da wir dort mehr Raum haben, wird auch alles viel besser zur Geltung kommen. – Aber nun komm jetzt, sonst kriegen wir den Zug nicht. In Heidelberg haben wir dann gut Zeit; ich glaube, fünfunddreißig Minuten oder siebenunddreißig! Mach, Jorry! Und ich danke dir auch nochmal. Du hast mir sehr geholfen.« Das ist sonst nicht sehr Ruths Art, weich zu werden, denn sie ist ja doch solche Unterspezies von schwarzem Panther.

Das Tal ist wieder von der Abendsonne gefüllt ... vielleicht noch goldiger, und die Luft ist von ihr noch feiner durchstäubt als gestern. Ein paar Kinder stehen wieder vor der Tür bei dem grünen Auto und bewundern es. Das tun sie immer nachmittags um diese Stunde. Und sie grüßen zu ihnen herüber. Nachbarn sehen aus den Fenstern, ganz zufällig, denn es hat sich wohl herumgesprochen, daß die Eisners überhaupt wegziehen wollen. Ruth hat ihren altroten Seidenmantel über dem Kleid und noch einen ähnlichen Mantel, aber einen etwas dickeren über dem Arm.

Maud muß nach allen Seiten nicken und, wie das ihre Art, alle Leute anrufen und sie bei Namen begrüßen. Sie hat wohl die altheidnische Vorstellung, wer ein Ding benennen kann oder den Namen eines Menschen weiß, der hat Macht über sie.

»Hast du auch Marley, den Stock, nicht vergessen? Ich frage nur meinetwegen. Ich will mir die Reise nicht verekeln lassen. Komm, Jorry, schmeiß die welke Blume fort! Ich steck dir eine neue an!« Und damit reißt Ruth im Vorbeigehen eine kleine dunkelviolette Aster von einem Busch.

Der Pfarrer Moser ruft sie vom Fenster aus an. Sie müssen an ihm vorbei. Auch im Hause hat er seinen langen schwarzen Gehrock an mit dem Liegekragen und das schwarze Satinknötchen. Aber um doch wenigstens etwas häuslich zu erscheinen und die Würde seiner Person nicht allzu schwer auf den andern lasten zu lassen, hat der Herr Pfarrer ein schwarzes, grün umrandetes Käppchen auf seinen weißen Seidenhaaren. Warum sind die nur immer mit Grün bestickt.

Ruth will sich zwar den Pastor nicht entgehen lassen, aber sie muß weiter. Maud geht nicht so schnell, und es kann auch was bei dem Gepäck nicht klappen.

»Ich habe vernommen, Herr Doktor«, ruft er, »daß Sie dieses freundliche Tal auf die Dauer verlassen wollen.« (Immer schimpfen sie einen Doktor.)

»Sie sind falsch unterrichtet, nur vorübergehend, Herr Pfarrer!«

Eminé sollte heraufgehen, aber er läßt sich nicht schicken. Er bleibt jedenfalls vorerst mal bei seinem Herrn stehen. Nachher wird er sehen. Diesen Mann aber da oben ignoriert er. Solche Leute, die einen verpetzen kommen, sind ein für allemal bei ihm abgemeldet.

»Wenn Sie nun trotzdem, was ja immerhin einmal vorkommen kann, denn unsere Entschlüsse ändern sich ja oft über Nacht und sind von manchen Dingen, die außerhalb unserer schwachen Kraft liegen, abhängig, also wenn Sie sich nun trotzdem von ihrem Heim später zu trennen die Absicht haben sollten, so möchte ich Sie, Herr Eisner, nochmal an ihr gestriges Versprechen, es mich frühzeitig wissen zu lassen, hiermit freundlichst erinnern. Reisen Sie mit Gott! Und vergessen Sie in dem Babylon des Nordens bei den Verlockungen der Weltstadt nicht ganz wieder die ländlichen Freunde hier, denen Sie immer ein angenehmer und zuvorkommender Nachbar waren.«

Fritz Eisner verabschiedet sich und rennt den steilen Weg zur Bahn hinunter, und Eminé springt ihm vergnügt um die Füße dabei. Wenn nur nicht die Schranke schon zu ist. Seit fünf Monaten hab ich zum erstenmal wieder den Wintermantel an. Solch Möbel behindert doch.

Aber die Schranke ist noch nicht zu, und die Sperre ist noch nicht einmal auf. Es ist noch 'ne ganze Weile Zeit, bis der Zug kommt. Die Sonne ist hinter dem Berg und schaut nur noch mit einer roten Kante durch das schmale Tor hier, das sich nach der Ebene öffnet. Der Himmel hat ein paar rosa Wolken bekommen, die orangefarben glühen, mild und friedlich. Wahrlich keine Stimmung, die einen Abschied erleichtert. Das Reiherpaar treibt oben an der Waldkante dahin, genau so wie es immer tat und wie es morgen wieder tun wird, als ob sie in einem unsichtbaren Boot da oben führen, und wundervoll gleichmäßig wie kein Ruderer ihre breiten Ruderflügel in langen Schlägen durch die Luft ziehen.

Frau Zehrer knudelt und küßt Maud zum Abschied, und sicher meint sie es in diesem Augenblick wenigstens ehrlich.

Der dicke freundliche Mann an der Sperre locht die Fahrscheine, die ihm Ruth zureicht. So etwas wie Billets ist immer ihre Sache seit Jahren. Fritz Eisner weiß nie, wo er sie hingesteckt hat. In Berlin ist das ein Beamter, der die Fahrscheine locht, hier ist das ein Bekannter, der zufällig Billets zu knipsen hat und der deshalb bei dieser Beschäftigung gewohnt ist, seine Bekannten zu begrüßen, von ihnen begrüßt zu werden. Und sich über die Neuigkeiten, die sie betreffen, zu unterrichten, und für Ruth hat dieser schwere ältere Mann viel übrig. Sie ist eine seiner liebsten Kundinnen. Er hat immer irgendein nettes Wort oder ein Kompliment für sie bereit ... Liebenswürdig und scharmant sind ja nun mal die Leute hier. Irgendwie verehrt er sie sehr auf seine Art. »Ja, Frau Eisner«, sagt er, »der Summa ist hin, und nun gehe Sie aa fort. Da haben wir denn doch gar nichts Schöns mehr hier bei uns.«

Aber solch Mann an der Sperre, der muß den Leuten die Billets eben abnehmen, und er ist gewohnt deshalb, auf die Hände zu achten, die sie ihm zureichen. Er kennt sie alle und weiß mit ihnen Bescheid. »Also, bleibens mir schön gsund, Fraa Eisner«, sagt er plötzlich, und sieht ihr voll ins Gesicht, »komme Se bald wiede her. Ihre Händ gefalln mer nicht, junge Fraa!«

Ruth lacht ihn an. »Ach, die Hauptsache, daß ich Ihnen sonst gefalle, Herr Scherer. Die Händ finden sich dann scho.«

Aber da braust der Zug in der Ferne. Er heult manchmal in dem schmalen Schlitz zwischen Fluß und Bergen. Es ist solch langer sirenenähnlicher Ton dann. Und man muß mit dem Kind und den Koffern gut ins Kupee kommen. Arg lange hält der Zug hier nicht. Frau Zehrer reicht die Koffer und das Kind hinauf. Eminé, der sich durch die Gitterstäbe gequetscht hat, will auch mit und muß im letzten Augenblick aus dem Abteil hinausgeworfen werden. Und ehe man noch richtig auf dem Platz ist, – Maud muß ans Fenster kommen, darauf hält sie, und man darf das Kind jetzt nicht etwa weinen lassen, es ist bisher musterhaft gewesen und hat nicht mal geschrien, als man ihre große Puppe hier ließ und nur die kleinen, Erna und Halanchen, zu hochdeutsch Helene, dafür mitgenommen hatte (ganz zufrieden war sie damit, weil man ihr erlaubt hatte, ihnen ihre beiden Seiflappen als Schürzen umzubinden) ... Denn schließlich soll sie ja schlafen die Nacht, und Fritz Eisner und Ruth wollen das auch. Wirklich, es bleibt keine Zeit, wenn man ... »Frau Zehrer, passen Sie gut auf den Hund auf!« ruft Fritz Eisner ... »Also die Gardinen«, ruft Ruth dazwischen. Ja, und ehe man noch sitzt, fährt der Zug schon, und draußen gleitet das Band des Flusses, die richtige Landschaft und die im Spiegelbild darin vom Abendhimmel angefärbt vorbei und dahinter die Berge, die sich, wie immer um diese Stunde, blau einzufärben beginnen. Das helle Kleid der ihnen nachwinkenden Frau Zehrer leuchtet noch eine Sekunde auf dem Bahnsteig. Und dann ist auch das fort. Und drüben, verdoppelt durch den abendroten Fluß, tanzen die Häuser des alten Wäscherorts vorüber. Aber schon ist auch das vorbei. Und der Zug braust in die Nacht eines Tunnels hinein.

»Ich überlege mir gerade, von wem ich mich hätte verabschieden müssen«, sagt Fritz Eisner nachdenklich.

»Nun, Jorry?«

»Ja, weißt du, Nuckelino«, meint Fritz Eisner langsam, »wenn ich es wüßte, würde ich es mir ja nicht überlegen.«

»Ich freue mich scho arg«, sagt Maud.

»Na natürlich, das kann nicht jedes Kind, so des nachts mit seinen Eltern in die weite Welt fahren!«

»A bah«, sagt Maud, und kniet sich auf den Fenstersitz, denn jetzt beginnt schon die Stadt mit Guckelichtern. »Auf den Liegewagen freu ich mich!«

»Fällt dir nicht auf«, sagt Ruth leise, »das Kind hat die ganze Zeit nicht nach Omi gefragt. Je weiter sie von mir fort ist, desto mehr fehlt sie mir eigentlich. Ich freu mich furchtbar auf die Wohnung und ich freu mich auf Berlin wieder, ganz gleich, wie's jetzt ist. Und ich freu mich furchtbar, da wieder mit dir zusammen zu sein. On revient toujours à la place de son premier amour, verstehste!«

»Leider nicht. Ich spreche nicht spanisch, Nuckchen.«

»Aber irgendwie graut mir ja doch vor der Wohnung da. Ich werde immer denken, die Mutter muß mit ihrer Morgenhaube und ihrem violetten Schlafrock aus dem Badezimmer kommen. Sie hat doch den ganzen Tag gebadet und sich gewaschen. – Sie hat es ja eigentlich doch nicht leicht mit uns gehabt. Wir sind doch beide wilde Hummeln gewesen! Wie zitiert deine Freundin Lu so gern? Die ist doch immer noch nicht mit dem Doktor Groß verheiratet. (Also ich habe gedacht, wir würden den Rekord darin aufstellen, Jorry.) Warum bloß? Läßt sie denn der Doktor Spanier nicht los? Du, weißt du, der ist eigentlich mein Typ, viel mehr als du. Oder will sie der Groß nun nicht mehr? Ist sie denn überhaupt endlich geschieden? Komisch, die Frau wird neun Jahr oder noch weniger, acht bis sieben doch höchstens jünger sein als du heute und um fünfundvierzig so, und der Spanier ist vielleicht ebenso alt. Na ja, er sieht viel älter aus, weil er doch ganz grau, eigentlich sogar schon fast weiß ist. Und der Doktor Groß ist gleichfalls so um dreiundfünfzig. (Sieht gut aus.) Kennst du den Roman von Gejerstam ›Frauenmacht‹? Daran muß ich bei den Dreien immer denken. Oder hast du mir davon gesprochen? Da ist solch junger Mensch, und der kann gar nicht verstehen, daß zwischen den drei Leuten, die ihm eigentlich uralt erscheinen ...«

»Du bist eine kleine Schmeichlerin.« –

»... es immer noch das gleiche Hin und Her und die gleichen Kerzen der Leidenschaften gibt. (Solche Worte liebt Ruth.) Gewiß, ich versteh das, bei Leuten wie uns beiden, wenn ein Teil viel jünger ist.« – Ruth unterbricht sich, führt den Satz nicht zu Ende. Wie sagt Lu immer so gern: »Es war ihr nicht bestimmt, im Bürgerlichen zu enden.« Vielleicht hätte Schnitzler sogar Bürgerehen sagen können. Das wäre noch netter gewesen. Eigentlich uns auch nicht. Von wem wir das haben, weiß ich nicht. Von Mutter nicht. Und Lena hat es von ihrer Mutter sicher nicht. Da muß es wohl doch vom Vater kommen. Das war solch Börsenmensch, der gern verdammt viel auf eine Karte setzte. Aber er hat doch meist Glück gehabt. Mehr als wir. Ich hab's ja mit dir auch noch gerade so erwischt. Ich glaube ... genau weiß ich es nicht, über sowas wird in Familien nicht gesprochen. Ich glaube, Lena war zum Schluß die abgelegte Geliebte irgendeines abgelegten Prinzen. Und das hat sie wohl auf die Dauer als die Tochter von Hermann M. Block doch nicht ertragen. Vor mir hat man natürlich all sowas geheim gehalten, weil man mich in der Familie für zu jung hielt. Warum haben Eltern eigentlich nie 'ne Ahnung von ihren Kindern? Mütter nicht. Und Väter erst recht nicht.«

Das ging auf Fränze vielleicht. Aber was kann man machen? Man kann doch nur als Vater Gewehr bei Fuß stehen, um da zu sein, wenn man eingesetzt werden muß. Mehr kann man heute für die nach uns überhaupt nicht tun. Und um Fränze braucht er gewiß keine Angst zu haben. Sie ist wie er. Sie gibt den Menschen, den Empfindungen nach, sie verliert sich auch mal, für kurz oder lang scheinbar. Aber sowie etwas an ihre Persönlichkeit tastet, sowie etwas versucht, sie aus ihrem Zentrum zu stoßen, ist es aus. Ein für allemal. So ist er. Und so ist sie von je gewesen. Von klein an. Sie können sich beide verirren. Aber sie können sich nie verlieren.

Hanse ist viel weicher. Leichter zu beeinflussen, sprunghafter, launischer, liebenswürdiger, unberechenbarer und hält nicht durch. Vielleicht sogar auch viel mehr künstlerisch veranlagt. Zeichnet ganz originell und hat eine schöne Stimme. Aber sie ist schwierig. War mal das hübscheste und freundlichste seiner Kinder, weich und anschmiegsam und ewig lächelnd. Und das ist die Sorte, der eher ein Mann mal den Fuß auf den Nacken setzt. Und die nettesten Frauen kommen doch immer im Leben an die leersten und brutalsten Männer.

Auf dem Heidelberger Bahnhof riecht es nach Reisen. Und das tut es nicht auf jedem Bahnhof. Und das tut auch nicht jeder Rauch der Lokomotive. Aber hier riecht es immer danach. Hier gehen viele große Züge durch. Eigentlich ist er nie leer. Sie bleiben hier nicht. Fahren ein. Warten auf einander auch wohl und machen in zehn, zwanzig Minuten, während neue, hochrädrige Schnellzuglokomotiven sich vorspannten, und alte mit langsamen Umdrehungen Huit tsch, huit tsch sich ein Stück vor draußen auf die Verzweigungen der Schienenstränge schieben, sich wieder auf den Weg von Norden nach Süden, von Osten nach Westen, nach überall hin. Es ist kein alter Bahnhof und auch kein praktischer Bahnhof eigentlich. Eigentlich sind es nur ein paar langgestreckte Bahnsteige, zwischen denen die Züge einfahren und über die Regen und Schnee weht, wenn es eben regnet oder schneit. Aber die Berge und die Weite der Ebene draußen sehen dafür hinein. Er ist wirklich ein Stück Ferne selbst dadurch. Ist kein Bienenkorb für Züge mit einem großen Flugloch.

Die Sonne geht hinten, wo der Rhein sein könnte, riesig und pompös unter, und sie, diese sinkende Sonne, macht aus den langen scheinbar durcheinander gewirrten Fäden wie bei einem Webstuhl, der in Unordnung geraten ist ... den vielen hier durcheinander schießenden Fäden der blanken vielbenutzten Schienen wieder glühende Metallbänder, gerade so, wie sie im Eisenwerk waren, bevor sie erstarrten. Aber es weht dabei wieder ein sehr frischer Wind oben von Nordosten her. Vorhin haben ihn die Berge aufgehalten, aber hier sind keine Berge. Wirklich, man kann den Wintermantel hier heute schon brauchen, denkt Fritz Eisner.

Fränze und Hanse sind schon, als sie einfuhren, den Zug entlanggelaufen und winken. Aber das galt Maud, die ihnen zujubelt. Und sie haben als Schrittmacher einen schlanken jungen Menschen mit einem Wasserscheitel sich anscheinend engagiert. Da er eine lehmbraune Jacke trägt, ein Hemd sportlicher Prägung, kurze Hosen, aus denen reich behaarte Beine lang herauskommen und einen gelben breiten Schuh mit Kreppsohle, so scheint er für diese Tätigkeit genügend qualifiziert.

Jung und frisch ist er und reichlich unproblematisch. Das kann sehr hübsch sein. Auch wenn er nur ein Sportboy wäre, so wäre eigentlich nichts dagegen zu sagen. Sehr nett kann das sein! Wenn auch nicht für den dauernden Hausgebrauch. Aber für eine Bootsfahrt mit Übernachten im Zelt. Aber das da war das alles nicht. Das war eine Sorte, die Fritz Eisner nicht lag. Der er mißtraute. Außerdem Streber. Streber ist einer, der unbegabt den Begabten und unenergisch den Energischen markiert. Der Bengel hat doch ein paar Steinnüsse als Augen. Leer und ziemlich brutal. Genau wie das Gesicht eigentlich. Die Koffer rührt er nicht an. Die läßt er die Mädchen und mich dem Gepäckträger zureichen. Und das wäre eigentlich übrig gewesen. Denn der Zug – er ist ja noch nicht da – geht auf dem gleichen Bahnsteig, nur auf der anderen Seite. Der junge Mann klappt vor Ruth die Hacken zusammen und heuchelt gute Kinderstube. Rechnungsrat, taxiert Fritz Eisner.

»Ist das Käte Markus, Fränze?«

Fränze lacht. Sie kennt ihren Vater. »Der Olle merkt auch immer alles«, meint sie mit seiner eigenen Stimme, »aber sagen tut er nie was«.

Manchmal schlägt doch noch das Berlinisch ihrer Kindheit bei ihr durch das Badensche, wie eine Untermalung durch ein altes Bild. »Nein, das ist cand. rer. nat. et med. Klaus Peter Werner.«

»Een bißchen ville Vornamen auf einmal«, sagt Fritz Eisner. Und auch das versteht Fränze sofort.

»Werner ist ja sein Vatersname.«

»Ach sooo«, meint Fritz Eisner und staunt Bauklötzer. Aber Fränze kennt ihn viel zu gut, um nicht zu wissen, daß auch dieses »ach so« nichts von dem entkräftet, was der Satz vorher ausgesprochen, aber nicht gesagt hat.

»Du«, sagt sie jetzt, »er ist aber sonst sehr nett, Papap«, und da treffen sie sich schon wieder auf der gleichen Basis: ich und du und die anderen sind da draußen – zeitweilig.

Nun ist es an Fränze zu fragen. »Du«, sagt sie, »wer will eigentlich von euch nach Berlin?« – Und das heißt: rede nicht. Ich weiß, ich verstehe sogar. Ich möchte nur die Antwort haben. – »Kommt der plötzliche Entschluß von dir oder von Ruth?«

»Ich nicht, Fränze. Aber Ruth fühlt sich auch körperlich hier nicht wohl.«

Fränze hat aus dem ganzen Satz nur das »auch« gehört. Nun fragt sie nicht mehr. Es genügt.

»Ja«, sagt sie, »ich finde sie auch in der letzten Zeit verändert, und du solltest überhaupt in Berlin sein. Es ist doch besser für dich. Sowas ist zwar widerlich, aber wenn man nun mal Theater spielt und die Leute klatschen sollen, muß man eben vor den Vorhang kommen und sich verbeugen. Genau so ist das heute bei euch auch. Sieh mal, die Dozenten und all die älteren Leute jetzt, wenn die hören, daß ich deine Tochter bin, dann sind sie gleich wer weiß wie mit mir. Die Jungen heute haben keine Ahnung, wer du bist. Klaus Peter hatte noch nie eine Zeile von dir gelesen.«

»Das ehrt mich, Fränze!«

»Aber ich habe ihm jetzt was von dir gegeben. Du weißt schon. Alles kann man ihm ja doch nicht geben, das versteht er nicht recht.«

Indessen tanzen Hänse und Maud auf dem Bahnsteig herum und Maud hat sich an Hänses Hals gehängt, um Karussel und Fliegerles mit ihr zu spielen. Hänse muß dann fest im Kreis auf der Stelle mit ihr herumtrappeln, ganz schnell, und dann fliegt Maud mit weggestreckten Beinen nach den Gesetzen der Zentrifugalkraft ganz horizontal in der Luft liegend, natürlich von ihr mit weitgestreckten Armen noch gehalten, ein paarmal herum. Fritz Eisner schätzt das nicht. Erstens strengt sich Hänse an, und das soll sie nicht. Und zweitens kann das Kind dabei fallen und sich gehörig wehtun. Und das soll das Kind nicht.

»Au, guckemol, Papap«, ruft Maud, die, zwar etwas torkelig, schon wieder auf dem Asphalt des Bahnsteigs steht, »was die Hänse mir mitgebracht hat für unterwegs zum Spiele«.

Und richtig, da hat sie einen ganzen kleinen Puppenkoffer voll von Oblaten, Hauchbildern, zwei Säckchen mit Perlen, Ausschneidepuppen mit einem ganzen Trousseau von Wäsche und Ballkleidern mit Culs de Paris, einen Kasten mit Buntstiften, und wenn sie auch kurz und meist abgebrochen sind und einige, das Rot zum Beispiel, ganz fehlen, es sind doch Buntstifte, – und einem kleinen Malbuch und sogar ein Kästchen für Seifenblasen, mit drei Strohhalmen und einem Stückchen verstaubter und vor Alter runzlig gewordener Mandelseife. Alles ist da mit rosa Bändchen aufgereiht und festgebunden.

Wirklich, auf so etwas würde zum Beispiel Fränze nie kommen. »Warte mal, Maud«, sagt sie verlegen, »ich zieh dir noch eine Schokolade für die Reise«. An so etwas also denkt nun Hänse eher.

Hänse ist größer als Fränze, ist ihr schon seit Jahren über den Kopf gewachsen. Vielleicht ist sie sogar mehr als hübsch. Ein Vater kann so etwas schlecht entscheiden, denkt Fritz Eisner. Sie trägt sich aber deshalb auch gern etwas damenhafter als Fränze, hat so eine Art von Umhang aus hellem Satin an den schmalen Schultern hängen über dem geblümten Voilekleid mit den braunen Rosen. Das trägt man so gerade, (Fränze trägt immer nur das, was man gerade nicht trägt) und sehr dünne Florstrümpfe auf den schlanken Beinen, durch deren hellen Fleischton die braune, von vielem Sonnenbaden inderbraune Haut hindurchschimmert. Und sie hat ein niedliches Strohnest auf den gut gebobbten Locken.

Sie soll sich doch nicht so dünn anziehen, denkt Fritz Eisner, denn sie ist immer noch in der Rekonvaleszenz von der Rippenfellgeschichte her, soll sich doch ein bißchen mehr in acht nehmen. Könnte nun mal endlich ganz gut werden.

Wirklich, sie sieht heute reizend aus und lieb und weich und gerührt, und dabei ist immer etwas Unberechenbares in den Ausdrücken ihrer Zärtlichkeit wie denen ihres Abscheus. Ihr Verhalten zu Ruth schwankt in all den Jahren jetzt ebenso wie das zu ihrem Vater.

Heute ist sie sehr nett, sehr zärtlich und im Gegensatz zu Fränze doch irgendwie gerührt, daß der Vater nun fortgeht und sie ihn nicht mehr sehen kann, wenn sie will (Ruth gibt sich mit ihr alle Mühe, aber es ist immer von neuem schwer für sie) und in der Stadt treffen kann, wenn sie die »andere Frau« gerade nicht sehen will. Und außerdem wird ihr ihr Schwesterchen fehlen. Denn sie ist ihm zugetan, weil es, merkwürdig genug, trotz vieler Fremdheit, eine äußere Ähnlichkeit mit den Kinderbildern von ihr hat und sie sich also in ihm wiederfindet.

»Na, meine elegante Tochter«, sagt Fritz Eisner, »nun komm ich mal bald wieder hierher. Und dann kannst du doch auch bald mal zu uns nach Berlin kommen den Winter.«

»Wer soll dann bei der Mutter bleiben?«, sagt Hänse pikiert. »Fränze geht doch schon nach Halle.«

»Ihr werdet ja vielleicht mal heiraten, oder du willst mal ins Ausland; dann wird sie doch auch mal einige Monate oder so allein sein müssen. Das ist nun mal der Lauf der Welt. Aber wechseln wir das Thema. Hänseken.«

»Du hast gut reden, du bist wieder verheiratet«, sagt Hänse. Aber dann küßt sie doch ihren Vater. »Du, hör mal«, sagt sie dann, »Fränze geht doch schon das Semester weg, kann ich bei der Herder-Waiden Gesangstunde nehmen? Ich hab mich schon bei ihr prüfen lassen, sie nimmt mich. Sie hat gesagt, jeden nimmt sie nicht.«

Richtig, denkt Fritz Eisner, wer nicht zahlt, den nimmt sie nicht, und sie ist recht teuer. Soll aber gut sein – besonders für die Bühne – die alte Tante.

»Na ja« – was für weiche Backen das Kind hat, sollten auch fester sein. »Nimmste denn noch regelmäßig dein Ovomaltin?!« So etwas wird doch immer in diesem Haus der passiven Resistenz verschlampt. »Wenn es nicht zu teuer ist. Also schreib mir nochmal darüber. Hat euch denn Ruth die Adresse gegeben?« (Ja, das hat sie natürlich.) Vielleicht ist das ganz gut für das Kind. Ist doch ziemlich schmal. Sowas weitet den Brustkasten.

Klaus Peter muß Maud, die ihn dabei frisiert, herumtragen und sie im steifen Arm heben. Hanse, die sich natürlich auch schon mit Klaus Peter duzt (das geht heute furchtbar schnell), ist nun sehr vergnügt. Das hat sie doch von dem Alten rausgedrückt, und sie wird dann eben doch nicht so den ganzen Winter lang, ihr graut schon davor, zu Hause sich all das mit anzuhören brauchen, kann kommen und gehen, wann sie will. Außerdem aber träumt sie schon rauschende Erfolge. An Fantasie und Vorstellungskraft hat es ihr nie gefehlt, nur an Ausdauer bisher.

»Ja, aber eine Bedingung, Stenografie und Schreibmaschine nebenher, Hanse! Abendkurs. Das hättest du längst machen sollen. Das gehört nun mal heut dazu. Fränze schreibt so schnell, wie wir sprechen.«

Aber solche Erwähnungen liebt nun mal Hänse durchaus nicht. »Fränze ist auch nicht krank gewesen«, sagt Hänse etwas schnippisch.

Ach Gott, die hätte es inzwischen hundertmal lernen können. Wenn's ums Lernen geht, ist sie immer krank gewesen. Hänse tut sich nicht ganz leicht jetzt. Man möchte doch so gern helfen, aber es ist mehr als schwierig.

»Ehe hinte kimmt da!« ruft Maud.

»Obacht, dös Zügli will glei einfahre!« ruft Fränze.

»Halt, ehe die Brandung wiederkehrt«, ruft Fritz Eisner und drückt Fränze und Hänse irgendeinen stolzen millionenschweren Geldschein in die Hand. »Geht noch dafür zu Krall kaffeezeln, oder eßt Kuchen dafür bei Schwehr. Kauft euch dafür soviel Galapeter, wie ihr nur kriegen könnt, denn morgen ist der Schein doch nur noch die Hälfte wert. Der Schein trügt, Kinder. Betrügt den Betrüger von Kaufmann schnell noch.«

Und dann braust der Zug ein. Er ist gar nicht voll. Viel Verkehr ist jetzt nicht. Eigentlich reisen nur die Fremden, die die deutsche Valuta ausnutzen, und die fahren nur zweiter, wenn sie in der ersten Klasse keinen Platz mehr gefunden haben. Dritter ist fast ganz leer. Sie können es sich aussuchen, welches Abteil sie mit ihrem Gepäck anfüllen wollen. Und da niemand da ist und nichts belegt ist, macht ihnen auch niemand die Fensterplätze streitig. Die anderthalb Stunden wird es auch gehen. Gottlob, daß jeder Abschied so schnell geht, daß man nicht über ihn nachdenken kann, denkt Fritz Eisner, während er die Kinder und die Kinder ihn küssen und er dazwischen gute Ratschläge austeilt, daß Hänse sich wärmer anziehen soll, und daß Fränze, wenn das Essen nicht sehr gut da ist, lieber doch nicht in Halle in der mensa essen soll. Daß Stenografie lebenswichtig wäre, und daß man nach Eminé sehen solle, und wenn er doch bei der Zehrer ... er traue ihr nicht, es schlecht haben sollte, man ihn dort weg ...

Und dann mußte Maud von ihren Schwestern doch geküßt weiden. Und endlich, das war ein Novum!, küßte Fränze sogar Ruth zum Abschied, weil sie sich doch in diesem Augenblick irgendwie als Schicksalsschwester von ihr fühlte. Also man hätte umkehren sollen, sofort heimfahren. Das war noch nie passiert. Und Hänse sogar schloß sich enthusiastisch an. Gerade, als der Schaffner zum letztenmal rief, daß man einsteigen sollte und man schon Türen klappen hörte, riß sie sich erst los. Im Vorübergehen fragte sie aber nochmal leise: »Du, Papa, warum geht ihr eigentlich hier weg? Soll ich den Winter zu euch kommen?«

Vielleicht hat das doch sein Gutes, dachte Fritz Eisner. Also man wird doch wirklich jetzt von den Kindern mehr haben können und sie mehr von mir. Und dann drängte man sich an das offene Fenster und sprach zu den Dreien herunter, Hänse, Fränze und dem Jüngling mit der braunen Jacke. Und weil man nicht mehr wußte, was man sagen sollte, redete man Unsinn und Gleichgültigkeiten. Ruth tat, als ob sie weinte. Schluchzte und wischte sich die Augen, und dabei weinte sie wirklich. Warum mußte sie eigentlich hier fortfahren? Endlich wußte sie selbst nicht, weshalb. Und ehe man ahnte, daß der Zug fuhr, da war plötzlich die Eisensäule, an der man gehalten hatte, verschwunden und fort, und es kam eine neue in das Blickfeld.

»Kinder, ich halt euch beim Wort, ihr kommt, sowie ich oben mit der Wohnung in Ordnung bin!« rief Ruth.

Und dann kam noch solch ein Eisenpfeiler, und noch einer und noch einer. Sie schoben sich immer schneller vor. Und richtig, das war doch, der da an der Säule lehnte mit seinem fabelhaften, weichen Homespun-Anzug, mit der Cricket-Mütze, dem langen gestrickten Schlips und dem Leibgurt: tabakshandel Köhl. Er war noch jungenhafter (dabei war er über vierzig) als je vorher, und er war rot wie ein ertappter Schuljunge. Noch röter als der Strauß langstieliger Rosen, den er in der Hand hatte.

Und selbst in diesem Augenblick bringt es Fritz Eisner nicht auf, unfreundlich von ihm zu denken. Endlich sind sie hundertmal nett zusammen gewesen und er ist kein unanständiger Mensch und noch weniger ein Frauenjäger. Er ist viel zu sehr Amerikaner, um beides sein zu können. Hat sich sogar für seine Jahre eine erstaunliche Reinheit, die manchmal hart an Sentimentalität grenzt, Frauen gegenüber bewahrt. Seine Empfindungen ... sicher hat er ihn auch mal gern gehabt, sind nun einmal so. Man kann sich das vorstellen, man hat das doch selbst erlebt: plötzlich schlägt es einem über dem Kopf zusammen. Sicherlich hätte es Ruth besser bei jenem gehabt als bei ihm, und vor allem wäre es ein Wechsel auf längere Sicht gewesen für sie. Man wird doch alt. Früher, vor zwanzig Jahren, wäre ich mit einem langen Messer am liebsten auf einen solchen Kerl losgegangen, und heute überleg ich mir immer wieder alles, weil eben zum Schluß doch jeder von sich aus recht hat. Selbst vielleicht solch ein – wie heißt der Bengel doch – Werner Klaus, Werner Peter, Peter Werner, Klaus, Klaus, na wie denn?

»Au, Muttiii, schau mol, do steht der Onkel Jim«, ruft Maud und winkt.

Aber Ruth nickt ihm seltsam und gravitätisch und ganz von der sinkenden Sonne angeleuchtet – und das ist besser als alle braunroten Schminken, die die Frauen jetzt neuerdings auflegen, um sportiv auszusehen –, nickt ihm gravitätisch zu. Und dann wendet sie sich mit der gleichen Bewegung zu ihrem Mann herüber, genau so selbstherrlich und gravitätisch.

»Du solltest wirklich die Titelrolle in Shaws Candida ›ich gehe mit dem Schwächeren‹ spielen, Nuck«, meint Fritz Eisner. »In Deutschland haben wir kaum eine Schauspielerin, die die Rolle ausfüllt.«

»Ach komm, du blöder Hammel«, und man weiß nicht, streichelt sie ihren Mann nur oder ist das ein leichter Schlag. »Komm, jetzt fahren wir nach Berlin. Wir beide. Do you understand, my old boy?«


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