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Kapitel VIII

Lu

Das einzige, das sich an dem Haus geändert hat, ist, daß es über und über mit Wein umrankt ist. Sonst ist alles wie es war. Selbst der Portier, der sechs Jahre lang die Kohlen unterschlagen hat, tut es auch das nächstemal noch weiter.

Maud hat sich indessen mit seiner kleinen blonden Tochter angefreundet, die sich mit Kreide ein Netz, eine Art Schnecke, auf das Pflaster gezeichnet hat und ein Ringchen aus getrockneten Apfelsinenschalen hat und es nun immer erst in die einzelnen Felder wirft und dann auf einem Bein bis dahin hüpft und ohne das Bein zu wechseln das Ringchen aufhebt und wieder zurückhüpft.

»Du Mädele, darf ich mitspiele?«, fragt Maud.

»Du hast wohl 'nen Floh?«, sagt die Kleine.

Aber dann gibt sie Maud doch mal den Ring aus Apfelsinenschalen, aber Maud kommt nicht über drei Felder damit.

»Au weih, des war aber 'ne kurze Hopse!«, sagt das Kind und freut sich wieder dran zu sein. Maud versteht nicht ein Wort.

»Nun komm rauf«, sagt Fritz Eisner. (Wie und wo wird das Kind hier spielen? Und wo hat's einen Garten? Man setzt kein Stiefmütterchen aus dem Freiland in einen Blumentopf. Da fängt's an zu dürfteln.)

»Du hast ja vornehme Bekannte«, sagt Ruth, während sie langsam die breite Treppe neben Fritz Eisner heraufgeht.

»Na Ehrensache«, meint Fritz Eisner und tippt sich dreimal mit dem Zeigefinger vor die Brust.

»Du scheinst ja früher in feinen Kreisen verkehrt zu haben, Jorry.«

»Verkehrt ist nun wieder reichlich übertrieben. Ich habe bisher nur mit meinem Freund Rosenemil in geschäftlichen Verbindungen gestanden.«

»Das ist doch noch schlimmer«, meint Ruth lachend.

»Laß einen doch ausreden, indem ich durch zirka ein Jahrzehnt oder anderthalb Jahrzehnt ihm immer Blumen abgekauft habe, und ich bin nie von ihm schlecht bedient worden, oder hat er mir etwa welke Rosen in die Hand gedrückt oder mich um einen Groschen übervorteilt? – Im Gegenteil – er ist immer ein Ehrenmann gewesen. Eigentlich viel zu anständig für diese Welt. Und heute ist er nun doch man ein ganz ganz kleiner Schieber, dem es nicht mal mehr Spaß macht. Damals in München, da versprach er viel mehr. Die kleinen Konjunktursachen, die er macht, und die jetzt jeder macht, das sind doch harmlose, ganz winzige Lumpereien. Anfängerstücke, mit denen sich die wirklich gigantischen Großbetrüger heute gar nicht abgeben.«

Und dann ist man oben. Es ist sehr leer und still in der Wohnung. Eine Wohnung, der man es anspürt, daß sie niemand mehr gehört. Trotzdem ist es sogar beinah elegant; weich und leidlich behaglich dabei. Ganz anders als zuhaus in dem Wohnmuseum. Alles steht wie vor Jahren. Nicht ein Stuhl ist verrückt worden. Nur, daß nicht so gut Staub gewischt ist wie zu Frau Blocks Zeiten, denn die hatte doch an sich und in ihrer Wohnung den Reinlichkeitsfimmel. Eigentlich aber ist die Wohnung doch ziemlich dunkel und ziemlich deprimierend.

Fritz Eisner geht wieder darin umher. Es gibt keine Zimmer in Berlin, die er so erlebt hat wie diese. Er kennt jedes Stück, jeden Winkel, jede Türfüllung. Aber er hat das Gefühl eines Schleiers vor den Augen, und trotzdem sind gar keine so schweren altmodischen Wollgardinen mit Granatapfelmuster, wie man sie ehedem liebte, an den Fenstern, sondern richtige moderne Gitterstores. Aber die können auch nicht helfen, wenn man ein Licht sucht, das hier nicht vorhanden ist. Na ja, man wird sich in solchem Käfig erst wieder eingewöhnen müssen. Und im Winter ist es ja auch dann erträglich. – Doch die Badestube ist dafür nett. – Bis bei solchem Gasbadeofen, wie daheim, die Wanne voll läuft! Und hier dreht man eben einfach auf. – Die Klassiker im Schrank sind noch ganz gut gewählt, sogar eine schöne Wielandausgabe und ein alter Claudius mit den Chodowieckis dabei. Und dann sind so komische Bücher da, die man mal gelesen hat, vor Jahrzehnten, und in die man mal wieder hineinsehen möchte. Vielleicht könnte man überhaupt mal etwas über sie zusammenhängend schreiben. ›Kinder der Welt.‹ Der Zug nach dem Westen. Problematische Naturen. Das Landhaus am Rhein. Mirza Schaffy und Julius Wolf: Die Hagestolze. Und Uarda. Lauter Dinge, die viel berühmter waren als alles von heute, und genau so vergessen sind, wie wir's mal werden. Ja, ich fürchte, wir werden, wenn möglich, noch viel vergessener sein.

Aber nun gibt's Kaffee! »Sieh mal, wie hübsch Käthe gedeckt hat und die reizenden Blumen. Und dann legen wir uns nachher ein bißchen hin. Und vor allem muß das Kind ... Ich jedenfalls bin wie gerädert.«

»Die Zwangsmieter sind nicht da«, meint Käthe, »sind heute ganz früh schon weggegangen«.

»Sie haben wohl Angst, man wird sie wegen der Miete belästigen«, meint Ruth. »Erstens werden sie ja doch nicht zahlen und zweitens wär das Geld ja doch entwertet. Jedenfalls haben sie nur noch das eine Hinterzimmer. Mögen sie darin glücklich werden. Es ist nebenbei ein ganz junges Ehepaar. Warum sie Mutter damals genommen hat, weiß ich nicht. Zwei hübsche Kinder, die verheiratete Leute spielen. Achtzehn und einundzwanzig. War solche richtige Kameradschaftsehe. Das heißt, nach Käthe, soll es weder mit der Kameradschaft noch mit der Ehe so weit her sein, jetzt noch.«

Fritz Eisner lacht.

Ruth hat nebenbei schon alles zurechtmachen lassen. Das Bett aus dem Fremdenzimmer ist ins Schlafzimmer wieder neben das andere gekommen, wie es gewiß seit dem Tode ihres Vaters nicht mehr gestanden hatte. Es ist ein ganz schweres Mahagonibett aus der Gründerzeit, so dicke Mahagonibäume gibt's gar nicht mehr! – von einer längst verklungenen Solidität. In diesen Betten sind schon Menschen geboren worden und in ihnen sind Menschen gestorben. Alles Leute, die Ruth sehr nahe standen. Ihre Schwester ist da geboren worden, und Ruths erster Schrei klang gewiß daraus von der Hohenzollernstraße fast bis zum Tiergarten herüber aus diesem Bett da. Warum sind sie eigentlich da nicht wohnen geblieben? Es hätte sie jetzt doch in ihrem Haus auch nicht viel mehr gekostet, und vielleicht hätte es sich ihre Mutter dann doch nicht abschwatzen lassen.

Und ihre Mutter und ihr Vater sind darin gestorben in diesen breiten Betten, in denen es sich so gut und bequem und weich liegt. Vielleicht hat Ruth an Käthe gestern depeschiert, daß sie kommen. Vielleicht hat sie es ihr schon vor Tagen geschrieben. Denn wie kann das nur sonst sein, daß schon umgeräumt ist. Na ja, Ruth wußte ja endlich doch, daß sie ihren Kopf bei ihm durchsetzen würde.

Und dann legen sie sich bald schlafen, alle drei, mit dem festen Willen, es bis spät in den Nachmittag hinein zu tun. Käthe wird sie schon wecken, wenn es ihr zu lange mit dem Mittag dauert. Ruth sagt, sie müsse wenigstens etwas liegen. Sie hätte da Schmerzen. Das habe sie aber oft nach dem Reisen. Wenn sie sich gehörig ausruhe, ginge es schon wieder fort. Und dann hat sie sich den Oberschenkel wieder elend an einem Koffer gestoßen. Die blutunterlaufene Stelle, fast wie ein Handteller groß, wird sicher wieder acht Tage brauchen und alle Regenbogenfarben kriegen, bis sie wieder in anständiger Gesellschaft sich sehen lassen kann (sagt sie).

Bisher ist sie eigentlich immer ganz gut gereist, denkt Fritz Eisner, aber vielleicht hat sie es mir nur nicht gesagt, denn sie redet nicht gern in solchen Dingen von sich selbst.

Um den Nachlaß der Frau Block muß man sich aber doch kümmern, ich hab genug Freunde, die Anwälte sind, denkt Fritz Eisner. Es ist ja doch besser, daß man jetzt hier ist. Vom Ort aus regelt sich alles viel leichter. Da muß noch was anzufechten sein, und zum mindesten kommen doch Hypothekenaufwertungen ... Davon hat schon etwas in der Zeitung gestanden neulich ... Also etwas von der ganzen Ladung, und wenn's auch nur ein paar Fässer und Kisten sind, muß doch aus dem Schiffbruch noch zu retten sein ... Ja, und dann soll Ruth, das machen Frauen besser ... sie lächeln dabei solchen Mann an – unsereiner geht mit dem besten Willen, liebenswürdig zu sein, hin und wird sacksiedegrob, und schon ist das Essig, – aufs Wohnungsamt gehen. Denn es gibt keine Bestimmung, die das Wohnungsamt nicht so und so auslegen kann jetzt, wenn es sieht für den anderen darum dreht, eine Wohnung zu bekommen, oder für das Amt, ihn aus einer Wohnung herauszuwerfen. Endlich haben wir doch eine Tauschwohnung. Und das hier ist doch außerdem die Wohnung, die Ruth eigentlich von ihrer Mutter her zusteht. Aber wer weiß? Vielleicht hat der entscheidende Beamte sie schon insgeheim dem Großneffen seiner Urgroßtante überschrieben. Wer kann das ahnen.

Komisch, wenn man so die Nacht über Liegewagen gefahren ist, hat man doch den ganzen Tag noch das Gefühl im Magen, als ob man 'ne Ziehharmonika verschluckt hätte.

Nuck schläft schon. Sie schläft so nett ein, ganz leise, mitten im Satz. Und Maud ist auch schon längst herüber. Ihr hat man, bis das Kinderbett kommt, auf zwei großen Fauteuils mit einer Gardine drüber und mit einem mächtigen Kopfkissen als Unterbett und alten Plumeaus ... es sind soviel hier im Hause, daß man glaubt, Frau Block muß mal ein lombardiertes Lager von Daunenbetten erworben haben ... ein prächtiges Himmelbett improvisiert, aus dem sie überhaupt nicht herausfallen kann. – Na, nu ist man doch wieder in Berlin. Aber die nächsten drei Tage kümmere ich mich um niemand. Das heißt, Paul Gumpert muß ich ... ist ja scheußlich, daß er sich von seinen Sachen trennen muß. Er hat doch sehr dran gehangen ... Das andere ist Paul Gumpert doch alles immer ziemlich gleich gewesen, außer Joli. Joli hat so eine entzückende Art, ihren Fehmantel zu halten. Ich möchte sie gern mal in einer großen Rolle auf der Bühne sehen. Kommt ja doch aus dem ähnlichen guten Stall wie Nuck. Wozu hat eigentlich Ruth das Täfon, so müde bin ich, daß ich schon selbst in Gedanken die Silben verschlucke, hier herein genommen? Na vielleicht will sie nachher vom Bett aus telefonieren. Wenn sie nur ein Achtel von dem ausführt, was sie sich hier vorgenommen hat, dann hat sie für die nächsten fünf Jahre ausgesorgt. Soll nur tun, was sie will. Meinethalben kann sie in die Redaktion zurückgehen. In hundert Vereinen kann sie Reden halten.

Verdammt nochmal, jetzt fängt doch das Telefon an zu ... na Gott sei Dank, daß wenigstens Maud nicht aufgewacht ist, und Ruth auch nicht. »Was? Wer ist da? Eine alte Freundin? Also die Stimme kenn ich doch! Augenblick, Lu, warten Sie, ich geh nur mal mit dem Apparat in den Salon rüber. Nicht auflegen inzwischen. Also wer ist nun wirklich da? Lu? Aber gute Frau Doktor ... mit Frau Doktor vergreif ich mich doch nicht – das sind Sie jedenfalls so oder so, also schöne Frau Doktor Spanier, wie haben Sie denn rausbekommen, daß wir in Berlin sind, und wo wir sind? Wir sind doch eben erst zwei Stunden hier. Sie meinen, ich sähe sehr wohl und braun aus. Geraten! Früher habe ich Ihnen doch immer die Elogen gemacht durchs Telefon. Heute trau ich mich das gar nicht mehr. Wer legt sich gern an mit der russischen Regierung. Also Sie wollen es mir nicht sagen, wie Sie's rausgebracht haben? Sie lachen immer noch so in kleinen Kaskaden. Man hat seinen Überwachungsdienst?!«

Fritz Eisner ist ja doch glücklich, die Stimme, diese hübsche dunkelrote weiche gepflegte Stimme wieder mal zu hören. Und der saubere neckische und kultivierte Ton der Rede elektrisiert ihn einfach, noch genau so wie vor zwanzig und mehr Jahren. Ob sie nun Frau Doktor Spanier ist und seit sechs Jahren bald als solche mit dem Doktor Groß zusammenlebt, was geht ihn das an? Wir stehen gleich jenen in der Sünder-Reihe. Wie hat Paul Gumpert gesagt?: Meinen Sie etwa, Lu ist dadurch anders geworden und weniger anständig von Gesinnung oder weniger gebildet als sie vorher war?

»Aber Sie müssen nicht denken, cher maître, daß ich was von Ihnen will, mein alter Junge. Sie können von mir aus sofort wieder abreisen. Mein Anruf gilt einer Dame bei Ihnen. Sie wollen Ruth nicht wecken? Sollen Sie gar nicht. Ruth interessiert mich auch nicht im Augenblick. Aber die Fama berichtet, Sie sind da wieder mal mit einer jungen Dame gereist, die soll zu mir, zu uns, also kurz gesagt, sie soll nach der Von der Heydt-Straße 12 kommen. Da Sie der Vater sind, haben Sie natürlich gar nichts dabei zu bestimmen. Das ist eine Sache, die Frauen unter sich abmachen. Und wir haben das natürlich schon abgemacht. Es ist schon das beste für Ihre Frau, wenn sie sich zuerst mal hier ohne das Kind etwas wieder einlebt, bis alles richtig läuft. Bei mir hat das Kind einen Garten und eine nurse (beide sind sehr hübsch. Sie würde mehr das zweite interessieren), und ich fahre mit ihr aus. Was machen Fränze und Hänse? Na, Fränze weiß ich ja. Sehr brav! Und ist Hanse wieder ganz im Schritt, so ungefähr? Wird schon werden. Mit Ruth haben Sie einen guten Griff getan. Ich sage ja immer: die alten Sammler und die Pferdehändler, die wissen am besten, was schöne Frauen sind. Paul schwärmt ja geradezu für sie. Wir müssen überhaupt mal über Paul Gumpert reden. Schade, Sie hätten eigentlich hier sein sollen, Meister.« (»Wat heeßt hier Meester, Lu!«) »Sie haben immer Einfluß auf ihn gehabt.«

»Nimmt er denn die Sache so sehr schwer?«

»Dann wäre es nicht nötig. Er nimmt sie mit dem Dickkopf und gar nicht. Ist vollkommen unverändert. Und das ist faul! Das gefällt mir nicht. Außerdem war doch alles in Ordnung zu bringen. Bei den anderen war doch der beste Willen dazu. Da werden heute doch noch ganz andere Sache rangiert. Ich versteh das nicht. Also passen Sie mal auf, Fritz, jetzt ist es viertelzwölf. Um viertelvier, – ist das zu früh? – in vier Stunden kann man 'ne ganze Menge schlafen – ist Petermann mit dem Wagen da, und dann kommen Sie mit zu mir zum Tee und bringen dabei das Kind gleich hin. Ihre Frau natürlich auch, wenn sie nicht zu müde ist. Doktor Groß will sie auch mal gern wiedersehen. Sind Sie an was Neuem, Fritz? Hat keinen Sinn? Hat immer Sinn. Es ist doch mal wieder Zeit, daß man was von Ihnen liest. Wenn man Schriftsteller ist, muß man hin und wieder hier schreiben. Um sich im Gedächtnis der Leute frisch zu halten. Und dann reden wir auch mal über Paul. Wirklich, ich bin beunruhigt. Also bleibt's dabei. Viertelvier, nicht wahr? Viertel nach drei, um Irrtümer zu vermeiden. Habe ich mich verändert, Fritz? Seit damals, wo wir uns das letztemal sahen, Ende des Krieges? Richtig, wir haben uns ja später auch noch gesehen.«

»Nein. Und ich?«

»Ich weiß nicht, Sie werden mehr graue Haare haben wie mein Mann. Dju wenigstens ist ganz weiß in den Jahren geworden. Aber ändern tun wir uns nie. Wir entwickeln uns vielleicht etwas.«

*

Aber Ruth will nachher nicht mitkommen. Sie müsse die Koffer mit Käthe auspacken und sie wäre noch angestrengt von der Reise. Nicht mal um ein viertel Pfund Butter! Daß sie eine Autofahrt abschlägt und einen Tee mit Leckereien in einem »Hause«, ist für Fritz Eisner sehr erstaunlich.

Aber es ist für seine Frau doch wirklich besser, sie bleibt daheim und erholt sich. Die Reise scheint sie doch mitgenommen zu haben – wenn sie auch nicht gerade schlecht aussieht, aber Nuck ist weniger lebhaft als sonst. Daran kann man das immer merken. Möglich auch, daß die neue Umgebung, das heißt die alte Umgebung, sie trübe stimmt und daß hier so das ganze gespannte Verhältnis zur Mutter, an dem beide zu gleichen Teilen Schuld waren und an dem ja nun doch nichts mehr zu ändern wäre, sie von neuem bedrückt. Aber es wäre doch gerade ein Grund mehr für sie, aus diesen vier Pfählen für ein paar Stunden herauszugehen. Sie soll nur mitkommen. Maud hat nebenbei noch keinmal nach Omi gefragt. ›Das Kind hat es sicher vergessen‹, meint Ruth, und ist halb froh, halb mißgestimmt darüber. So etwas reden sich immer Erwachsene ein, weil sie nicht wissen oder nicht wissen wollen, daß Kinder viel mehr Herzenstakt als sie selbst haben.

Ja, und dann müssen für Maud noch die Sachen herausgesucht werden, die sie die paar Tage da mit hinnehmen soll, und es müssen ein paar Kleidchen, die im Koffer verknautscht worden seien ... hier ist der Konjunktiv am Platze, denn in Wirklichkeit sind sie glatt und ohne ein Fältchen ... nochmal gebügelt werden für sie. Im ganzen wär' es doch von Frau Doktor Spanier reizend, daß sie das Kind ihr für ein paar Tage abnehmen will. Ob der Gedanke von ihr oder von Lu ausgeht, ist für Fritz Eisner nicht zu eruieren. Jedenfalls war Ruth nicht allzu überrascht davon.

Und dann hupt unten Petermann.

Also Ruth soll kommen. Nein nein, wirklich nicht! Sie hat sich auch den Schenkel doch mehr gestoßen als es zuerst so schien, meint sie. Vielleicht will auch Lu irgendwelche Sachen mit ihm besprechen wegen Paul Gumpert und so, die sie doch nicht so rückhaltlos vor Ruth erörtern würde.

Also der lehmfarbene Studebaker ist natürlich bekannter als ein bunter Hund in Berlin. Ein Klassewagen mit Schikanen. Ein Sonderwagen, der alles übertrifft, was die Reklame ihm andichtet. Er hat soviel blitzblanke Schräubchen und Kästchen und Zigarrenanzünder und Blumenhalter und Maskotten und Aschbecher und Lesepultchen und geheime Mappen aus Leder und Scheibenwischer und Vorhänge und Troddelchen ... also das steht ja alles in der Reklame, daß selbst in den vier Minuten Maud kaum fertig wird, Kurbeln, Griffe und Schrauben in eine nie wieder gutzumachende Verwirrung zu bringen. Außerdem läuft der Wagen wie ein Merkur in Filzparisern, und man sitzt in ihm so, daß man nie wieder den Wunsch hat aufzustehen und ihn zu verlassen. Die anderen Wagen schrumpfen vor ihm zu Kaffeemühlen zusammen und ein Fußgänger zu einem lästigen Gewürm. Wenn man in ihm eine Zigarre sich anzündet, so empfindet man das als eine sakrale Handlung. Es sieht aus, als ob der Wagen langsam fährt, wenn man drin sitzt, aber er hängt alles ab und läßt es alsbald weit zurück.

Maud findet Berlin sehr schön. Eine Stadt, wo immer Leute kommen und einen im Auto spazieren fahren. Die wird sich nochmal wundern, denkt Fritz Eisner. Fritz Eisner findet es gerade weniger hübsch. Neue Kinos mit wüsten Reklamen, viel Spaziergänger, viel Ausrufer, viel Bettler, viel Kriegsbeschädigte. Gewiß, es ist noch ein netter und blauer Tag, und die Leute sitzen sogar noch im Freien vor den Cafés. Welche stehen auch in Gruppen und diskutieren. Es gibt schon wieder irgendwas. Das sieht alles so ganz nett aus. Aber die Menschen, die da so gehen und stehen, gefallen Fritz Eisner schon weniger.

Ja, und dann wird es wieder ruhiger und einfacher. Die Häuser sind schmucklos, glatt, villenähnlich und mehr vom Grün umwallt. Jedenfalls hatten hier die alten Bäume noch das Laub. Und aus dem guckten nun Stücke von den etwas antikisierenden Fassaden mattgrau und vornehm, wie die ganze Hitzigkeit, in der sie entstanden, hier und da durch die schon dünner und gelblich schimmernden Bäume. Die Häuser sind das, was man – anständig – nennt. Und sie sind wieder stolz auf ihre Kachelöfen. Noch vor wenigen Jahren haben sie sich ihrer geschämt. Und die Kurven der alten Baumreihen, die rechts und links von der Corneliusbrücke an den beiden Ufern sich entlangziehen, und die im Lauf der fünfzig Jahre, die Fritz Eisner das kennt, doch erst zu ihrer vollen Schönheit gekommen sind, lassen Fritz Eisner im Augenblick alles vergessen, was er über das wüst gewordene Berlin der Inflation Unfreundliches zu sagen hätte. Richtig, fällt ihm ein, an diese Stelle habe ich manchmal gedacht da unten, und einmal habe ich sogar davon geträumt. Aber da waren hier keine Steinböschungen, sondern grüne Rasenböschungen und unten ging ein schmaler Treidelweg. Den bin ich wieder im Traum heimlich entlanggegangen, trotzdem es verboten war! – wie so oft, wenn ich aus meiner Spielschule im Karlsbad kam. Also ich würde Maud links und rechts hinter die Ohren schlagen, wenn sie so etwas macht. Überhaupt schade, daß sie kein Junge ist. Es ist doch erfrischend für beide Teile, wenn man jemand mal eine Ohrfeige geben kann: »Zum Donnerwetter, kokele mal nicht mit dem Zigarrenanzünder herum. Die ganze Karre wird noch in die Luft fliegen!«

Aber Maud ist doch sehr stolz, als Petermann herausspringt und vor ihr den Schlag aufreißt. Das hat der gute Onkel Emil mit dem Stock heute früh nicht getan. Und als nun noch ein Junge in einer Art Uniform mit roten Besätzen an der Hose und einer blau und gelb gestreiften Leinenjacke ihr die Sachen abnimmt oben und sie hereinführt, da ist sie schon ganz Dame. Diese Geschichte hier gefällt ihr. Sie denkt da, meint Fritz Eisner, wie unser alter Freund von Schuldirektor: »Goldschmidt«, sagte er, »als ich neulich zu deiner Mutter ging, hat mir ein Diener die Türe geöffnet. Reichtum imponiert mir immer!«

Aber das Haus ist wirklich großzügig seinerzeit gegen Ende des Krieges – war es von Bruno Paul oder Peter Behrens, einer von den beiden war's wohl – als es der Doktor Groß sich gekauft hatte, umgebaut worden. Wie er die mächtige Diele, die durch zwei Stockwerke geht, und die sicher vorher doch nicht da war, hier hineingezaubert hat, ohne daß draußen an der sehr klaren und sehr gefälligen einfachen Fassade sich etwas geändert hat, das ist schon aller Bewunderung wert. In die hall hier mit den Treppen und mit den Umgängen könnte man unser ganzes kleines Häuschen bei Heidelberg beinahe hineinstellen.

›Madame wird gleich erscheinen‹, hat der Boy gesagt. Oder nennt man so etwas groom? Fritz Eisner sieht sich um. Schöne englische Möbel. Wirklich alt, und große komplette Sätze von Stühlen und Sesseln. Und solch ein Feuerbach macht sich doch in einer Diele sehr gut. Feuerbach hat den Stil für Treppenhäuser. Der Mittelperser mit dem mattgrünen Fond ist gut. Ob er alt ist? Jedenfalls ist er schön.

Maud ist ziemlich still vor dem Kamin in einen Sessel mit venezianischem geschorenem alt-violettem Samtbezug gekrochen und läßt die Beine bammeln und sieht sich sehr still hier um. Sie katalogisiert die einzelnen Sachen weniger, als ihr Vater, aber sie nimmt so im großen und ganzen Inventar auf. Es ist eigentlich das erstemal in diesem ihrem kurzen Leben, daß sie so bei Leuten dieses Stils ist. Bei Leuten, bei denen es so ruhig und staubgewischt aussieht, und die soviel Raum um sich herum brauchen, und die soviel sehr große und blanke Dinge haben, und wo einem Jungens in Uniform den Mantel abnehmen und »Sie« zu einem sagen und wo Hausmädchen Häubchen tragen, und alles sehr gedämpft und sehr vornehm spricht.

Und richtig, da kommt auch von oben, vom ersten Stock her der Doktor Groß die Treppe herunter, die breit und mit schweren dicken alten Verbindungsstücken belegt nach unten in die hall führt. Fritz Eisner steht auf und geht Doktor Groß entgegen. Komisch: Leute, mit denen irgendetwas ist, werden doch im Alter besser. Dieser Doktor Groß war doch zu gut deutsch damals vor fünfundzwanzig, dreißig Jahren ein richtiger Lausejunge mit Panama und einem grauvioletten breiten Anzug mit grünen Sprenkeln wie Heuhüpfer, und mit einem goldenen Kettenarmband. Und außerdem ein professioneller Schulterklopfer und Spieler. Und heute ein distingierter ganz unbetonter Mensch in einem blauen Cheviotjäckchen, fast geistig, blaß und chronisch überarbeitet. Sehr leise sprechend. Und eher scheu als selbstbewußt. Vielleicht sogar ein Mensch mit Sorgen. Nicht mal materieller Art. Ein Mensch, der sich quält, und mit irgendetwas in seinem Leben innerlich nicht fertig wird.

»Ach, Meister«, sagt er, »nett, daß Sie gekommen sind, Madame freut sich schon!« – Madame? Warum Madame? Wie seltsam das! – »Und vor allem auf das Kind. Liebt ja Kinder über alles, Madame, so wie ein Armer das Geld.« (Ein ganz nettes Wort, das eigentlich abschließend die Situation kennzeichnet, denkt Fritz Eisner.)

Maud hat sich ... sie ist von ihrem Stuhl des Dogen Gandolo heruntergeklettert ... vor Doktor Groß hingestellt.

»Onkele«, sagt sie ganz ernst und wichtig, »Onkele, bist du so reich, daß de Schlafwage fahre kannst? ... oder biste so arm wie mir, daß du Liegewage fahre musscht?!«

Doktor Groß hat nicht recht verstanden, was das Kind eigentlich will. Aber Fritz Eisner versteht es. »Es ist nichts zu machen«, sagt er, »wir sind durchschaut«.

»Ich muß fort«, sagt Doktor Groß, »wir sprechen uns ja noch. Madame muß jede Sekunde kommen«.

Fritz Eisner sieht sich den Doktor Groß so an. Gewiß, er schaut nicht schlecht aus, aber doch – also krank ist er gewiß nicht – aber verbraucht ist er, mehr als nötig war. Und nicht so strahlend jung, wie Lu behauptet. Man kann ihm ein Jahr weniger geben, als er hat. Vielleicht auch zwei. Das ist alles. Soll doch blödsinnig reich geworden sein. Wie ist er nur plötzlich so hoch gekommen? Soll überall in Deutschland und im Ausland Geld und seine Hand drin haben. Der hat mit Kunstseide, mit Glanzstoffen von Anfang an richtig gelegen. Er gibt sich nicht ab damit, Fabriken zu haben. Er gibt sich nur damit ab, sie zu kontrollieren. Aktienmajorität. Darauf kommt's an! Ob da Elfenbeinröschen gedreht werden oder Waggons voll Emailleeimer täglich rausgehen, ist gleich. Keine Stadthäuser! Ganze Siedlungsprojekte auf Jahrzehnte heraus, Baustoffe, Zement, Wälder und Papierfabriken, Güter kaufen, Zigarettenfabriken zusammenschweißen in einen Konzern. Daran will er arbeiten. Horizontale Gliederung, so wie das Stinnes gemacht hat. Diese Bronzen und dieser frühe flandrische Gobelin da in der Nische – Doktor Groß weiß, was gut ist. Er liebt sogar, was sehr gut ist. Das hat er mit der Zeit gelernt. Aber er sieht das eigentlich nur einmal zehn Minuten lang. Fünf Minuten nämlich, wenn er's kauft. Und nochmal fünf Minuten, wenn er in seinem Haus hier oder in Neubabelsberg oder in seinem Herrenhaus bei Neubrandenburg einen Platz dafür wählt. Und dann sieht er es auch nicht mehr.

Die ganze Sache, sagt er, aber er sagt es ja nicht, und doch sagt es Fritz Eisner sein Gesicht ... die ganze Sache könnte einen Sinn haben, könnte, wenn eben eines ... aber das ist doch nicht. So also redet er sich wenigstens ein, er arbeitet zum Wohl Deutschlands. Kurbelt ... das ist jetzt solch neues Modewort ... die deutsche Wirtschaft an. In Wahrheit arbeitet er doch nur sinnlos, und das fühlt er ja und längst selbst übersättigt, in seine eigene Kasse. Dabei hat er gar nicht das Interesse, schlecht zu sein, eher vorsichtig jetzt. Oder Leute zu ruinieren. Er achtet auch darauf, daß wenigstens so weit er es kontrolliert, nichts getan wird, was eindeutig gegen die Gesetze verstößt. Und wenn er Leute, die er nie von Angesicht zu Angesicht gesehen hat, ruiniert, aufs Stroh legt, nicht einzelne, sondern Gruppen, ganze Gesellschaftsschichten, so tut er das durchaus nicht bösen Willens. Er sieht auch diese Menschen gar nicht, sondern es geschieht ganz automatisch. Er würde sie auch ebenso gern reich machen. Vielleicht sind auch Leute indirekt, einzelne wenigstens, durch ihn reich geworden. Von sich aus war er kein schlechter Mensch, und er hätte sicher den Verwundeten aus der Feuerlinie geschleppt, wenn es hätte sein müssen. Und er hätte jetzt jedem der durch ihn Ruinierten, wenn er zu ihm etwa gekommen wäre, und es ihm gelungen wäre, durch den Kranz von Meldezimmern und Subdirektoren und Direktoren bis zu ihm vorzudringen, gern einen Geldschein in die Hand gedrückt. Aber sie kamen ja nicht bis zu ihm.

Nein, er war nicht schlecht, dieser Doktor Groß. Er war nur ein hervorragender Repräsentant eines Systems, das sich sogar für segenbringend hielt. Und er war durchaus im Recht. Denn, wenn er es nicht gewesen wäre, so war's ein anderer gewesen. Und außerdem hatte er ja gar nichts davon. In den Zwischenpausen der Konferenzen und Empfänge, Tagungen und Kongresse, Aufsichtsratsitzungen und intimen Besprechungen in den Ministerien und im Ausschuß der Handelskammer, denn er war überall dabei, sein Name stand auf jeder Liste ... da blühte weder eine Enziane für ihn allein auf einer Sumpfwiese, klang kein Ton Beethoven zu ihm, noch spielte ein einziges Mal zehn Minuten lang die Sonne für ihn allein in der schönen Linde vor seinem Schlafzimmerfenster im Garten.

Und dann schüttelt Doktor Groß Fritz Eisner die Hand. Er wäre so gern mit Madame bei ihm zum Tee geblieben, aber er verstehe, warum er gerade heute nicht ... (Also Fritz Eisner versteht es durchaus nicht ... »Gewiß, Herr Doktor«, sagt er deshalb.) Die Situation wäre zu ernst, und sowas drückt automatisch auf die ganze wirtschaftliche Lage. Man tut, was man kann, um die Beziehungen zum Ausland endlich mal wieder ... vor allem zu Frankreich, wir sind doch wirtschaftlich (das ist auch so ein neues Modewort) auf einander angewiesen. Sie kommen ja doch öfter, Meister, wenn auch nicht zu mir, so doch zu Madame.

Und schon reißt der Junge mit der gelb und blau gestreiften Jacke die Tür vor ihm auf. »Aber Sie rauchen doch, nicht?!« ruft Doktor Groß noch, »Karl, sorg doch mal dafür, daß unser illustrer Gast was zu rauchen kriegt. Madame vergißt so etwas gern. Adieu, mein Kind! Du mußt dir auch mal von dem Onkel hier was Hübsches wünschen. Was denn? Eine große Puppe?« –

»Ah bah, ich hab schon eni«, sagt Maud. Dieser Onkel ist nicht so recht ihr Mann. Da war Onkel Emil mit dem Silberstock schon netter, denkt sie.

»Was denn?« meint Doktor Groß, während ihm der Groom immer noch die Tür aufhält. Wirklich, man merkt es Doktor Groß an, daß er keine Zeit ... ja, wie soll man das ausdrücken: er hat eigentlich ja stets keine Zeit, man kann doch nicht sagen, er hat noch keinere Zeit als sonst, also daß er gar keine Zeit hat.

»Na, dann sagst du's mir eben heute abend, mein Kind«, meint er, und macht die Tür hinter sich zu. Das pflegen sonst immer andere Leute für ihn zu machen.

»Geh, Onkel, ä Roller«, ruft Maud plötzlich laut, wie schon längst unten die Haustür geklappt hat und der Studebaker schon leise wieder zu singen begonnen hat. Denn um diesen Roller hat es zwischen Maud und ihren einsichtslosen Eltern schon die schwersten Zusammenstöße gegeben, weil eben bei ihnen solch eines Rollers wegen die Hälfte der Kinder ständig mit verbundenen Kniescheiben und aufgeschundenen Ellenbogen herumlief. Nicht etwa weil der Roller schlecht war, sondern weil die Straße abschüssig war, und die Kinder, wenn sie nicht schon vorher hinfielen, zum Schluß sicher gegen eine Gartenmauer fuhren, was nur in den seltensten Fällen, oder Nichtfällen, ganz glimpflich ablief. Aber dumm, wie Eltern immer sind, sahen sie durchaus nicht ein, daß das gar nichts machte, und daß jedes vernünftige Kind in der Wahl zwischen einem zerschundenen Knie und einem Roller natürlich den Roller vorziehen mußte.

Ja, und dann riß Karl die Tür zum Gartensaal vor ihnen auf und Lu, Frau Doktor Spanier, kam ihnen entgegen, als sie eintraten. Der Gartensaal war ein Saal am Garten, zum Garten hinaus und ein Garten zugleich. Das heißt, ein Urwald ohne Bäume. Er hatte nämlich noch in den geteilten Wandflächen gemalte Tapeten mit rotbehangenen Tomatenstämmen und Stechapfelsträuchern mit weißen Blütentüten, zwischen denen exotische Vögel flogen, halb aus einem alten Vogelbuch, halb dem Hirn eines Malers entflattert. Sonst stand so alles herum. In Vitrinen, lagen auf kleinen niedrigen Tischen chinesische Glasschalen und zackige geschnittene Gläser von ebenda. Und eine ganze Farbenorgel von Snofbottels, die von der letzten Sonne durchleuchtet waren. Und Wedgwoods und Dosen. All so etwas, was Fritz Eisner nachher in aller Ruhe sich anzusehen vornahm, um es sich einzukatalogisieren. Zum Schluß war doch das das einzige in seinem Leben, was ihn wirklich elektrisierte.

Der herbstliche Garten aber, wirklich, man sah kein Nachbarhaus von hier, nicht mal eine nachbarliche Mauer, – mit seinen Kieswegen, auf die die Linden gelbe Blätter herabweinten, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, daß sie doch am Vormittag eben gekehrt waren, und in dem eine große amerikanische Eiche, blutig und burgunderfarben, mitten auf einer grünen kurzgeschorenen englischen Rasenfläche ihr Herbstlaub über Beete von Monatsrosen, violetten Astern und dem Kardinalrot der Brüsseler Salvie ihre Zweige emporreckte ... der herbstliche Garten lag im Rahmen der drei breiten halbrunden rokokohaft geteilten, bis zum Boden fast herabreichenden Fenster. Und mitten darin war Lu in einem dunkelvioletten teagown, mit Silber durchwirkt und in der Farbe genau zu dem Schmuck der Aquamarine gestimmt, die sie trug.

Aber Maud interessiert das alles, trotzdem sie vorher ganz genau Inventur aufgenommen hatte, wieder mal gar nicht. Sie interessiert auch die schlanke bräunliche Frau mit dem kleinen Köpfchen, die mit einer nur schwer unterdrückten Zärtlichkeit auf sie zukommt, ebenso wenig. Maud, wie gesagt, nimmt davon keine Notiz, macht nur einen langen Hals und starrt zu dem Tisch herüber an Lu vorbei und nimmt die Zärtlichkeiten hin wie die Königin Anna Richard des III. Werbung: »Annehmen ist nicht Geben.«

Sie interessiert sich auch nicht für die petits fours, die Ingwerschokolade, die Jams, nicht mal für die Eierbrötchen mit Sardellen und die Tomatenbrötchen und Lachsbrötchen und die Salzmandeln in den silbernen Schälchen und die hauchdünnen knusprigen, gerösteten Kartoffelscheibchen da auf der Kristallplatte, all das, was dort in der Ecke auf einem niedrigen runden Tisch um die englische silberne Empireteekanne und den Sahnengießer in lockerer Schützenkette Aufstellung genommen hat und auf sie wartet.

Sie interessiert nur eine blondfarbene, dickköpfige, schwere, reizend dofe Bauernpuppe in karrierten Röcken und mit einer blauen Leinenschürze, die sich da, und noch zudem dort, wo das kleinste der drei Stühlchen steht, mitten auf den Tisch gesetzt hat, und unentwegt mit ihren vergißmeinnichtblauen Augen zu ihr herübersieht. Und sie hat so'n ungewisses Gefühl, als ob sie und diese Puppe da jetzt alsbald in Verbindung treten werden, und daß sie den Rest des Tages deshalb für diese Leute da nicht mehr zu sprechen sein wird. Dieser ganze Fall hier ist somit für sie erledigt. Die Tante gefällt ihr auch eigentlich ganz gut. Wenn auch ihre Mutti schöner ist. Jedenfalls scheint sie, was Puppenschenken anbetrifft, eine leichte Hand zu haben, denn schon hat sie gesagt: »Sieh doch mal, wer da sitzt?« Und Maud hat furchtbar überrascht und furchtbar erfreut getan. So leiten Erwachsene so etwas immer ein. Das kennt sie, und man muß dann so tun, als ob man gar nicht ahnte, daß sie es einem schenken werden und eine Flabbe nachher ziehen, wenn sie sagen, sie werden es wieder mitnehmen. Das amüsiert sie.

Ja, und dann sitzen Fritz und Frau Doktor Spanier gewiß zum neunundneunzigsten Mal, das heißt, zum erstenmal seit Ende des Krieges, wieder, – nein, sie haben sich inzwischen nur mal gesehen und begrüßt, so am gedeckten Teetisch, nur daß es eben jetzt einmal bei Doktor Groß ist und früher bei ihrem Mann, dem Doktor Spanier, oben an der Friedrichstraße. Das ist vielleicht der ganze Unterschied. Sie können reden, was sie wollen. Auf das Kind brauchten sie keine Rücksicht zu nehmen. Selbst, wenn sie sich etwa geküßt hätten. – Aber der eine Kuß da draußen vor fünfundzwanzig Jahren in Potsdam hatte sich nie mehr wiederholt zwischen ihnen, trotzdem sie dazu doch sicher Gelegenheit hätten nehmen können ... also selbst dann hätte Maud keine Notiz davon genommen, es vielleicht überhaupt nicht gemerkt. Sie war beschäftigt. Erstens mußte sie essen und zweitens mußte sie die Puppe Lisbeth, die sehr manierenlos und bäurisch noch aß, füttern und erziehen.

Trotzdem sie einander nur zu genau mit allen Fehlern und Schwächen von früher her kannten und gern hatten und es immer wieder vermieden hatten, sich nahe zu kommen, trotzdem und gerade deshalb hatte auch keiner von ihnen je das Recht gehabt oder einen Grund, mit dem andern zu brechen. Und nun saßen sie nach so langer Zeit wieder mal zusammen und lächelten sich an, wenn auch beide nicht mehr ganz so unbefangen wie früher.

Jeder sagte wortlos: Ich freue mich ja doch riesig mit dir, Mensch. Wie ist es dir eigentlich die ganze Zeit über in dieser wahnsinnigsten aller Welten und in diesem im Augenblick traurigsten aller Länder ergangen? ... Wie kommst du mit Doktor Groß aus? ... Und wie kommst du mit deiner jungen Frau aus? ... Ist es nicht manchmal ein bißchen schwer für dich? ... Oder für uns beide? .. Jedenfalls seh ich, du lebst noch! .. Jedenfalls sehe ich, du lebst auch noch .. (Besonders glücklich siehst du zwar nicht aus, aber wie kann man das heute verlangen.) Du hast dich sonst gar nicht verändert, Lu. Hast immer noch das claire obscure deines Teints, bist noch so grazil, wie es meine kleine Ginsterkatze von früher war ... So hab ich dich doch immer genannt ... Und dein Lächeln hast du auch nicht ganz verloren, mit dem du deine netten Bemerkungen stets zu begleiten liebtest ... Du bist doch nun schon viel grauer an den Schläfen. Aber das steht dir nicht schlecht zu dem braunen Gesicht. Falten hast du nicht bekommen, Dju hat welche. Und das Auge ist immer noch solange gutmütig, bis es böse wird. Aber du solltest mehr arbeiten, Junge. Ob die Zeiten gut oder übel sind, ist gleich. Das soll vorbeigehen. Das, was du arbeitest, machst du ja, damit es bleibt ... Du, weißt du, wenn ich jetzt so neben dir sitze, sind eigentlich die ganzen fünf, sechs letzten Jahre wie verweht, und wir knüpfen im Leben überhaupt da wieder an, wo wir aufgehört haben ... Du, weißt du, wie ich jetzt so hier neben dir sitze, habe ich das Gefühl, daß die ganzen fünf, sechs letzten Jahre eigentlich wie ein Nebelstreif am Horizont sind, und als ob unser Leben genau da eben anfing, wo es vor fünf, sechs Jahren schloß.

All das sagt sich Lu und Fritz Eisner in der einen Sekunde, wo sie sich anlächeln.

»Na, teurer Meister«, meint Lu dann, »nun erzählen Sie mir mal, wie ist es Ihnen so inzwischen ergangen? Mindestens drei Jahre haben wir uns nicht gesehen.«

»Was soll denn ein chronischer Einsiedler erleben, Lu? Geben Sie mir mal Ihr kleines Händchen. (Nein, das hat nicht so blaue Adern, denkt Fritz Eisner, während er es küßt.) Und nicht mehr die grüne Fahne des Propheten, Lu? Das war doch immer Ihr Teekleid. Ich kannte mindestens ein Dutzend davon.«

»Soll ich mich schnell umziehen, Fritz?«

»Nein, die Jadeplatte der Prinzessin Peihiho haben Sie ja noch. Und die Jahre sind doch an Ihnen abgeglitten wie Wassertropfen an einem Gummimantel. Passen Sie auf, in zehn Minuten werden wir unser Gespräch genau dort fortsetzen, wo wir es am letzten Kriegstag abgebrochen haben. Wie Wassertropfen von einem Gummimantel, sagte ich das nicht damals auch schon?«

Das war dumm von mir, denkt Fritz Eisner. Damals war doch die Sache mit dem goldenen Gilletapparat von Doktor Groß. Wie kam er nur zwischen ihre Kleider? Sie wollte ihn noch holen. Und da hatte ihn schon das Mädchen ihrem Mann auf den Toilettentisch gestellt. Und nicht nur das, sondern der Name Doktor Georg Groß stand auf dem Etui.

»Wie Helena, Lu: wird jung entführt, im Alter noch umfreit!« Fritz Eisner lacht vor sich hin. »Auch das habe ich Ihnen schon mal gesagt.«

Lu streicht ihm über das Haar, bürstet ein wenig mit ihren beringten Fingern an seinen Schläfen. »Kurz den Poeten bindet keine Zeit«, meint sie lachend. »Silberfuchs«, sagt sie, »diese Sorte wird nebenbei jetzt hochbezahlt, ist wieder sehr Mode. Das hat mal Ihre Mutter gesagt damals, Fritz!«

»Sie lieben immer noch trèfle«, sagt Fritz Eisner leise, als ihm Lu so nah ist.

»Wieder«, sagt Lu.

Eine Nurse ist erschienen, lautlos mit Krankenpflegerinnenschuhen und einer braunen Haube, sehr hübsch und strahlend freundlich, und schon sitzt sie mit Maud auf dem Boden mitten in dem großen leeren Raum mit den Tomatenbäumen und dem Garten im Fenster, und sie spielen zusammen mit der neuen Puppe. Ethel, so heißen Nurses meist, ist die Omi von der Puppe Lisbeth, und Maud muß deshalb ihrer Mutter, eben der Omi, auf den Rücken kriechen, wenn Lisbeth – wenn auch ohne Wasser – sachgemäß gewaschen wird. Die anderen Leute interessieren Maud nicht mehr.

»Ich habe nebenbei falsch prophezeit damals, Fritz, ich habe Ihnen zehn Monate als Höchstgrenze mit Ruth gegeben damals und nun sind es bald sechs oder es geht gar schon ins siebente Jahr. Bei mir auch. Wie lange hatten Sie mir prophezeit, Fritz? Ehrlich!«

Fritz Eisner zuckt die Achseln. »Sie sagten damals, Lu, als wir über Doktor Groß sprachen: ich dachte, er hätte immer noch seine Yankeeperiode. Aber ich sehe, Sie haben recht, eigentlich ist er ja doch ein sehr feiner Mensch geworden, ich sprach ihn vorhin einen Augenblick, damals sagten Sie: Georg will mich zur verwöhntesten Frau Berlins machen!«

»Nun, hat er sein Wort nicht gehalten, Fritz?«

»Hat er Sie nun auch zur glücklichsten Frau Berlins gemacht, Lu?«

»Der Angeklagte verweigert die Aussage«, meint Lu, und aus den etwas verbitterten Mundwinkeln kommt zum erstenmal wieder ihr altes Lächeln hervor. »Aber Georg braucht so eine Frau wie mich, die ihm nett Konservation macht, ebenso französisch, englisch und noch in einigen Sprachen, gut aussieht, sich gut anzieht, nie unfreundlich ist, in allen Situationen Dame bleibt, und mit der er sich überall zeigen kann. Und dann ist er eben doch sehr ehrgeizig, und es gibt manches, in dem ich wieder klüger bin als er. Und vor allem gesellschaftlich. Klüger, nicht geschäftsklüger. Nein, das gewiß nicht. Wirklich, Fritz, es ist nicht immer leicht, heute ein ›Haus‹ zu machen und doch nicht jeden dabei zu empfangen, den man nicht vor den Kopf stoßen darf. Nebenbei sind Sie ein schlechter Kerl, Fritz, immer wenn man Sie im Leben braucht, sind Sie nicht da!«

Was soll das? denkt Fritz Eisner. Sie hat mich schon einmal im Leben gebraucht, wo es um ihre Ehe ging. Braucht sie mich jetzt etwa wieder?

»Ihre reizende Frau will sich hier betätigen, wie ich hörte.« (Von wem, denkt Fritz Eisner.) »Also, da kann ich ihr soviel Türen in Berlin aufmachen, wie sie will.«

Fritz Eisner sieht nach der einen der zwei offenen Empirevitrinen herüber. Sie sind sehr zierlich mit Widderfüßen und schön geschnitzten Satyrköpfen, wie sie da zwischen den Wandbildern stehen. »Oh«, sagt Fritz Eisner, »das Häschen da und den Pekinesen und den Mönchen und die Zwerge kenn ich doch, Lu?!«

»Das sind so«, sagt Lu, und Fritz Eisner merkt, daß ihr das Gespräch nicht angenehm ist, » meine Flacons. Das ist aber auch das einzige, was ich mir mitgenommen habe. Es bildet so eine nette Ergänzung zu den Stockgriffen, die Georg sammelt. Das männliche und das weibliche Prinzip nannte ich es immer. Aber sagen Sie mal – (Fritz Eisner merkt, sie will vom Thema los) haben Sie mal was von Hannchen gehört, oder sind Sie mit ihr nicht mehr gut?«

»Gewiß«, sagt er, »ich wüßte nicht, .. wenn ich von ihrer Schwester geschieden bin, so braucht sich doch dadurch nichts ... natürlich, Lu, ich bin über fünf Jahre fast nie in Berlin ge...«

Lu unterbricht. »Ich habe sie neulich mal wieder gesprochen, eigentlich beneide ich sie wie jeden, der in einer Idee lebt. ›Ich will deiner harren, bis daß du wieder nah!‹ Solveigs Lied. Wenn ich nicht Alexander wär, möcht ich Diogenes sein. Seit einer Ewigkeit lungenkrank. Der Mann seit bald zwanzig Jahren fort. Wie, was, wo, weiß man doch kaum noch. Wie weit er sich um sie noch kümmert, erst recht nicht. Ihr kann man ja darin nichts glauben. Und immer obenauf! Und immer verdient sie mit ihrem Zeichnen doch noch irgendwas. Naja, Paul Gumpert hat sich manchmal mit fingierten Aufträgen, denn sie nimmt doch nichts so, ihrer angenommen. Aber das wird doch nun aufhören, denn der arme Paul kann doch selbst kaum noch japsen. Ihre Schwester, Ihr Annchen, Fritz, hätte die Hälfte von dem Lebensmut und der Tüchtigkeit haben sollen, dann ... aber man soll nie – Lu seufzt und verbirgt den Seufzer hinter einem leichten Gähnen, das zweite mag unhöflich sein, sagt sie sich, aber das erste ist doch ein Signalement aus einem Steckbrief, nie soll man nachdenken, wie Dinge geworden wären, wenn ... »Der Lulu, Ludwig das Kind, Hannchens großer Herr Sohn, macht sich nebenbei ganz gut jetzt. Ich hörte da so etwas ...«

Und das erstemal läßt Lu wieder eine ihrer kleinen Kaskaden von Gelächter aufsprühen, die zur Madame des Hauses Doktor Georg Groß so durchaus nicht passen, und die Fritz Eisner immer so gern an ihr herausforderte, und man merkt Lu an, daß ihr das wohltut und daß ihr dieses ihr Lachen lange gefehlt hat.

Die Nurse und Maud kümmern sich gar nicht darum, daß die beiden durch die große Mitteltür auf die Terrasse herausgehen. Sie sind beschäftigt. Lu hat einen echt spanischen gestickten Schal ... der solange über der Sessellehne lag, umgenommen und zieht ihn etwas fester um die Schultern. Oktober ist doch kein Wetter mehr für Teekleidchen. »Ja, Fritz«, sagt sie, und sie hören beide ihre Schritte im Kies, während sie so rund um die Rasenfläche kreisen, die Eiche ist wirklich fast von ergreifender Schönheit da zwischen den Blumenbeeten und so in der mild und honigtropfenden Herbstsonne, »Ja, Fritz, was machen wir mit Paul Gumpert? Aus seiner Wannseebesitzung muß er natürlich raus. Ich glaube am 15. Oder sogar am 10. Die ist schon verkauft (– an irgendsolchen Schwindler, der aus Schlachthofabfällen und Freibankfleisch im Krieg Konserven gemacht hat. Er hat ja deswegen drei Monate sogar abgesessen. –) Und in der Rauchstraße, da kann er sich selbstverständlich auch nicht mehr halten. Ich habe ihm unser Sommerhaus in Neubabelsberg vorerst einmal auf ein Jahr angeboten. Möbliert natürlich. Er soll zahlen, was er mag, damit das Kind wenigstens für ihn einen Namen hat. Verstehst du? (Warum »du«, denkt Fritz Eisner.) Das Gärtnerhaus kann er sogar ganz umsonst kriegen. Oder wollen Sie es, Fritz? Aber Paul hat so eine merkwürdige Art bekommen, mit der fröhlichsten Miene zu allen Dingen ja und nein zugleich zu sagen und nie zu einem Entschluß zu kommen, eine Art, die ich so gar nicht an ihm kenne, und dabei ist er scharmanter als er je war. Nur in einem hat er noch seinen Kopf aufgesetzt, als man wollte, daß er akkordieren soll. ›Was heißt das‹, hat er Georg gesagt, der wollte die Sache doch stillschweigend ordnen (er hätte nicht eine Papiermark dran gehabt, in so etwas kann er sehr großzügig sein. Das ist wahr: kleinlich ist er nie gewesen!) Was heißt das, mein Geschäft, und es ist doch seit zwanzig Jahren schon eine Weltfirma, kann in Konkurs gehen, das ist ein Unglück, vielleicht sogar eine force majeure, dann wird man eben sehen, daß die Leute nichts oder fast nichts verlieren. Aber ein Paul Gumpert akkordiert nicht. Gott, Georg hätte ja auch sogar etwas in die Sache hineingesteckt, aber solange diese dreimal gehenkten Halunken, sagt er, die sich da mit hineingesetzt haben bei Paul Gumpert, und die ihn doch systematisch an die Wand gedrückt haben, nach einem ganz genauen, von vornherein angelegten Plan ... man kann es ihnen ja schwarz auf weiß nachweisen ... eben um das Ganze billig in ihre Krallen zu kriegen nachher ... aber solange natürlich diese Asselbande dadrin ist, ist jeder Pfennig, den man da hinein gibt, von vornherein verloren, genau so, wie es zehn Millionen Goldmark wären. Die würden ebenso verschwinden und verdunsten (ich weiß das nur von Georg). Wenn man mit dem Akkord die Bande zugleich hätte ausschalten und auszahlen können, schön, dann hätte es auch Georg gegen den Willen von Paul gemacht, schon meinethalben. – So etwas läßt sich machen. Heute läßt sich sogar alles machen. Aber das einzig Mögliche ist noch, die ganze Sache einfach kaputt gehen zu lassen und dann wiederaufzubauen, und nachher kann man Paul Gumpert von neuem hereinsetzen, als Direktor. Er ist ja sehr tüchtig, wenn auch von einer etwas altmodischen Enge, die heute, ich weiß das nur von Georg, doch nicht mehr so ganz angebracht und vor allem in dieser allgemeinen Verwirrung der kaufmännischen Moralbegriffe wirklich nicht am Platze ist. Aber Paul sagt zu allem ja und nein und ist zu nichts zu bringen. Nicht mal zu einer Unterschrift, die ihn nicht bindet und nichts kosten kann, und die muß doch Georg mindestens von ihm haben.«

Fritz Eisner ist vor einem Busch mit Monatsrosen stehen geblieben, die noch unentwegt blühen. Die Sorgen der reichen Leute, denkt er, komisch, wir Schriftsteller verkehren doch immer mit reichen Leuten und kommen dabei selbst nie zu etwas, denkt er, während er auf die kleinen rosigen Knöspchen da unten niederstarrt.

»Behält er denn gar nichts? Und warum muß er eigentlich seine Sammlungen verkaufen? Vor allem seine Galerie? Hat er denn kein Privatvermögen? Oder M'chen noch? Die war doch mal 'ne reiche Partie, und die hat doch dann von ihren Eltern noch alles geerbt ... Man kann doch auch als Nichtmillionär eigentlich weiter leben. Dinge derart waren Paul Gumpert doch früher gleichgültig. Ich erinnere mich noch an ihn, wie er rund dreiundachtzig Mark und sechsundsechzigzweidrittel Pfennig im Monat, nämlich tausend Mark Gehalt im Jahr hatte und sein Leben damit ganz nett und durchaus geistig und ganz unproletarisch sich zurecht gemacht hatte, also Paul war doch immer bedürfnislos wie ein russischer Student.«

»Kein Mensch zwingt ihn doch im Augenblick dazu, seine Galerie zu versteigern, er tut's doch von selbst. Warum, versteh' ich nicht. Und versteht niemand. Sollen doch diese räudigen Hunde ein paar Prozent weniger kriegen. Nachher wär doch immer noch Zeit gewesen. Und Privatvermögen hat er meiner Schätzung nach sicher auch. Und zum mindesten hat M'chen, sie haben doch Gütertrennung, doch mehr Vermögen, wie ich es z.B. habe, und das ist sehr sicher bei ihr angelegt. Komisch, wenn Paul für sich nur halb so klug gewesen wäre, wie er für M'chen gewesen ist die ganzen Jahre, dann wär er auf den Leim nicht gekrochen. Verhungern werden sie natürlich nicht und nie.«

»Na, dann ist es doch gut, Lu. Ich jedenfalls kann das von mir nicht mit der gleichen Bestimmtheit behaupten.«

»Ach Gott, Fritz, seien Sie doch kein Kind, verstehen Sie mich denn wirklich nicht? Ich denke, es ist Ihr Beruf, menschliche Dinge zu begreifen und zu durchdringen: ich habe Angst um Paul! Ganz dumme Angst um den guten Jungen – nun ist er ein dicklicher oller Mann mit 'ner Glatze und humpelt wegen dem Knöchelbruch damals mit hinzugetretener militärärztlicher Behandlung, weich und fein, und scheu und verletzlich ist er immer gewesen, und für mich sitzt er immer noch, wie vor fünfundzwanzig Jahren, da in der Laube, da in Potsdam, wissen Sie noch, Meister? Und schmachtet Ihre Schwägerin Hannchen ... das war doch die Schönste von uns Mädchen, mit solchen Augen an, wissen Sie noch?«

»Gewiß«, meint Fritz Eisner, »gewiß, Lu. Und wie trägt es denn M'chen?«

»Kommen Sie, Fritz, stecken Sie sich hier ein Asterchen an. Ich erinnere mich doch von früher noch, Sie haben das gern! Der Klub der violetten Aster. Lebt denn Marley, der Stock, noch? Ja? M'chen! Ach Gott, die ist dumm, verfallen, zänkisch, nervös und verheult. ›Hör mal‹, sagt Paul, ›man sollte doch deine Perlen ...‹ Was hat sie nun davon? ... ›Nein, nein, meine Perlen gehören mir, das ist mein Eigentum, die hast du mir persönlich geschenkt.‹ Joli hat sofort alles zurückgegeben, was sie von ihm je bekommen hat, auch die Perlen.

Gott, man kann es ihr ja nicht übelnehmen. Das mit Joli hat sich ihr auch nicht in die Kleider gesetzt, aber endlich war doch Paul immer hochanständig zu ihr. Wenn er gewollt hätte, wäre er doch von ihr losgekommen. Er hat es nie an Achtung fehlen lassen oder sie gesellschaftlich in all den Jahren jetzt irgendwie zurückgedrängt. War immer gleichmäßig liebenswürdig, und sie hat ihn doch schwer und gemein gequält. Das verstehen solche hysterischen Frauen.«

»Na, und Joli?« meint Fritz Eisner und bleibt wieder stehen und sieht, wie in der Sonne so ganz langsam ein paar gelbe Lindenblätter herabsegeln und sich in die Schneebeerenbüsche hängen. »Ich habe sie gern. Sie ist sehr ähnlich wie Ruth, und außerdem hat sie so eine entzückende Art den Fehmantel zu halten. Ich fürchte, das wird dann doch mit Paul Gumpert in die Brüche gehen.«

Lu ist stehen geblieben ... Die spanischen Schleier, wenn sich so ein schlankes Wesen (und Lu hat immer noch die beweglichen Glieder, die schlanken einer Ginsterkatze mit ihrem kleinen Kopf und den schräg stehenden Augen) also wenn sich solch ein schlankes Wesen sie fest um den Körper zieht, sind ja doch sehr kleidsam, denkt Fritz Eisner. »Gott ja, Fritz«, sagt sie, »das hoffte ich ja auch im Stillen, weißt du ...« Warum duzt mich Lu jetzt nur immer wieder? »Früher waren sie zusammen, wenn er Zeit hatte, und er teilte sich doch zwischen ihr und M'chen, seiner Legitimen. Aber jetzt sind sie doch eigentlich jede freie Minute zusammen, die ganze Zeit, ich glaube, sie wohnt überhaupt draußen bei ihm in Wannsee jetzt. Nebenbei war sie sehr gut in Pygmalion, fast so gut wie die Durieux.«

»Merkwürdig«, sagt Fritz Eisner, »sie ist genau so alt wie meine Frau, fast auf die Stunde. Ist das nicht ganz seltsam? Nun müßte sie doch nach der Astrologie, das ist jetzt wieder höchste Mode, eigentlich fast genau dasselbe Schicksal haben.«

»Ja, der Vater war mal ein großer Getreidemann hier, long long ago«, summt Lu. »Aber es wird mir doch etwas kühl. Kommen Sie, gehen wir wieder rein. Müssen auch mal sehen, wie Maud sich da eingewöhnt.«

»Ja, Lu, was kann ich aber da tun?« meint Fritz Eisner, während sie wieder langsam die niedrigen Stufen zur Terrasse hinaufsteigen nebeneinander.

»Weißt du, Fritz«, meint Lu, »ö entschuldigen Sie, ich sage immer du zu Ihnen.«

»Da wird mir nichts anderes übrig bleiben, als auch du zu dir zu sagen, Lu, unter der Voraussetzung, daß plumpe Vertraulichkeiten gegenseitig ausgeschlossen sind, und das Privatleben des anderen weiter tabu bleibt.«

Lu lacht wieder eine ihrer kleinen Kaskaden. »Ja, du sollst zu ihm hingehen und dich mit ihm unterhalten. Weißt du, er hat dich immer ganz gern gehabt, weil du so etwas geworden bist, was er gern geworden wäre. Vielleicht hast du irgendwelchen Einfluß auf ihn und vielleicht kannst du herausbringen, was er vorhat. Ich ängstige mich um Paul, der Junge ist mir zu froh. Da stimmt was nicht.«

»Ach Unsinn, Lu, der Mann hat schwere Sorgen gehabt, und nun hat er eine Gewißheit, und hat sich eben damit abgefunden. Man kann das Leben eben so oder so führen. Und zum mindesten ist das zweite, wenn auch nicht bequemer, so doch weniger riskant und weniger aufregend, und das sieht er wohl jetzt ein. Und das wird das Ganze sein.«

Lu antwortet nicht, schüttelt aber den Kopf, daß die Ohrgehänge pendeln. Maud und die Nurse haben sich sehr angefreundet, und die Nurse spielt Pferd mit Maud, und die stampft und wiehert über den Aubussonteppich hin. Und das halten die besten Aubussons auf die Dauer nicht aus.

»Na Maud«, meint Fritz Eisner, »soll ich Mutti von dir grüßen?«

»Hm him«, singt Maud und das heißt ›ja‹ sowie abah ›nein‹ heißt, und schnaubt und trampelt weiter. Du siehst doch, will das sagen, daß ich jetzt gar keine Zeit für dich habe. Außerdem ist es doch sehr nett hier. Kümmere dich bitte nicht weiter um mich.

»Ach Gott«, ruft Lu und hebt das Handgelenk und sieht auf eine winzig kleine Uhr in einem Kranz von Brillanten, von denen jeder nicht viel kleiner ist, als die Uhr selbst da in ihrem Armband. Für Uhrarmbänder hat Doktor Groß von je eine Puschel. Er trug das schon, wie das eigentlich noch kein Mensch in Berlin hatte in seiner boxenden Yankeeperiode. Und dies Minimum einer Damenuhr, zu der eigentlich eine Lupe gehört, um die Zeit zu erkennen, ist sicherlich mal ein teures Präsent von ihm an Lu gewesen. »Ach Gott, dreiviertel auf Fünf, da muß ich schnell telefonieren. Johanna, verbinden Sie, Sie wissen ja, Dönhoff 2803 (was macht die Madonna di casa eisnerio?) und legen Sie es dann hierher. Komm, nimm noch einen Schluck Tee, Fritz.«

»Aber nur wenn ich den Gartensaal als Stehteehalle betrachten darf, Lu.« (Dönhoff 2803! Wer hatte denn die Nummer, denkt Fritz Eisner, die Nummer kennst du doch?!) »Ach, die Madonna, die hat mit der Zeit einen ganzen Himmel von Heiligen um sich versammelt, weil es mit mir doch nicht die richtige Gesellschaft für sie war.«

Lu spricht indessen: »Was hat der Herr Doktor zum Abendessen heute? Sind die Rebhühner gekommen von Rollenhagen, die ich bestellt hatte? Das reicht nicht. Da machen Sie jedenfalls noch ein Rebhuhn. Ja ja, kann dann auch kalt für morgen bleiben. Hat Frau Steinitz die Oberhemden geliefert? Hat Herr Doktor eine große Sprechstunde heute? Ist seine Erkältung schon besser? Legen Sie ihm jedenfalls das Heizkissen wieder ins Bett, Anna. Nicht einstellen. Das wird der Doktor dann schon selbst tun.« Lu schaut, den Hörer am Ohr, mit einem schrägen Blick zu Fritz Eisner hoch und lächelt. »Also Fritz«, sagt sie, »man kann doch solch einen Mann nicht ganz verkommen lassen«.

Richtig, Dönhoff 2803, Doktor Spanier, das war doch seine Nummer.

»Und wenn ich die Anna auch fünfzehn Jahre habe, – wenn man solch einem Mädchen nicht täglich auf die Finger sieht ...! Ich wüßte nicht, wo Dju hingekommen wäre, wenn ich nicht jeden Tag zweimal morgens und abends mich drum gekümmert hätte. Er weiß es natürlich nicht.«

Fritz Eisner will etwas sagen, aber er sagt nichts. Er kann doch nicht schon nach fünf Minuten ihr Abkommen brechen, daß das Privatleben des andern tabu ist.

»Warte, ich bring dich noch«, sagt Lu, »grüß deine junge hübsche Frau. Ich ruf sie noch an und erzähl ihr, wie das Kind ins Bett gekommen ist. Ich möchte gern noch vorbeifahren, aber es wird nicht reichen. Wir haben heute den Empfang auf der amerikanischen Botschaft, der ist für Georg sehr wichtig. Er muß jemand da treffen. Und ich muß mich dazu noch umziehen.«

Der Kleine in der gestreiften Jacke steht in der Tür. »Madame, der Herr Friseur wartet«, sagt er mit einer Miene, als ob er den Grafen Perponché zu melden die Ehre hätte.

»Du siehst, Fritz«, und Lu lächelt dabei, aber langsam wird ihr Lächeln wieder von der Bitterkeit in ihren Mundwinkeln verschleiert und erstarrt da ganz, »der Herr Friseur wartet! Also auf Wiedersehen, Fritz. Wir haben ja früher so gern telefoniert, das werden wir also wieder aufnehmen. Manchmal, weißt du, hab ich einen ordentlichen Hunger, alte Stimmen zu hören.«


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