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Kapitel III

Franz, Pfarrer Moser und die Ente

Also, den ganzen Nachmittag kommt man doch zu nichts. Den ganzen Nachmittag muß man auf das Kind aufpassen. Ewig wird man gestört. Vier Romane und zwei Lyrikbände und eine Monographie über E. Th. A. Hoffmann mindestens muß ich noch bis Sonnabend mittag gelesen haben. Was soll ich mal machen, wenn nachher keine Bücher mehr gedruckt werden? Kann auch noch kommen. Dann muß ich ungefähr wie Paul Gumpert Konkurs anmelden. Denn der Dollar muß doch mal wieder ein Dollar, statt 136 (oder wie hoch er steht!), also morgen vielleicht schon 270 Millionen Papiermark werden. Wie hat der amerikanische Bankmensch neulich gesagt: »Die katastrophell Ueährungsrifoom muß kommen bei Oehnen zwar, aber keufen Sie dennoch Tabakshendel ... o nein, – handel Kehl. Das bleibt auch dann noch very good.«

Also Ruth hat sie dann gekauft. Habe sie ihr sogar geschenkt. Sie ist stolz auf »Tabakshendel Kehl«. Ich mißtraue ihm wie allem heute in Deutschland. Dieser Schwindel mit den Aktien, das muß doch eine Treibhausblüte sein, die sofort welkt, sowie sie an die frische Luft kommt. Und die frische Luft muß doch mal kommen. Aber sicher: Bücher werden trotzdem gedruckt werden. So und so weiter. Selbst, wenn die Notenpresse mal aufhört ... »In Leipzig, wo se ejal drucken, der Deutsche kriegt den Quatsch nich satt!« Wenn nichts von Wolzogen oder seinem Überbrettl bliebe, diese Zeile wäre es wert.

Komisch, daß alle Romane jetzt von wilden Kämpfen im Berliner Zeitungsviertel erzählen und von Dachschützen. Der auch wieder hier. Als ob heute noch halb Berlin davon in Trümmern läge. Vor acht Wochen, als ich da war, schien's mir doch schon leidlich gut wieder aufgebaut zu sein. Oh wie schön die beiden Reiher jetzt da oben rudern! Genau im gleichen Flügelschlag. Als ob sie in einem unsichtbaren Glasboot säßen. Grade so wie die beiden Studenten da hinten in ihrem Zweisitzer. Aber die ernsten silbrigen Vögel da oben strengen sich weniger an. Halten besser Takt. (»Wenn über Flüssen, über Seen der Kranich nach der Heimat strebt!«) Haben sich nebenbei verfrüht. Es ist noch nicht fünf. Aber die Sonne ist schon wieder ziemlich tief dahinten. Fängt auch an, rötlich zu werden. Oktober eben. Wenn hier auch noch Sommer ist, der Herbst hat doch begonnen. Vielleicht sind es gar nicht meine täglichen Freunde, sondern nur ein paar Durchreisende. Oder sie sind es doch und sie sind heute abend eingeladen. (Sind wir nebenbei eingeladen? Nein. Haben doch abgesagt. Ruth wollte nicht. Weshalb eigentlich?) Und müssen deshalb früher zuhause sein, weil sie sich noch umziehen müssen. Fünfhundert Schwalben, die vorher nicht da waren, sind plötzlich auch oben in der Luft. Spätnachmittag gehen sie immer vom Wasser fort. Sammeln sich jetzt schon. Wie schwarze Schmetterlinge taumeln sie da oben im Blau durcheinander. – Wie haargenau gezirkelt und doch jede überraschend die Kurven von ihnen sind. Die beste Schlittschuhläuferin der Welt ersinnt keine reizenderen Figuren als ihr Flügelspiel.

Da pfeift doch wieder einer unsern Pfiff unten. Machen sie hier schon alle nach. Die ganze Gegend pfeift schon, bis auf den kleinsten Lauser Ditata tun tatiii. Patente dürfen nicht nachgemacht werden. Warum kann man seinen Pfiff nicht durch Gebrauchsmuster schützen lassen?

Ruth ist es aber doch nicht. Die pfeift doch erstens mit schiefem Mund und deshalb wohl ganz hoch. So als ob einer durch die Zähne pfeift ... Das muß doch?! »Hallo, Fränze, findest du endlich mal den Weg zu deinem würdigen Vater heraus? Wie gehts? Gut? Repräsentierste immer noch die Wissenschaften? Was machen also die Maikäber, Fränze? Oder arbeitest du jetzt wieder mit indischen Stabheuschrecken?«

Sie ist zierlich, wie sie so dasteht mit ihrem schmalen Kopf, der schmalgeflügelten Nase, der hohen, fast weißen und leuchtenden Stirn und den großen besinnlichen Augen. Sie trägt wie stets eines ihrer Shantungkleider. Heute mal ein elektricblaues mit einem breiten Gürtel, und einen gesteppten Tennishut. Dabei ist sie eher schwerfällig, als leichtfüßig. Und doch für jeden Sport zu brauchen, besser als man glauben mag. Ob das Hockey, Schneeschuh oder Schwimmen ist. Selbst Florettfechten. Aber sie kommt nicht allzu viel mehr dazu. Denn sie will bald mit dem Studium fertig werden wie jetzt alle. Man kann nie wissen, wie lange der Alte sowas noch zahlen kann. Der Werkstudent und das Mensa-Essen sind an der Tagesordnung. Geld hat eigentlich niemand mehr.

Also, wie der Hund sich mit ihr freut! Hat sie doch sicher seit über zwei Monaten nicht mehr gesehen. Springt mit Maud um die Wette zu ihr hoch. Maudi ist sehr stolz auf ihre große Schwester. Renommiert mit ihr in der ganzen Gegend. Das tut sie überhaupt gern. Außerdem, große Schwestern sind immer etwas sehr nettes. Wenn sie einen nicht erziehen und man sie nicht allzu oft sieht. Bringen auch immer was mit. Was, ist gleich. Die Hauptsache, sie tun es. Denn alles Neue ist erfreulich. Wenn es auch nur eine kleine bunte Glasmurmel mit Fäden drin wie ein englischer Bonbon ist. Wie Maudi schon achtzehn hat. Dann sind es eben neunzehn. Zählen kann sie sie noch nicht. Aber sie kennt jede am Muster und schreit durch das ganze Haus, wenn eine fehlt. Oder eine türkische Zuckerstange von der Messe drin. (Ist nicht wieder Messe?) Das kennt man in Norddeutschland kaum noch. Das Bild auf dem grünen Platz mit dem alten brandigroten Schloß darüber ist immer so bunt und hübsch.

Fränze hat so eine einfache Art mit Kindern umzugehen. Nimmt sie unzärtlich. Wie sie überhaupt ist. Aber gleichberechtigt. Gerade so wie sie Tiere nimmt. Und das ist ihr Geschäft.

»Na, alter Herr, soll Maudi und Eminé mit herauf kommen?« ruft Fränze burschikos und winkt mit der Hand nach oben. »Jetzt ist es ja noch ganz schön, aber nachher kann's ein bißchen kühl werden.«

»Laß sie nur noch etwas unten, mein Kind. Wollen uns doch erst mal beide wieder in Ruhe ein bißchen beschnüffeln. Was gibt's Neues?«

»In unserm Berggarten haben sie die Dachrinne vom Gartenhaus geklaut. Weil die verzinkt war. Die Leute sagen im Städtel, es sind durchziehende Zigeuner gewesen. Aber wozu brauchen Zigeuner eine Dachrinne, wenn sie kein Dach brauchen. Ich meine, es werden bei uns seßhafte Zigeuner gewesen sein.«

»Habt ihr wenigstens die Rabau-Äpfel abgenommen?« Denn das Obst soll laut Abkommen feierlich geteilt werden zwischen den beiden Haushaltungen. Wird es aber nie. Lohnt sich auch selten.)

»Na, daß sie den Baum dabei auch leer gemacht haben, ebenso wie die beiden Nußbäume, war Ehrensache«, ruft Fränze zurück. »Oder glaubtest du, sie werden sie oben lassen? Verloren haben wir nichts daran. Die Äpfel sind ja doch jedes Jahr bitter wegen der Tannen ringsum.«

Also in so etwas kann man ihr nicht widersprechen, das weiß sie besser.

Aber Maudi will Fränze noch nicht herauflassen. Hängt sich an sie, läßt sich mit hochziehen und tuschelt ihr dabei etwas ins Ohr. Jedenfalls lachen beide sehr vergnügt darüber. »Denk mal«, ruft sie dann laut, »i hab auf der Mess auf ein lebiges Pony gesessen!« Und wie Fränze schon in der Tür ist, ruft sie noch immer hinterher. »Auf ein lebiges Pony bin ich geritte.«

Fränze ist nicht groß. Man könnte sie für 17, 18 halten. Die Mädels, deren Entwicklung in die Hungerjahre des Krieges fiel, sind alle körperlich etwas zurückgeblieben. Hatten auch noch keinen Sport. Die jetzt sind größer und besser von Gestalt schon wieder. Aber auch die Kriegsmädchen holen noch etwas auf jetzt. Gott sei dank. Sicher ist sie wieder ein Stück nachgewachsen. Wirklich, man sieht Fränze nicht an, daß sie schon vor zweieinhalb Jahren ihr Abitur gemacht hat. Richtig mit Griechisch und Latein. Hat eine besondere Puschel für Catull und Properz und für Mathematik.

Was die Mädels doch heute alles lernen. Was die so alles jetzt dadrin haben. Wenn man an jene denkt, die mit einem zusammen vor fünfunddreißig Jahren jung gewesen sind, und wenn man ihnen damals gesagt hätte, eure Töchter werden mal nicht viel schwerer die sphärische Trigonometrie in den Kopf bekommen, als ihr von heute die Dezimalbrüche. Werden Homer lesen. Und nachher Arbeiten über recente Neubildungen ... liebe Freundinnen, Sie brauchen sich gar nicht zu schämen deshalb, also ich weiß erst seit kurzem, daß man zum Beispiel Krebsen die Stielaugen amputieren kann und dann wachsen ihnen dafür Fühler aus dem Kopf heraus (aber warum???)

Wie glatt das Mädchen trotz Krieg draußen und Ehekrieg und den ewigen Widrigkeiten daheim seinen Weg bisher gemacht hat. Klingelt eines Tages an: »Ich nehme an, alter Knabe, du wirst mir wegen bestandenen Abiturs eine kleine Skitour auf den Feldberg nicht versagen. Es soll noch Pulver sein. Und neunzig Zentimeter hoch. Wenn ich durchgefallen wär, hätt es dich noch mehr gekostet.«

Und genau so wird sie mal ihren Doktor machen. Eher zu früh als zu spät. Wann, wird man nicht wissen. Aber sie wird anrufen. (So muß ich mal als Junge gesprochen haben. Wir sehen uns bis auf den Tonfall ähnlich.) »Hier Dr. Fränze Eisner.« Ich höre es schon. Man wird vorher überhaupt nichts davon erfahren haben. Was sie durchzumachen hat, macht sie mit sich allein ab. Ich habe ihr gesagt: »Ich will nie fragen, du brauchst nie zu reden. Aber wenn du mal nicht weiterkannst, komm zu mir. Es ist mein Beruf, für alles Menschliche Verständnis aufzubringen.« Bisher aber ist sie noch nie gekommen. Hatte Ursache gehabt zu kommen. Ich weiß es. Aber ich wäre im gleichen Fall auch nicht gekommen. Früher habe ich immer meinen Kopf an den ihrigen legen müssen und dann hat sie mich vor den Spiegel gezogen: »Sehen wir uns ähnlich?« Ja, wir sehen uns ähnlich. So ähnlich in der ganzen Art, auch die Dinge still in uns hineinzufressen und trotzdem wie ein Maultier seinen Weg zu gehen, derart ähnlich, daß es mir manchmal fast unheimlich ist. Wir kennen uns zu gut gegenseitig. Wir durchschauen uns mit all unsern Schwächen und Vorzügen. So wir solche haben sollten.

Besonders hübsch ist sie eigentlich nicht. Aber sie hat nicht, was hübsche Mädchen meist nur haben! Ein Gesicht, ein Lärvchen, wie es bei Goethe heißt. Sie hat schon einen Kopf. Sie ist gar nicht sehr ernst Im Gegenteil. Aber sie macht nur solange mit, wie sie will. Dann kommt der Punkt, wo sie nicht aus dem Zentrum zu stoßen ist. Von niemandem. Genau so war's bei mir. Sie wird nie etwas versprechen, was sie nicht hält. Und nie drohen, wenn sie eine Drohung nicht ausführen kann. Modisch kleiden tut sie sich nicht gern. Trägt immer breite Schuhe und niedrige Absätze. Mit anderen würde sie stattlicher erscheinen. Und dann geht das auch heute schlecht mit dem Gut-anziehen. Und es stimmt auch nicht zu Naturwissenschaften. Eine Juristin, eine Kunsthistorikerin, selbst die von den romanischen Sprachen mag die Dame spielen, aber nicht die Naturwissenschaftlerin. Sei keine Närrin, würde jeder Salamander sagen, du siehst doch, daß das Leben viel zu seltsam ist und viel zu traurig ist und unheimlich, um es damit zu vertrödeln, solchen Takel wichtig zu nehmen!

Fränze wühlt wortlos in den einzelnen Bücherhügeln auf dem Tisch neben dem Schreibtisch, hebt jeden Band, liest den Titel und legt ihn wieder zurück. Dann weiß ich, sie will eigentlich von ganz etwas Anderem reden.

»Haste nicht ein paar Bücherchen für mich?« meint sie so nebenher.

»Zieh mir keinen Ochsen aus dem Stall. Die da drüben müssen noch geschlachtet werden. Die andern da sind schon zu Hackfleisch frikassiert. Da kannst du dir nachher ein paar Pfund von mitnehmen. Also, Fränze, was macht die Mutter? Braucht ihr Geld? Wie geht's meinem dicken Hänseken? Aber sie ist leider gar nicht mehr so dick.«

»Natürlich brauchen wir. Hat dir Mutter nicht geschrieben deshalb? Sonst geht es so. Ich kümmere mich nicht all zu sehr drum. Ich habe Ferienkurs. Ich bin nicht viel da.«

Fritz Eisner weiß, was das heißt. Es ist also nicht anders geworden. Immer das Gleiche. Jahraus, jahrein. Es kann sich mit den Jahren bessern. Aber wann? Annchen drückt immer noch genau so alles um sich nieder und quält die Kinder jeden Tag von Neuem. Ohne das alte Mädchen, das sie zu nehmen weiß, wären die Kinder verraten und verkauft mit ihr. Fränze kann ihr aus dem Wege gehen. Wenn es ihr nicht gefällt, geht sie ins Institut. Oder sagt es wenigstens. Aber die Kleine, die Hänse. Die ist nun auch aus der Schule längst, aber sie soll sich schonen. Die muß zu Hause bleiben, ist nicht recht kapitelfest, von der Rippenfellentzündung von damals noch her. Wird sich aber bei einiger Pflege schon wieder auswachsen, meint Dr. Holland. Auf dem Röntgenbild ist kaum noch ein leiser Schatten. Und Geräusche sind gar nicht mehr zu hören. Nur solch ein bißchen Knipsen manchmal. Aber auch das nicht immer. Muß sich aber trotzdem in acht nehmen.

»Ich nehme es dir gar nicht übel«, sagt plötzlich Fränze, sehr kühl und apodiktisch, und Fritz Eisner weiß, was nun kommen wird, denn sie sagt es nicht das erste Mal. Und weiß ebensowenig, wie die anderen Male, was ich darauf antworten kann. »Ich nehme es dir gar nicht und durchaus nicht übel (und Fritz Eisner fühlt es, als ob er selbst es sagt), daß du wieder geheiratet hast. Und noch weniger etwa bin ich dagegen, weil Ruth zwanzig Jahre jünger ist, als unsere Mutter. Ich sehe, daß sie schon ein sehr schöner Mensch ist. – Ungewöhnlich, in jeder Beziehung. Fräulein Frank, mit der ich am gleichen Tisch im Labor arbeite, hat jetzt mit ihr zusammen Gymnastikkurs, und sie sagt, sie wäre unbestritten die schönste Frau, die da ist. Aber sag mal, Papa, darf sie denn das?«

Fritz Eisner merkt es gar nicht, daß er auf die Schreibtischplatte trommelt, aber er hört es: Was ist denn das? Seit wann hat Ruth Gymnastik? Welcher Arzt hat ihr denn das wieder erlaubt?

»Ich weiß auch, sie versteht dich wirklich besser. Und sie hilft dir. Und ist für dich da. Was unsere Mutter nie war. Gewiß, vollkommen ist sie nicht. Ich begreife aber schon durchaus, daß man sich in sowas mal verlieben konnte. Wenn ich ein Mann gewesen wäre, hätte ich es vielleicht auch getan. Und es ist auch mit ihr etwas los. Sie ist nur hier am falschen Platz. Sie sollte in die Politik gehen. Da gehört sie hin. Wirken, reden, Massen in Bewegung bringen, das könnte sie schon. Gewiß, ganz so schön ist sie nicht mehr, wie vor fünf Jahren. Sie hat etwas eingepackt. Eigentlich sieht sie manchmal – ich hab sie neulich bei Gundolf im Kolleg beobachtet, sehr – krank ist zuviel gesagt, aber leidend, so heimlich und unterirdisch irgendwie leidend aus. Du siehst sie immer, du merkst das vielleicht nicht so. Also das nehme ich dir gar nicht übel.

Aber das Eine nehme ich dir übel. Wenn du die Frau, mit der du 16 oder 17 Jahre zusammenlebtest, kanntest, durftest du uns nicht in dem Alter damals mit ihr allein lassen. Ich komme drüber weg. Aber Hänse nicht. Die ist weicher. Und das nehme ich dir übel.«

Ja, was soll Fritz Eisner sagen? Wenn man, wie er, die Wahl hatte, von Zweien Einen nur aus dem Wasser ziehen zu können, so zieht man eben den Wertvolleren heraus. Soll der Andere dann sich selbst ans Land helfen. Das mag roh sein. Aber man kann da nicht anders handeln. Doch Fränze gibt ja das zu. Sie fragt danach gar nicht. Sie fragt ihrethalben und Hänsekens wegen. Warum hast du uns, verstehst du, uns, uns , mit dieser Frau allein gelassen?

»Eigentlich schimpft und hetzt sie nach wie vor den ganzen Tag gegen dich und Ruth. Uns geht das nichts an. Wir sagen ihr hundertmal, wir wollen nichts mehr davon wissen und hören. Wenn ich eines in der Welt hasse, so sind es Szenen. Und außerdem sind sie völlig unproduktiv. Ich kann es auch nicht vertragen, wenn jemand jeden graden Tag im Monat erzählt, daß er sich das Leben nehmen wird, und jeden ungraden Tag, daß er sich ein andres Leben aufbauen wird und nie dazu auch nur einen Finger rührt.«

Zu eigenartig, wie wir beide hier so reden, Fränze und ich, denkt Fritz Eisner. Da ist ihre Mutter. Und da ist Ruth, die neue Frau. Die beiden sind – ob geliebt, ob ungeliebt – doch nur für uns zwei fremde Frauen, die draußen vor der Türe stehen. Für mich und für sie. Fremd sind sie gegen das absolute, wortlose Zusammengehörigkeitsgefühl, ohne Zärtlichkeit, diese innere Gleichheit im Empfinden und Denken, die uns hier verbindet und einander verstehen läßt. Sogar ohne Worte. Bis dahin, wo selbst dieses Verstehen peinlich werden kann.

Wir haben uns mal wieder eine ganze Weile nicht gesehen. Und wenn wir uns 10 Jahre nicht sehen werden, Fränze, so werden wir nie einen Ton der Fremdheit haben. Und nach zwei Minuten, vielleicht sogar des Schweigens oder unfreundlicher Worte werden die zehn Jahre versunken sein, die uns getrennt hatten. Und dahingegen, wird jeder noch nach zehn Jahren Zusammensein und Liebe, sogar mitten in der Umarmung selbst, doch die Kette seines alten und eigenen Lebens nachschleppen. Unsere Liebe gehört jenen, den Fremden, den Frauen. Unsere Lebensverbundenheit gehört uns beiden. Und dir wird es mal ähnlich gehen. Nur daß da ein anderer Mann ist zwischen uns. Jemand hat geschrieben: »Geh und lieb und leide.«

Aber Fränze weiß, daß sie keine Antwort bekommen wird. Denn selbst, wenn ich sagen wollte, »Schicksal«, so ist das keine Antwort, sondern eine Feststellung.

Aber plötzlich haben ihre Augen neue Beschäftigung bekommen. Oh, ruft sie erstaunt, und steht auf, und beginnt um den hölzernen Heiligen da an der Wand langsam herumzugehen ... den Sanctus Christoforus, der still und ernst – verträumt und groß und melancholisch unter seiner Bischofsmütze – die Steine, mit denen man ihn zu Tode schlug, liegen auf seiner Bibel – dort Wache hält. Grade angerötet von der Sonne, die jetzt ins Zimmer kommt. Mit leuchtenden und scharfen Augen beginnt Fränze ihn abzutasten. Wie man im Seminar es lernt, und von Sekunde zu Sekunde nickt sie beifälliger.

»Wo hast du denn den (meine Tochter!) geschossen? Sehr anständig. Neuerwerbung? Niederbayrisch, so um Leinenberger herum.«

»Sieh an, meine gebildete Tochter! Im Seminar bist du jetzt auch?«

»Ein bißchen nebenbei. Man verbauert sonst bei den Maikäfern zu sehr. Ich wäre sogar ganz gern zur Kunstgeschichte abgeschwenkt, Papa.«

»Laß man, Liebe soll nicht in Ehe ausarten.«

»Aber es ist doch jetzt ganz brot- und aussichtslos. Hier kann ich wenigstens, wenn ich nicht heirate, oder bis ich mal heirate, und wenn mir alle Felle sonst wegschwimmen, zum Schluß noch 'ne verschrumpelte Lehrerin werden.«

»Also die Bildung macht gut, wie man hier sagt. Merkst du eigentlich viel von politischen Reibereien da so bei euch? Ist doch manchmal sowas in der Zeitung.«

»Ach nee, das sieht alles immer von außen viel schlimmer aus. Außerdem haben wir jedenfalls viel zu viel zu arbeiten im Institut. Bei den Juristen und bei den (tiefe Verachtung!) Geisteswissenschaftlern ist das anders. Die können bummeln. Wir Naturwissenschaftler hingegen ...«

Wie sie sich fühlt (so ernst, mein Freund, ich kenne dich nicht mehr).

»Aber natürlich sind alle der Ansicht, daß ihr alten Esel uns hineingerudert habt.«

Die Melodie muß ich doch schon mal gehört haben, bloß mit Pauken und Trompetenbegleitung. »Hat dein kommunistischer Vetter Lulu, hat ›Ludwig das Kind‹ lange bei euch gewohnt jetzt?«

»Nein, der ist schon seit drei Wochen wieder weg. Weißt du, Papa, Lulu ist doch eigentlich ein Fall für einen guten Psychoanalytiker.«

»Ein Fall, Fränze? Eine Lebensrente! Aber tüchtig ist er trotzdem. Oder vielleicht grade deshalb.«

Fränze will lachen, aber dann tut sie es doch nicht. »Wir haben alle eine Stinkwut. Weg mit euch, sagt jeder. Schlechter wie ihr es gemacht habt, können wir Jungen es auch nicht machen. Denn das müßt ihr doch zugeben: wir sind doch eigentlich durch euch um unser Leben betrogen worden. Gerade wie es hätte anfangen sollen, hübsch zu werden, habt ihr diesen Saukrieg gemacht.«

»Also du kannst die gesamten Akten drüber nachlesen. Ich habe ihn nicht erklärt. Ich bin nicht mal dabei gefragt worden. Ich hätte Nein gesagt.«

Aber Fränze ist im Schwung. Sie sieht ordentlich hübsch aus, bekommt rote Backen. Unterbrechen läßt sie sich nicht mehr.

»Und bis heute hat diese Schweinerei überhaupt nicht aufgehört. Es ist an der Zeit, heißgeliebter alter Vater, daß ihr alten Affen euch buschwärts in die Seiten schlagt.«

»Du irrst, Fränze. Wir sind ja heute nur noch Fossilien verklungener Zeiten. Wir sind alle hoffnungslose Fälle.«

»Was haben wir denn gehabt? Doch nichts von dem, was früher ein junges Mädchen aus unserem Kreis gehabt hat. Gehungert haben wir. Und in die Keller sind wir gekrochen. Sogar in der Tanzstunde, weil die Flieger wieder mal kamen. Und selbst von der Schule weg habt ihr uns noch Dutzende von unsern Freunden totschießen lassen. Und was haben wir denn jetzt ? Wir arbeiten. Gehen in die Mensa. Arbeiten wieder. Manche sitzen noch eine Stunde nachher im Café. Aber bei den meisten langt es auch dazu nicht. Na ja, ich will mich nicht damit beklagen. Und dann büffeln wir weiter, um nur ja recht schnell fertig zu werden. Da braucht ihr euch nicht zu wundern, wenn wir ein bißchen ernster sind, als die es vorher waren, die von ihrem siebzehnten Geburtstag an solange auf Bällen herumtanzten, bis sie sich einen angetanzt hatten. Das geht gar nicht gegen dich. Aber, daß wir nach alledem nicht besonders gut auf euch zu sprechen sind, könnt ihr euch ausmalen.«

(Selbst wenn sie unrecht hätte, sollte man es hinnehmen. Die Hand, die das Futter reicht, wird immer mal gebissen.)

»Du hast es eben anders gekannt, aber wir nicht oder wir erinnern uns kaum noch daran.«

»Ich? Woher weißt du das? Der Anfang, der Auftakt der Quadrille, die ersten Eindrücke meines Lebens waren, daß deinen Großeltern die Möbel gepfändet wurden. Und ich plötzlich zwischen kahlen Wänden spielte. Und viel geändert daran hat sich bis zu meinem dreißigsten Jahr nicht. Bei den Voraussetzungen imponiert einem nichts, was später kommt, Fränzchen. Das Gute imponiert einem nicht, weil einem das Schlechte nur zu bekannt ist. Und das Schlechte noch weniger, weil man es zu gewöhnt ist. Ich würde mich sogar gar nicht wundern, wenn das Ende meines Lebens mal wieder genau so ist, wie mein Anfang.«

»Unsinn, Papa, es geht uns doch ganz gut. Ich bewundere immer wieder von neuem, wie du das alles so schmeißt. Jetzt wieder. Eigentlich bist du als Autor mehr als bekannt.«

»Na ja, von hundert Gebildeten kennen achtzig meinen Namen und fünfzig haben nicht gerade unangenehme Erinnerungen an mich. Aber meinst du wirklich, daß man in Deutschland davon leben kann auf die Dauer? Ich bezweifele es.«

»Sage mal«, Fränze sieht mich groß an, »augenblicklich geht's dir doch noch gut?«

»Irrtum, Fränze, es ist mir nie gut gegangen. Gut geht's einem Bankier, einem Kaufmann, einem Mann mit Erbgut, wie es in der Bibel heißt. Ich habe nie mehr gehabt, als wir in sechs oder zehn Monaten hätten aufbrauchen können. Aber was soll mich dieses Gespräch kosten?«

Fränze lacht und streicht mir über den Kopf. » Du«, sagt sie, »ich möchte gern das Wintersemester in Halle studieren. Nachher habe ich doch meine Arbeit und dann kann ich nicht mehr fort von hier.«

»Halle? Warum gerade Halle? Freiburg, da kannste Ski laufen.«

»Ach, in Halle ist ein sehr tüchtiger Zoologe. Natürlich kennst du ihn nicht, Papa. Und dann geht Grete Marx – wir arbeiten doch immer zusammen – aller Voraussicht nach auch hin. Natürlich nur, wenn du es machen kannst. (Und ich möcht auch gern mal von Hause raus.) Gewiß, hier ist es billiger. Schon das Zimmer fällt weg. Und das Essen doch zum Teil auch.«

Wie kommt denn das Mädel darauf, im Winter nach »Halle« gehen zu wollen. Ich möchte nicht im Sommer da acht Tage lang fotografiert aushängen. Frage nicht, damit du nicht belogen wirst! Nie fragen!

»Na ja, Fränze, ich denke, es wird sich machen lassen. Wenn nicht bis dahin noch einmal wieder die Welt wackelt. Garantiescheine werden nicht gegeben. Wenn der Himmel einstürzt, sind alle Spatzen tot.«

Jetzt ist Fränze plötzlich wie umgewandelt. Lacht, freut sich über die Sonne, die rot und tief über die Ebene her durch den schmalen Spalt des Vorhangs der grünen Waldberge in das enge Tal sieht und das Zimmer mit kupfrigem Licht durchflutet. Und selbst den melancholischen Heiligen träumerisch auflächeln läßt.

Fränze faßt mich um, streicht mir übern Kopf, reitet gar keine Attacken gegen ihren Vater mehr und verflucht auch nicht – aber würden wir es anders machen? – die Generation, die sie zeugte, im ganzen. Sie springt herum, wälzt Bücher durcheinander, sieht sich alle Neuerwerbungen des Wohnmuseums genau an, lehnt sich aus dem Fenster und ruft Maudi und Emi an, die sich, immer noch von einigen Kindern und Hundefreunden und -freundinnen umstanden, im Grase und zwischen Blumen balgen.

»Na, hat dir Maud schon erzählt? Nein?«, und Fränze lacht, daß sie kaum weitersprechen kann. »Mir hat sie's gleich als Neuestes anvertraut. Also dann wirst du es ja noch hören. Man merkt, Eminé ist ein Sohn von unserm alten Teddy.«

Aber was Eminé ausgefressen hat, ist aus Fränze nicht herauszubringen. »Hat er etwa ein Huhn totgebissen?«

»Nein, Papa, ich schwöre dir, er hat kein Huhn totgebissen.«

Also, sie will es durchaus nicht sagen.

»Du«, meint sie wieder ernst, »was war denn eigentlich mit Ruths Mutter? Du hast doch was von Leberkrebs erzählt. Und ganz plötzlich in zwei Tagen. Ist denn das wahr? Mutter hat uns einen Brief vorgelesen aus Berlin.« (Was braucht sie euch das vorlesen? Sowas behält man für sich. Was geht das die Kinder an?)

»Ach Gott, eigentlich war sie eine ganz nette Frau. Zu Maudi hat sie sich jedenfalls von Anfang an sehr anständig benommen. Und zu mir auch. Und hat sich damals – du weißt ja noch, wie die Sache war – und das war für die alte Dame nicht leicht, denn endlich kann es ihr ja nicht gleichgültig gewesen sein, wenn ihre Tochter ... und sie war aus einer anderen Zeit – mit einem nicht mit ihr verheirateten Mann zusammenlebt und von ihm ein Kind hat.«

»Warum?! Ich sehe physiologisch darin keine Unterschiede.«

»Na ja, das sagt die junge Zoologin von 1923. Aber die Dame der alten Vorkriegsgesellschaft und von 1866 war eben noch keine Zoologin. Ruth hat das auch sehr gepackt. Trotzdem sie eigentlich nicht gut gestanden haben. Na ja, wie soll ich dir das erklären. Die alte Dame, d. h. sie war nur wenig älter als ich, knapp vier Jahre oder fünf vielleicht, also solche Leute können immer schon schlecht schlafen. Möglich auch, daß es in der Familie lag. Und sie nehmen dann immer so ab und zu mal ein Schlafmittelchen. Haben sie im Haus. Und dann nehmen sie eine Packung mal nicht ganz aus, es bleiben zwei Tabletten drin. Und mal eine andere wieder mal nicht ganz aus. Und das sammelt sich mit der Zeit so an. Und eines Tages fällt ihnen ein, daß das doch Geld gekostet hat. Und daß es schade ist, wenn sie umkommen sollen. Und dann suchen sie sich alle die weißlichen Glasröhrchen zusammen und schlucken, was sich noch an Tabletten vorfindet, hinter. Und schütten ein Glas Wasser nach. Nur aus Sparsamkeit.«

»Warum verteilen sie das nicht? Es wäre doch noch sparsamer!« (Wie fatal ähnlich wir uns doch sind, Fränze und ich.) »Und dann schlafen sie ruhiger, als die Tage vorher ein, und nach Jahr und Tag wissen sie nicht mal, daß sie gestorben sind. Außerdem wäre Frau Block früher oder später doch eines weniger freundlichen Todes verblichen. War ein harter Mensch und sehr für sich. Ihr heute nennt sowas: egozentrisch. Aber wer kann in einen andern Menschen reinsehen. Ein Röntgenapparat für Seelen ist noch nicht erfunden. Aber endlich war sie eine manierenvolle, immer schwarz angezogene, sehr saubere, weißhaarige – also wie ein Schneehase! – innerlich grade und ganz passable Frau von vor Neunzehnhundert. Aus jener Zeit, da die Menschen noch in sich geschlossener waren, als sie es heute zu sein belieben. ›Mach was du willst, ich kenn die Sache, sowas wird nie‹ hat sie zu Ruth gesagt, als sie mit mir zusammen von Berlin damals fortging. ›Aber, da er ein älterer Mann ist, wird er schon wissen, was er tut. Du jedenfalls weißt es nicht.‹ Das ist doch ein Wort, wenn auch grade kein freundliches. Ich habe sie nicht gern gehabt, aber geschätzt. Verwandtschaftliche Gefühle kann man sich von seinem siebenundvierzigsten Jahr an nur schwer noch anschminken, wenn man in zwölf Monaten jemand durchschnittlich eine Woche lang sieht.«

Fränze spielt mit einem kleinen behaglichen Fettbauchbuddha aus rosigem Stein, und lächelt ihn fast schmerzhaft an. »Merkwürdig, das Kerlchen da in meiner Hand ist doch heiter. Das Leben ist das nicht. Wie kommt das eigentlich?« sagt dieses Lächeln.

»Trotzdem sehe ich das nicht ein: die Frau Block ist doch schwer reich gewesen.«

»Liebes Fränzchen, bei solchen Sätzen kommt es auf die Betonung an. Der Deutsche betont jedes Wort einzeln. Der Franzose läßt den ganzen Satz fast unbetont und betont dafür das letzte Wort in ihm um so schärfer. Wenn du gewesen betonen willst, so kann ich dir nur mit Ja antworten, sogar ehedem noch wohlhabender. Ich glaube einfach scheußlich begütert, als ihr Mann starb. Sie hat Häuser gehabt. Sie hat Papiere gehabt. Sie hat Kriegsanleihe gezeichnet. Sie hat Bargeld gehabt. Viel. Sie hatte Depots im Ausland, wie jeder Reiche früher. Aber das Schlimmste, sie hat einen Vermögensverwalter gehabt. Sie hat dann Hypotheken gehabt. Zu Zeiten, als eine Stiefelbürste dreimalhunderttausend kostete, hat man ihr dann zweihundertfünfundsiebzigtausend zurückgezahlt. Und was soll man in aller Welt mit elfzwölftel Stiefelbürste anfangen? Na ja, das Geld hätte sich eben entwertet, hat der Anwalt gesagt. Er hatte sich aber vorher 50 000 Goldmark für seine Bemühungen zurückbehalten. Ein entzückender Mensch! Ein reizender junger Mann, der immer bei ihr Abendbrot gegessen hat und ›gnädige Frau, da können Sie sich auf mich verlassen‹, gesagt hat. Die alte Dame hat direkt wie ein Backfisch für ihn geschwärmt. Ich weniger. Eines so warmen Gefühls hätte ich sie gar nicht mehr für fähig gehalten.

Eine Weile hat es mir sogar so geschienen, als ob er sie heiraten wollte. Na, er ist billiger dazu gekommen.

Und dann war sie noch mit über einer drittel Million gegen 12 % an einer Zementfabrik beteiligt. Auf drei Jahre befristet. Immer von drei zu drei Jahren lief's weiter. Und sie hat auch immer ihre 12 % davon gehabt, 'ne goldsichere Sache. Na, und da hat man sie jetzt eben ausgebootet und den Vertrag nicht erneuert und sie ausbezahlt. Sie hatten zwar damals was von Goldmarkklausel besprochen. Aber der Anwalt hatte ... so etwas kann doch mal vorkommen ... vergessen, es zu vermerken, weil es damals sich doch eigentlich von selbst verstand.

Ja, und die Häuser sind ihr durch einen Obergauner aus der Hand gedreht worden. Deine Mutter wird sich auch noch an ihn erinnern. Liebenthal heißt der Brave. Vor 25 Jahren wohnten wir auf Sommerwohnung bei Potsdam im gleichen Häuschen. Das heißt, er saß da gerade wegen Goldshare-Schwindel in Untersuchungshaft und hat uns dann den Sekt zu Onkel Egis Doktorbowle geschmissen. Paul Gumpert, weißt du, der, der die schöne Privatgalerie hat, war auch dabei. Hier steht ›beiläufig‹ die Konkursmeldung in der Zeitung. Tante Lu und Onkel Dju. Ach, nein, der war damals noch gar nicht in Erscheinung getreten. Damals hielt Tante Lu noch bei Johannes Hansen oder ging gerade mit fliegenden Fahnen zu ihm über. Na ja, wie sagt Maudi immer, wenn ich ihr was erzähle: du weißt doch, Papa, das interessiert mich nicht. Vielleicht hat aber Liebenthal den Sekt uns nur zur Feier seiner Freisprechung wegen mangelnder Beweise geschmissen. Er war gerissener als seine zehn Verteidiger. Vom Staatsanwalt ganz zu schweigen. Ein genialer Schwindler, der es außerdem mit der Bonhommie machte. Und jetzt kauft er mit einer Hand von Dollarscheinen Alt-Berlin auf. Ja, du denkst wohl, wir kommen aus dem Toppkeller? Wir haben immer schon mit vornehmen Leuten verkehrt.

Also, man wünschte nichts mehr. Man hatte die ganze Sache satt. Leider stand Ruth nicht so mit ihrer Mutter, daß wir in die Dinge Einblick bekamen. Wir wurden immer vor Tatsachen gestellt. Oder auch das nicht mal. In den letzten Jahren haben wir überhaupt nichts mehr darüber gehört. Und wir wollten ihr nicht mehr mit Anwälten kommen. Ich war auch froh, daß ich sie so leidlich wieder beide zusammengebracht hatte.

Ruth und ihre Mutter. Schon Maudis wegen. Ruth ist sehr unglücklich gewesen. Denn sie hatte ja keine Ahnung von allem. Und die Nachricht kam wie aus heiterem Himmel. Ich habe es auch erst später erfahren, weil ich in Kopenhagen gerade ...«

»Hast du noch ein Päckchen geschmuggelter englischer Zigaretten für mich, Papa?«

»Noch 'ne ganze Menge. Da unten links im Schreibtisch. Aber seit wann rauchst du?«

»Nicht für mich«, meint Fränze, und sie ist rot, als sie wieder vom Boden, auf dem sie kniete, aufsteht. »Nein, aber Käte ist verderbt und lasterhaft.«

»Ruth hat das alles ganz allein gemacht. Wie es die Bestimmungen wollten. Ohne einen Menschen dabei zuzuziehen. Nur Paul Gumpert hat ihr sein Auto zur Verfügung gestellt. Und dann, nachdem ihre Mutter eingeäschert war, hat sie erst an mich geschrieben und es in die Zeitung gerückt. Wie eine kleine Heldin hat sie sich benommen dabei. Und es ist ihr nahegegangen. Schon, weil der Blitzstrahl des Todes zum erstenmal in ihrer allernächsten Nähe einschlug. Und dann, jede andere Tochter hätte vielleicht gewütet. Denn endlich hat sie die Mutter doch um ein riesiges Vermögen gebracht! Ich brauche nichts, solange ich bei dir bin und für Maudi wird vielleicht noch mal aus England etwas zu retten sein. Siehst du, blöder Hammel, hat sie noch gestern gesagt (wir reden manchmal so etwas despektierlich voneinander), nun hast du mich also wirklich doch nur aus Liebe geheiratet!«

Fränze hört nicht mehr viel hin. Sie hat ein altes japanisches Pflanzenbuch von Morikuni am Wickel und prüft es auf botanische Richtigkeit genau nach.

»Du«, sagt sie plötzlich, »du, Papa, findest du eigentlich Fan, das heißt fenn gesprochen, hübscher als Fränze?«

»Ça dépend, mein Kind ... Käthe Marx sagt wohl immer Fenn zu dir?«

Aber draußen im Gang scheint es etwas zu geben. Man hört Frau Zehrer: »Wenn vielleicht der Herr Pfarrer hier zum gnädigen Herrn hereingehen wollen.«

Warum nur die irrationalen Formen. Sie weiß doch gar nicht, ob ich den Herrn Pfarrer zu empfangen beliebe. Seit wann bekomme ich überhaupt seelsorgerischen Besuch?

Aber schon steht Frau Zehrer in der Tür, mit dem streng-versteinerten und doch trotz zorniger Locken, die es umwallen, eigentlich anteillosen Antlitz des richtenden Engels im Jüngsten Gericht. Sie streckt den rechten Arm vor sich hin wie jener das flammende Schwert und hat statt der schleifenden Wage Maudi an der linken Hand, die sie nach sich zieht. Ziemlich gegen deren Willen.

Eminé ist aber an den beiden wie ein schwarzer Blitz vorbeigeschossen und schlieft auf allen Vieren und auf dem Bauch rutschend ganz schnell unter das breite Biedermeiersofa bis in die letzte hinterste Ecke hinein. Was hat denn das gute Tier? Ist es vielleicht plötzlich tollwütig geworden? Warum ist es denn mit einmal so scheu und sagt mir nicht mal Guten Tag?

Hinter Frau Zehrer und Maud und dem Hund aber betritt bedächtig ein Mann mit einem langen schwarzen Gehrock, einem Klappkragen und einem ganz kleinen schwarzen Satinknötchen als Krawatte das Zimmer, der ernst und mit der Miene, die er gewiß tausendmal getragen, als er begann: »Andächtige Trauergemeinde!«, ein dickes, in die »Christliche Welt« (das ist das erste, auf das mein Blick fällt) gewickeltes längliches Paket unter dem Arm trägt.

Er sieht sich, ehe er zu sprechen anhebt, mit einem langen Blick um, und läßt erstaunt seine alten, weißbebuschten Augen – er ist auch sonst weiß wie ein Schneehühnchen – aber doch noch rotbäckig, gesund und recht stattlich dabei ... über die drei Heiligen an der Wand in ihrer stillen vornehmen Trauer und über die Madonna mit dem Christkind, das mit dem Apfel spielt ... die Madonna di casa eisnerio, wie sie Paul Gumpert getauft hat ... gleiten. Und sein Auge sagt: Was soll dieser heidnische Tand hier? Denn er ist oder war einmal ein Geistlicher der andern Fakultät.

»Verzeihen Sie«, sage ich, »Herr Pfarrer Moser, was verschafft mir denn das große Vergnügen? Wollen Sie nicht vielleicht Platz nehmen?« Und ich winke dabei Frau Zehrer mit den Augen, sich mit Maud zu verdrücken. Aber die regt sich nicht von der Stelle und auch Maud sieht sehr ängstlich den Alten mit dem langen Gehrock an.

Fränze kniet vor einem Bücherhaufen, den Kopf tief gesenkt, und man hört nur ein ganz leises und unterdrücktes Pruschen von ihr.

»Also was gibt's denn, Herr Nachbar?« (So ungefähr müßte Valentino sprechen. Denn liebenswürdiger kann der auch nicht sein.)

Mit der Feierlichkeit, mit der Pfarrer Moser gewohnt war, den Schleier vom Kopf eines Taufkindes zu heben, schlägt er jetzt die »Christliche Welt« zurück und da liegt eine hübsche, fette, grau und weiß gesprenkelte Ente auf seinem geknickten Arm. Bare Augen sind gebrochen und ihr Kopf hängt an dem schlaffen Hals welk und leblos herunter. Sie scheint eines natürlichen Todes verblichen zu sein. Denn es fehlt ihr nicht ein Federchen. Geschweige etwa, daß ihr weiß-graues Gefieder Blutspuren aufwiese. Wirklich, man möchte schwören, sie ist ganz still und sanft entschlafen. Ich verstehe immer noch nicht. Aber mir dämmert doch etwas auf.

»Ich wagte noch nicht«, beginnt er oder richtiger hebt er an, »es meiner alten Frau zu sagen. Denn gerade dieses Tier war es, das sie am meisten vor allem geliebet hat. Jeden Morgen, wenn sie den Stall aufgetan hat, ...«

»Verzeihen Sie, Herr Pfarrer«, sage ich, »soweit ich sehe ...«

Ein Pfarrer und selbst wenn er emeritiert ist, ist schwer zu unterbrechen. Er ist das nicht gewohnt.

»Zwei sind ihr schon vom Flusse nicht heimgekommen. Es war das letzte Scherflein der armen Witwe ... Ich fordere einen entsprechenden Ersatz in Geld von Ihnen, Herr Eisner.«

»Aber verzeihen Sie, Herr Pfarrer, ich kann doch nichts dafür, daß Ihre Ente tot ist.«

Aber da mischt sich Maud ungefragt herein. Kinder sollen nicht ungefragt sprechen. Sie wird immer noch von Frau Zehrer festgehalten. Doch sie macht sich nichts draus.

»Aber Eminé hat wirklich nur mit ihr spielen wollen, Papa. Er hat's nicht arg gemeint. Die Ent' hat allweil so komisch mit's Schnäbele zu Eminé gemacht. Und da hat er mit ihr gespielt. Und da hat sie ihn ganz schlimm angezischt. Und das hat er sich nicht gefalle lasse. Ich hab's g'sehn. Er hat zuerst nur mit ihr spiele wolle.«

Deswegen also sind die beiden da unten den ganzen Nachmittag so unheimlich artig gewesen!

»Ja«, sage ich, »Herr Pfarrer ...»

»Sehen Sie, dieses Kind kennt noch nicht die Sünde der Lüge.«

Nur nicht lachen! »Ja, Herr Pfarrer, womit kann ich Ihnen den Schaden ersetzen?« (Soll der alte Knabe sie doch in den Stall sperren!!)

»Mir scheint es, lieber Herr Nachbar«, jetzt wird er freundlich, »daß ein Dollar, um mich vor der Entwertung des Mammons zu schützen, wohl nicht zu viel für ein Tier wie dieses ist. Und wenn Sie noch die Liebe und die Mühwaltung meiner guten alten Frau ...«

»Lieber Herr Pfarrer, für einen Dollar oder 175 Millionen können Sie heute sich einen ganzen Teich voll Enten kaufen. Für 30 Dollar kriegen Sie ein Haus in der Stadt schon. Also ich denke, daß 100 Millionen genügen. Dafür kann sich Ihre gute Frau morgen auf dem Markt zwei neue Enten kaufen.«

Der Alte hat eine sehr diskrete Bewegung, Geld einzustecken. Eigentlich noch diskreter als ein Arzt. Aber diese Bewegung ist trotzdem sehr schnell.

»Sie werden mit diesem Hund immer wieder hier die gleichen Anstände haben.«

»Hoffentlich nicht.«

»Doch, Sie werden es. Ich hatte auch mal einen dieser Rasse. Sie sind böööööse! Doch wenn Sie dem Tiere einen Tag lang die getötete Ente um den Hals binden, so wird ihn das schon von seinen frevelhaften Gelüsten für alle Zeiten heilen. Sie haben es nebenbei schön hier. Der Ausblick ist recht wohlgefällig. Wenn Sie vielleicht aus irgendwelchen Gründen einmal diese Wohnung tauschen wollen, so lassen Sie es mich bitte vorher wissen. Gott zum Gruße, liebe Frau Zehrer.«

»Hier«, sage ich, denn die schwarz-weiße Ente liegt jetzt auf meinem Schreibtisch und sieht mich recht vorwurfsvoll an. Gerade, weil sie nicht mehr sieht. Aber was kann ich dafür? Was kann Maud dafür? Was kann Emine dafür? Und was kann sie dafür? Es ist eben ihr Schicksal nun mal gewesen. Und in vier Wochen hätte die gute Frau Pfarrer selbst für sie dieses Schicksal gespielt.

»Also, Frau Zehrer, nehmen Sie das Tier mit raus. Und nun komm mal her, Eminé.«

Aber Eminé denkt gar nicht dran. Und je weiter ich unter das Sofa greife mit dem Arm, desto mehr drückt er sich an die Wand.

Fränze liegt auf einem Bücherhaufen. Schreit und strampelt sehr unmädchenhaft vor Lachen. »Zwei sind ihr schon vom Flusse nicht heimgekommen. Es war das letzte Scherflein der armen Witwe«, deklamiert sie. Und Maud rennt immer um den runden Tisch herum und singt sich ein Liedchen auf die Ente:

»Gestern war Wack-Wack noch rot,
Heute abend is se tot!«

»Was haben Sie denn mit der Ente gemacht, Frau Zehrer?« rufe ich nach einer Weile.

»Die habe ich dem Bruder Sebastian mitgegeben. Wir können sie doch nicht essen. Ich wenigstens möchte das arme Tier nicht zurecht machen«, kommt es von draußen, von der Küche her.

»Na ja, ich schätze auch keine Ente zum Mittagbrot, die ich persönlich gekannt habe. Aber eigentlich kannte ich ja die arme Verblichene gar nicht.«

»Unsere Hühner sind auch meist an Altersschwäche gestorben«, wirft Fränze ein, die jetzt vor dem Sofa kniet und Eminé, der sich knurrend zurückzieht, hervorzuangeln versucht.

»Aber Teddy ließ sie nur selten dazu kommen. Da hat doch der verdammte Fixköter das her!«

»Also, wenn sie dich hier schimpfen, nehme ich dich gleich wieder mit. Du bist sehr schön, mein Emichen. Mein gutes Hundebaubauchen«, sagte Fränze, die Emi jetzt unter dem Sofa hervorgezogen hat und ihn zärtlich – er versucht dabei vergebens nach ihr zu schnappen – herumknudelt.

Dann erscheint Frau Zehrer und verschwindet mit Maudi, die sie stumm hinter sich herzerrt. Und alsbald vernimmt man vom Badezimmer Mauds wilden Protest gegen die freche, ihr gestellte Zumutung, sich abseifen zu lassen. »Das soll Muttiiii machen!« (Gewiß. Aber sie ist eben nicht da.)

Fränze lacht und wirft sich nochmals auf den Boden. Denn Emi hat in berechtigtem Mißtrauen, daß der Zorn dieses alten Mannes da noch nicht ganz verraucht sein mag, von neuem seine Siegfriedstellung bezogen. Aber es nützt ihm nichts, er wird wieder herausgeangelt. »Schade drum, ihr hättet doch wenigstens einen pompösen Sonntagsbraten gehabt. Du hättest es ja nicht den andern zu Hause zu sagen brauchen.«

Fränze liegt immer noch platt auf dem Bauch vor dem alten tiefen Biedermeiersofa. »Schämst du dich nicht, mein gutes Hundebaubauchen, mein Emiviehchen.«

»Gib ihm jedenfalls ein paar Kläpse, er wird schon wissen wofür.«

»Also, wenn sie dich hier hauen, denn sag's mir, dann nehm ich dich mit nach Halle.«

»Von Hunderassen magste was verstehen, von Hundeerziehung jedenfalls nicht.«

Wie schön das doch hier ist, den ganzen Sommer über. Gerade so um diese Stunde, um Sonnenuntergang jetzt. Das ganze Tal ist einen Tag wie den andern purpurn durchstäubt. Von den fast waagerechten Strahlen der Sonne da hinten. In die man schon ungestraft hineinsehen kann, wie in eine riesige, rostbraun-glühende Chrysantheme. In dem schmalen Streifen zwischen Fluß und Bergen will sie untergehen jetzt. Und so lange macht sie wenigstens aus allen Dingen etwas wie abgeriebene alte Goldrahmen, an denen der rötliche Bolusgrund durchschimmert.


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