Karl Henckell
Im Weitergehn
Karl Henckell

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Wächterin

        Sie naht ursprünglich, unbefangen, frei,
Ein reifes Weib, mit sonnenflutendem Haar,
Gelassen, ohne rechts und links zu schaun,
Der Bühne tief verhangenem Heiligtum
Und wendet sich und überblickt das Haus.
Hoch in der Linken hebt mit kühnem Arm
Den Spiegel sie, darin das Flammenherz
Der Menschheit unverschüttet wiederscheint,
Und mit der Rechten deutend kündet sie:
»Dem Ort der Weihe bin ich Wächterin,
Den hinter mir des Vorhangs Hülle schließt.
Wenn er sich öffnet, öffnet sich die Welt,
In Ausdruck, Wort und Bild gebannt, dem Aug'
Und Ohr. Gestalten wachsen wahr heraus,
Die euch mit ihrer Menschlichkeiten Macht
Und Ohnmacht mahnen an verwandtes Los
Und zeugen von dem bindenden Gesetz,
Das sternensicher Heil und Unheil eint.
Dem Ort der Weihe bin ich Wächterin,
Und Opferflammen will ich lodern sehn
Zur Abwehr falschen, wesensfremden Spiels,
Zum Hort der lebensebenbürtigen Kraft.
In Kraft und Fülle soll ein Tatgebild
Vor euch sich traumhaft heben. Alle Not
Und Niedrigkeit und majestätischer Stolz
Der Menschheit, was sie schändet und erhebt,
Soll euch erschüttern, packen, peitschen, reizen.
Kennt ihr die herzerweiternd kühne Kunst,
Die gleich der weißen Lichtwalküre reitet
Durch Sturmgewölk zu lichter Götter Saal,
Indes im Sumpf sich die Gewohnheit krümmt
Der ewig ehrfurchtlosen Ehrbarkeiten?
Dem Ort der Weihe bin ich Wächterin,
Den Ort des Weltbilds weih ich allem Volk,
Das Sehnsucht tief durchzittert, sich zu baden
Im Meer der ungeheuren Leidenschaft,
Im Quell der heiligen Aufrichtigkeiten.
So lauscht und feiert, sammelt euch zum Bild,
Das sinnentzückend, grausig, zart und wild,
Entfesselnd und beherrschend sich im wahren
Weltspiel des Dichters sehnt zu offenbaren!«

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