Thomas Theodor Heine
Seltsames geschieht
Thomas Theodor Heine

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Der Untergang der Stadt Nebbichingen

Als der Feind die Stadt Nebbichingen eroberte, flüchteten alle Beamten aus dem ungeheuer großen Regierungsgebäude. Niemand wußte, wo sie hingekommen waren.

Die eingedrungenen Feinde wußten sich bei der Bevölkerung beliebt zu machen, und bald begriffen die Nebbichinger, daß sie es nach der Eroberung viel besser hatten als vorher. Friede und Eintracht herrschten, die frühern Feinde wurden die besten Freunde. Die Besatzungstruppen zogen ab und überließen die Stadt eigener Verwaltung.

Das große Amtsgebäude stand immer noch leer, und man hätte es jetzt wieder in Benutzung nehmen können. Aber es war allen ein unheimliches Haus. Die Leute trauten sich ungern in die Nähe, gingen in weitem Bogen darum herum. Weshalb? Es spukte darin. Irgend etwas mußten die flüchtenden Beamten darin zurückgelassen haben, das unangenehm in Erscheinung trat. In den langen Korridoren, in den düstern, verlassenen Büroräumen, zwischen Schreibpulten und Regalen raschelte es unaufhörlich, hörte man leises Murren und Knurren und ein eigentümliches, wippendes Geräusch, wie wenn Wiegmesser Fleisch zerkleinern.

Einige beherzte Bürger lachten über die Ängstlichkeit. »Wir 134 fürchten uns nicht vor Ratten«, sagten sie, wollten Fallen aufstellen, gingen hinein. Alsbald hörte man Hilferufe, Schreie, hörte, wie die Eindringlinge durch die Korridore gejagt wurden unter verstärktem Wiegmessergeräusch. Darauf wurde es still. Die beherzten Bürger sind nicht zurückgekehrt.

Etwas mußte geschehen. Wie immer in solchen Fällen wurde eine Kommission ernannt, welche die Sache untersuchen sollte. An einem hellen, sonnigen Tag zog sie, sechs Mann stark, mit einer Feuerleiter vor das Regierungsgebäude. Vergeblich hatten ihre weinenden Frauen versucht, sie zurückzuhalten. Die Leiter wurde angelegt, und man loste, wer sie besteigen solle. Es traf Herrn Fotografen Liesegang. Klopfenden Herzens kletterte er hinauf, nachdem er den Revolver in seiner Tasche entsichert hatte. Er schaute durch ein Fenster ins Haus, griff in die Tasche. Wollte er die Schießwaffe gebrauchen? Nein, er nahm nur seinen kleinen 135 Fotoapparat heraus, machte durch die Fensterscheiben eine Blitzlichtaufnahme des Innenraums. Dann stieg er schnell herunter, wurde mit Fragen bestürmt. Er war ernst, aber gefaßt, sagte nur: »Sonderbar, sonderbar! Wartet ab, bis ihr die Fotografie seht.« Bald war die Aufnahme entwickelt und kopiert. Da sah man dicht gedrängt schwarze Gestalten. Waren es Leute im Frack? Waren es riesige Würmer? Niemand wußte, was für Wesen das sein konnten. Man sandte die Fotografie an die naturwissenschaftliche Fakultät der nahen Universität Bonn, bat um schnelle Auskunft darüber, welcher Tierart diese Geschöpfe angehörten.

Nach acht Tagen kam ein Telegramm: »Es sind Paragraphen. Ich komme selbst zur Augenscheinnahme. Professor Struntzius.«

Das war der berühmte Zoologe der Universität. Bald traf er ein, begleitet von zwei Assistenten. Von seinen Forschungsreisen durch die wildesten tropischen Dschungeln wußte er, wie man den Gefahren begegnet, und nach kurzer Zeit hatte er sich durch eigene Anschauung volle Klarheit verschafft: Die Tiere waren den Blutegeln nahe verwandt, bestanden eigentlich aus je einem männlichen und einem weiblichen Egel, die zusammengewachsen waren und so die bekannte Paragraphenfigur ergaben; daher der wissenschaftliche Name. Offenbar waren sie seinerzeit von den Beamten gezüchtet worden und bei der Flucht dort verblieben. Der im Regierungsgebäude massenhaft vorhandene Staub bot ihnen reichliche Nahrung, und sie konnten sich ungestört weiterentwickeln, erreichten bisher unbekannte Größenausmaße, es gab Exemplare von über zwei Metern. Durch die dauernde Vereinigung eines männlichen und eines weiblichen Tieres war die Vorbedingung zu ungeheurer Vermehrung gegeben, bereits waren alle 136 Räume dicht mit Paragraphen angefüllt, und fortwährend kamen neue zur Welt. Professor Struntzius warnte vor der Gefahr, daß das Amtsgebäude nicht mehr allen Paragraphen Platz genug bieten würde, riet zu baulicher Vergrößerung. Aber das wollten die Nebbichinger nicht, die Finanzen der Stadt hatten sich auch noch nicht genug vom Kriege erholt.

»Aber, Herr Professor, wie sollen wir die Untiere loswerden? Können Sie uns nicht ein Gift dagegen verschreiben?«

Er zuckte die Achseln. »Ich werde den Fall untersuchen, nachschauen, ob sich in der Literatur ein Gegenmittel erwähnt findet. Einstweilen fahre ich nach Bonn zurück, werde das hochinteressante Material wissenschaftlich bearbeiten. Es ist mir sogar geglückt, ein kleines Exemplar einzufangen und in Spiritus zu konservieren.« Er wies ein geräumiges Einmachglas vor. »Hier sehen Sie deutlich, wie der Paragraph aus zwei Blutegeln besteht. Der scheinbar nur ornamental bedingte Endschnörkel ist in Wirklichkeit ein Saugnapf, der zur Aufnahme der Nahrung dient, nicht nur von Staub, sondern auch von Blut, wenn es erreichbar ist. Das Präparat wird ein wertvolles Objekt unserer naturwissenschaftlichen Sammlung bilden. Meine Herren, ich spreche Ihnen allen den herzlichen Dank der Universität für Ihre liebenswürdige Beihilfe aus.« Und damit war er abgereist. Man hörte nichts mehr von ihm.

Alle Zuversicht war geschwunden. Angst durchbebte die Stadt. Grundlos? Nein. Wenige Wochen waren vergangen, da war das Regierungsgebäude zum Platzen voll, vielleicht war auch nicht mehr genug Staub vorhanden, um alle Paragraphen darin zu ernähren. Die Katastrophe trat ein. 137

Als ein Milchfuhrwerk frühmorgens in die Stadt fuhr und am Regierungsgebäude vorbeikam, bemerkte der Kutscher, daß sich die Frontmauer nach außen zu wölben begann, gleichzeitig brachen Fensterscheiben, und Schwarzes schlängelte sich heraus. Das Pferd scheute und raste durch die Straßen, bis der Wagen umfiel und die Milchkannen auf dem Pflaster lagen, ausliefen. Hinzueilende Leute hielten das Pferd auf. Der Milchmann war im letzten Augenblick abgesprungen und rief ihnen bleich und zitternd 138 zu: »Rettet euch! Die Paragraphen kommen.«

Man hörte ein dumpfes Krachen: die Mauern des Amtsgebäudes barsten. Das Unheil flutete hervor – ohne viel Lärm, nur mit leisem Zischen und Glucksen, und wieder war das Wiegmessergeräusch zu hören. Dessen Ursache zeigte sich nun: Die Fortbewegung der Paragraphen geschah nach Art von Schaukelpferden, wiegend, dadurch entstanden die sonderbaren Töne. Und wen die wiegende Rundung erreichte, der wurde zerquetscht, gierig setzten sich die Saugnäpfe an ihm fest unter wollüstigem Schmatzen.

Viele Menschen waren neugierig auf die Straße geeilt, nun flohen sie in Panik unter verzweifeltem Geschrei, stolperten, wurden ereilt. Nie hätte man gedacht, daß die Paragraphen sich zu so ungeheurer Zahl vermehrt haben könnten. Viele Flüchtende suchten sich in den Häusern in Sicherheit zu bringen. Die Paragraphen folgten ihnen auch dorthin, drangen ihnen nach durch Türen und eingedrückte Fenster. Hilferufe, Schmerzgebrüll tönte heraus, verstummte allmählich. Die schlüpfrigen Untiere wälzten sich bis an die äußerste Stadtgrenze, setzten sich blutsaugend an den unglücklichen Einwohnern fest. –

In den Straßen war es ganz still geworden. Man sah und hörte keinen Menschen mehr. In allen Häusern hatten sich die Paragraphen eingenistet, das Leben vernichtet. Wohlgenährt vermehrten sie sich immer üppiger, wuchsen an zu ungeheurer Zahl und Größe. –

Nebbichingen war eine tote Stadt geworden. Aber hinter den Mauern der Häuser drängten sich die Paragraphen dichter und dichter, gespensterhaft und gierig. – 139

Die einst geflüchteten Regierungsbeamten sammelten sich bereits wieder in der Nähe der Stadt, voller Zuversicht, daß sie die Paragraphenzucht neuerdings aufnehmen könnten und herrlichen Zeiten entgegengingen. 140

 


 


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